Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Von wem wollte Er Valet nehmen im Kloster Amelungsborn?« fragte trotz seiner Erregung und Erweichung Magister Buchius, den sie dreißig Jahre lang in Amelungsborn im günstigsten Fall nur als einen unschuldigen, närrischen, gutmütigen Simplex taxiert hatten. Und der Exschüler von Amelungsborn und von Holzminden stotterte, jetzt ganz klein werdend:

»Auch da haben der Herr Magister Lunte gerochen? Und haben auch hier Ihre Wissenschaft ganz für sich selber behalten! Haben keinem Menschen Ihre Wissenschaft mitgeteilet!«

Der arme Junge hielt die arme, machtlose rechte Hand des alten Herrn zwischen seinen zwei wackern Fäusten und lachte, während ihm wieder die ernsthaftesten Tränen über beide Backen herunterrollten:

»Wohl dem, der so wie Goldschmieds Junge denkt,
Und eher sich nicht zu der Liebe lenkt,
Als bis er nach vollbrachten Jugendjahren
Sich kann in Ehren mit der Liebsten paaren.«

»Krrr!« sprach in diesem Moment der Rabe vom Odfelde. Es hinderte ihn sein wunder Flunk nicht, auf den Stuhl zu hüpfen, den der junge Mensch dem alten Magister vorhin zugerückt hatte. Nun sprang er auch auf die Lehne und von dort auf den Tisch mit dem halbverwischten Kreidestrich und den Resten des Nachtessens des Emeritus von Amelungsborn. Ihm war der Appetit nur wiedergekommen; aber auf den neuesten Gast des Magisters Buchius machte des Viehs Gefräßigkeit den Eindruck, als vertilge es ihm den letzten Rest von Nahrhaftem, von Eßbarem im Weltall. Und zwischen Liebe und Hunger hin und her gerissen, rief Junker Thedel von Münchhausen:

»Ja, sie trägt das weißeste Kleid und die blauesten Bänder am Sonntage. Ja, dulce ridentem Lalagen amabo! Kuck einer das fressige Biest! Sie ist mir Anadyomene und die ländliche Phidyle. Wir haben sie hundert- und tausendmal beim Konrektor Schnellbeckius im Horaz gehabt, und ich habe mit ihr beim Erntefest getanzet, und sie wird mein Feinslieb sein auf ewig. Im Garten und im Walde, auf der Wiese und auf dem Felde und hinter der Küchentür haben wir's uns hunderttausendmal geschworen. Der Herr Magister verstehen davon nichts und wollen auch nichts davon wissen; – meinen Hagedorn hat mir der Herr Rektor konfiszieret; aber ich kann die Lieder, in denen er auch sie, unsere Schönste hier, angesungen, auswendig, und ich habe sie ihr drunten im Hoop und drüben auf den Ruderibus der Homburg im Busch vorgesungen. O sie ist Cypris, Gnidia, Paphia und Idalia, wann sie gepudert einhertritt; aber löst sie ihre Flechten, fallen sie ihr in die Kniekehlen! Als ich ihr vom Stadtoldendorfer Jahrmarkt das letzte Zuckerherz von meinem letzten Pfennig in der Welt brachte, hat sie mit dem Herrn Magister Lessing gesprochen:

›Wähl selbst. Du kannst mich Doris,
Und Galathee und Chloris
Und wie du willst mich nennen;
Nur nenne mich die Deine.‹«

»Mamsell Fegebanck heißt sie!« ächzte Magister Buchius, jetzo die Hände über dem Haupte zusammenschlagend. »Ja, ihr Vatersname ist Fegebanck, und sie ist des Herrn Amtmanns angenommene Vetterstochter, und –«

»Da geht er mit dem Brod unter den Tisch!« rief Thedel Münchhausen. »Halt da, Canaille, Kujon! Bei der Belagerung von Saguntum, Numantia und Jerusalem haben sie ihre Schuhe und das Leder von ihren Schilden gefressen; aber ich fresse den Tisch und dich selber, dirum mortalibus omen, du schwarzer Galgenstrick, wenn du den Rest vom Überfluß nicht gutwillig herausgibst!«

Schon war er dem schwarzen Vogel unter den Tisch nachgefahren. Jetzt hielt er den Rest von des Magisters schwarzem Brod zwischen den Fäusten, jetzt biß er hinein und riß mit dem guten Gebiß ab; er – fraß, und –

»Allbarmherziger Gott, und wir haben weiter nichts übriggelassen von unserm Mahl!« ächzte der alte Herr, »wir haben alles allein gemocht! Ich habe nichts weiter als das da für den Verschmachteten. Oh, Dieterice, Dieterice, und die Frau Amtmannin wird weder um meinet- noch um Seinetwegen zu so nachtschlafender Stunde den Schlüssel zum Küchenschrank unter dem Kopfkissen vorlangen.«

Musjeh Thedel stieß zwischen seinem Kauen, Schlingen und Schlucken einen Laut aus, der seine Gefühle in betreff der Frau Klosteramtmannin vollkommen deutlich ausdrückte. Als er den ersten freien Atem wiedergewonnen hatte, seufzte er mit der Befriedigung des fürs erste wenigstens noch einmal vom Verhungern Geretteten:

»Sufficit. Es genüget vors erste; – erzähle du, Wanderer, zu Sparta, daß du mich dankbar erblicket hast für das, was Gott gegeben und Amelungsborn übrig und für jedweden verflatterten Galgenvogel frei und offen auf'm Tische liegengelassen hat. Auf dem Wege von Holzminden her hatte kein Bauer mehr was! Sie hatten alles in die Erde vergraben und in hohlen Bäumen versteckt vor dem Marquis von Poyanne.«

Magister Buchius drückte beide Hände an die Schläfen: »Es ist ein Wirbel! Man überschlägt sich im Abysso! Ja, auch der Feind! Man vergisset im selbigen Moment das eine über das andere! Ja, auch das, auch das, auch das! Die Franzosen kommen wieder, und Er ist eben auch gekommen, Münchhausen – und Wieschen und Heinrich Schelze und Mamsell Selinde und die Schlacht auf dem Odfelde – die Rabenschlacht und der Herzog Ferdinand, der Herr Amtmann und die Frau Amtmannin, der Marschall von Broglio, und – der da! –

Er wies auf den Raben, der, seit der Exprimaner von Amelungsborn und Holzminden das Brod ihm genommen hatte, mit kuriosester Zutraulichkeit ein Wohlgefallen an dem jungen Landläufer gefunden zu haben schien.

»Krah!« sprach er, der schwarze Ritter vom Campus Odini, und mit einemmal saß er dem Knaben auf der Schulter und bohrte ihm fast seinen Schnabel ins Ohr und redete in seiner Sprache zu ihm, eindringlich, nachdrücklich, wohl Sachen von hoher Wichtigkeit, wie Hugin und Munin sie vordem von ihren Flügen über die Erde mitgebracht haben sollen nach Walhalla.

»Vivant tempora!« rief der tolle Thedel, von seinem Sitz aufspringend. »Wer möchte sie anders? Die ganze Welt ein einzig lustig Jagdrevier – jedem nach seiner Fortuna. Aber freilich, frisch Blut, junge Beine und grobe Fäuste gehören auch wohl dazu, wenn es so zur Rechten und zur Linken blitzt und knallt. Und das Vaterland soll leben, der König Fritze und der Herzog Ferdinand und – Mademoisell Selinde! Jetzt kann ich es dem Herrn Magister schon gestehen, sie war unsere Göttin schon in der Sekunda, und wir wären für sie durchs Wasser und Feuer gegangen. In der Prima hätten wir alle uns ihretwegen dem Teufel mit Leib und Seele verkauft; aber zu mir allein hat sie gesagt: ›Herr von Münchhausen, die andern sind mir doch alle dumme Jungen, aber mit Ihm und unter Seiner Sauvegarde ginge ich schon in die weite Welt, wenn es mir ma chère tante nur noch ein bißchen schlimmer macht.‹ Sie ist ein Engel, mein Engel, ich lasse mir die Knochen für sie zusammenschlagen, und ich schlage jedem, den sie lieber will als mich, die Knochen zusammen, und wenn chère tante ihr es jetzt zu arg gemacht hat und sie mit will, so bin ich in dieser Nacht auch deswegen noch einmal in Amelungsborn – Herr – was – soll? –«

Er vollendete sein Wort nicht. Magister Buchius hatte ihn zu fest an der Schulter gefaßt, Magister Buchius schüttelte, riß ihn, selber vor Aufregung zitternd, zu sehr hin und her. Magister Buchius sagte das, was er bis jetzt noch niemals zu einem der Herren Sekundaner oder gar Primaner der gelehrten Schule in Amelungsborn zu sagen gewagt hatte. Er sagte:

»Lieber Monsieur von Münchhausen, Er ist ein Narr. Nehme Er es mir nicht für ungut; aber Er ist mehr denn ein Narr – Er ist ein Einfaltspinsel und ein neugeboren Kind im Tummel dieses irdischen Elends. Er hat den Ovidius zu viel und den Livius und den Tacitus zu wenig traktieret. Man hat dieses Ihm hier am Orte nicht verhalten, und man wird's Ihm im neuen Wesen zu Holzminden gesagt haben. Mit der Mademoisell kann ich Ihm nicht dienen, sowenig ich Ihm in dieser Nacht zu Seinem Stück trockenen Brodes da zu einem andern Stück guten Fleisches verhelfen kann. Sie ist doch um mehrere Lustra älter als wie Er. Ei, wie hat Er mich mit sich drehend gemacht! Ich möchte Ihn in meine Arme fassen, um Ihn nimmer wieder von mir ziehen zu lassen, und ich möchte – ei, ich möchte« –

»Doch das hispanische Rohr ergreifen und dem Halunken sein meritiertes Teil geben, daß kein Korporal nachher beim König Fridrikus oder dem guten Herzog Ferdinand noch eine heile Stelle für seinen Stab Wehe ausfinden sollte! Haue Er zu, Herr Magister, aber rede Er mir nichts gegen Jungfer Selinde Fegebanck.«

Der alte Magister zog seinen besten und schlimmsten Schüler in seine Arme und gebrauchte den Stab Wehe der Korporale und der Schulmeister des achtzehnten Säkulums wahrlich nicht an ihm. Das gemästete Kalb hatte er nicht für ihn schlachten können, Mamsell Selinden vermochte er ihm nicht aus den jungen Sinnen und Gedanken zu vertreiben; aber nach vielem Hin- und Herreden gab er ihm den Strohsack aus seiner Bettstelle und begnügte sich mit dem Unterbett. Er wollte ihm auch sein Kopfkissen geben; doch das nahm Thedel von Münchhausen nicht an, sondern rollte einfach seine Jacke zusammen und sich zusammen gleich einem Igel unter des Magisters Rockelor.

Während der Junge sofort auf seinem spartanischen Lager einschlief, blieb der Alte noch eine geraume Zeit wach und hörte seine Kirchturmuhr schlagen und suchte die Gespenster und Gedankengespinste dieses Tages zu »einfachen und ordentlichen« Schlüssen zusammenzuziehen und festzubannen. Er entschlummerte und erwachte schreckhaft von neuem. Er balgte sich in den Augustschlachten des laufenden Jahres mit dem Herrn Vicomte von Belsunce und dem General Luckner; er war mit seiner Schule auf dem Wege vom Auerberge nach der Weser, und er sah sich allein gelassen auf der Landstraße und hatte immerfort vor sich hin zu sprechen: siebenzehnhunderteinundsechzig, siebenzehnhunderteinundsechzig, siebenzehnhunderteinundsechzig. Eben ging er noch auf der Berlin-Kölnischen Heerstraße, die Schöße seines schwarzen Schulmeisterrockes gegen den Wind zusammenhaltend; nun entfalteten sie sich doch und trugen ihn aufwärts unter die schwarzen gefiederten Tausende, die ihre Schlacht über dem Odfelde und dem Quadhagen ausfochten. Er hieb auch mit dem Schnabel nach rechts und links, doch er hatte bissige Gegner, die ihn auch von allen Seiten zu bedrängen verstanden. Daß er mehr als einen seiner früheren Herren Kollegen mitwirbeln und auf sich einfliegen sah, war so im Traum eigentlich nicht verwunderlich. Hui, und das Feldgeschrei, wie es verworren um ihn krächzte, knarrte, kreischte:

»Barbara, celarent primae, darii ferioque.
Cesare, camestris, festino, baroco secundae.
Tertia darapti sibi vindicat atque felapton
Adjungens disamis, datisi, bocardo, ferison!«

Alles scholastische Schulgeschrei, was durch die Jahrhunderte zu Kloster Amelungsborn in den Zellen und auf und vor den Kathedern verhallt war, das war in diesem Traum und in dieser Nacht von neuem wach geworden. Aber selbst im Traume war es dem Magister Buchius verwunderlich, daß er plötzlich auch Mademoisell Selinde Fegebanck mit gelöstem Rabengelock auf sich einstürmen sah: »Baroco! Facrono!« – Was half es ihm, daß er der Walkyria entgegenzeterte: »Bocardo! Docambroc!«? Sie umfittichte ihn näher und näher, schlug ihm die Perücke vom Haupte und faßte ihn mit den Krallen in die Brustklappen seines Rockes und hieb auf seinen Busen ein. Da sank er unter dem harpyischen Gespenst und Omen tiefer und tiefer aus den dunkeln Lüften hinab auf seinen Campus Odini, und als er den Boden berührte, erwachte er natürlich, und es war sein schwarzer, gefiederter Schützling und Gastfreund vom Odfelde, der ihm in Fleisch, Blut und Federn auf der Brust saß und an den Knöpfen seines Nachtkamisols zupfte. Er erhob sich jach, der Magister Buchius nämlich, und das Scheusal flatterte mit Gekrächz von ihm und zurück in den Ofenwinkel; der Magister aber lag schweißtriefend, halbaufgerichtet auf seinem rechten Ellenbogen und horchte nach seinem andern Schützling und Gastfreund hin. Der wendete sich eben in seinem Traum von der Linken auf die Rechte und murmelte unruhvoll, ja weinend:

»Dieser Zeit Gemüter
Führen falsche Güter,
Weil der Zeug der Welt
Keine Farbe hält.
Trau nicht Wort und Hand;
Denke nur, kein Pfand
Ist genug vor Unbestand.«

Dies war aus einem Liederbuch, das vordem auf seiner seligen Mutter Tischchen zu Bevern gelegen hatte. Es stammte noch aus dem verflossenen Jahrhundert, enthielt des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer berühmten teutschen Poeten auserlesene Gedichte; und der Junker von Münchhausen hatte schon in jüngsten Jahren mehr aus ihm gelernt, als ihm eigentlich gut war.


 << zurück weiter >>