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Der Mann vom Mondgebirge klopfte an die Tür des Mannes, welchen er zu seinem Schwiegervater hatte machen wollen, horchte, glaubte von innen einen tiefen Seufzer zu vernehmen und trat ein, ohne die Einladung zum Eintreten abzuwarten. Er hätte auch lange darauf warten können; die Pfeife war dem Professor Reihenschlager erloschen, und mit ihr erschien auch der Professor erloschen zu sein. Der Schein trügt: welch ein behagliches Licht hatte diese Studierlampe in den Schnee der Winternacht hinausgeworfen, und welchen Mißmut, welche Zerschlagenheit an Leib und Seele beleuchtete sie!
Inmitten des Rüstzeuges seiner gelehrten Forschungen saß der Schwiegervater des trefflichen Institutsvorstehers Ferdinand Zwickmüller, gebeugt, geknickt, und blickte nach der gegenüberliegenden Wand wie der König Belsazar, mit dessen außerbiblischer Geschichte er sich vor einer Stunde noch harmlos und ohne eine Ahnung dessen, was ihm der Briefträger ins Haus trug, beschäftigt hatte.
An welcher Felsenwand, an welchem Obelisken, in welcher Grabhöhle stand in Keilschrift oder in Hieroglyphen der Trostspruch geschrieben, durch welchen sich das aus den Fugen gebrochene Leben wiedereinrenken und zusammenleimen ließ?
»Wo? Wo? Wo?« rief der Professor, und einer andern Ophelia gleich, machte er seiner Bestürzung, seiner Ratlosigkeit halb in Prosa, halb in Versen Luft; und was die letztern betraf, so erwachte, wie in einem Chloroformrausche, die rührendste Jugendpoesie in seinem verschobenen Gehirn.
»Das ist eine schöne Bescherung!« murmelte er. »Bei der tausendbrüstigen Isis, was soll nun aus mir werden?
Die Männer, Völker, Flüsse, Wind'
und Monat' maskulina sind –
alles Material zu einem geordneten Leben, zu einem ruhigen Greisenalter durcheinandergeworfen!
Die Weiber, Bäume, Städte, Land'
und Inseln weiblich sind benannt –
und ich alter Tor vermeinte, alles sei vorbei, und renommierte mit meiner Schlauheit und meinem scharfen Blick!
Commune heißt, was einen Mann
und eine Frau bezeichnen kann –
ja, kommun ist es, Ferdinand Zwickmüller! O welchen Kuckuck hab ich mir im Neste ausgebrütet! Und wie das Kind seine Rolle gespielt hat! O was soll ich tun, was soll ich tun?«
»Was man nicht deklinieren kann,
das sieht man als ein neutrum an!«
sprach Leonhard Hagebucher. »Ich glaube nicht, daß Ihnen etwas anderes übrigbleibt, als diese Sache in der Art anzusehen.« Der Professor aber fuhr empor und mit ausgebreiteten Armen dem Afrikaner entgegen:
»Wissen Sie es schon? Was sagen Sie dazu? Hat man es Ihnen unten im Hause zugejauchzt? Hagebucher, verlassen Sie mich nicht! Bleiben Sie bei mir! Ja, hier ist der Busen, welcher mir von den tausend Brüsten der allernährenden Mutter allein noch übrigblieb! Was sagen Sie zu der heillosen Geschichte?«
»Ich gratuliere bestens«, sagte Hagebucher so munter, als es sich eben tun lassen wollte. »Nach einem triftigen Grunde zur Verzweiflung blicke ich mich vergebens um.«
»So? Da danke ich Ihnen ganz gehorsamst, mein Freund. Es ist in der Tat merkwürdig, es ist eine der größten Merkwürdigkeiten, welche es auf Erden geben kann: selbst die Vernünftigsten, die Verständigsten, die Nüchternsten und Trockensten können die Hand nicht davon lassen. Einen Grund zur Verzweiflung sehe auch ich nicht; aber als denkender Mensch, als vorurteilsfreier Betrachter menschlicher Verhältnisse ärgere ich mich ungemein.«
»Wenn der Herr Zwickmüller sonst ein anständiger Gesell ist –«
»Seien Sie mir still! Ein anständiger Mensch? Ich wollte nur, Sie kennten ihn persönlich.«
»Das würde mir freilich am heutigen Abend zu großer Genugtuung gereichen«, brummte der Afrikaner.
»Ich wünschte, Sie kennten ihn, wie ich ihn kenne. Solch ein trefflicher Jüngling und ausgezeichneter Mathematiker wird nicht leicht zum zweitenmal in diesem irdischen Jammertal gefunden. Er ist viel zu gut für mich, und an seinem Äußern ist nicht das mindeste auszusetzen. So nüchtern, so verständig ist er – ach, Hagebucher, dort pflegte er zu sitzen, dort auf Ihrem Stuhle, Hagebucher, und dann pflegte er die Unterlippe gradeso wie Sie in diesem Augenblicke herunterhängen zu lassen, was mich darauf bringt, daß Sie mir eben auch nicht aussehen wie sonst. Na, ich danke Ihnen nochmals für Ihre innige Teilnahme, denn in ihr wurzelt doch hoffentlich Ihre Verstimmung. Was wollt ich aber sagen? Richtig – richtig, die Lippe hing ihm sehr häufig herab; o man mußte ihn sehr zart angreifen, man war zu keiner Zeit sicher, ob man ihn nicht unwissentlich aufs tiefste gekränkt habe. Er ist ein wenig nervenschwach, der Gute, und kann einem die harmloseste Bemerkung sechs Wochen lang nachtragen; aber was das betrifft, so paßt er ganz zu dem Mädchen, und sie werden eine recht vergnügte Ehe zusammen führen.«
»Der Herr segne sie alle beide!« brummte Hagebucher.
»Als Vater und Schwiegervater muß ich pflichtgemäß wohl dasselbe wünschen, aber meinen Mißmut kann das nur erhöhen. Jahrelang hat dieser Zwickmüller dort auf Ihrem Stuhle gesessen, und jahrelang habe ich im Schweiße meines Angesichts an seiner Ausbildung gearbeitet, und über das Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern habe ich mich in den Pausen ernsterer Beschäftigung wahrhaftig eingehend genug ausgelassen. Wäre er mein leiblicher Sohn gewesen, so hätte ich diesen Ferdinand nicht zärtlicher, nicht herzlicher warnen können. Wenn ich nicht irre, so habe ich Ihnen früher schon erzählt, wie ich dann, als sich bedenkliche Symptome zeigten, daß alles doch vergeblich sei, ihn kurzweg aus dem Hause jagte und wie er mir später aus der Fremde schrieb und sich für mein korrektes Verfahren innig bedankte. Fortwährend standen wir im vertraulichsten Briefwechsel; o der Hinterlistige behauptete, nie etwas ohne meinen Rat tun zu wollen, und nun tut er mir dieses an! Hier sitze ich ruhig und denke an nichts, oder ich denke vielmehr sehr tief über das N in πνω, πνευμα snuf, nys, nas, snut nach, aber was mir bevorsteht, das rieche ich nicht. Kommt das Mädchen plötzlich wie eine Windsbraut hereingestürmt, hält mir von hinten die Augen zu, lacht und weint, kichert und schluchzt, küßt mich und schiebt mir, als ich mich verwundert nach dem Grunde des Getöses erkundige, einen Brief unter die Nase, welcher alles πνευμα auf der Stelle aus mir heraustreibt. Was schreibt der Schlingel? Von dem scharfen Auge väterlicher Liebe schreibt er, und es könne mir gewiß nicht entgangen sein und so weiter, und seine Hochachtung und seine Verehrung für mich seien unermeßlich und so weiter, und seine materiellen Umstände seien derartig, daß er sich wohl getraue, eine Frau zu ernähren. Hagebucher, Hagebucher, wissen Sie, was ein Ölgötze ist? Ich wußte es auch nicht, jedoch in diesem Augenblicke wurde mir die Bedeutung des Wortes klar. Wie ein Ölgötze saß ich da, und vor mir stand das Mädchen und wußte nichts Besseres zu tun, als mir immer von neuem um den Hals zu fallen und zwischen Heulen und Jauchzen zu zwitschern: ›Ja, Papa, liebster, liebster Papa, es ist so, es ist wirklich so, und es ist eine solche alte Geschichte, und wärst du nicht mein alter, lieber, dummer Papa, so würdest du gewiß nicht ein solches Gesicht dazu machen!‹ – Nun frage ich Sie, Leonhard, was für ein Gesicht sollte ich machen? Wenn ich in vierzehn Tagen darüber mit mir im klaren bin, so will ich mich glücklich schätzen. Ich will nicht mit den Göttern rechten, doch weshalb muß dieses grade mir passieren? Weshalb müssen grade mir die verständigsten, die hoffnungsvollsten Menschen, die solidesten jungen Leute unter den Händen zu Narren werden? Weil ich eine hübsche Tochter habe? Ist das ein Grund? Habent sua fata puellae! Freilich, freilich haben sie ihre Schicksale; aber war es wirklich zur Erhaltung und Verschönerung dessen, was Markus Tullius Cicero die Wohnung der Götter und Menschen, domus communis deorum hominumque, nennt, nötig, daß mir mein eigen Fleisch und Blut das eigene Dach über dem Kopfe abdecke? O Hagebucher, weshalb hießen Sie nicht Zwickmüller, und weshalb führte das Schicksal jenen nicht zu den Kaffern und Hottentotten? Sie würden mir gewiß nicht einen solchen Streich gespielt haben. Ja, Sie sind mein einziger Trost; in diesem Augenblicke erquickt mich Ihre Gegenwart, aber in den nächsten Tagen, wenn der Narr von Genf angelangt ist und mit der Dirne das Weitere verabredet, wird sie mir unschätzbar und durch nichts anderes zu ersetzen sein.«
»Herr Professor!...« hub Hagebucher mit einem vollen Atemzuge an, wie jemand, der im Begriff ist, eine sehr lange Rede zu halten, sehr viel zu sagen hat und das, was er auf dem Herzen trägt, im Geiste wohl ordnete und zurechtlegte. »Herr Professor!« sprach Hagebucher mit kräftigstem Nachdruck im tiefrollenden Brustton, und dann – dann brach er ab, ehe er angefangen hatte, schüttelte stumm, gerührt dem Papa Reihenschlager die Hand, schnappte dreimal nach Luft, entwich schwankend, und draußen auf der Treppe setzte er seine Rede fort, zog sie zusammen und brachte sie zu Ende. Der schändlichste Fluch der Baggaraneger genügte ihm längst nicht zum Ausdruck seiner Gefühle: er fand einen Segenswunsch seines Freundes Semibecco in der Erinnerung zur rechten Zeit wieder; – das Wort sprach er aus auf der Treppe, und das Wort tat ihm wohl.
Leise stieg er nun die Stufen hinab, indem er sich an dem Geländer hielt. Unhörbaren Schrittes schlich er an Serenas Küche vorüber, erschrak sehr über den hellen Klang der Haustürglocke und entging seinem Schicksale doch nicht.
»Wollen Sie schon gehen, Herr Hagebucher?« erklang hinter ihm die Stimme Serenas, und zwar ebenso hell als die Türglocke und dazu so vergnügt-gleichmütig, so frei von allem Zittern, Stocken und Anstoßen, daß es eine Lust war, sie zu hören, nur nicht für den Afrikaner.
»Ja, ich gehe schon, Fräulein. Gute Nacht! Empfehlen Sie mich in Ihrem Traume freundlichst dem Herrn Ferdinand!«
Und er ging wirklich.
Als er wieder in der Straße stand, klopfte er sich mit dem Knöchel des Zeigefingers der rechten Hand vor die Stirn und glaubte einen hohlern Klang als sonst herauszuschlagen. Auch jetzt schreiben wir die Wendung, die er dem tiefen Spruch: Erkenne dich selbst! gab, nicht nieder, sowenig als vorhin den Lieblingsausruf des Freundes und Elfenbeinhändlers Semibecco. Daß er sich damit von der Wahrheit nicht sehr weit entfernte, kann leider nicht geleugnet werden.
Die Stadt war voll ungewöhnlichen Getümmels, Privatequipagen und Mietwagen führten mit dumpfem Geroll die Eingeladenen, die Bevorzugten der Gesellschaft zum Feste des Herrn von Betzendorff. Durch das glänzendhelle Fenster eines Handschuhladens erblickte Leonhard den Leutnant von Bumsdorf im eifrigen Verkehr mit der den Laden hütenden Göttin und entwich schleunigst, ehe der junge Krieger seinen Einkauf beendet hatte.
Nach Hause? Mit geheimem Grauen erinnerte sich der Afrikaner, daß dort noch der Sanchoniathon auf dem Tische liege und daß er daselbst auf keine andere Gesellschaft als die des alten Phöniziers zu rechnen habe.
Zum Leutnant Kind auf ein Plauderstündchen? Das ließ sich eher hören! Der Mann paßte besser in die Stimmung. Nein, er paßte zu gut hinein, und schaudernd wendete Hagebucher sich auch von dieser Idee, seiner eigenen Gesellschaft zu entgehen, ab. Fast ohne zu wissen, wie die Sache sich gemacht habe, fand er sich zuletzt in einer ziemlich leeren Weinstube einer Flasche Rüdesheimer gegenüber und mit der Speisekarte in der Hand.
Er aß, ganz unnatürlicherweise, gut, und er aß viel. Er trank eine zweite Flasche Rüdesheimer. Das Geschwätz der Gäste um ihn her, das Gehen und Kommen, das breite, gleichmütige Gesicht des Wirts, die automatenhaften Bewegungen der Kellner, ja sogar die Bilder, Fahrtenpläne und die Plakate der Auswanderungsagenten und vor allem der Pendel der Uhr übten einen wohltätig narkotischen Einfluß auf seine Nerven.
Er griff nach einer Zeitung, legte sie wieder hin und griff von neuem danach. An der andern Ecke des Tisches dehnte sich ein Stammgast, gähnte sehr und beklagte sich bitterlich über die Langweiligkeit des Daseins in der Welt im allgemeinen und in dieser vortrefflichen Residenz im besondern. Sein Nachbar, von dem Gähnen angesteckt, gab ihm vollkommen recht, und das Gähnen gab er weiter. Leonhard Hagebucher sah es von Mund zu Mund sich verbreiten und überlegte träumerisch, wieviel Widerstandsfähigkeit er ihm wohl entgegenzusetzen habe, wenn es bei einer solchen Stimmung sich auch an ihn heranwagen würde. Und indem er überlegte, war er schon besiegt, und nun brach er ebenfalls, seiner Stimmung zum Trotz, in ein ganz munteres Lachen aus, und das war die erste wirkliche Erfrischung, welche ihm das Schicksal an dem heutigen Abend gönnte. Die Gäste sahen verwundert auf den heitern Menschen, und einige beneideten ihn jedenfalls um seine frohe Laune. Er aber bezahlte seine Rechnung, zündete eine frische Zigarre an und trat, grad als es elf Uhr schlug, wieder in die kalte Nacht hinaus und fand nichts Ungewöhnliches auf seinem Wege. Es war noch viel Leben in den Gassen. Die Leute lachten und schalten höchstens über den strengen Winter; nicht ein einziges Mal traf ein Wort das Ohr des Afrikaners, welches ihn hätte aufhorchen und sich umsehen machen können. Weder den Gassen noch den Leuten merkte man es im geringsten an, daß soeben etwas in der Stadt sich ereignet hatte, welches wochen-, ja monatelang den ausgiebigsten Stoff zu allen möglichen Unterhaltungen, Erörterungen, Angriffen und Verhetzungen geben sollte, welches ganze Kreise der Gesellschaft zerreißen und nach allen Richtungen hin auseinandersprengen, welches den höchsten wie den geringsten dieses so sehr in sich abgeschlossenen Gemeinwesens auf das tiefste berühren und welches, durch Wort, Schrift und Druck weit über die engen Grenzen des Landes hinausgetragen, für lange Zeit sowohl das Ländchen wie das Hauptstädtchen arg in das Gerede der Menschen bringen mußte.
»Wenn ich nur den Täubrich zu Hause vorfände«, meinte Hagebucher im Weitermarschieren. »Ich glaube, wenn ich ihm sein Teil von der Blamage hätte zukommen lassen, so würde ich den Sonnenaufgang in aller Gemächlichkeit abwarten können. Aber der Gute ist beim Herrn von Betzendorff und ergötzt sich verstohlen an ganz andern Delikatessen, als ich ihm vorzusetzen habe. Bei Gott, ich fühle mich noch immer nicht zu groß, ihm die ganze Geschichte in die Schuhe zu schieben. Ah, in Abu Telfan war es schön, und im Hinterstübchen des Vetters Wassertreter war es auch schön! Es ist fabelhaft, aber nichtsdestoweniger wahr: selbst der Sanchoniathon kann einem in der Bedrängnis noch zum Troste werden; ich werde hingehen und den Sanchoniathon lesen.«
Am Eingange der Kesselstraße überkam ihn mit dem klarsten Verständnis für die Enttäuschung, welcher er sich so mutwillig ausgesetzt hatte, ein neuer, aber auch letzter Paroxysmus. Er tanzte vor Aufregung ein weniges im Schnee und rief:
»Das kommt davon, wenn man sich nicht ganz allein auf sich selber verläßt! Wäre es mir ohne das Zureden des Menschen, des verruchten Täubrich, des wasserblauen Pinsels eingefallen, an diesem Abend die Nase aus der Tür zu stecken? Bei zwanzig Grad Kälte? Wahrhaftig, ich will dem Pascha gewiß nicht die Schuld allein in die Babuschen schieben; aber die sentimentale, liebebedürftige Minute wäre ohne ihn auch vorbeigegangen, und der nächste Morgen hätte ein besseres Verständnis für die Dinge gebracht. Ferdinand! Es ist zu lächerlich!... Ferdinand Zwickmüller! Zwick – müller! Und wenn man nur behaupten könnte, das Kind habe unrecht und sehe sein eigenes Beste nicht ein! Es wußte aber gar wohl, wohin es sein junges Herz am passendsten zu verschenken hatte, und ich möchte wissen, wer unsereinem die Berechtigung, sich zu beklagen, geben könnte.«
Er erreichte seine Haustür und packte den Türgriff, indem er seine fernerweitigen Gefühle in lauter Gaumenlauten und Schnalzern von Abu Telfan kundgab, welches immerhin noch ein recht bedenklicher Umstand für Täubrich-Pascha war. Auf der Treppe jedoch kam ihm eine mildere Vorstellung, und diese sprach er wieder deutsch aus:
»Ich kann ihn nicht über den Tisch ziehen, denn ich habe ihn nicht; aber obgleich ich ihn nicht habe oder grad weil ich ihn nicht habe, werde ich ihm eine Rede halten, eine sehr schöne Rede. O ich habe schon öfters im Leben ins Blaue hinein gesprochen, und nicht immer mit solcher Berechtigung. Und, Täubrich, ich werde mir nicht dreinreden lassen, merken Sie sich das. Bismillah, die Gelegenheit, sich einmal recht ordentlich auszusprechen, findet sich nicht so häufig, als die Welt gewöhnlich annimmt.«
Jetzt trat er in sein Zimmer und glaubte fest, durchaus zu wissen, was er zu sagen habe; allein der Anblick, der ihn traf, bannte ihn für eine ganze Weile auf die Schwelle und löste allmählich alles, was ihm noch von Grimm in der Seele übriggeblieben war, in Rührung auf. Das Zimmer war geordnet wie noch nie. Die Vorhänge waren niedergelassen. Der Fuß trat auf zierlich und künstlich gestreuten weißen Sand. In der Mitte des Gemaches stand der Tisch mit einem weißen Tuch gedeckt, und neben der hell brennenden Lampe stand in einem Wasserglase ein Blumenstrauß, so schön, wie ihn der Kunstgärtner in dieser Jahreszeit für weniges Geld einem guten Freunde liefern konnte. Vor dem Strauße lag ein großer Bogen weißen Postpapieres, und auf demselben stand in großen Charakteren geschrieben:
»Ich gratuliehre!«
und darunter der Name: »Felix Täubrich«, samt der schlauen Bemerkung: »In seiner Abwesenheit.«
Eine Träne konnte Leonhard Hagebucher aus dem einfachen Grunde nicht aus dem Auge wischen, weil sich keine darin sammelte; aber der schlimmste der Baggaraneger hätte er sein müssen, wenn er noch den kleinsten Rest von Rachgier mit zu diesem geschmückten Tische genommen haben würde. Kopfschüttelnd, lächelnd, mit dem Hute auf dem Kopfe stand er vor diesem Altar der innigsten Zuneigung und malte sich aufs lebendigste aus, welche Tänze und Sprünge der arme, gute, wackere Gesell, der träumende Schneider Felix Täubrich, genannt Täubrich-Pascha, um diesen Strauß und dieses Blatt aufführte, ehe er, das Herz voll der schönsten Hoffnungen und blühendsten Phantasien, sich auf den Weg zum Herrn von Betzendorff machte. Und nun wäre beinahe doch die Träne gekommen mit der Vorstellung, in welcher schlechten Narrenwelt dieser echte, wahre Narr, dieser der Gottheit so wohlgefällige Narr, dieser ganz und gar närrische Täubrich-Pascha aus Jerusalem jetzt hinter den Stühlen stehe und aufwarte.
Da hielt er denn seine Rede und trug den Papierbogen mit dem Glückwunsch wie sein Konzept in der Hand. Ganz direkt an den Pascha hielt er seine Rede, wandte sich häufig an den Tisch und ließ es bei den eindringlichen Stellen an den nötigen Gesten nicht fehlen.
»Sie wünschen mir Glück, Täubrich, und ich nehme den Wunsch mit dem besten Dank an. Sie will nicht und hat ihre Gründe dafür, welche wir gelten lassen müssen. Wir haben uns beide getäuscht, Felix Täubrich, aber in den Mund der Kinder haben die Götter eine große Macht gelegt; mit einer törichten Hoffnung bin ich ausgezogen, ein vollgerüttelt und -geschüttelt Maß der Weisheit bringe ich heim. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre wohlgemeinte Gratulation, nie ist eine solche mehr der Zeit und den Umständen gemäß abgestattet worden. Wir bleiben immer Kinder, und so klug wir auch werden mögen, wir behalten immer die Lust, mit scharfen Messern und spitzen Scheren zu spielen. Nun lassen Sie mich räsonieren, Täubrich! Sie sind ja doch der einzige Mensch in diesem Neste, mit welchem sich vernünftig über so etwas sprechen läßt; es wird nicht jedem so gut, sich sein Publikum wählen zu können, wie wir das bereits vor einiger Zeit erfuhren. Was trieb mich zu dem Gange am heutigen Abend, Täubrich, und was wollte ich durch denselben gewinnen? Ruhe – Zufriedenheit – Glück? Ich, der Mann aus dem Tumurkielande? Ich, der Mann vom Dschebel al Komri, dem Mondgebirge? Sie haben gut mit dem Kopf zu nicken, Täubrich-Pascha! In dem Rauschen der phantastischen Wipfel über Ihrem närrischen Haupte ist freilich Musik, in der alles einen Klang findet, was der Seele und dem Leibe süß und behaglich ist. Ach, Täubrich, über meinem Schädel ist kein Rauschen, weder von den Palmen des Morgenlandes noch von den Buchen und Linden der Heimat! Eine leere dunkle Bläue liegt von Osten nach Westen, von Mittag nach Mitternacht ausgebreitet, und es war eine Verruchtheit, eine heillose Lüge, zu einem armen, kindlichen Wesen zu sagen: Komm her, sitze nieder in dem Schatten meiner Bäume, du sollst es da gut haben! – Das habe ich getan, Täubrich, und ich habe es getan in dem Augenblick, in welchem ich mich sehnte, daß nur eine Wolke, und wäre es auch das schwärzeste Wettergewölk, sich zwischen diese arge helle Sonne und mein armes Gehirn schieben möchte. Schütteln Sie nicht den Kopf, Täubrich; das war der Schatten, welchen ich dem Kinde bieten konnte und welchen ich ihm angeboten habe! Ja, es war mir zu heiß und zu langweilig da draußen in der Sonne, unter dem wunderschönen Blau. Und ich vergaß das Mondgebirge, meinen Bürgerbrief von Abu Telfan, meine grauen Haare und langen Ohren; und weil ich mich trotz meiner vierzig Jahre immer noch jünger fühle als diese lustige Welt um uns her, Täubrich, so vermeinte ich es auch immer noch ebenso gut haben zu können wie andere Leute und stellte die verabredete Frage an das Fräulein. Ich gratuliere!? Ja, gratulieren Sie nur, Täubrich! Sich selber, dem Fräulein und mir, vorzüglich aber sich selber, denn ich hatte auf dem Heimwege große Lust, an Ihnen, Ihrer verführerischen Insinuationen und häuslichen Tugenden wegen, ein schauerliches, ein grausames Exempel zu statuieren. Hier rieche ich an Ihrem Blumenstrauß und bemerke –«
Was der Mann vom Mondgebirge bemerkte, blieb der Nachwelt verborgen. Es polterte unten an der Haustür, es stolperte jemand auf der Treppe, und es pochte eine Hand an der Tür. Den Afrikaner durchfuhr der Gedanke, der Professor habe vom Töchterlein das Nötige und Unnötige doch erfahren und werde von seinen Gefühlen selbst in dieser späten Stunde hergetrieben, um dem Hausfreunde seinen innigsten Dank auszusprechen.
Es trat jedoch, zurechtgewiesen von der aus dem Schlaf aufgestörten Hauswirtin, ein anderer ein, den Leonhard Hagebucher ebenfalls nicht erwartete, nämlich der Major Wildberg.