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Die beiden Herren, zu denen die Schwester Dorette der melancholischen Einbildungen ihres Bruders wegen sofort geschickt hatte, nachdem er ihr die Bedeutung des heutigen Abends zugerufen, waren der Pastor des Ortes, Herr Schönlank, und der Förster Ulebeule. Ersterer kam, dicht in den Mantel gewickelt, mit seiner Laterne und seinem Regenschirm, letzterer, jeglicher Witterung Trotz bietend, in kurzer, grünkragiger Flausjacke, den derben, eisenbeschlagenen Hakenstock unterm Arm. Beide aber schüttelten sich vor allen Dingen tüchtig auf der Hausflur und sagten wie jedermann weit und breit:
»Brr, welch ein Wetter!«
Und der Förster fügte noch hinzu:
»Das nennt man freilich auch, unterm Wind sich anschleichen; aber ein Vergnügen war es gerade nicht. Na, Pastore, hier haben wir Überwind, und für das übrige wird Fräulein Dorette zu sorgen wissen.«
Der Alte im Hinterstübchen, welcher anfangs etwas betroffen gehorcht, hatte sich schnell in die Situation gefunden. Ein Lächeln auf seinem gutmütigen Gesichte wurde immer breiter und sonniger, und jetzt riß er seinerseits die Tür auf, welche aus seinem Schlupfwinkel auf die Hausflur führte, und rief in heiterster Laune:
»Herein, herein, und gelobt seien alle melancholischen Phantasien, wenn sie einem so erwünschte Gesellschaft ins Haus führen. Das war ein Gedanke – das war eine Tat, Dorette! Herein, liebe Freunde – das ist freilich ein Abend, um eine Nacht daraus zu machen, und letzteres wollen wir, und zwar, wie es sich gehört! Herein, und jeder an seinen Platz, und ein Vivat für die alte Apotheke!«
»Davon nachher, wenn wir erst Chinesien auf dem Tische haben werden«, sagte der Förster, seinen Stock in den Winkel stellend. »Fürs erste, alter Bursch, ganz sedate unsere beste Gratulation zum glorwürdigen Jubiläum. Wenn der Pastor das noch einmal und mit Salbung vorträgt, so habe ich auch nichts dagegen; aber wenn wir den Hasenfuß den Physikus hier hätten, so würde der uns allen den Rang ablaufen; ein hirschgerechterer Jäger für einen Glückwunsch und Trinkspruch soll noch gefunden werden; aber er ist über Land geholt.«
»Und wird zu Hause meine Benachrichtigung vorfinden«, sagte Fräulein Dorette Kristeller.
»Schön«, sprach der Förster, »unter den Umständen kriegen wir ihn sicherlich noch zu Gesicht. Übrigens würde er es schon ganz aus Naturanlage gewittert haben, daß wir uns hier rudelten. Bis Mitternacht bleiben wir ja doch wohl vergnügt beisammen?«
»Natürlich! Hurra!« rief der Apotheker, und der Pastor brachte nun wirklich in Erwartung Chinesiens, das heißt der Punschbowle, fein, zierlich und schicklich seine Gratulation gleichfalls an.
Unterdessen hatte sich das ganze Haus mit eigentümlichen, anmutigen Düften, die den Apothekendunst ihrerseits sieghaft bekämpften, gefüllt. In des Hauses Küche hatte ein merkwürdig lebendiges Treiben begonnen; allerlei Gerät rasselte und klirrte fröhlich durcheinander. Punkt neun Uhr stand die erste dampfende Schale auf dem Tisch, und nicht sie allein, sondern was dazu gehörte ebenfalls. Für fünf Minuten fand des Apothekers Schwester nun auch Muße, sich zu den Männern zu setzen und die ersten Belobungen derselben in Empfang zu nehmen.
Die Belobungen kamen zu rechter Zeit; aber dann trat für einige Augenblicke das Stillschweigen ein, welches immer entsteht, wenn ein des Nachdenkens würdiges Getränk auf den Tisch gesetzt wird. Daß dieses Stillschweigen schnell überwunden wird und ein jeder sich merkwürdig rasch mit der Feierlichkeit des Momentes abzufinden weiß, ist bekannt.
»Also wirklich bereits ein volles Menschenalter!« rief der geistliche Herr. »Ich hielt es im Anfang fast für unmöglich; aber nun, da ich im stillen nachgerechnet habe, finde ich und gebe zu, daß es sich in der Tat also verhält. Ich habe mich in jenem Jahre gerade mit meiner guten Friederike in den Stand der heiligen Ehe begeben, und mein ältester Sohn, der Inspektor, ist wahrlich seitdem bereits achtundzwanzig Jahre alt geworden.«
»Wahrhaftig, Pastore, und wenn ich daran denke, wie Ihr schlecht bei Leibe hier ankamt, und Euch ansehe, wie Ihr jetzo dasitzt, so brauche ich gar nicht an den Fingern abzuzählen, um an die dreißig Jahre zu glauben. Übrigens empfing ich euch alle hier und machte euch die Honneurs des Ortes. Zuerst rücktet Ihr ein, Pastore, und heiratetet Eures Vorgängers Tochter; und nachher kam der gleichfalls noch anwesende Jubilant, um die gesunde Gegend mit seinen Pillen und Mixturen noch gesunder zu machen. Den Doktor rechne ich gar nicht; denn ein Mensch, der erst ein Dutzend Jahre unter uns haust, ist eben gar nicht zu rechnen.«
»Der liebe Gott hat Euch wirklich in Eurem Einzuge gesegnet, lieber, alter Freund«, sagte der Pastor zum Hausherrn. »Eure zwei Vorgänger hatten mit großer Schnelligkeit in diesem Hause bankerott gemacht; Ihr aber hattet Glück –«
»Und Verstand«, fiel der Förster Ulebeule ein, »den richtigen Verstand von der Sache; denn in einer so gesunden Gegend, wie die hiesige zum Exempel, legt sich der richtige Apotheker eben auf etwas anderes, zum Beispiel auf einen neuen Magenbitter, wie der ›Kristeller‹ einer ist, auf die Fruchtsäfte im großen, auf den Weinhandel und, nicht zu vergessen, auf den Kräuterhandel durch ganz Deutschland ins Unermeßliche. Heute abend ist denn im natürlichen Verlaufe der Dinge der Alte da in seinem Schlafrocke der allereinzige von uns, welcher es zu etwas gebracht hat. Der Doktor wird es nie zu etwas bringen.«
Der geistliche Herr seufzte; aber der Apotheker ›Zum wilden Mann‹, Herr Philipp Kristeller, seufzte ebenfalls, und als gerade jetzt Wind und Sturm stärker und böser mit Regen und Schloßen durchs Land fuhren, sah er wie erschreckt von dem behaglichen Tisch auf das gepeitschte, klirrende Fenster. Die alte, gute Schwester rückte dichter an ihn heran, indem sie flüsterte:
»Liebe Herren, man muß niemandem sein Glück vorrücken, es nützt nichts und hat schon häufig geschadet; das ist meine Meinung. Und ob meines Bruders Glück gerade so groß gewesen ist, das steht wirklich noch dahin. Wir haben unser Los und Leben genommen, wie es uns gegeben wurde, das ist aber auch alles. Auf das Jubiläum aber trinke ich doch, und jetzt will ich den Spruch ausbringen und sagen: Es lebe die Apotheke ›Zum wilden Mann‹!«
Sie hatte, während sie redete, die Gläser im Kreise gefüllt, und alle stießen an, doch mit Nachdenken und Ernst, wie es sich gehörte. Herr Philipp aber, unruhig auf seinem Stuhle hin und her rückend, sprach leise und mehr zu sich selber als zu den andern:
»Es ist eine Nacht dazu – die rechte Nacht. Es ist mehr als ein Menschenalter hingegangen, seit das, was ich mein Hauptglück nennen sollte, an mich kam. Hört nur den Sturm da draußen, wie er sich unbändig hat, ihr solltet kaum glauben, daß sich morgen vielleicht kein Lüftchen regen wird, um das letzte Blatt vom Baume zu nehmen. Man sagt, es verjähre alles; aber es ist nicht wahr. Es kommt alles wieder an einen, der Sturmwind wie die alte Zeit. Ihr lieben Freunde, wollt ihr mich anhören, so will ich euch eine Geschichte erzählen, eine kuriose, eine recht, recht kuriose Geschichte. Ich will euch erzählen, wie ich vor mehr als dreißig Jahren der Besitzer der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ wurde.«
Der Pastor sagte gar nichts; aber auch er rückte näher an Herrn Philipp heran, berührte ermunternd seinen Ellbogen und bot ihm zu noch größerer Ermunterung die blank abgegriffene silberne Dose.
»Geschichten höre ich für mein Leben gern, selbst Jagdgeschichten im Notfall!« rief der Förster eifrig. »Endlich ist das Wild los! hin nach der Fährt –«
»Einen Augenblick!« bat Fräulein Dorette, »jetzt muß ich noch für eine Minute in die Küche, nachher bin ich wieder ganz und gar bei dir, Philipp. Die beiden Nachbarn entschuldigen wohl.«
Sie entschuldigten gern und warteten und machten noch einige Bemerkungen über die Jahreszeit und die Witterung. Nachdem aber die Schwester zurückgekommen war, erzählte der Bruder wirklich seine Geschichte – eine kuriose Geschichte!