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Nach drei Uhr nachmittags wurde es ganz still. So still, daß es fast zu einem neuen Schrecken wurde. Nur die Rauchwolke vom brennenden französischen Lager bei Stadtoldendorf stieg noch immer auf, und man roch den Krieg nur noch; man hörte ihn nicht mehr. Der Feind war, wenn auch arg zerkratzt, ausgewichen nach Osten und Süden; Hardenberg war bei Stadtoldendorf angelangt und hatte Stellung daselbst genommen und den Herzog Ferdinand in seinem Hauptquartier Wickensen auch schon persönlich gesprochen: viel Angenehmes hatte er wahrscheinlich nicht zu hören gekriegt, der Herr Generalleutnant; und die beste Rechtfertigung hilft nur zu häufig nur dazu, den Verdruß noch größer zu machen.
Bald nachdem der Geschützdonner schwieg, machte der Wind sich stärker auf. Es war Herbst, und es wollte Winter werden und augenblicklich auch noch Abend dazu: »Hoho«, sagte der kalte Novemberwind im Quadhagen, »was sollte nun der Lärm? Ich bin auch noch da und pfeife auf euer Gepolter und blase in euern Qualm. Hui, hui, es ist mir ein Spiel mit euern Fahnen und Standarten und mit dem Grase im nächsten Jahre über Roß und Reiter; – mir ist es einerlei, sehet selber, womit ihr euch behaglicher abfindet, ob mit eurem Gelärme oder mit meinem Geschäft und Werk in der Welt. Hui, Kameraden, hinein in den Katthagen und Busch und Baum in die Frisur und dem alten Kollaborator von Amelungsborn, dem Magister Buchius, bis in die Knochen. Endlich wieder nach Hause mit dem alten närrischen Kauz und seiner närrischen Gesellschaft!«
»Ich gehe jetzt nach Hause, und wenn keiner mitwill, allein!« sagte Mamsell Selinde, von dem Baumstamm aufstehend. »Wer mitwill, kann kommen.«
»Was meinst du, Wieschen?« fragte Knecht Schelze. »Knuff und Puff haben wir genug von Freund und Feind gekriegt. Den Herrn Herzog Ferdinand haben wir zu Gesichte bekommen, aber helfen hat er uns auch nicht können. Er hat für heute wieder selber noch nichts und kann sich selber kaum helfen. Unter die Engländer mag ich nicht, die Bückeburger, Hannoverschen, Preußen, Hessen und Braunschweiger magst du auch nicht, die Franzosen sind wieder über den Solling. Sag dein Wort, Wieschen; haben sie Amelungsborn niedergebrannt, können wir uns zum wenigsten noch mal an seinen Kohlen wärmen.«
»Ich habe es dir ja schon gesagt. Wir wollen nach Hause, wie es ist! Lieber auch tot als so lebendig hier im Busch und draußen unter den toten Menschen!«
»Denn vorwärts«, seufzte der tapfere Knecht Heinrich Schelze mit kläglich-verzogenem Mundwerk. »Wer nicht mit schießen und schlagen kann, der soll's nehmen, wie's ihm in das Maul gestopft wird, und sich dran abwürgen. Na, schicke mir nur der liebe Gott den Korporal Baars mit'n Stelzfuß auf unsern Amelungsbornschen Klosterhof! Heda, holla, Herr Magister, wir wollen nach Hause, nach Kloster Amelungsborn. Wir haben's genug beraten und wollen uns ducken in die Zeiten, weil wir müssen. Die Mamsell spaziert schon voran. Wenn der Herr Magister mitwollen – oder immer noch was Besseres wissen, so sollen Sie uns mit dem einen wie dem andern willkommen sein.«
Der alte Mann erhob sich als der letzte von dem Baumstamm. Er kam nur gar mühsam wieder in die Höhe, unterstützt von dem Wieschen.
Er sah sich um:
»Wa – was? Schon die Schulglocke? Ganz richtig, ganz richtig! Habe sie gestern erst wieder gestellt, die Uhr! Was ist denn das? Wer hat die Subsellien verrückt und übereinander geworfen? Herr von Münchhausen, wer hat denn die Fenster eingeschlagen und die Tür? Wer hat die Tafel und das Katheder niedergerissen? Wer hat diese Wirtschaft zu Amelungsborn getrieben?«
»Herr Magister, lieber Herr Magister«, schluchzte das gute Wieschen. »So besinne Er sich doch nur, lieber Herr Magister, lieber, lieber Herr Magister! Wir sind ja hier nicht im Kloster Amelungsborn auf der seligen Großen Schule; wir sind hier im schlimmen Katthagen am Odfelde, und sie haben sich den ganzen Tag über die Köpfe eingeschlagen, und Er selber hat uns ja in Seiner Güte beschirmt und uns gar unter die Erde geführet! Und der Herr Herzog Ferdinand hat auch noch heute keinen Rat für mich gehabt und hat seinen gnädigen Rockknopf wieder mit sich genommen, und jetzt wollen wir mit Gottes Hülfe wieder nach Hause nach Amelungsborn, und wenigstens wissen, wie es da aussieht und wie es mit dem Herrn Amtmann und mit der Frau Amtmann und den Kindern ergangen und ob sie noch mehr Leben in sich haben als wir hier auf freiem Felde nach der Bataille. So besinne Er sich doch noch einmal, lieber, lieber Herr Magister.«
Und Magister Buchius besann sich wirklich noch einmal, kam noch einmal fest auf die Füße zu stehen und zu einem klaren Überblick über die unruhvolle Erde und sein gegenwärtiges Verhältnis zu ihr.
Er klopfte das gute Mädchen zärtlich auf den stützenden Arm:
»Jaja, Kind, wo war ich denn nur? Hast recht, hast recht. Aber der Tag war freilich ein bißchen mühselig und voll Unbequemlichkeit, selbst für einen alten Schulmeister. Ei freilich, der große Herzog Ferdinand und der Herr Marschall von Broglio haben sich nur wieder eine Bataille geliefert: was hat mir denn eben Wunderliches von der Großen Schule zu Amelungsborn geträumt? Ei, ei, ja, es war ein unruhiger Tag über und unter der Erde, und es ist recht kalt und ein schneidender Wind. Hast recht, Kind, wir wollen nach Hause, da das Kanon und die Musketerie schweigt. Wir wollen uns schicken in die Zeit und wollen sehen, wie sie sich zu Hause – in Amelungsborn darein geschickt haben. Ei, ei, wie wunderlich hat mir doch eben von unserm guten Junker, unserm Münchhausen, unserm Thedel von Münchhausen unter den umgeworfenen Schulbänken und Tischen geträumt!«
Er schüttelte den Frost und die Ermüdung wie die Betäubung von sich, der alte zähe Schulmeister von Amelungsborn, der Männerfürst und Magister omnium artium Buchius. Sie zwängten sich noch einmal durch das dichte, verwachsene Unterholz des Katthagens, das ihnen den letzten Schutz während der Schlacht am Ith gewährt hatte, und traten von neuem hinaus auf des Magisters Buchii Wodans Feld, auf das Odfeld. Vorsichtig, scheu, steckten sie zuerst nur die Köpfe vor aus dem verworrenen Busch – ausgenommen den alten Buchius trauten sie dem alten Göttervater in Walhall wenig, und heute auf seinem – dem nach ihm benannten Felde – gar nicht mehr.
»Es lebt nichts weiter, als nur was liegt und nur noch beißen, spucken und kratzen kann«, sagte Knecht Heinrich. »Die Gesunden sind alle schon mit den beiden Herren von Münchhausen über den Stadtoldendorfschen Galgenbrink weg. Was hier noch lebt, das liegt und das haut nicht mehr mit der scharfen oder flachen Klinge vom Gaul auf unsereinen herunter. Guck einer, sie sind unter unserm Junker Thedel wirklich vor Feierabend nochmal bitter aneinander gewesen, die Roten und die Weißen. Da liegt es dick genug übereinander, Roß und Reiter; wie die Tische und Schulbänke in Kloster Amelungsborn, Herr Magister. Es hat den Franschen ihr Lagerbrand doch nicht ganz aus der Falle geholfen, Herr Magister. Vivat unser Thedel, unser Thedel von Münchhausen!«
Es war so. Die letzten Strahlen der Novembernachmittagssonne fielen jetzo durch das schwere, zerrissene Gewölk, das hastig über das Odfeld hingejagt wurde, und es war deutlich genug, daß auch die Elliots über das Odfeld hingejagt und noch einmal an den Feind geraten waren. Um den Katthagen herum hatten die Gevettern von Münchhausen, der aus Bevern und der aus Bodenwerder, die engelländischen Reiter dem Herrn von Rohan-Chabot in die Flanke geführt. Ja, noch einmal auch heute hatte, trotz allem, der gute Herzog Ferdinand den Franzosen scharf in die Nackenhaare gegriffen, und man sah es auf dem Odfelde, welch ein Gezause und Gezerre da gewesen war.
Sie lagen, weithin zerstreut auf dem alten Götter- und Opferfelde, übereinander gestürzt Frankreich und England und – Deutschland dazwischen; Rot und Blau, Grün, Gelb und Weiß, silberne Litzen und goldene, Bajonette und Reitersäbel durcheinander geworfen: vieles dermaleinst des Ausgrabens und Aufbewahrens in Provinzialmuseen wert.
»Großer Gott!« stammelte augenblicklich der Sammler und Inhaber der Raritäten in der Zelle des weiland Bruders Philemon zu Kloster Amelungsborn; aber Knecht Heinrich hatte recht: die Toten taten keinen Schaden mehr, und die Wunden riefen höchstens selber um Barmherzigkeit.
»Gott sei Lob und gedankt«, rief Mademoiselle nach Süden deutend, »den Kirchturm haben sie stehenlassen, und die Dächer sind auch noch heil und ganz. Wer weiß, um wieviel besser sie es in Amelungsborn gehabt haben als wie wir. Euern lieben Musjeh Thedel soll ich nur wieder zu Gesichte kriegen, wenn es so ist. Alle zehn Gebote ziehe ich ihm nochmal und diesmal mit den zehn Fingernägeln durch die Visage, wenn ich ihn nachher nochmals zu Gesichte kriege.«
Und zwischen den jammervollen Zeichen des großen Krieges aller gegen alle in Europa und Amerika stieß sie einen leisen verdrießlichen Schrei aus:
»Jeses und Gott und auch noch die Vögel von gestern abend und heute morgen! Uh, Sein garstiges Vieh, Magister Buchius!«
Und es war seltsam; auch der gelehrte Mann, der Magister, fuhr zusammen und entsetzte sich ob dem Faktum, daß sie wieder auch unter den Leichnamen der geflügelten Streiter vom gestrigen Abend und nicht mehr bloß unter den heute gefallenen Kämpfern von Deutschland, England und Frankreich standen.
»Praesagium – prodigium – portentum –«, murmelte der Magister, und nun dachte er zum erstenmal seit dem Morgen auch wieder an den Gast, den er in seiner Verwirrung bei Tagesanbruch in seiner Zelle eingeschlossen zurückgelassen hatte.
Und, wieder wunderlicherweise, kam ihm jetzo zum erstenmal in ihrer ganzen Grimmigkeit die Vorstellung vor die Seele, zu welchem Greuel der Verwüstung er auch innerhalb seiner armen vier Wände nach Kloster Amelungsborn heimkehren werde.
Es bedurfte aller Schrecken, die der Tag geboten hatte, um ihn umzurufen auf dem Wege in die Desperation und ihm wenigstens ein Stück seiner aus Christen- und Heidentum gezogenen Philosophia, seines pädagogischen Stoizismus, dem persönlichen Elend gegenüber zurückzugeben. Ja, er faßte sich auch jetzt. Es gelang ihm, mit dem Handbuch der stoischen Moral des Epiktetos, mit dem Seneca, mit dem philosophischen Trostbüchlein des Anicius Manlius Torquatus Severinus Boëthius und mit dem Alten und Neuen Testament die toten Raben aus der Rabenschlacht seiner Elendsbegleitung, der schönen Mamsell Fegebanck, dem zitternden Wieschen und dem kopfschüttelnden Heinrich Schelze, aus dem Wege zu schieben:
»Unser Herrgott treibet nimmer Narrenspossen. Wir wollen auch über diese seine Zeichen wieder ruhig nach Hause gehen. Und wir wollen uns mehr denn je vorhalten, daß wir uns immerdar in seinen heiligen Willen schicken und nicht bloß in den unserer mit uns gepeinigten Brüder und Schwestern im Jammer, in der Not und in der Hitze, Kälte und Nässe dieser Erden.«
Aber nicht weit von dem Ort, wo sie wieder auf den ersten Gefallenen aus der Rabenschlacht auf dem Odfelde gestoßen waren, stieß auch der Magister Buchius einen Schrei aus, jammervoller als der der schönen Mademoiselle Selinde, und wahrlich mit größerer Berechtigung als sie dazu. Und mit ihm schrieen die beiden Mädchen kreischend auf, und Knecht Heinrich stürzte mit einem heulenden Klagelaut und einem Fluche vorwärts auf die Kniee zwischen die herbstlichen Ginsterbüsche, die Binsen und das Heidekraut des Odfeldes:
»Unser Junker! Unser Junker! Herr Magister, Herr Magister, unser Thedel, unser liebster junger Herr! Herr Magister, ist's denn die Möglichkeit, daß so der Teufel die Oberhand unter unseres Herrgotts Regimente behält? Es ist unser Junker von Münchhausen; – greift alle mit an, daß wir den Gaul von ihm wegheben.«
Ja, sie mußten alle mit zugreifen: der alte Schulmeister mit seinen hagern zitternden Händen, die wunderschöne Mamsell Selinde Fegebanck und das gute Wieschen. Er, der Junker Thedel von Münchhausen, lag mit einem letzten im Tode erstarrten lustigen Lachen auf dem Knabengesicht unter dem schweren engländischen Reiterpferd. Man sah es ihm an, daß er noch sein fröhlich Teil an der Franzosenjagd genommen hatte und weggenommen war von der Erde im vollsten Triumphe, die Elliots gut geführt und sie nach bestem Wissen und Kräften und zur Zufriedenheit Seiner Durchlaucht des Herzogs Ferdinand heute noch einmal an den Feind gebracht zu haben. Aber der Magister Buchius kniete wortlos unter den Leichnamen von Menschen und Vieh auf dem Odfelde und hielt das Haupt seines bösesten und besten Schülers, seines liebsten, liebsten Schülers in den Armen; und mit einem Male fing er an, bitterlich zu weinen, als ob alles, was er an Kummer und Verdruß in seinem langen Leben und am heutigen kurzen Tage still hintergeschluckt hatte, in einem Strom sich Bahn breche aus seiner tiefsten Seele heraus.
Dadurch brachte er natürlich auch die zwei Mädchen zu hellem Geschrei und vorzüglich die zärtliche Mamsell Selinde, die dastand und untröstlich die Hände rang, wie sie gleicherweise untröstlich im stillen gerungen hatte, als man den schönen, höflichen, lustigen Leutnant Seraphin von den silberweißen Dragonern auf den Gewehrläufen in das Tor von Kloster Amelungsborn trug. Ihn, der auch »wie ein Engel« gegen sie gewesen war in den Wochen vor dem Gefecht bei Erichsburg, als er beim Herrn Onkel im Quartier lag.
»O Gott, o Gott, so jung und so ein guter Junge und um solch eine Dummheit, die ihn doch gar nichts anging! Und so ein lieber, lieber Junge!«...
Knecht Heinrich Schelze stand auch und faßte sein Wieschen am Oberarm und brummte gröblich: »Schrei doch nicht so!«, und dann legte er grimmig und voll zarten Mitgefühls zum erstenmal in seinem Leben dem Herrn Magister Buchius – seinem liebsten Herrn Magister die Hand auf die Schulter: »Herr, Herre, lieber Herre, Schlimmeres hätte auch mir heute nicht passieren können, ausgenommen wenn ich nicht mein Mädchen bei Leben, gesunden Gliedern und bei Ehren hätte behalten können. So reden der Herr Magister doch nur ein Wort! Ach Gott, so ein junger Herr und Menschensohn! Was ist es uns für ein Trost, daß es ihm doch noch besser zuteil geworden ist als tausend andern heute? Guck, da richtet sich wieder einer im Röhricht auf und jammert nach uns herüber auf engelländisch, ohne daß wir ihm nach Hause helfen können.«
»Nach Hause!« murmelte Magister Buchius.
»Ja, nach Hause!« rief Knecht Heinrich, seine Pudelmütze zwischen den harten Fäusten zerknüllend. »Ein schönes Nach-Hause für alles, was heute hier um den Ith herum gern nach Hause möchte aus Frankreich, England, Bückeburg und dem Hessischen, Braunschweig und allem, was sonst so zu uns ortsangeborenem deutschen Volke gehört. Herr Magister, lieber Herr Magister, da haben der Herr Junker doch wieder ihren Willen gekriegt. Die wollten immerdar nur von Hause weg – von Schulen und von Hause weg – und sie haben einen sanften Tod gehabt, liebster bester Herr Magister, und brauchen sich nicht mehr zu sorgen wie wir andern, was ihnen zu Hause für den Abend aufgehoben ist, liebster, bester Herr Magister. Ach, lasse Er mich Ihm wieder aufhelfen, lieber Herre!«
»Ach Gott ja, es hilft ja nun weiter nichts! lasse Er uns doch nur Ihm wieder aufhelfen, liebster Herr Magister«, schluchzte auch das Wieschen.
Magister Buchius ließ das Haupt Thedels von Münchhausen sanft aus seinem Schoße in das triefende Gras und Kraut des Odfeldes niedersinken:
»Du bist freilich jetzt zu Hause, mein wilder, guter Sohn, und brauchst nicht mehr auf der Welt Schulbänke auf und ab zu rücken. Dir ist es wahrlich einerlei, ob die Katheder von Kloster Amelungsborn noch stehen oder ob sie übereinandergestürzt worden sind.«