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Sie saßen ja wohl nunmehr in verhältnismäßiger Sicherheit. Wie lange aber der Jüngste unter ihnen, der wahrlich nicht hierum in vergangener Nacht von Holzminden herübergelaufen war, es in solcher Sicherheit aushält, das werden wir wohl auch erfahren. Zuerst gefiel es ihm in diesem dunkeln Loch nur allzu gut, wenn auch aus einem Grunde, den Magister Buchius wenig oder gar nicht billigen konnte.
Er, Junker Thedel von Münchhausen, hatte es wahrlich auch so weit im Virgilius gebracht auf der Großen Schule zu Amelungsborn, daß er grinsend in dem saubern unterirdischen Cachot das Wort des in solchen Sachen ganz erfahrenen Vaters Zeus, nein, seiner tugendsamen Gattin, der auf Sitte, Zucht und Anstand sehr haltenden Frau Juno, zitieren konnte:
»Weil die geschäftigen Rotten die Tal umstellen mit Fanggarn,
Schütt ich hinab und errege mit haltendem Donner den Himmel
Dann zur selbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter Trojas ein.«...
»Jeses, man kriegt so schon keine Luft vor Angst und in der Pechrabenschwärze – dichter braucht Er mir nicht auf den Leib zu rücken, Thedel. So lasse Er doch das Drängeln, Herr von Münchhausen!« klang es plötzlich aus einem Winkel der Spelunca, weinerlich, verdrießlich, abwehrend.
»Münchhausen!« erscholl es von der andern Seite her, vermahnend, abmahnend; »aber lieber Münchhausen, wenn Er da drüben keinen Platz findet, so krieche Er hier herüber zu mir her und belästige Er nicht Mademoisell unnotwendigerweise. Hier ist des Raumes zur Genüge für Ihn und mich.«
»Mademoisell Selinde, o mein Licht im Dunkel«, flüsterte es drüben, während Magister Buchius vergeblich auf Antwort und Folgsamkeit wartete. »Mein Wiesenstern, mein Rosenstrauch, mein Schönheitsspiegel, je tiefer der Abgrund, desto höher meine Seligkeit; je finsterer die Hölle, desto heller meine Sonne; je kälter der Keller, desto heißer meine Amour!...«
»Er ist ein ganz dummer Kerl, Herr von Münchhausen, und wenn mir nicht alle Glieder vor Nässe, Frost und Ängsten beberten, so sollte Er schon – jetzt aber lasse Er ab – ist das ein Ort und eine Stunde für dumme Flattusen und Dummejungens-Kindereien? So höre Er doch auf Seinen alten verrückten Schulmeister, Thedel!« flüsterte es zurück.
»Lieber Münchhausen, es ist Heldenart in großen Drangsalen, sich von den Schrecknissen und Molesten der Gegenwärtigkeit freizumachen und zu tun, als ob sie nicht wären. Wir haben die Exempla berühmter Kriegsleute und weiser Männer dafür. Plutarchos gibt uns Beispiele von den erstern. Was die zweite Art angehet, so haben wir vor allen Platons zwei Bücher, den Phädon und den Kriton – Er höret mich doch, Münchhausen?«
»Wie die, welche am Ohrenklingen leiden, das ganze Gehör voll Pauken, Flöten und Trompeten haben, Herr Magister«, brummte der Exscholar von Amelungsborn, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, daß er jetzt wirklich das Buch Kriton am Schluß ziemlich wörtlich zitiere. »Der Herr Magister brauchen nur zu befehlen, wovon wir hier im Erdenbauch diskurrieren sollen, während uns der Kuckuck und sein Küster über den Köpfen aufspielen, tanzen und den Tanzboden eintreten –«
»Herr Magister«, seufzte aus seiner Ecke in der Erdhöhle Knecht Heinrich. »Herr Magister, ich meine, ich bin halbwegs wieder bei Beinen. Den Kellerhals kenn ich ja leider Gottes gegen des Herrn Magisters Vorwissen, und auf die Gefahr käm's mir nicht an, den Kopf vorzustecken und zuzusehen, wie's draußen steht.«
»Du bleibst hier, du bleibst bei mir, du bleibst, wo du bist, und rührst dich nicht von der Stelle«, kreischte Wieschen. »Wer einzig und allein hier zu sagen und zu befehlen hat und den Kopf vorzustecken und draußen zu spionieren hat, das ist einzig und allein unser einzigster Trost und Helfer in dieser Angst und diesem Elend, der Herr Magister, der Herr Magister Buchius!«
Magister Buchius, unterbrochen in seinem ersten Anlauf, sich und seiner ungebärdigen Genossenschaft die Zeit im Dunkeln bis zur möglichen Erlösung heroenhaft und wissenschaftlich zu vertreiben, sprach:
»Herzenstochter, du hättest wohl recht: es sollte ganz eigentlich am hiesigen Orte kein anderer als wie ich als erster neuer Possessor nach unserer Vorfahren, der Cherusker, Auszug die Verfügung über Tor und Tür, Eingang und Ausgang haben. So werde ich denn wirklich auch der erste von uns allhier sein, der fürsichtig nach dem Wetter draußen siehet, wenn es mir Zeit dünkt, guter Freund Heinrich. Von Ihm aber, Münchhausen, wünsche, verhoffe und glaube ich, daß Er mich auch in dieser Finsternis oder Dämmerung draufhin ansehen werde, wie ich unseren vornehmen Altvordern, den erlauchten Herren des Landes, des Grunds und Bodens, einen solchen gemeinen, beschwerlichen, unbequemen Aufenthalt in Höhlen und Schlüften des Waldes und Gebirges anweisen dürfe –«
»Thedel, ich sage es Ihm zum allerletzten Male!« flüsterte es in der unbequemen, beschwerlichen, cheruskischen Höhlen- und Schluftdunkelheit.
»Ich sehe den Herrn Magister ganz genau darauf an – sitze Sie nur stille, o Mademoisell – Mamsell Selinde!«
»Sieht Er, das freut mich! Und so weise ich Ihn denn gern auf den Dio Cassius hin, in welchem Er bei gemächlichern Umständen nachschlagen mag: Chariomerus autem rex Cheruscorum a Chattis imperio suo electus.«
»Uh Jeses, Heinrich, hörst du das, und gruselt's dir da nicht noch mehr?«
»Es sollte eigentlich griechisch sein, Wieschen, ist aber bloß lateinisch. Und auf deutsch ist's auch nicht so schlimm, als es sich anhört«, lachte Thedel von Mamsells zärtlicher Seite her. »Da bedeutet's nur, daß der Härzer König Gariomer von den blinden Hessen auch seinerzeit aus Haus, Hof, Bett und Stall herausgeschmissen wurde und allhier wie wir heute in Wald und Schluft sich verkriechen und vielleicht grade in dieser selbigen Spelunca unterkriechen mußte.«
»Ach du liebster Gott, auch der vornehme Herre?« seufzte Wieschen mitleidig.
»Sie sagen, König Fritze hätte manchmal viel darum gegeben, wenn er nur solchen sichern Ort zum Unterkrauchen gehabt hätte«, meinte Heinrich Schelze.
»Dieses ist so, Schelze«, sprach der Magister Buchius melancholisch. »Das Geschick ducket die Könige und die Bettler gleicherweise nieder, wenn es ihm beliebet. Von Ihm aber, Herr von Münchhausen, freuet es mich, daß Er nicht dem Herrn Pastor Dünnhaupt bei Seiner Derivation des Namens unserer hochberühmtesten cheruskischen Altvordern folget. Es scheinet mir doch zum mindesten ein wenig zu weit hergeholet, wenn der Herr Pastor behauptet, daß diese Nation von ihrer Arbeitsamkeit und unverdrossenem Fleiße Gar ut sin benannt worden wäre, welches dann die Lateiner Cherusci ausgesprochen hätten.«
»Gar ut is et friilich balle mit ösch«, murmelte Mamsell Selinde, aber:
»Vivat der Herr Pastor, der Herr Pastor Dünnhaupt!« klang es seltsamerweise aus demselben Winkel der vorsündflutlich-cheruskisch-kattischen Felsenhöhle. »Dies hätte ich schon wissen sollen, wann uns auf unsern Bänken in Amelungsborn die Herren vom Katheder aus cheruskische Bärenhäuter benamseten, faule Stricke, grobe, träge Flegel, landeingeborene Schweinpelze und – per eminentiam – cheruskische Bärenhäuter uns betitulierten!... Hört Sie es nun wohl, Mademoisell? Seit Uranfang sind wir belobt wegen Arbeitsamkeit und von wegen unverdrossenem Fleiße! Und es ist alles stinkende Verleumdung gewesen, was man uns an übelm Geruch und Ruf aufgeladen hat seit tausend Jahren.«
»Wenn Er mir jetzo eins von den warmen Bärenfellen, auf denen sich Seine Herren Vorfahren geräkelt haben, schaffen könnte, so wollte ich mich zum erstenmal heute bei Ihm bedanken, Thedel. Wie es aber ist, bleibe Er mir auf tausend Schritte vom Leibe, Er ist nässer und kälter als wir alle mit Seinen Zutunlichkeiten.«
»Herr Pastor Dünnhaupt will Behausungen unserer Vorfahren, wie wir sie heute, jetzt durch Gottes Güte, Hülfe und gnädigen Beistand einnehmen dürfen, noch an dem Elm bei dem Gute Langeleben angetroffen haben«, sprach Magister Buchius. »Ich für mein Teil glaube außer dieser auch noch drüben am Vogler bei Hohlenberg auf solche gestoßen zu sein, an der großen und an der kleinen Hohle, gegen den Butzberg zu. Was die Hohle Burg bei Stadtoldendorf anbetrifft –«
»Herre«, unterbrach hier, wahrscheinlich hastig sich aus den Armen seines Wieschens aufrichtend, der Knecht Heinrich Schelze, »Herre, Herr Magister, die Unterkommen und Höhlungen da im Stein stammen nicht von den alten, lange verstorbenen Bärenhäutern! Man soll eigentlich lieber nicht davon sprechen. Sie haben's nicht gerne; aber die darin gewohnt haben, die wohnen heute noch darin. Ich habe selber einen von ihnen am hellen, heißen Mittage sitzen sehen – am hellen, lichten Mittage, um Johanni, so um die Siebenschläfer und Peter und Paul herum, mitten im Sommer, mitten am Mittage.«
»Jeses, Heinrich!« rief Wieschen. – »Ich bin nicht dabei gewesen, Mademoisell Selinde«, lachte Thedel von Münchhausen, der Magister Buchius aber fragte ernsthaftiglich:
»Was – wen hat Er sitzen sehen, Schelze?«
»Einen von ihnen – den Kleinen, Herre! Auf der Hohlen Burg unter der Homburg! Er saß bei seinem Loch und ließ die Beine baumeln. Wie ein dreijährig Kind mit einem alten, alten Kopf und langem rotgriesen Bart und einer Kappe halb über die Augen. Und es war wohl mein Glück, daß er um die Zeit auch halb im Schlaf war und saß und mit dem Kopfe nickte. Ich hatte meine Barte bei mir, aber Gott der Herr hat mich davor bewahrt, daß ich sie nach dem Spuk warf. Als ich wieder hinsah, ist er weg gewesen.«
»Nun guck einer den dummen Kerl«, rief der Junker von Münchhausen. »Mademoisell Selinde, wäre ich dabei gewesen, als Kavalier und irrender Ritter, ich hätte meiner Allerschönsten, meiner Allerliebsten und königlichen Prinzeß den Zwerg von der Hohlen Burg an Händen und Füßen gebunden, über den Rücken gehängt, mitgebracht nach dem Kloster und zu ihren Füßen geleget. Er ist doch nur ein Rindvieh, Schelze, so gute Freunde wir auch sonsten sind, Heinrich.«
»Das sagt Er wohl, Herr von Münchhausen«, sagte Heinrich Schelze; doch Magister Buchius sprach, in seiner finstern Ecke wissenschaftlich melancholisch den Kopf schüttelnd: »Es ist wohl nur eine Phantasie, eine Phantasmagoria, eine Einbildung und Täuschung der Sinne gewesen, lieber Heinrich; aber, lieber Thedel, die Welt ist doch voll der Mirakel und Mysterien, und der Mensch, wie er in der Schwebe hänget zwischen Himmel und Erde, ja, zwischen Himmel und Hölle, so hänget er auch zwischen dem, was er begreifet, und dem, was er nicht begreifet um sich her und in sich selber. Der Mensch sitzt in der finstern, schaudervollen Nacht in Heiterkeit und bei hellem Verstande und bedienet sich seiner Vernunft fröhlich bei seinem Studio oder in Überlegung seiner zeitlichen Umstände. Und derselbige Mensch traut am hellen Mittage bei leuchtender Sonne unter Gottes blauem Himmel nicht seinen fünf Sinnen! Ja, er stehet vor den beiden großen Grundsätzen aller unserer Erkenntnisse, dem Satz des Widerspruches, nämlich, daß es unmöglich ist, daß etwas zugleich sei und zugleich nicht sei, und dem Satz des zureichenden Grundes, nämlich, daß alles, was ist, einen zureichenden Grund haben muß – er stehet, sage ich, wie die Kuh vor dem verschlossenen Tor. Was die schlimmsten, die ärgsten Zweifler oder Skeptici nicht leugnen, das schwanket in seiner Seele. Er siehet am hellen Mittage Dinge, die dem schnurstracks widersprechen, was, abgesehen vom Principio rationis sufficientis, die Alten schon das Principium exclusi medii inter duo contradictoria nannten.«