Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Wilhelm Raabe

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Drittes Kapitel

»Diese Bewegung ließ uns mutmaßen, daß der Herr Herzog Ferdinand von Braunschweig sich dort lagern wollte, um die noch übrigen Lebensmittel in der Gegend aufzuzehren«, klagt ein französischer Feldbericht aus dem Spätherbst des Jahres 1761, ehe beide kriegsführenden Parteien zum vorletzten Male die Winterquartiere bezogen und sich häuslich und gemütlich darin einrichteten. Du barmherziger Himmel, die »noch übrigen Lebensmittel«! Was hatten diese scheuen, bescheidenen, schämigen, mit allem zufriedenen Verbündeten der Frau Kaiserin-Königin Maria Theresia, diese liebsten Gäste des deutschen Volkes Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht dem armen Herzog Ferdinand von Braunschweig noch viel übriggelassen an Nahrung für ihn selbst, seine Leute und sein Vieh, sowohl am linken wie am rechten Ufer der Weser, sowohl in Westfalen wie in Ostfalen? Und sie hatten doch wahrlich auch den Klosteramtmann zu Amelungsborn nicht gefragt, was ihm entbehrlich sei zum Unterhalt seiner selbst, seiner Leute und seines Viehs.

Wenn ein Mensch vom Sommer des Jahres an über ihr freundlich Zugreifen ohne Nötigung nachsagen konnte, so war das der Amtmann von Kloster Amelungsborn.

Aber Magister Buchius auch.

Jaja, was für Witterung für den Gelehrten allezeit sein mochte: für den Ökonomen war dazumal kein gutes Wetter. Kisten und Kasten, Scheunen und Ställe waren leer, ohne daß diesmal zu große Trocknis, zu arge Feuchte, Hagel, Rotz, Räude, Würme und Mäusefraß mit dem betrübten Faktum das mindeste zu schaffen hatten. Den Hagel, der die Saaten niederschlug, die Mäuse, welche die Scheunen und Vorratskammern leer machten, hatte sich das deutsche Volk, Fürsten und Untertanen in einem Bündel, selber dazu eingeladen. Es ist heute noch nicht von Überfluß, wenn man die zwischen Vogesen und Weichsel deutsch redende Bevölkerung mit der Nase auf ihre Dummheit stößt. Bis wir zu unserer Geschichte gelangen, hat sich der Herr von Belsunce schon verschiedene Male recht satt gefressen im Tilithi-Gau, und es hat dem General von Luckner wenig genützt, ihn heraus- und auf Göttingen hinzutreiben. Der teuere Erbfeind hat dort durchaus keine Kollegia über Humaniora belegt, sondern treibt von der neuen, berühmten deutschen Universitätsstadt nur in praxi deutsche Reichshistorie nach gewohnter Weise weiter. – –

Ein trüber Tag des Novembers siebenzehnhunderteinundsechzig neigte sich seinem Ende zu, als sie auf der alten Köln-Berliner Landstraße zusammentrafen, der Klosteramtmann von Amelungsborn und sein Hausgenosse, der Magister Buchius, der Ex-Kollaborator am alten Ort der alten Klosterschule.

Der Wind fuhr über die Stoppeln; aber die, welche das Korn gesäet hatten, hatten es wahrlich, wie gesagt, zum wenigsten Teil für sich selber geerntet. Die Waldungen trugen überall Spuren, daß Heereszüge sich ihre Wege durch sie gebahnt hatten. Überall Spuren und Gedenkzeichen, daß schweres Geschütz und Bagagewagen mit Mühe und Not über die Straße und durch die Hohlwege geschleppt worden waren! Zerstampft lagen die Felder und Wiesen. Kochlöcher waren überall eingegraben, Äser von Pferden und krepiertem Schlachtvieh noch unheimlich häufig unvergraben in den Gräben und Büschen und an den Wassertümpeln der Verwesung überlassen. Es war weder für den gelehrten noch den ökonomischen Mann ein Anblick zum Ergötzen, und sie machten beide die Gesichter danach, als sie an diesem Vierten des Wind- und Reifmonds an einer Wendung der Straße in der Nähe des Dorfes Negenborn plötzlich voreinander standen.

»Er auch noch hier draußen, Magister?« schnarrte der Amtmann, sein spanisch Rohr dem alten Herrn dicht vor den Füßen grimmig in den Boden stoßend. »Steht Er wieder da und gafft und seufzt Seiner vergangenen Herrlichkeit und Seinem passierten Elend nach? Wurmt es Ihm denn noch immer so sehr, Herr, daß Er einen um den andern Tag hier herauslaufen muß, um Seiner gottverdamm – Seiner Sauschule nachzubölken wie eine Kuh, der der Schlächter das Kalb abgeholt hat? Er sollte doch wahrhaftig Seinem Herrgott danken, daß Ihm noch niemand die Stubentür eingetreten hat und Er dahinter, wenn Er will, in Ruhe sitzen kann mit allen Seinen unturbierten Schrullen, Grillen und Phantasierereien. Wer doch in Seiner Haut steckte, Herr! Herr, nehme Er's mir nicht übel, trifft man ihn so auf dem Spazierwege, so wird's einem erst richtig klar, in welchem Elend man selber itzo seine Tage zu versorgen hat, einerlei, ob man das Haus voll hat von den Völkern Seiner Durchlaucht oder des Marschalls von Broglio. Hu, wer den Caraman und den Chabot schinden wollte, wie sie den Klosteramtmann von Amelungsborn geschunden haben!«

Der letzte Seufzer stammte noch aus den Tagen des Septembers und Oktobers des Jahres, wo der Generalmajor von Luckner wohl sein möglichstes getan hatte, um dem Grafen von Caraman und dem von Rohan Chabot den Aufenthalt in Amelungsborn zu verleiden, aber noch lange nicht genug, um der Stimmung des Amtmanns gegen die beiden Herren gerecht zu werden.

Die »Geschicklichkeit« des Herrn Generals von Luckner hatte leider nur für kurze Zeit »Mittel gefunden, den Feind aus der schönen Gegend, die er besetzet hatte«, zu vertreiben. Die streifenden Scharen der kriegführenden Parteien drangen schon von neuem auf einander in der »schönen Gegend«, und der Amtmann von Amelungsborn hatte heute nicht ohne seine Gründe dem eigenen Jammer zu Hause den Rücken gewendet, um mit den nächstgelegenen Bauern über den ihrigen Rücksprache zu nehmen. Daß sie das Beispiel des wackern Ostfriesen Hajo Cordes nachahmen und sich mit der Axt ihrer Haut wehren möchten, verlangte er wahrlich nicht. Eine Verordnung des Marschalls Duc de Broglio hatte er als »Baillif du lieu« ihnen von neuem einzuschärfen gehabt. Wer in den von den Truppen Seiner Allerchristlichsten Majestät in Besitz genommenen hannoverschen und braunschweigischen Landen sich mit seinen »Effekten, Pferden, Horn- und anderm Vieh« vor den hohen Alliierten der römischen Kaiserin in die Wälder flüchtete und nicht gleich zurückkam, wenn die Karabiniers und Husaren von Berchini, die Dragoner von Languedoc und Orleans, wenn Regiment Beaufremont, Regimenter Pikardie, Auvergne und Navarra oder gar die Freiwilligen von Austrasien und die Garde Lorraine ins Dorf rückten, dem wurde einfach das Haus angesteckt, die zurückgelassene Großmutter zu Tode geprügelt, er selber aber ohne Gnade vor seiner Tür gehängt, wenn man ihn mit seinen Habseligkeiten in den Schlüften und Klüften ertappte, aufgrub und ihn in sein Dorf zurückgeschleppt hatte.

»Und fünfzehn vierspännige Wagen für den Commissaire de guerre zu jeglicher Stunde bereit, Leute –«

»O du barmherziger Himmel!« hatten die Hohlenberger, die Golmbacher und die Negenborner geheult, und der Klosteramtmann von Amelungsborn hatte wohl einigen Grund für den Ton, mit welchem er seinen alten gelehrten Leibzüchter gröblich anschnauzte:

»Treibe Er sich nicht länger draußen unnützlich herum, wenn ich Ihm raten darf, Magister. Komme Er mit nach Hause. Wozu stehet Er da und starret in die Bestialität, da Er es nicht nötig hat? Was sieht Er wieder im Himmel und auf Erden, was andere Leute nicht sehen? Des Herrn Güte und der Menschen Wohlgefallen aneinander? Er übergelehrter Rab mitten im Dritten Schlesischen Kriege! Ho, ho, da, ich nehme Ihn unterm Arm, daß man doch einen auf dem Wege nach Hause hat, an den man sich halten kann. Was Er mir wert ist in seinem und meinem Leben, das weiß Er ja.«

Magister Buchius hatte einigen Grund, wenn auch aus andern Gründen, das Weiße im Auge zu zeigen wie die Negenborner, die Golmbacher und die Hohlenberger – auch die nächsten Nachbaren des Klosteramtmanns von Amelungsborn; – willenlos wendete er wie so oft in seinem Dasein um und ließ sich dem Belieben eines andern nachziehen.

Diesmal auf der aufgeweichten, zerfahrenen Landstraße, die von Hause her und nach Hause zurück führte und die er am Nachmittag wirklich nur beschritten hatte, um aus der unruhigen Gegenwart nach einer ebenso unruhigen Vergangenheit sich zurückzuträumen. Wie ihm sein unwirscher Begleiter seine bis dato uneingestoßene Stubentür rühmen mochte: das öde Feld und der ruinierte Handels- und Kriegspfad konnten nur zu oft doch auch als Zuflucht für ein vom Lärm der Zeit verwirrtes, betäubtes Menschen- und Homme-de-lettres-Gemüt vorzuziehen sein.

»Hat Er es denn wirklich noch immer nicht aufgegeben, Buchius, hier den Weg nach Holzminden hin zu laufen wie Seinem verlorenen Glücke nach? Glaubt Er denn immer noch, sie werden eine Abgesandtschaft schicken, um Ihn mit Lorbeerblättern, Pauken und Trompeten sich nachzuholen, weilen sie doch eingesehen haben, daß sie Ihn nicht missen und entbehren können?« fragte der Amtmann wiederum und setzte nochmal hinzu: »Er sollte doch wahrhaftig an Seinem vergangenen Pläsier und Ärger genug haben und sich Seines otium cum dignitate in Ruhe freuen.«

»Cum dignitate«, seufzte der alte Herr im schäbigen Schwarz und in Schnallenschuhen neben dem untersetzten, vierschrötigen Begleiter in Stulpenstiefeln und in grünem Flaus, und ein wehmütiges Kopfschütteln begleitete das Wort.

»Jaja«, lachte der Amtmann, »da mag Er wohl recht haben mit Seinem Stöhnen. Viel Glorie war nicht in der Art, wie man Ihn aufs Altenteil schob, und ich kann's Ihm nicht verdenken, wenn Er auch noch eine Pike auf die saubere hochgelahrte Gesellschaft hat, die ihn so ganz und gar nicht mehr brauchen konnte, sondern Ihn hier bei uns ganz allein Seiner eigensten, angebotenen Dignität überließ. Nu, die hat Er aber ja auch sicher – das nimmt Ihm anjetzo keiner mehr, daß Er nun der Gelehrteste und Weiseste in ganz Kloster Amelungsborn ist. Da wende Er sich nur dreist an mich, wenn Ihm einer auf dem Amt, Mensch oder Vieh, dagegen anbocken will – ha, ha, ha, ho, ho, ho, ho.«

Es war ein ungeschlachtes Lachen, welches die Rede des Mannes beschloß, aber so ganz übel war sie doch nicht gemeint, die Rede nämlich. Der Amtmann von Amelungsborn wußte ganz genau, was er an seinem »letzten Ruderum« von seiner »verflossenen Klosterschulschande« hatte. Freilich, was er ihm bieten konnte, wußte er auch und machte in der übelsten Laune am liebsten Gebrauch von seiner Macht, einer armen, vor Weisheit unbrauchbaren Kreatur des Herrgotts das kümmerliche Leben noch mehr zu verkümmern.

»Der Herr Amtmann wissen, wie ich freilich mit meinem Leben und Frieden auf Dero Wohlmeinen und guten Rat in allen Dingen angewiesen bin«, sagte der Magister, doch sein Begleiter kam nicht zu einer zweiten Lache. Ein seltsam Phänomen und Naturspiel zog die Aufmerksamkeit beider Männer an und hielt sie dauernd fest.

Sie standen still und sahen beide auf.


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