Wilhelm Raabe
Abu Telfan
Wilhelm Raabe

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Fünfzehntes Kapitel

Es wird ohne Zweifel einmal eine Zeit gekommen sein, in welcher keine »Residenzen«, weder große noch kleine, mehr in unserm Weltteil existieren werden; dann aber haben vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa ihre Geschäftsträger, Gesandten, Generalkonsuln und Konsuln an den Höfen der fürstlichen Herrschaften jenseits des Ozeans zu erhalten, und freie und erleuchtete Bürger werden mit Vergnügen die große Republik bei den Majestäten von Neuyork, Ohio, Illinois, Virginien, Louisiana und so weiter vertreten, und wird die Etikette sowie alles übrige monarchische Spielwerk in ihren Händen recht sicher aufgehoben sein, that is a fact. Bis aber dieser glückselige und wahrhaft normale Zustand eingetreten ist, wollen wir uns das Leben auch unter den jetzigen Verhältnissen so angenehm wie möglich zu machen suchen.

»Derjenige politische Zustand ist immer der normalste, welcher den meisten kleinen Eitelkeiten der Menschen gerecht wird«, sagte Leonhard Hagebucher, und der Major Wildberg, ein feiner, gutmütiger Mann von gelehrtem Äußern, ein Herr mit einer goldenen Brille, einem blonden Bart und einer angehenden Glatze, ließ die Behauptung gelten, wenn auch nicht ohne ein bedeutsames Achselzucken.

Hagebucher hatte bei dem Major zu Mittag gespeist, und zwar ganz ausgezeichnet. Jetzt vergoldeten die letzten Strahlen der scheidenden Herbstsonne das Dessert; die Kinder hatten sich zwischen die Erwachsenen gedrängt, um ihr Teil von den Annehmlichkeiten des Daseins zu erhaschen, und das allerbehaglichste Lächeln verschwand von dem Gesicht der Frau Emma erst in dem Augenblicke, als ein Wagen in der Gasse rollte und vor der Tür des Hauses anhielt.

Die Frau Emma warf einen Blick zu ihrem Major hinüber und sagte, indem sie sich erhob:

»Das wird sie sein! Ich erwarte die Herren in meinem Zimmer.«

Der Afrikaner sprang auf und warf, um ihr die Tür öffnen zu können, verschiedene Stühle über den Haufen; der Major knackte seufzend die letzte Nuß und sagte, wieder die Achseln in die Höhe ziehend:

»Füllen Sie noch einmal Ihr Glas, mein Bester, wir wollen auf gute Kameradschaft anstoßen. Übrigens kam wahrscheinlich Nikola, ich meine die Frau von Glimmern, soeben. In einem Weilchen wollen wir meiner Frau folgen.«

Es war eine stille, ziemlich breite Straße, in welcher der Major Wildberg, im Mittelpunkt der Stadt, wohnte. Jahrhunderte waren durch die Gasse geschritten, ohne sie ungemütlich gemacht zu haben, und das angesehenere Zivil- und Militärbeamtentum des kleinen Staates wohnte mit Vorliebe hier bei dem soliden Bürgertum zur Miete. Die Kasernen, Kanzleien und Kirchen waren nach allen Seiten hin von hier aus leicht und trockenen Fußes zu erreichen, und die wohlklingendsten Titulaturen des Landes grüßten sich daher nicht ungerechtfertigterweise hier über den Weg und auf den Bürgersteigen vor den Haustüren, und manches große Verdienst um Fürst und Volk verzehrte in dieser Gegend der Stadt seine gesetzliche Pension mit angemessener Würde sowie in ungestörtester Muße. Benützen wir die Übergangsepoche, während welcher nicht etwa die deutsche Kleinstaaterei ein Ende nimmt, sondern während welcher der Major seinen Gast zu den Damen führt, um uns der Meinung des Mannes aus dem Tumurkielande vollständig anzuschließen und den Staat für den besten zu erklären, der am humansten sich darstellt, das heißt, den Gefühlen der Menschheit am meisten Rechnung trägt und seine Bürger nur dadurch dezimiert, daß er den zehnten Mann zu einem Geheimrat, Generalleutnant oder sonst anständig besoldeten und betitelten Beamten macht. Daß die Bürgerinnen mitdezimiert werden müssen, versteht sich natürlich von selbst.

Die Sonne hatte sich längst ganz befriedigt von der Tafel des Majors zurückgezogen, aber sie spiegelte sich noch in manchem Fenster und vergoldete manchen Erker, Giebel und Schornstein der Gasse. Von den Stufen seiner Haustüre aus taxierte der Hausherr des Majors den Wagen, die Pferde und den stattlichen Kutscher der Frau Intendantin. Gegenüber kam der alte Finanzrat vom Spaziergang heim, und der Steuerrat führte seine Gattin nach dem Theater, begleitet von dem Herrn von Punschold, welcher dem Klub zusteuerte. Fräulein Luise von Punschold sang über dem eleganten Laden des Fürstlichen Hofhandschuhfabrikanten Schrader und wurde auf dem Flügel von Fräulein Amalie von Punschold begleitet; der Posten am Eckhause mit dem Rokokobalkon gähnte entsetzlich; ebenso gähnte der städtische Polizeimann, welcher durch die Gasse schlenderte, ohne zu wissen weshalb. Die Frau Emma saß unter ihren Blumen und Blattgewächsen in der Fensternische, und zwar mit einem Strickstrumpf in den Händen. Nikola Glimmern lag im dämmerigsten Winkel des Gemaches, so tief als möglich von den Kissen eines Diwans versteckt. Der Major und Leonhard hatten in der Nähe dieses Diwans gleichfalls ganz behagliche Plätze gefunden, und jeder Uneingeweihte hätte sich einbilden können, daß die Zeit für alle diese Leute in ebenso angenehm träumerischer Beschaulichkeit stillestehe wie für die ruhige, reinliche Gasse draußen und die kleine, in ihrem Selbstbewußtsein sich vollständig genügende Hauptstadt rundumher. Wir, die wir zu den Eingeweihten gehören, wissen freilich, daß es sich nicht so ganz um die Stimmungen der Siesta handelte und daß das Leben wenigstens zwei der anwesenden Personen in einen andern Schein hüllte, als die rote, freundliche Abenddämmerung über die Präsidentengasse, das Strickzeug der Frau Emma und die Zeitung des Majors warf.

Die schöne Exzellenz in den weichen Kissen des Diwans hatte den Inhalt eines sehr reichhaltigen Reisetagebuchs in flüchtigen Umrissen dem kleinen Kreise mitgeteilt und versprochen, demnächst und bei passenden Gelegenheiten diese Konturen so buntfarbig wie möglich ausfüllen zu wollen; aber sie ließ heute nicht deshalb ihren Wagen drunten in der Gasse vor der Tür halten. Sie hatte heute zu fragen, und Hagebucher hatte zu erzählen, und eine Frage überkugelte immer die andere: was bedeuteten Rom und Florenz gegen die Hügel und Täler um Fliegenhausen, gegen den Wald um die Katzenmühle und die Katzenmühle selber?

»Klingen die Tropfen noch an dem alten Rade?« rief Nikola. »Auf manchem staubigen Pfade, zwischen Felsen und Tempeltrümmern, in manchem heißen Festsaale hab ich auf sie gehorcht; im Saale des preußischen Botschafters zu Paris, des Herrn von der Goltz, habe ich dem türkischen Gesandten davon gesprochen, und er hat nicht gelacht wie Sie, Wildberg. Es ist auch nicht zum Lachen; sehen Sie auf Emma, Major, die weiß es, und Sie wissen es auch, daß ich mich nur verstohlen hierherschleichen darf, um mir von der Frau Klaudine erzählen zu lassen.«

»Sie haben recht, Nikola«, sprach der Major sehr ernst, »das letztere ist nicht zum Lachen; aber es ist auch nicht in der Ordnung, und Emma wird mir beipflichten, wenn ich Ihnen bemerke, daß Ihr Weg Ihnen nunmehr klar vorgezeichnet ist. Sie haben, einerlei unter welchen Prämissen, Ihr Schicksal auch durch eigenen Willen unwiderruflich bestimmt; o liebe Freundin, blicken Sie jetzt nicht mehr zuviel seitwärts und zurück. Bedenken Sie, wie viele Augen und Ohren überall auf Sie achten; haben Sie Geduld; Mut und Heiterkeit finden sich allmählich auf dem Marsche –«

»Und mit der Zeit kann man ein recht wetterfester Troupier werden«, murmelte die Frau von Glimmern, fügte aber hinzu: »Ich danke Ihnen, Wildberg, Sie haben recht, hundertfach recht! Sie sind ein verständiger Mann und haben nur genommen, was Ihnen zukam, als Sie jene dort hinter dem Gummibaum zur Frau nahmen.«

Die Frau Emma, deren Stricknadeln während der letzten Minuten heller als gewöhnlich geklungen hatten, hob nun das Gesicht von ihrer Arbeit empor und sagte:

»Wollen Sie jetzt in Ihrer Historie nicht fortfahren, Herr Hagebucher? Bitte, tun Sie es! Nikola hört auch wohl gern, wie Sie Ihr Leben fortspannen, seit sie Bumsdorf verließ. Seine Vorgeschichte hat der Herr uns bereits über Tisch erzählt, Nikola – das ist alles und klingt alles wahrlich wie ein Märchen; ich werde die Lampe noch nicht bringen lassen, von solchen Wundern vernimmt man am besten im Dämmer; man kann die ordinäre Welt, die gewohnte Umgebung und das helle Tageslicht kaum dabei gebrauchen.«

»Ach, gnädige Frau«, sagte Leonhard, »von Wundern hab ich nun nicht weiter zu berichten. Die Katzenmühle und die alte Dame drin sind freilich immer ein Wunder; aber die Stadt Nippenburg reicht sicherlich nicht über das Epitheton ›wunderlich‹ hinaus, und was den Vetter Wassertreter und seinen Vetter vom Mondgebirge betrifft, so kennt die Frau Nikola beide viel zu genau, um nicht in ihrer Ecke die Achseln zu zucken und verschiedene ganz unproblematische Gedanken besser für sich zu behalten.«

»Wie Sie wünschen, amico«, sagte die Exzellenz mit leisem Lachen, »fahren Sie fort, aber reden Sie mich nicht wieder an während Ihrer Erzählung; wenden Sie sich mit Ihren Exkursen an den Major oder die Majorin; augenblicklich will ich nichts weiter als hören – weiter, weiter, Leonhard Hagebucher.«

»Die sickernden Tropfen am zerbrochenen Rade messen der Frau Klaudine noch immer die Zeit zu«, sprach Leonhard, »doch im Winter war die Mühle tief verschneit, und da ist der Zauber noch größer. Was hätt ich anfangen sollen ohne die Katzenmühle? Wenn der Wust und Ekel mir bis an den Hals stieg und mich zu ersticken drohte, dann habe ich keine andere Rettung gefunden als den Weg nach Fliegenhausen, und hundertmal bin ich den Weg gezogen, im Winter und im Sommer, im tiefsten Jammer und im wildesten Grimm, und immer konnte mir die alte Frau die geschlagene Seele aus den Ketten lösen. Mit Heulen und mit Zähneknirschen bin ich noch vor der Tür der Katzenmühle angelangt, aber jedesmal haben auf der Schwelle die Fratzen von mir ablassen müssen. Ei, meine Herrschaften, was habt ihr vor euch gebracht in den Jahren meiner Gefangenschaft unter den Barbaren! Es ist keine Kleinigkeit, inmitten der Errungenschaften eurer Zivilisation auf dem Rücken zu liegen und eure Taten und Siege nachzulesen. Ihr seid ein rares Volk, aber, offen gestanden, mein guter Freund Semibecco hatte auf dem Pfahle der Baggaraneger kaum ärger zu zappeln und zu stöhnen als ich in dem Hinterstübchen des Vetters Wassertreter unter den Makulaturbergen, welche der Gute über mir aufschüttete wie der Kaiser Heliogabalus – bemerken Sie das feine klassische Zitat – seine Rosenblätter über seinen Gästen. Ganz von neuem sollte ich mir das Sein, das Wesen und den Begriff der Welt klarmachen, ganz von neuem der Dinge Mechanik, Physik und Organik erkennen lernen. Bei allen Meistern, Lehrern und Propheten diesseits und jenseits der fünf Sinne des Menschen, ohne den trefflichen schwarzen Kaffee des Vetters Wassertreter, ohne die Frau Klaudine und ohne den Mantel des alten Goethe säße ich jetzt sicher im Landesirrenhaus und zählte an den Fingern: a) der subjektive Geist – b) der objektive Geist – c) der absolute Geist – und wenn ich dann nicht bei jedem Übergang zu einer neuen Kategorie einen neuen Wutanfall bekäme, so würde der Zustand recht befriedigend genannt werden können! – Die Frau Klaudine sprach: Mein Sohn, es ist eine Glocke, die klingt über alle Schellen; wer in der rechten Weise still sein kann, der wird sie wohl vernehmen; – mein Kind, für die heißeste Stirn hat das Schicksal ein kühlend Mittel: Dem einen legt es eine weiche Hand darauf, dem andern einen klaren Schein und zuletzt allen eine Erdscholle; du, sei still und warte, bis deine Augen hell werden. – Der alte Goethe meinte: Lieber Hagebucher, ein schäbiges Kamel trägt immer noch die Lasten vieler Esel; übrigens aber verweise ich Sie auf den dritten Band der Taschenausgabe meiner sämtlichen Werke, wo auf Seite hundertsechzehn geschrieben steht:

Anschaun, wenn es dir gelingt,
Daß es erst ins Innre dringt,
Dann nach außen wiederkehrt,
Bist am herrlichsten belehrt;

und dann etwas weiter unten meine Haupt- und Leibmaxime:

Denk an die Menschen nicht;
Denk an die Sachen!

Der Vetter Wassertreter, von seiner Kaffeemaschine aufblickend, rief: Der Mann hat recht wie immer; halte Er sich an den Herrn Geheimen Rat, Vetter; ich habe länger als vierzig Jahre in Nippenburg gelebt, und ich habe ihn auch persönlich kennengelernt, aber nur von hinten; denn ich kam leider erst in dem Augenblick vor dem Goldenen Pfau an, als er zur Weiterreise in seinem langen Überrock in den Wagen stieg. – Vierzig Jahre in Nippenburg, und nicht ein einzig Mal hat er mich in der Patsche steckenlassen, Vetter:

Dein Los ist gefallen, verfolge die Weise,
Der Weg ist begonnen, vollende die Reise,
Denn Sorgen und Kummer verändern es nicht,
Sie schleudern dich ewig aus gleichem Gewicht.

Und so, meine Damen und Herr Major, wurde mir durch eigene Ausdauer und die gute Hülfe anderer allmählich geholfen in meiner Verworrenheit. Ich machte den Sprung vom Mondgebirge durch den papierüberklebten Reif der Logik in eure helle, vergnügte Gegenwart, und hier bin ich, frech genug, wohlbewehrt mit Speer und Schleuder; und wenn eine Genugtuung für den Menschen darin liegt, daß er sich auf der Höhe seiner Zeit halte, sich auf den Kämmen der Wellen seines Volkes schaukle, so darf ich mich solcher Genugtuung in hohem Maße und ganz ohne mich zu rühmen, erfreuen. Der Lärm eurer Revolutionen von achtundvierzig hatte mir bis nach Suez nachgezittert; alles übrige verschlang die Wüste. Es ist ein dumpfes, verworrenes Gerücht gen Abu Telfan gekommen, die Mitternacht schwimme in Blut und eine Stadt der Zauberer und Dämonen, welche ganz in der Finsternis am Rande der Welt liege, werde bestürmt von den großen Sultanen der Nordwelt; der Islam habe sich herrlich erhoben und der Padischah umreite auf einem weißen Roß das Mittelmeer, alle Kinder des Propheten zum Streite und zum Siege aufzurufen. Ich mache jetzt dem Padischah und den verehrlichen Westmächten nachträglich mein Kompliment über ihr exaktes Vorgehen gegen den seligen Kaiser Nikolaus; mit Vergnügen habe ich die dahin einschlägige Literatur nachgelesen. Wie ein in der Bastille lebendig Begrabener die Bewegungen der Stadt Paris vernahm, so vernahm ich im Tumurkielande das Rauschen der Weltgeschichte. Von dem dritten Napoleon und Mylord Palmerston wurde erzählt wie in einem Karawanserei von Albondokani und dem Großen Wesir Dscha'afar dem Barmekiden; und auch die Begebenheiten des Jahres neunundfünfzig drangen in arabischer Fassung zu uns. Ach Herrschaften, es war ebenso schwer, sich politisch wie allgemein menschlich wiederzufinden; aber, wie gesagt, es ist mir gelungen; ich weiß von neuem Bescheid im individuellen Recht wie im sozialen; ich kann euch eine Vorlesung halten sowohl über die Familie wie über die bürgerliche Gesellschaft, über den Orient und den Okzident; ich kann reden gleich den andern über bildende Kunst, Musik und eure allerneueste Poesie. Wollt ihr mich episch – mit Vergnügen! Wollt ihr mich lyrisch, ungemein gern! Wollt ihr meine Ansichten über euer Drama haben – know nothing, aber dessenungeachtet surgit orator, macht der Redner sein Kompliment, euch auch in dieser Richtung seine besten Komplimente zu Füßen zu legen! Wie hieß der erste Engländer, welcher im Kriege gegen Rußland fiel, Herr Major?«

»Know nothing«, antwortete der Major lachend.

»William Salter hieß er und wurde an Bord des Terrible vor Odessa von einem Holzsplitter in den Hals getroffen. Seht ihr, aus dem Tumurkielande muß man zurückkommen, um euch das sagen zu können; lasset mir Zeit, und ich werde zu euch reden, in Prosa und in Versen, wie vormals Faunen und Schicksalssprecher gesungen!«

Die Frau Emma hatte längst in staunender Verwunderung die Hände in den Schoß fallen lassen und rieb von Zeit zu Zeit bedenklich die Stirn; ihr Gatte lachte, aber Nikola lachte nicht, sie erhob ihr Haupt ein wenig von den Kissen, indem sie sich auf den Ellbogen stützte, und sagte leise und traurig:

»Armer Freund, Sie stehen da, wo Sie mich fanden, als Sie aus der Wüste heimkehrten. Sie wollen Ihr zerstörtes Leben durch wilde Ironie zusammenfassen und zusammenhalten und glauben sich in dem Lachen retten zu können, mit welchem Sie sich in alle Gegensätze stürzen. Mit fieberheißen Händen wühlten Sie in dem bunten Kehricht der Gegenwart; wir dürfen Ihnen wohl glauben, daß Sie mehr von derselben kennen als wir, die wir in der Zeit lebten; aber Sie sollen uns heute nichts mehr von Ihren Studien, Ihren tränen- und spottreichen Errungenschaften erzählen; es ist ein unerquicklich Horchen, und es überfällt einen ein Grauen dabei. Lieber Hagebucher, hätten wir beide uns unsere Hütten neben der Katzenmühle, unter dem Schirm und Bann Unserer Lieben Frau von der Geduld aufgerichtet, es würde besser für uns gewesen sein. Jetzt sagen Sie noch schnell, wie Sie hierherkamen und wie Sie leben; dann muß ich gehen, es ist ja bereits völlig Nacht geworden.«

»Sie haben immer recht, gnädige Frau, wie von Gottes Gnaden. Sprechen wir nicht mehr von dem, was Sie meine Errungenschaften nennen«, sagte Leonhard ernst. »Post spiritum tandem commotio, das ist eine Stelle aus der Vulgata, meine Damen, welche ich übersetze: Nach dem Winde kam endlich die Bewegung. Die Bibel setzt hinzu: aber der Herr war nicht in der Bewegung – doch darüber kann ich augenblicklich noch nichts Genaueres mitteilen; denn die Konsequenzen sollen meinen jetzigen Schritten erst folgen. Nachdem ich den Spiritus der Zeiten eingeschlürft hatte, bekam ich häufig Anfälle von körperlichem Schwindel und litt an heftigen Kopfschmerzen und Augenschmerzen. Der Vetter Wassertreter hätte mich freilich am liebsten an der Kette behalten; er sah nicht ein, weshalb andere Leute es besser haben sollten als er, und behauptete, nach zwanzig Jahren werde ich mich ebenso wohl in Nippenburg fühlen wie er. Nur der Frau Klaudine gelang es, mir endlich die Freiheit zu erwirken, aber seine Vormundschaft hat der Vetter bis zum letzten Augenblick festgehalten. Er schrieb geheimnisvolle Briefe, bekam geheimnisvolle Antworten auf dieselben, und eines Tages führte er mich sehr mißgelaunt persönlich hierher, um mich guten Händen, das heißt einem alten Universitätsfreunde, dem Professor Reihenschlager, zu überliefern. Der alte Bursch quält sich unendlich mit der Abfassung einer koptischen Grammatik; nun helfe ich ihm dabei, und wir vertragen uns ausgezeichnet. Wir passen ganz zueinander, und er ist der festen Überzeugung, das Schicksal habe mich nur seinet- und der Grammatik wegen zu den Äthiopen geschickt.«

»Und Serena?« fragte die Majorin.

»Serena ist ein liebes Kind, ein gutes Mädchen. Sie hält mich für den ersten Märchenerzähler der Welt, und ich suche meinen Ruf nach besten Kräften aufrechtzuerhalten. Wenn sie sich nicht hinter meinem Rücken über mich lustig macht, so habe ich das Recht, sie für eine gar ernsthafte, verständige kleine Person zu halten. Hübsch ist sie.«

»Und Täubrich-Pascha?« fragte Nikola von Glimmern.

»Täubrich-Pascha ist mein Wandnachbar in der Kesselstraße. Er ist der Famulus des Professors, und in dessen Hause vergönnten mir die Götter das Glück seiner Bekanntschaft. Wir leben zusammen und wir träumen zusammen; auch wir sind füreinander geschaffen, auch uns scheint das Fatum nicht ohne genügende Gründe aus so weiten Fernen einander entgegengeführt zu haben.«

»Wenn es die Absicht hatte, dadurch Ihre äußere Erscheinung zu verbessern, so täuschte es sich sehr in seinen Mitteln«, sagte Nikola; aber ernst fügte sie hinzu, indem sie sich erhob: »Ich danke Ihnen aus vollem Herzen, mein Freund; Ihre Worte heute haben mir gar gutgetan, und jetzt bitte ich euch alle noch einmal, habt auch fernerhin Geduld mit dem mürrischen, launischen Weibe. Die Schrift redet weiter, Herr Hagebucher: Und nach der Bewegung kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer; und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen! – Auf das letzte hoff ich, und nun lebt wohl für heute.«

Ein Diener brachte die Lampe, der Herr und die Frau des Hauses geleiteten die Exzellenz vor die Tür, und Leonhard hörte ihren Wagen fortrollen. Als er sich nun gleichfalls empfahl, griff auch der Major nach der Mütze und begleitete ihn durch mehrere Gassen, wie ein Mann, der etwas auf dem Herzen hat, ohne so recht zu wissen, auf welche Art er es am schicklichsten von demselben loswerde. An der Ecke der Kesselstraße erst faßte er nach einem Knopfe des Afrikaners und sagte:

»Lieber Hagebucher, es ist meine Gewohnheit nicht, die Nase zu tief in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken; allein ich kann nicht umhin, Ihnen jetzt eine Frage vorzulegen, welche Sie mir recht ehrlich beantworten müssen. Wie stehen Sie zu dieser schönen Freundin meiner Frau, welche vor einem Jahre als Nikola Einstein mit Ihnen in Bumsdorf Kränze wand und heute noch als Baronin Glimmern gern mit Ihnen neben der Katzenmühle Hütten bauen möchte?«

Der Hausfreund des Professor Reihenschlager klopfte dem Major leise auf den Arm:

»Sie repräsentierte mir zuerst die ganze Schönheit einer Welt, die mir abhanden gekommen war unter der Herrschaft meiner nicht angestammten Herrin Madam Kulla Gulla zu Abu Telfan. Wie einen zusammengekugelten Kaliban rollte das Geschick mich ihr in den Weg, und sie lehrte mich zuerst wieder, aufrechten Hauptes die Sonne zu betrachten. Ich habe nie daran gedacht, sie in irgendeiner Weise zu meinem stumpfsinnigen Elend herabzuziehen; in dem, was die Gesellschaft ein Verhältnis nennt, stehe ich also nicht zu ihr.«

»Sie nehmen mir einen Stein von der Seele!« rief der Major, kräftig dem Afrikaner beide Hände schüttelnd. »Hagebucher, Sie sind ganz mein Mann, und morgen führe ich Sie in unsern Klub ein.«

Leonhard lachte herzlich, und so schieden beide Herren im besten Einvernehmen voneinander; als aber der Major zu Hause unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit das eben so schlau Ausgeforschte der Gattin mitteilte, fragte ihn die Frau Emma mit noch viel gescheiterer Miene, für was er sie eigentlich halte und ob er wirklich glaube, daß sie als Gattin, Hausfrau und Freundin das nicht längst sich klargemacht habe.

»Ich kenne meine Pflichten, Philipp!« sprach sie.


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