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Ist das nicht ein wunderliches Ding im deutschen Land, daß überall die Katzenmühle liegen kann und liegt und Nippenburg rundumher sein Wesen hat und nie die eine ohne das andere gedacht werden kann? Ist das nicht ein wunderlich Ding, daß der Mann aus dem Tumurkielande, der Mann vom Mondgebirge nie ohne den Onkel und die Tante Schnödler in die Erscheinung tritt? Wohin wir blicken, zieht stets und überall der germanische Genius ein Drittel seiner Kraft aus dem Philistertum und wird von dem alten Riesen, dem Gedanken, mit welchem er ringt, in den Lüften schwebend erdrückt, wenn es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs, zu berühren. Da wandeln die Sonntagskinder anderer Völker, wie sie heißen mögen: Shakespeare, Milton, Byron; Dante, Ariost, Tasso; Rabelais, Corneille, Molière; sie säen nicht, sie spinnen nicht und sind doch herrlicher gekleidet als Salomo in aller seiner Pracht: in dem Lande aber zwischen den Vogesen und der Weichsel herrscht ein ewiger Werkeltag, dampft es immerfort wie frisch gepflügter Acker und trägt jeder Blitz, der aus den fruchtbaren Schwaden aufwärts schlägt, einen Erdgeruch an sich, welchen die Götter uns endlich, endlich gesegnen mögen. Sie säen und sie spinnen alle, die hohen Männer, welche uns durch die Zeiten voraufschreiten, sie kommen alle aus Nippenburg, wie sie Namen haben: Luther, Goethe, Jean Paul, und sie schämen sich ihres Herkommens auch keineswegs, zeigen gern ein behagliches Verständnis für die Werkstatt, die Schreibstube und die Ratsstube; und selbst Friedrich von Schiller, der doch von allen unsern geistigen Heroen vielleicht am schroffsten mit Nippenburg und Bumsdorf brach, fühlt doch von Zeit zu Zeit das herzliche Bedürfnis, sich von einem früheren Kanzlei- und Stammverwandten grüßen und mit einem biedern »Weischt« an alte natürlich-vertrauliche Verhältnisse erinnern zu lassen.
Es lebe Nippenburg und Bumsdorf, der Bierkrug und die Kaffeekanne, der Strickstrumpf und das Dintenfaß, es lebe der Boden, auf welchem wir stehen und in welchem wir begraben werden, es lebe der Herr von Bumsdorf, es lebe der Onkel und die Tante Schnödler, es lebe der Onkel und Stadtrat Hagebucher, es lebe die Kusine Klementine, und vor allen Dingen lebe der Vetter Wassertreter!
Der muntere Leutnant Herr Hugo von Bumsdorf hatte keinen Grund gehabt, nach seinem nächtlichen Ritt zur Katzenmühle unter den behaglichen Laren und Penaten seines Vaterhauses aus seinem überquellenden Herzen eine Mördergrube zu machen. Dagegen hatte er sein plötzliches Erscheinen unbedingt zu rechtfertigen und tat's auf die vollgültigste Art und Weise. Er holte weit aus und brach wie gewöhnlich häufig aus der Bahn; aber dafür übersprang er auch nichts von Bedeutung oder was sonst den »verruchten Provinzialsumpf zum Wellenschlagen bringen konnte«.
Und die Provinz schlug Wellen! So etwas war seit der Rückkehr Leonhard Hagebuchers aus der afrikanischen Gefangenschaft nicht erlebt worden und ließ sich jenem Ereignis ebenbürtig an die Seite setzen, wenn es dasselbe nicht sogar noch weit übertraf an allgemeiner und tiefgehender Bedeutung. In immer weiterer Schwingung setzte sich auch diesmal wieder die Bewegung vom Bumsdorfer Gutshofe über das Hagebuchersche Haus fort, erreichte Nippenburg auf den Flügeln des Windes und fand überall einen Widerhall, den sonst nur der Ruf der Feuerglocke zu finden das Vergnügen hat. Der Vetter Wassertreter hatte nachher das Recht, sich ganz passend und klassisch mit dem alten Römer Horatius Cocles, welcher allein die sublizische Brücke gegen die ganze Armee des Königs Porsenna verteidigte, zu vergleichen. Wie jener wackere Held verteidigte auch er solus die Chaussee nach Fliegenhausen gegen die vordringenden Nippenburger Neugierigen. Die Kusine Klementine Mauser hätte sich, freilich in einer andern Weise, mit der berühmten Jungfer Cloelia vergleichen dürfen. Sie schwamm zwar nicht durch den Tiber, aber sie umging in Begleitung von zehn andern ältern Jungfrauen den Vetter Wassertreter und gelangte wirklich bis zum Roten Ochsen in Fliegenhausen, wo sie jedoch leider von Leonhard Hagebucher abgefangen und mit der Notiz, die Frau Baronin von Glimmern sei augenblicklich noch nicht imstande, Besuche zu empfangen – zurückgeschickt wurde.
Der Vetter Wassertreter war auch in dieser Zeit wieder der einzige Trost und Stützpunkt, welchen Leonhard außerhalb der Katzenmühle fand, wie er auch der einzige war, mit welchem der Afrikaner über die Vorgänge der letzten Zeit und ihre Bedeutung wirklich reden konnte, ohne durch einen Schwall von Interjektionen betäubt und durch einen nicht geringern Schwall von Fragen platt darniedergelegt zu werden.
Der Vetter Wassertreter als ein Mann, welcher noch den alten Goethe von hinten erblickt hatte, sagte einfach:
»Mein Sohn, du hast deine Sache recht gut gemacht; übrigens ist es meine Meinung, daß du anjetzo hier ebenso festsitzest wie ich, nachdem sie mich damals mit dem bekannten offiziellen Fußtritt aus dem Loch entließen. Laß es gut sein, auch er mußte in Weimar hocken, und die Welt kam doch an ihn heran. Ojemine, auch Nippenburg hat seine unaussprechlichen Verdienste, und du, mein Junge, kannst immer noch Ratsschreiber zu Nippenburg werden; und wenn dein Ehrgeiz noch immer nicht damit zufrieden wäre, so verschaffen wir dir den Titel Stadtsekretär, worauf du dich auf die Nelken- oder Dahlienzucht legst, deine Schwester solide verheiratest und allmählich groß und ehrwürdig wirst, sowohl im Kreise deiner Neffen und Nichten wie auch im Goldenen Pfau, allwo deines Vaters Stuhl mit offenen Armen auf dich wartet. Ich glaube, selbst Luzifer würde sich nach den gemachten Erfahrungen keinen Augenblick besinnen, wenn man ein Auge zudrückte und ihm eine ähnliche Stellung und Existenz dort oben in den himmlischen Regionen anböte.«
Was der Mann vom Mondgebirge dem grauen vergnügten Heimtücker auf dieses Ansinnen antwortete, verschweigt die Geschichte, allein es steht fest, daß er die eigentliche Meinung, den einfachen, aber tief philosophischen Grundgedanken wohl herauszulösen verstand und ihn nachdenklich aus des Vetters Hinterstübchen auf der Bumsdorfer Pappelchaussee nach Bumsdorf trug. Er hatte solche holden Vertröstungen auf eine behaglichere, ruhige Zukunft sehr nötig; denn trotz der Stille, welche in dem Hause des seligen Steuerinspektors herrschte, war es augenblicklich ein ziemlich ruheloser Aufenthaltsort.
Die alte Frau, die Mutter, trug doch schwer an dem Verlust des alten subtrahierenden und addierenden Murrkopfs, und wenn sie länger als vierzig Jahre schwer an seinem Erdendasein getragen hatte, so vermißte sie ihn desto schmerzlicher jetzt überall und suchte ihn in allen Winkeln, wo sie ihn früher nur mit großem Unbehagen gefunden hätte. Es ist so etwas um eine verklungene Stimme, und wenn sie auch noch so verdrießlich knarrend oder schneidend war! Man kann selbst auf Fußtritte, die man innerlich bedeutend fürchtete, mit höchstem Verlangen warten und die Gewißheit, daß man dieselben nimmermehr in der Nebenstube oder draußen auf dem Gange vernehmen werde, nur mit wehmütig bangem Widerstreben an sich kommen lassen.
Der »Vater« fehlte der Alten, wo sie ging und stand, und der Sohn konnte ihr den Abgeschiedenen nun keineswegs ersetzen. Ja die Tante Schnödler, die Base Klementine und die Onkel Sackermann und Hagebucher waren ihr jetzt ein viel größerer Trost und eine viel liebere Gesellschaft als der stumme, nachdenkliche, zerstreute Leonhard. Mit jenen konnte man doch sitzen und von dem Gewesenen sprechen, wie es sich gehörte; allein die Welt war überhaupt mit einemmal eine andere geworden, und der Tod hatte alles verschoben. Die Alte hatte sich sehr ducken und fügen müssen, solange der Alte an jedem Morgen grämlich die Wacht bezog, und nun ging sie, wie gesagt, ruhelos umher und sprach nur noch davon, wie es für sie doch keine bessere und liebere Stelle mehr gebe als die neben seinem Grabe und wie angenehm es sein werde, wenn man auch sie dorthin trage und zur Ruhe bringe, da nun doch einmal alles aus der Welt fortgenommen sei, was ihr Freude gemacht habe, und der auf Nimmerwiederkommen fortgegangen sei, der's allein in allen Stücken gut mit ihr gemeint habe. –
Auf leisen Sohlen schlich der Afrikaner der Mutter nach, und es kostete ihm nicht die geringste Mühe, sich in ihre tausend und aber tausend weinerlichen und krittligen Launen zu schicken. Aber an manchem dunkeln, stürmischen Tage sendete er das bleiche, betrübte, verschüchterte Schwesterchen fort aus dem Hause, hinüber auf den Gutshof zu den Freundinnen; und der Herr Leutnant Hugo, der sich seinen Urlaub um ein nicht geringes hatte verlängern lassen, war ihm sehr dankbar dafür.
Es waren andere Grillen, welche der Mann aus dem Tumurkielande am Fenster der Katzenmühle, und es waren andere Grillen, welche er daheim der alten Frau gegenüber fing. Dazwischen fielen dann allerlei Briefe. Täubrich-Pascha schrieb sehnsüchtig-unverständlich, der Professor schrieb wehmütig-grimmig und stellenweise ebenfalls etwas unverständlich; doch eins ging aus den Seelenergüssen beider Korrespondenten unzweifelhaft hervor: Die Aufregung über die Vorgänge der letzten Zeit war immer noch mächtig in der Residenz, und was die Privataufregung der zwei trefflichen Charaktere betraf, so hatte sich auch diese durchaus noch nicht gelegt.
Leonhard antwortete, so gut er's vermochte. Er vertröstete den Pascha auf ein baldiges heiteres Zusammentreffen und setzte ihn fürs erste in den absoluten Besitz seines hauptstädtischen Nachlasses. Den Professor, welcher ihm auch die heitere Gegenwärtigkeit (hicceitas, wie er's nannte) des liebenswürdigen Herrn Ferdinand Zwickmüller meldete, vertröstete er auf die baldige Abreise desselben und warf ihm, d. h. dem Professor, die Entdeckung zwischen die Zähne, daß Bumsdorf wie so vieles andere im deutschen Lande seine Entstehung den Römern verdanke, lud ihn ein, sich in der Sommervakanz nach der Hochzeit der Tochter persönlich von der Richtigkeit der Sache zu überzeugen und den Stein, welcher das Ding bewies, abzuholen.
Was bedeutete dieses alles? Es hat Leute gegeben, die auf einer Watte, auf einem Felsenstück am Strande von der Flut überrascht wurden, die Wellen um sich anschwellen sahen und es dennoch vermochten, die Pfeife im Brand zu halten und die Uhr aufzuziehen, ehe die erbarmungslosen Wasser die Westentasche erreichten. Es waren nicht die schwächsten Charaktere, welche dieses konnten, und die Wahrscheinlichkeit, noch einmal aus der Gefahr gerettet zu werden, war für sie vielleicht größer als für alle jene, die in solchen Momenten nichts als ein verzweiflungsvolles Händeringen oder ein stumpfsinniges Hinstarren auf die graue tödliche Wüste übrig hatten. Der Herr van der Mook mußte im Laufe der Tage schreiben, und das einfachste und natürlichste war, so ruhig als möglich das Anklopfen des Briefboten zu erwarten und ihm nicht weiter entgegenzugehen, als eben unbedingt nötig war. Gegen Anfang des Monats Februar schrieb denn auch der Herr van der Mook, und zwar einen Brief folgenden Inhalts:
»Southampton, an Bord der Borussia
Lieber Hagebucher!
Ich besitze eine zähe Natur und befinde mich so wohl, als den Umständen angemessen ist; allein die Umstände sind auch darnach, und der Teufel hole mich, wenn ich weiß, was für Gesichter Sie und andere, welche ich nicht zu nennen wage, zu diesem Schreiben machen werden. Als wir beide in Abu Telfan im Königreich Dar-Fur zusammentrafen und ich das Vergnügen hatte, Ihnen in jedenfalls nicht durchgängig angenehmen Situationen meine schwache Hülfe zur Verfügung zu stellen, da konnten wir keine Ahnung davon haben, welche Verhältnisse uns noch das Schicksal in Kompanie auf die Schultern laden würde. Ich drücke der Bestie, die in mir steckt, eben wieder einmal mit beiden Fäusten die Gurgel zusammen, allein es wäre ein Mirakel, wenn sie sich nicht doch in dem, was ich zu sagen habe, Luft machte; und somit werden Sie nach der Mühle steigen, um den betrübten Seelen, den zwei armen Weibern den schmutzig blutigen Lappen in ein reinliches Tuch gewickelt zu überreichen.
In Paris fand ich nicht, was ich suchte, und das war mir eigentlich nicht unlieb, denn ich bin dort früher recht vergnügt gewesen; und in dieser verruchten Welt muß man sich solche unschuldig grüne Fleckchen möglichst unentweiht zu halten suchen. Bon, ich habe allerlei gejagt, Menschen und Vieh, und verliere nicht so leicht eine Fährte, wenn mir die Sache – das Leben, das Fell oder das Gefieder am Herzen liegt. Treffe einen alten Bekannten, einen Engländer, der wie ich allmählich ein solider Mann geworden ist und sich redlich von seiner Frau ernähren läßt. Die Dame hat ein sehr nützliches und gewinnreiches Institut gegründet, Adresse: Lying-in villa, rue Chateaubriand No 14 (No sign); und Monsieur geht auf den Boulevards spazieren und hat wohl einen freien Augenblick für einen guten Freund zur Disposition. Wir verstehen uns beide auf Flatterjagd und Kesseltreiben, kommen aber doch in Havre zu spät an, um mit dem Leutnant Kind dasselbe Paketboot zur Überfahrt nach England benützen zu können. Miß Julia Brown ist in unaufschiebbaren Angelegenheiten soeben aus Lancashire angekommen und an die Gattin meines Begleiters in der rue Chateaubriand dringlichst empfohlen worden. Mr. Robinson hat natürlich keine Zeit mehr für mich, er hat Miß Julia heimzubegleiten und tut es; ich genieße eine sehr stürmische Überfahrt, lande glücklich in Dover und habe bald das Vergnügen, unter meinem Fenster in Piccadilly den Strom, aus welchem ich die bekannten zwei Tropfen auffangen soll, rollen zu sehen und rauschen zu hören.
Daß ich mit einigem Widerwillen an die Aufgabe ging, werden Sie mir glauben, mon cher, und daß mich mein Fatum wieder so tief als möglich in das Pech hinabdrücken würde, war mir bereits in dem Augenblicke klar, als ich die Katzenmühle und Ihre zuversichtliche Miene hinter mir hatte. Lieber Freund, Sie ahnen wohl schon, was ich Ihnen mitzuteilen habe – es war eine kurze Jagd, und der Kamerad ist so schnell und hitzig auf seinem Wege gewesen, daß ich nicht einmal beim Halali zugegen sein konnte. Da wäre ich denn wieder einmal mit meinen allerbesten Vorsätzen um eine Nasenlänge hinter dem festen Willen eines andern zurückgeblieben! Und, bei meinem Leben, es tut mir nicht so leid, daß ich jetzt nicht zu Euch heimkehren und mich meiner Fahrt rühmen kann, als daß ein so starkes, ehrliches Leben an ein so schlechtes, niederes Wild gewendet werden mußte. Mein Kamerad, o mein Kamerad, mein wackerer, lieber Leidensgefährte aus dem Bagno! Bah, ich glaube, er ist besser dran als ich!
Die Londoner Polizeibeamten sind liebe Leute. Ich habe bereits in früheren Jahren die Freude gehabt, ihre Bekanntschaft in einer andern Angelegenheit zu machen, doch die Sache ging mich schon damals nichts an und kann uns heute gar nicht mehr kümmern. Nachdem ich einige Tage gleich einem sewer-hunter, einem Kloakenjäger, auf eigene Faust gesucht und nichts gefunden hatte, blieb mir, da die Zeit drängte und meine Unruhe von Stunde zu Stunde wuchs, nichts übrig, als in Bowstreet auf dem Polizeizentralbüro meine Visitenkarte abzugeben und mir den Rat und Trost der dortigen Gentlemen zu erbitten. Tat also und fand ein geneigtes Gehör und williges Entgegenkommen. Man stellt mir einen ruhigen, schweigsamen Herrn vor und zur Verfügung, Inspektor Cuddler, den ich wohl noch längere Zeit auf einsamen Spaziergängen an meiner Seite zu haben glauben werde. Er zieht bedächtig die Handschuhe an, nimmt den Regenschirm unter den Arm, und wir treten zusammen in die Gasse, gleich zwei guten Freunden und würdigen Cockneys, die sich vorgenommen haben, einen freien Tag dazu zu benützen, den Löwen des Towers einen Besuch abzustatten. Wir wandern und wandern, aus dem Tage in die Nacht hinein, aus der Nacht in einen neuen Tag. Zu Fuß, im Omnibus, im Cab, auf Spuren, die verlöschen, stärker hervortreten und wieder verlöschen – im Kreise, im Zickzack. Wir nehmen mit einem Händedruck Abschied voneinander und treffen am folgenden Morgen an einem verabredeten Platze von neuem zusammen. Aus Belgravia nach Saint Giles, von Pimlico nach Islington! Wir halten Konferenzen und machen Notizen auf den Polizeistationen in Westminster, Marylebone, Southwark und Thamesstreet. Nichts, nichts! Das Ding hätte für einen Amateur langweilig werden müssen: ich, welcher ich dieses Mal kein Amateur war, hielt aus, und Mr. Cuddler, der nichts anderes auf Erden zu besorgen zu haben schien, desgleichen. Wir warten an Straßenecken, in Kaffeehäusern, wir haben eine nächtliche Erscheinung am Haymarket unter den Babylonierinnen. Ein Herr steigt dort in ein Cab, und ich gebe meinem Inspektor einen Stoß. Wir haben nicht das Recht, den Herrn Friedrich von Glimmern zu verhaften, denn niemand erhob eine Anklage gegen ihn, und ich bin nicht deswegen über den Kanal gekommen; aber ein Königreich für seine Adresse! Wir werfen uns in ein anderes Fuhrwerk und instruieren den Kutscher; doch Erin ist natürlich wieder mal dreiviertel über Bord, will sagen total betrunken, strandet an einer Orangenbude, und ich gehe abermals getäuscht zum Teetrinken heim.
Was soll ich Sie länger aufhalten, Freund Hagebucher? Die Szene ist in Lower Thames Street, in dem dritten Stockwerk eines Hotels dritten Ranges; – Zeit: Mitternacht; – Wetter: regnerisch und windig. Das Haus ist in vollem Aufruhr; Mord! schreit die Finsternis, und die police hat die von innen verriegelte Tür des Zimmers Nummer sechsundzwanzig erbrochen. Um elf Uhr hörte Mr. Thomas Giblets, der Bewohner von Numero fünfundzwanzig, den Gentleman nebenan heimkehren, doch nicht allein, und wurde seine – Mr. Giblets' – Aufmerksamkeit nach einer Weile durch einen heftigen Wortwechsel erregt, welchem er, wie er sagte, im Anfange mit Behagen hinter seinem Economist horchte. Er – Mr. Giblets – hatte ein mühevolles, verdrießliches Tagewerk zurückgelegt, und es trug – wie er meinte – zu seinem augenblicklichen Komfort bei, daß andere Leute ebenfalls allerlei verdrießliche Geschäfte abzuwickeln hatten, und er fand – wie er zu Protokoll gab – die Sache erst dann etwas extraordinary, als hinter der Wand plötzlich – fast gleichzeitig – zwei Pistolenschüsse fielen, der Fall von schweren Körpern diesen folgte und andere bedenkliche Töne sich vernehmen ließen.
Das Haus lief zusammen, und gegen zwei Uhr zog der Inspektor Cuddler die Schelle an meiner eigenen Wohnung in Piccadilly. Ich stelle es Ihnen anheim, Carissimo, sich auszumalen, was ich in der Untern Themsestraße fand. Wir, die wir beide allerlei Schlachten und Gefechte der Menschen sahen und beide wohl dann und wann zwischen den Blutlachen standen, ohne grade viel nach der Moral des Dinges zu fragen, wir behalten immer ein gewisses kitzelndes Gefühl für das Malerische, und malerisch war das Zimmer des Herrn von Glimmern in dieser Nacht.
Sie waren beide von der Gasse heimgekommen und hatten ihre Angelegenheit in Frieden besprochen, nachdem der Leutnant Kind die Tür verschlossen und den Schlüssel aus dem Fenster geschleudert hatte. So friedlich, daß der sich ergebende Wortwechsel, wie gesagt, nur zur Erhöhung des Komforts des Stubennachbars beitrug. Und dann waren sie über den Tisch weg zu einem Verständnis und alle Differenzen beiderseits vollständig ausgleichenden Schluß gekommen. Man fand sie zu beiden Seiten des Tisches, die abgeschossenen Pistolen in der Hand; man fand meinen Freund, Seine Exzellenz den Freiherrn Friedrich von Glimmern, tot, durch das Herz getroffen wie Alp, Venedigs Renegat, und man fand meinen Freund und Kameraden, den Exleutnant der Strafkompanie zu Wallenburg, Friedrich Kind, nicht ganz so gut getroffen, jedoch ebenfalls über alle fernern irdischen Widerwärtigkeiten hinausgehoben. Er hat noch eine halbe Stunde nach dem Aufbrechen der Tür gelebt und sich recht friedfertig, sanft und gelassen gezeigt. Auf dem Bette des Herrn von Glimmern ist er ruhig entschlafen, seit fünfzig Jahren der einzige wirkliche Soldat des Bundeskontingents, welches die Ehre hatte, ihn in seinen Reihen aufzuführen. Ich fand einen Citymissionär neben der Leiche, als ich mit meinem Begleiter anlangte. Der Mann hatte durch seinen Beruf vor vielen andern Menschenkindern Gelegenheit, kuriose Sachen zu sehen, und wer an dem faulen Stroh der Sterbenden von Bethnal Green und Spital Fields zu knieen hat, der mag wohl ein Wort über die Mysterien des Todes mitreden. Ich gab ihm im ersten ruhigen Augenblick eine kurze Erklärung über den vorliegenden Fall, und er nannte ihn – tragically refreshing! Nach Jahr und Tag werde ich mich entscheiden, ob er mehr tragisch oder mehr erfrischend zu nennen ist; augenblicklich laboriere ich noch ein wenig zu sehr unter den Einwirkungen des Blutgeruchs auf Geschmack und Geruch und halte mein Votum deshalb zurück.
Einige weitere Förmlichkeiten werden die deutschen und englischen Behörden schriftlich austragen, und ich weiß in dieser Hinsicht nichts weiter hinzuzusetzen, als daß für ein anständiges Unterkommen der Leichen gesorgt wurde und daß es mir gelang, ein Verscharren derselben Seite an Seite zu verhindern, wodurch ich die Herzensmeinung und Neigung beider Toten so ziemlich getroffen zu haben glaube.
Werden wir nunmehr so elegisch und weich, wie es sich gebührt! Die grauen Wellen klatschen um den Bauch meines Schiffes, und meine Gedanken begleiten dieses Schreiben über die ärgerliche See nach der deutschen Küste. Ich male mir auf die verschiedenste Weise aus, in welcher Stunde es Ihnen ins Haus getragen wird und was Sie nach Empfang desselben beginnen werden. Ich habe ein wenig das Fieber oder sonst dergleichen. Bei Allah, ein Opiumrausch, ein Berberroß, ein Moskowiterkarree und die Aussicht auf den siebenten Himmel des Propheten, das sind die vier Dinge, aus denen seit Erschaffung der Welt die einzigen vernünftigen und vergnügten Momente der Menschheit zusammengedreht wurden! Bei Allah, ich wollte, ich läge auf irgendeinem alten oder neuen türkischen Schlachtfeld begraben und hätte Ruhe!
Was werden sie sagen in der Mühle, was werden sie tun? O Hagebucher, ich hätte noch immer die grimmigste Lust, dieses wahnsinnige Blatt zu zerreißen und selber zu kommen und selber in das Fenster zu sehen und selber an der Tür zu horchen! Fort damit! Ich glaube, ich käme, wenn ich selber die Hand in dem blutigen Spiel in Lower Thames Street gehabt hätte und sagen könnte: Das tat ich!
Ich peitsche diese Vorstellung im Kreise umher wie ein Bube seinen Kreisel! Mein armes Mädchen, was wird sie sagen, wenn Sie in die Tür treten und sprechen: Er ist tot! – ?
Zum Henker, ich weiß meiner Seele selbst keinen Rat, und Sie, Hagebucher, Sie, der Fremde, sollten es dort in dem verschlafenen Walde aussprechen, klar aussprechen können, was mir das Herz und den Gaumen austrocknet und mir das Gehirn zu Schaum quirlt? – Es wird wohl so sein; – leben Sie wohl und grüßen Sie meine Mutter.
Viktor Fehleysen
PS. Ich bin zu einem Weibe geworden und habe dadurch das Recht erworben, eine Nachschrift anzuhängen. Um vier Uhr am Nachmittag geht die Borussia, die nicht meinetwegen gestern Southampton anlief, nach New York. Ich befinde mich auf dem Wege zum General Grant; man sagt, der Herr besitze allerlei gute Mittel gegen Schwäche der Nerven, Blutandrang nach dem Kopfe und dergleichen und gebe dieselben wohlfeil ab.
Korporal Kornelius van der Mook«
Einen Tag und eine Nacht wog Leonhard Hagebucher den Inhalt dieses Briefes. Tief sank die eine Schale seiner Waage herab, während die andere hoch emporschnellte. Er trug schwer, schwer an dem leichtern Teile, welchen er am folgenden Morgen den Frauen in der Katzenmühle brachte.