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Zwei Wochen später rollte ich in einer Droschke über den Campo de Sant' Anna; die Droschkentür war schon geöffnet, mein Schuh streckte sich nach dem Trittbrett aus, und ich erblickte zwischen den kahlen Bäumen das schwarze Tor von Tantchens Haus! Und in dem harten alten Rumpelwagen strahlte ich heller als ein fetter Cäsar, wenn er mit goldenen Blättern bekränzt auf seinem großen Triumphwagen dahinfuhr, vom Sieg über Völker und Götter heimkehrend.
Wahrhaftig, ich war hingerissen vor Entzücken, als ich unter dem blauen, klaren Januarhimmel mein Lissabon wiedersah mit seinen stillen, schmutzigweiß gekalkten Gassen und hier und dort den grünen Jalousien an den Fenstern, herabgelassen wie Augenlider, die schwer sind von Trägheit und Schläfrigkeit. Aber vor allem beglückte mich die Gewißheit des glorreichen Umschwungs, der in meinen häuslichen Verhältnissen und in meiner gesellschaftlichen Stellung eingetreten war.
Was war ich bisher im Hause der Dona Patrocinio gewesen? Der Knabe Theodorico, der trotz seines Doktordiploms und seines Vollbarts sein Pferd nicht satteln lassen und nicht zum Haarschneiden in die Unterstadt reiten durfte, ohne erst Tantchens Erlaubnis zu erflehen ... Und jetzt? Unser Doktor Theodorico, der in heiliger Berührung mit den Stätten des Evangeliums eine fast priesterliche Autorität gewonnen hatte! Was war ich bisher in der Welt unter meinen Mitbürgern gewesen? Der kleine Raposo, der ein Pferd hielt. Und jetzt? Der große Raposo, der wie Chateaubriand eine poetische Wallfahrt ins Heilige Land gemacht hatte und der, da er in fernen Gasthäusern geschlafen und rundliche Zirkassierinnen geküßt hatte, in der Geographischen Gesellschaft oder auch im Bordell das große Wort führen konnte.
Der Droschkenkutscher hielt die mageren Klepper an. Ich sprang hinaus, die Reliquienkiste an mein Herz pressend ... Und im Hintergrund des traurigen Hofs mit dem Steinchenpflaster erblickte ich die Senhora Dona Patrocinio das Neves im schwarzen Seidenkleide mit schwarzen Spitzen, wie sie in ihrem fahlen Gesicht unter der dunklen Brille lächelnd ihre gelben Zähne nach mir fletschte!
»O Tantchen!«
»O Kind!«
Ich ließ die heilige Kiste los, sank an ihre dürre Brust; und der Duft von Schnupftabak, Kapelle und Säure, der von ihr ausging, war wie die schwebende Seele meines Hauses, die mich umfing, um mich in die fromme, vertraute Atmosphäre des heimischen Herdes zurückzuziehen.
»Ach, mein Sohn, wie sonnenverbrannt du zurückkommst! ...«
»Tantchen, ich bringe Ihnen viele Grüße vom Heiland! ...«
»Gib sie mir alle, gib sie mir alle!«
Und sie hielt mich an das harte Brett ihres Busens gepreßt, rieb ihre kalten Lippen an meinem Bart – so ehrfurchtsvoll, als sei es der hölzerne Bart einer Statue des heiligen Theodoricus.
Neben ihr wischte Vicencia sich mit dem Zipfel der frischen Schürze die Augen. Der Droschkenkutscher lud meinen Lederkoffer ab. Nun erhob ich die kostbare Kiste aus Fichtenholz und hauchte mit salbungsvoller Bescheidenheit: »Da ist sie. Tantchen, da ist sie! Da haben Sie sie, da gebe ich sie Ihnen, Ihre göttliche Reliquie, die einst dem Heiland gehört hat!«
Die fleischlosen fahlen Hände der schauerlichen Dame erzitterten bei der Berührung dieser Bretter, die den wunderbaren Quell ihres Heils enthielten und die Rettung von allen ihren Leiden. Stumm, kerzengerade, sanft die Kiste an sich drückend, stieg sie die Steintreppe empor, durchschritt den Saal der Jungfrau von den Sieben Schmerzen, lenkte den Schritt zum Oratorium. Ich folgte ihr in stolzer Haltung mit meinem Korkhelm, rief fortwährend: »Hoch! hoch!«, und die Köchin und die zahnlose Eusebia verneigten sich im Korridor, als ziehe das Allerheiligste vorbei.
Im Oratorium, vor dem mit weißen Kamelien bestreuten Altar, benahm ich mich großartig. Ich kniete nicht nieder, ich bekreuzigte mich nicht; von weitem gab ich dem goldenen Jesus an seinem Kreuz einen vertraulichen Wink mit zwei Fingern und warf ihm einen lachenden, verschmitzten Blick zu, wie einem alten Freund, mit dem man alte Geheimnisse hat. Tantchen beobachtete diese meine Vertraulichkeit mit dem Heiland – und als sie sich auf den Teppich niederwarf (den grünsamtenen Betstuhl mir überlassend), erhob sie die anbetenden Hände ebensosehr zu ihrem Neffen wie zu ihrem Erlöser.
Als die Vaterunser des Dankes für meine Heimkehr beendet waren, mahnte sie, noch kniend, demutsvoll: »Kind, es wäre gut, wenn ich wüßte, was für eine Reliquie es ist, wegen der Kerzen, wegen der Zeremonien ...!«
Ich klopfte mir den Staub von den Knien.
»Das wird sich zeigen. Reliquien packt man am Abend aus ... Das hat mir der Patriarch von Jerusalem eins Herz gelegt ... Jedenfalls aber zünden Sie noch vier Lichter an, Tantchen, denn sogar das liebe Holz der Kiste ist schon heilig!«
Sie zündete sie fügsam an, stellte mit seliger Sorgfalt die Kiste auf den Altar, drückte einen langen, schmatzenden Kuß darauf, breitete ein prachtvolles Spitzentuch darüber, und ich zeichnete sodann würdevoll wie ein Bischof mit zwei Fingern ein segnendes Kreuzeszeichen auf das Tuch.
Sie wartete, und ihre dunklen Brillengläser blickten feucht vor Zärtlichkeit auf mich.
»Und jetzt, mein Kind, und jetzt?«
»Jetzt das Frühstück, denn mir kracht der Magen vor Hunger!«
Da raffte die Senhora Dona Patrocinio ihre Röcke auf und rannte davon, die Vicencia anzutreiben. Ich ging in mein Zimmer, um meinen Koffer auszupacken. Tantchen hatte es neu tapezieren lassen; die gestärkten Musselinvorhänge bauschten sich; ein Veilchenstrauß duftete auf der Kommode.
Lange Stunden blieben wir bei Tisch sitzen. Die Milchreisschüssel war mit meinem Monogramm, einem Herzen und einem Kreuz von Zimt geziert – Tantchens Werk! Und unerschöpflich erzählte ich von meiner heiligen Reise. Ich berichtete von den frommen Tagen im Ägypterlande, da ich eine nach der anderen die Fußspuren geküßt hatte, die dort die heilige Familie auf ihrer Flucht hinterlassen; berichtete von der Ausschiffung in Jaffa mit meinem Freunde Topsius, einem gelehrten Deutschen, Doktor der Theologie, und von einer köstlichen Messe, die wir dort genossen hatten; berichtete von den mit Kapellen bedeckten Hügeln von Juda, wo ich, mein Pferd am Zaum führend, überall niedergekniet war, um den Heiligenbildern und ihren Hütern die Grüße meiner Tante Patrocinio auszurichten ... Ich beschrieb Jerusalem, Stein für Stein! Und Tantchen seufzte, ohne zu essen, mit gefalteten Händen in gläubigem Entzücken: »Ach, wie heilig! Wie erbaulich, diese Dinge zu hören! Jesus! Welch ein herrlicher Genuß! ...«
Ich lächelte demutsvoll. Und sooft ich sie von der Seite her anblickte, schien sie mir eine andere Patrocinio das Neves. Ihre dunkle Brille, die sonst so scharf blitzte, blieb fortwährend beschlagen, feucht vor Zärtlichkeit. Durch ihre Stimme, die die zischende Schroffheit verloren hatte, irrte, sie mildernd, ein liebkosender und näselnder Hauch. Sie war abgemagert; aber in ihren dürren Knochen schien endlich eine Wärme wie von menschlichem Mark zu kreisen! Ich dachte: Ich werde sie noch um den Finger wickeln!
Und ohne Maß verschwendete ich die Beweise meiner Intimität mit dem Himmel.
Ich sagte: »Eines Abends auf dem Ölberg war ich im Gebet versunken, da flog auf einmal ein Engel vorbei ... Ich riß mich aus meinen Gedanken, ging zum Grab unseres Heilands, hob den Deckel auf, rief hinein ...«
Sie ließ, überwältigt von diesen wunderbaren Gnaden, die nur mit denen des heiligen Antonius vergleichbar schienen, das Haupt sinken.
Dann zählte ich meine zahllosen Gebete auf, meine furchtbaren Fasten. Zu Nazareth, an dem Brunnen, wo Unsere Liebe Frau ihren Krug gefüllt, hatte ich auf den Knien im Regen Tausende von Ave-Marias gebetet ... In der Wüste, wo Sankt Johannes gelebt hatte, waren Heuschrecken meine Nahrung gewesen ...
Und Tantchen, mit Speichel auf den Wangen: »Ach, wie rührend, kleine Heuschreckchen! – Und welche Freude für unsern teuren Sankt Johannes! ... Wie ihm das gefallen haben muß! Und haben sie dir nicht geschadet?«
»Aber nein, ich bin sogar dick davon geworden. Tantchen! Ganz und gar nicht! Ich habe zu meinem deutschen Freund gesagt: ›Wenn die Leute sie sich nur leichter verschaffen könnten, es wäre ein Gewinn für das liebe Seelenheil! ...‹«
Sie wandte sich nach der Vicencia um, die staunend und lächelnd an ihrem üblichen Platz zwischen den beiden Fenstern stand, unter dem Bild Pius' IX. und dem Fernrohr des Komturs G. Godinho: »Oh, Vicencia, er kommt so voller Tugend zurück! Ganz vollgepfropft!«
»Mir scheint, daß unser Heiland Jesus Christus mit mir nicht unzufrieden gewesen ist!« murmelte ich und streckte den Löffel nach dem Quittenkompott aus.
Und alle meine Bewegungen (sogar das Ablecken der Soße) betrachtete die verhaßte Dame voll Verehrung, als seien es kostbare Akte der Heiligkeit.
Dann, mit einem Seufzer: »Und noch eins, Kind ... Hast du von dort ein paar wirklich gute Gebete mitgebracht, haben die Patriarchen und die lieben Patres dort dich welche gelehrt?«
»Die größten Leckerbissen, Tantchen! Sehr viele sind noch dazu aus den Papieren der Heiligen abgeschrieben; sie wirken zuverlässig gegen alle Leiden! Ich habe welche gegen den Husten und gegen schwer schließende Kommodenschubladen und auch welche für die Lotterie.«
»Und hast du eins gegen Wadenkrampf? Denn ich spüre manchmal in der Nacht, Kind ...«
»Ich habe eins, das bei Wadenkrämpfen nie versagt. Einer meiner Freunde hat es mir gegeben, ein Mönch, dem das Kind Jesus zu erscheinen pflegt ...«
So sprach ich und zündete eine Zigarette an.
Nie hatte ich vor Tantchen zu rauchen gewagt! Sie hatte den Tabak immer ärger verabscheut als irgendeine andere Emanation der Sünde. Aber jetzt rückte sie gierig ihren Stuhl näher an mich heran wie an einen wunderkräftigen Koffer, der voll ist von jenen Gebeten, welche die Feindseligkeit der Dinge überwinden, jedes Siechtum besiegen und alte Weiber ewig leben lassen.
»Du mußt es mir geben, Kind! Es ist eine gute Tat, die du da vollbringst.«
»Aber Tantchen, was fällt Ihnen ein? Alle gebe ich Ihnen! ... Was machen denn Ihre Beschwerden, Tantchen?«
Sie seufzte ein unendlich mutloses »Ach!« – Es ginge ihr schlecht, schlecht ... Jeden Tag fühle sie sich schwächer, als solle sie sich auflösen ... Nun, wenigstens würde sie nicht sterben ohne die Freude darüber, daß sie mich nach Jerusalem zum Besuch des Heilands geschickt hatte; der würde es ihr, hoffe sie, anrechnen, sowohl was die Kosten als auch was die Trennung betraf, die ihr so schwergefallen sei ... Aber es ginge ihr schlecht, schlecht!
Ich wandte mein Gesicht ab, um das skandalöse Aufleuchten des Jubels zu verbergen, das es erhellte. Dann versuchte ich sie edelmütig aufzumuntern. Was hatte Tantchen noch zu befürchten? Besaß sie jetzt nicht eine Reliquie von unserem Heiland, zu der sie ihre Zuflucht nehmen konnte, um die Naturgesetze des Verfalls zu besiegen?
»Und noch eins. Tantchen ... Wie geht es den lieben Freunden?«
Sie teilte mir die trostlose Neuigkeit mit. Der beste und liebste von ihnen, der prächtige Casimiro, hatte sich am Sonntag ins Bett gelegt, weil seine »lieben Beinchen geschwollen waren« ... Die Doktoren versicherten, es sei die Wassersucht ... Sie hatte einen Galicier im Verdacht, der ihm die Plage an den Leib geflucht haben mußte ...
»Sei dem, wie es sei, da liegt nun der heilige Mann! Er hat mir so gefehlt, so sehr ... Ach, Kind, du hast keine Ahnung! ... Mich hat nur einer aufrechterhalten, der Vetter, der Pater Negrão ...«
»Negrão?« murmelte ich, denn der Name war mir fremd.
Ach so, den kannte ich ja nicht ... Der Pater Negrão lebte in der Nähe von Torres. Nie kam er nach Lissabon; die Stadt mit all ihren Ausschweifungen war ihm ein Ärgernis ... Nur Tantchen zuliebe, um ihr bei ihren Geschäften zu helfen, hatte der heilige Mann sich bereitgefunden, sein Dorf zu verlassen. Er sei so zartfühlend, so eifrig! ... Ach, ein vollendet guter Mensch!
»Er hat mir in einer Weise gutgetan, von der du dir keine Vorstellung machen kannst, Kind ... Allein was ich mit ihm für dich gebetet habe, damit Gott dich in diesen türkischen Ländern beschütze ... Und er leistet mir so viel Gesellschaft! Jeden Tag kommt er zum Mittagessen her ... Heute wollte er nicht kommen. Er hat sogar ein sehr hübsches Wort gebraucht: ›Ich möchte den Ergüssen nicht im Wege stehen.‹ Weißt du, er kann sehr schön reden und Worte sagen, die ans Herz greifen ... Ach, keiner ist wie er! ... Du ahnst es nicht, es ist eine Freude ... Und welch ein Appetit!«
Ich streifte verärgert die Asche von der Zigarette. Warum erschien dieser Pater aus Torres gegen alle häusliche Gepflogenheit jeden Tag, um Tantchens Rindfleisch zu essen? Ich erklärte mit Autorität: »Dort unten in Jerusalem kommen die Patres und die Patriarchen nur an den Sonntagen zum Essen. Es ist besser für das Seelenheil!«
Es war dunkel geworden. Vicencia zündete das Gas im Korridor an; und da nun bald die geliebten Freunde eintreffen sollten, die Tantchen zur Begrüßung des Pilgers geladen hatte, zog ich mich in mein Zimmer zurück, um meinen schwarzen Rock anzuziehen.
Dort betrachtete ich mein sonnenverbranntes Gesicht im Spiegel, lächelte eitel und dachte: ›O Theodorico, du hast gesiegt!‹
Ja, gesiegt! Mit welcher Verehrung Tantchen mich empfangen hatte! Mit welcher frommen Hingebung! ... Und es ging ihr schlecht, schlecht! ... Sehr bald würde ich die Hammerschläge auf ihrem Sarg hören – und mein Herz würde vor Freude stillstehen. Und nichts konnte mich aus dem Testament der Dona Patrocinio verdrängen! Ich war für sie zum heiligen Theodorico geworden! Die ekelhafte Alte war endlich überzeugt, daß mir ihr Gold zu vermachen soviel hieß, wie es Jesus und seinen Aposteln und der ganzen heiligen Mutter Kirche zu schenken!
Da knarrte die Tür – Tantchen trat ein, mit ihrem alten Tongkingschal über den Schultern. Und seltsam, jetzt schien sie mir wieder die Dona Patrocinio von einst zu sein, die Strenge, Rabiate, Vertrocknete, die die Liebe als eine schmutzige Sache haßte und für immer alle Männer aus ihrem Hause jagte, die sich mit Unterröcken eingelassen hatten! In der Tat! Ihre Brillengläser waren wieder trocken und funkelten durchdringend, als sie ihren mißtrauischen Blick in meinen Koffer bohrte ... Gerechter Himmel! Es war die alte Dona Patrocinio! Da kamen ihre fahlen, gekrümmten Hände, über dem Schal gekreuzt, in die Fransen gekrampft, um meine Wäsche zu durchstöbern! Um ihre geschlossenen Lippen grub sich eine starre Falte der Verbitterung ... Ich erbebte; aber sofort überkam mich eine Eingebung des Herrn. Vor dem Koffer breitete ich die Arme aus, ganz Unschuld: »Richtig! Tantchen, da haben Sie den Koffer, der nach Jerusalem gereist ist ... Da ist er, weit offen, damit die Welt sehe, wie der Koffer eines religiösen Menschen aussieht! Denn das hat mein deutscher Freund immer gesagt, ein Mann, der alles wußte: ›Ja, mein frommer Raposo, wenn einer auf einer Reise gesündigt hat, Ausschweifungen begangen, Unterröcken nachgelaufen ist, bringt er immer den Beweis im Koffer mit heim. Mag man sie noch so sehr verbergen, sich bemühen, sie draußen zu lassen, immer vergißt man Dinge, die nach Sünde riechen!‹ Oft hat er mir das gesagt, bei einer Gelegenheit sogar vor einem Patriarchen ... Und der Patriarch war derselben Ansicht. Deswegen halte ich hier meinen Koffer offen und verberge nichts ... Man kann ihn durchsuchen, kann daran riechen ... Was an ihm riecht, ist die Religion! Sehen Sie, Tantchen, sehen Sie! ... Das sind die Unterhosen und die Socken. Das muß sein, denn es ist eine Sünde, nackt herumzugehen ... Aber alles übrige ist heilig! Mein Rosenkranz, das liebe Gebetbuch, die Skapuliere, alles vom Besten, alles vom Heiligen Grab ...«
»Da liegt ein Paket!« schnarrte die widerliche Dame und streckte einen langen, knochigen Zeigefinger aus ...
Eiligst öffnete ich das Paket. Es waren zwei versiegelte Flaschen voll Jordanwasser! Und sehr ernst, sehr würdevoll blieb ich vor Dona Patrocinio stehen, ein Fläschchen voll von dem göttlichen Naß in jeder Hand ... Nun küßte sie, wieder mit feuchten Brillengläsern, reumütig die Flaschen; ein Speicheltropfen rann von ihren Lippen auf meine Nägel. Dann, an der Tür, seufzte sie völlig besiegt: »Sieh, Kind, ich zittere am ganzen Leibe ... Weil ich all diese Freude erlebe!«
Sie ging. Ich blieb und tätschelte mir die Wange. Ja, noch gab es einen Umstand, der mich aus Tantchens Testament ausschließen konnte. Wenn nämlich körperlich und greifbar ein Beweis meiner Ausschweifungen vor ihr auftauchte ... Aber wie konnte er in diesem logischen Universum jemals auftauchen? Alle verflossenen Schwächen meines Fleisches waren wie der für immer verwehte Rauch eines erloschenen Feuers. Und meine letzte Sünde, die ich fern im alten Ägypten genossen hatte, wie konnte sie jemals zu Tantchens Kenntnis gelangen? Keine menschliche Fügung vermochte die beiden einzigen Zeugen zum Campo de Sant' Anna zu bringen – eine Handschuhverkäuferin, die eben damit beschäftigt war, die Mohnblumen ihres Hutes neben dem Granit der Ramsesdynastie in Theben zur Geltung zu bringen, und einen Doktor, der in irgendeiner Gasse einer deutschen Stadt im Schatten einer alten Universität hockte und seine Nase in den historischen Kehricht der Herodiaden steckte ... Und außer dieser Blüte der Verderbnis und dieser Säule der Wissenschaft kannte niemand auf Erden meine sündigen Wonnen in der verliebten Stadt der Lagiden.
Überdies bedeckte nun das verruchte Beweisstück meiner Verbindung mit der verworfenen Mary, das veilchenduftende Nachthemd, dort in Zion die üppigen Hüften einer Zirkassierin oder die bronzefarbenen Brüste einer Nubierin aus Koskoro; die kompromittierende Widmung »meinem starken Portugieschen« war abgerissen, in dem Kohlenbecken verbrannt; schon lösten sich die Spitzen im ausgiebigen Liebesdienst auf; das Hemd selbst, schmutzig und zerschlissen, würde bald in den jahrhundertealten Schmutz von Jerusalem geworfen werden! Ja, nichts konnte sich mehr zwischen meine gerechte Gier und Tantchens grüne Börse stellen. Nichts, höchstens der Leib der Alten selbst, ihr klapperndes Gerippe, in dem eine fürchterliche Lebensflamme wohnte, die nicht erlöschen wollte! ... O schreckliches Geschick, wenn Tantchen, das hartnäckige, zähe, noch leben würde zu der Zeit, da sich die Pforten des nächsten Jahres öffneten! Und nun hielt ich nicht mehr an mich. Ich schleuderte meine Seele himmelwärts, ich schrie verzweifelt, in der ganzen Angst meines Begehrens: »O heilige Jungfrau Maria, mach, daß sie bald krepiert!«
In diesem Augenblick erklang die große Glocke im Hof. Und erfreulich war es, nach der langen Trennung die beiden kurzen schüchternen Glockensignale unseres bescheidenen Justino zu erkennen; erfreulicher noch, sofort darauf das majestätische Läuten des Dr. Margaride zu vernehmen.
Unmittelbar darauf riß Tantchen in peinlicher Verwirrung die Tür meines Zimmers auf: »Theodorico, mein Kind, höre! Mir ist eingefallen ... Mir scheint, daß wir mit dem Auspacken der Reliquien besser warten, bis Justino und Margaride wieder gegangen sind! Ich bin zwar sehr befreundet mit ihnen, es sind Männer von großer Tugend ... Aber ich finde, daß bei einer derartigen Zeremonie besser nur kirchliche Persönlichkeiten anwesend sein sollten ...«
Sie betrachtete sich wegen ihrer Frömmigkeit als eine kirchliche Persönlichkeit! Ich aber war durch meine Reise beinahe eine himmlische Persönlichkeit geworden.
»Nein, Tantchen ... Der Patriarch von Jerusalem empfahl mir, es vor allen Freunden des Hauses in der illuminierten Kapelle zu tun ... Es ist wirksamer ... Und hören Sie, sagen Sie der Vicencia, sie möge meine Schuhe zum Putzen holen.«
»Ach, ich bringe sie ihr ... Sind es die? Hübsch schmutzig sind sie, wirklich. Sie bringt sie dir, gleich bringt sie sie dir!«
Und die Senhora Dona Patrocinio das Neves ergriff die Schuhe! Und die Senhora Dona Patrocinio das Neves nahm die Schuhe mit!
Oh, sie war verändert, sehr verändert! Und während ich vor dem Spiegel ein Kreuz von Maltakorallen in den Satin meiner Krawatte steckte, dachte ich, daß von diesem Tage an ich auf dem Campo de Sant' Anna regieren würde, von der Höhe meiner Heiligkeit herab, und daß ich, um ihren Tod zu beschleunigen, vielleicht dazu übergehen würde, die Alte zu prügeln.
Als ich in den Salon trat, war es süß zu sehen, wie die geliebten Freunde in feierlichen Fräcken dastanden und die verlangenden Arme nach mir ausbreiteten. Tantchen ruhte auf dem Sofa, lang ausgestreckt, matt, in festlicher Seide und mit Juwelen behängt. Und neben ihr krümmte ein sehr magerer Pater mit in die Brust gekrallten Fingern das Rückgrat und zeigte dabei in einem hageren Gesicht spitze, hungrige Zähne. Das war Negrão. Ich reichte ihm unfreundlich zwei Finger: »Es freut mich, Sie hier zu sehen ...«
»Eine sehr große Ehre für Ihren ergebensten Diener!« lispelte er und drückte meine Finger an seine Brust.
Und den knechtischen Rücken noch tiefer krümmend, eilte er, den Schirm der Lampe hochzuziehen, damit das Licht mich bestrahlte und man an der Reife meines Gesichts die Wirkung meiner Pilgerfahrt erkennen könnte.
Pater Pinheiro entschied mit einem leidenden Lächeln: »Magerer!«
Justino zögerte und schnippte mit den Fingern: »Sonnverbrannter!«
Und Dr. Margaride sagte bedachtsam: »Männlicher!«
Der geschmeidige Pater Negrão wandte sich um; er krümmte sich vor Tantchen wie vor einem von Glanz der Kerzen umstrahlten Sakrament. »Und im großen ganzen ehrfurchtgebietend! Vollkommen würdig, der Neffe unserer tugendreichen Dona Patrocinio zu sein!«
Unterdessen umbrandeten mich die Fragen freundschaftlicher Neugier: »Und die Gesundheit?« – »Also wie war's nun in Jerusalem?« – »Und das Essen dort?«
Aber Tantchen klopfte sich mit dem Fächer an die Knie, aus Angst, daß ein so vertraulicher Aufruhr den heiligen Theodorico stören könnte. Und Negrão stimmte ihr mit honigsüßem Eifer zu: »Methodisch, meine Herren, methodisch! – Wenn alle auf einmal sprechen, hat man nichts davon. – Es ist besser, unseren interessanten Theodorico ausreden zu lassen!«
Ich verabscheute dieses »unseren«, ich haßte diesen Pater. Warum war so viel Honig in seiner Rede? Warum hatte er den bevorzugten Platz auf dem Sofa und streifte mit dem schmutzigen Knieteil seiner Hose Tantchens keusche Seide?
Dr. Margaride öffnete seine Schnupftabaksdose und stimmte zu, daß ein methodischeres Vorgehen ersprießlicher sein würde ...
»Setzen wir uns alle her, bilden wir eine Runde, und unser Theodorico erzählt der Reihe nach von allen Wundern, die er gesehen hat!«
Der ausgemergelte Negrão, der sich skandalös vertraulich benahm, lief nach einem Glas Zuckerwasser, das mir die Kehle feucht erhalten sollte. Ich breitete das Taschentuch über meine Knie. Ich hustete – und dann begann ich die großartige Reise zu skizzieren. Ich erzählte von dem Luxus an Bord der »Malaga«, von Gibraltar und seinen wolkenumhüllten Felsen, dem Überfluß an der Table d'hôte mit ihren Puddings und Mineralwässern.
»Alles in großem Stil auf französische Art!« seufzte Pater Pinheiro mit einem Schimmer der Gefräßigkeit im stumpfer Blick ... »Aber natürlich alles sehr schwer verdaulich ...«
»Ich sage Ihnen, Pater Pinheiro ... Ja, alles im großen Stil, alles nach französischer Art, aber gesunde Speisen, die den Magen nicht ... Schönes Roastbeef, schöner Hammelbraten ...«
»Aber sicher nicht so gut wie Ihr Geflügelragout, hochverehrte Gnädige!« unterbrach mich salbungsvoll der Negrão, nahe an Tantchens spitzer Schulter.
Ich verabscheute diesen Pater! Und das Zuckerwasser umrührend, beschloß ich: Sobald meine eiserne Herrschaft auf dem Campo de Sant' Anna begonnen haben würde, sollte nie mehr das Geflügel meiner Familie den schmeichlerischen Schlund dieses Dieners des Herrn hinabrutschen.
Der gute Justino zupfte an seinem Kragen und lächelte mich verzückt an. Und wie hatte ich in Alexandria meine Abende verbracht? Kannte ich dort wohl irgendeine angesehene Familie, bei der ich eine Tasse Tee trinken konnte?
»Das will ich Ihnen sagen, Justino ... Ich kannte eine. Aber um die Wahrheit zu sagen, es widerstrebte mir, in türkischen Häusern zu verkehren ... Es sind doch Leute, die nur an Mohammed glauben! ... Wissen Sie, was ich am Abend tat? Nach dem Essen ging ich in eine kleine Kirche unserer schönen Religion, ohne alles fremde Beiwerk, wo es ein sehr reizendes Allerheiligstes gab ... Dort verrichtete ich meine Andacht; dann traf ich mich mit meinem deutschen Freund, dem Professor, auf einem großen Platz, von dem die Leute dort in Alexandria behaupten, daß er schöner ist als unser Rocio ... Größer und geschlossener ist er vielleicht. Aber doch nicht so hübsch wie unser Rocio mit dem schönen Pflaster, den Bäumen, der Statue, dem Theater ... Kurz und gut, ich persönlich ziehe für einen kleinen sommerlichen Spaziergang den Rocio vor ... Und das habe ich auch den Türken gesagt!«
»Es steht Ihnen gut an, unsere portugiesischen Schönheiten so zu verteidigen!« bemerkte der Dr. Margaride zufrieden und nahm eine Prise aus der Tabaksdose. »Noch mehr: Es ist die Tat eines Patrioten ... Nicht anders haben die da Gamas und die Albuquerques gehandelt!«
»Es ist wahr ... Ich traf dort den Deutschen. Und dann, um ein wenig zu verschnaufen, denn schließlich braucht man auf Reisen eine Zerstreuung, gingen wir einen Kaffee trinken ... Den Kaffee machen die Türken großartig!«
»Gutes Kaffeechen, ja?« erkundigte sich Pater Pinheiro und näherte mit gierigem Interesse seinen Stuhl dem meinen. »Und stark, stark? Gutes Aroma?«
»Ja, Pater Pinheiro, ein Labsal! Wir nahmen unseren Kaffee, dann gingen wir ins Hotel, und dort im Zimmer begannen wir anhand der heiligen Evangelien alle jene göttlichen Stätten Judäas zu studieren, die wir aufsuchen wollten, um dort zu beten ... Und da der Deutsche Professor war und alles wußte, lernte ich sehr viel, sehr viel! Manchmal sagte er zu mir: ›Senhor Raposo, dank diesen Abenden scheiden Sie von hier gelehrt wie ein Buch!‹ Und es ist wahr, von den heiligen Dingen und von Christus weiß ich jetzt alles ... So, meine Herren, saßen wir bei Kerzenlicht bis zehn, elf Uhr auf ... Dann Tee, Rosenkranz und Bett.«
»Jawohl, Senhor, genußreiche Abende, sehr fruchtbare Abende!« erklärte der ehrwürdige Dr. Margaride und lächelte Tantchen zu.
»Ach, das hat ihm sehr gut getan!« seufzte die fürchterliche Dame. »Es ist, als hätte er sich ein bißchen dem Himmel genähert ... Sogar was er sagt, riecht gut. Es riecht nach Heiligkeit!«
Bescheiden senkte ich langsam die Lider.
Aber Negrão bemerkte mit schlauer Hinterlist: »Erbaulicher wäre es aber doch und würde die Seelen mit mehr Salbung erfüllen, könnte man von Kirchenfesten hören, von Wundern, von Bußübungen ...«
»Ich halte mich an den Verlauf meiner Reise, Herr Pater Negrão«, erwiderte ich scharf.
»Wie es Chateaubriand getan hat, wie überhaupt alle berühmten Autoren«, stimmte Margaride billigend bei.
Und auf ihn, als den Gelehrtesten, blickend, schilderte ich die Abreise von Alexandria an einem stürmischen Abend: den rührenden Augenblick, da eine Barmherzige Schwester (die einmal in Lissabon gewesen war und von den Tugenden Tantchens reden gehört hatte) mir aus den salzigen Fluten ein Paket rettete, in dem ich ägyptische Erde mitführte, die die Heilige Familie betreten hatte; dann unsere Ankunft in Jaffa, das sich, sobald ich im Zylinder und an Tantchen denkend auf Deck gekommen war, durch ein Wunder mit Sonnenstrahlen umkränzt hatte ...
»Prachtvoll!« rief Dr. Margaride aus. »Und sagen Sie, lieber Theodorico, hatten Sie nicht irgendeinen gelehrten Führer bei sich, der Ihnen die Ruinen zeigte, der Ihnen erklärte ...?«
»Aber gewiß, Dr. Margaride! Wir hatten einen großen Latinisten, den Pater Potte!«
Ich befeuchtete meine Lippen. Und erzählte von den Hochgefühlen jener glorreichen Nacht, da wir vor Ramleh kampierten, da der Mond am Himmel religiöse Gegenstände beleuchtete, Beduinen mit Lanzen über der Schulter Wache hielten und ringsum die Löwen brüllten.
»Welche Szene!« rief Dr. Margaride und stand unvermittelt auf. »Welche ungeheure Szene! Wie eines jener grandiosen Bilder aus der Bibel, aus den Lusiaden! Man könnte inspiriert werden. Ich für mein Teil, hätte ich das gesehen, ich hätte mich nicht zurückhalten können ... nicht zurückhalten können – ich hätte eine erhabene Ode gedichtet!«
Negrão zupfte den beredten Vertreter der Justiz am Frackärmel: »Es ist besser, unseren Theodorico reden zu lassen, so haben wir alle den Genuß ...«
Verärgert verzog Margaride die furchterweckenden ebenholzschwarzen Brauen: »Niemand in diesem Salon, Herr Pater Negrão, hat einen größeren Genuß an dem Erhabenen als ich!«
Und Tantchen, unersättlich, mit dem Fächer pochend: »Genug, genug! Erzähle, Kind, werde nicht müde ... Hörst du, erzähle uns etwas, was sich zwischen dir und dem Heiland abgespielt hat, es wird uns so bewegen.«
Alle verstummten in Ehrfurcht. Nun erzählte ich von dem Marsch nach Jerusalem, hinter zwei Sternen her, die uns führten, wie es immer den feinsten Pilgersleuten aus guter Familie geschieht; von den Tränen, die ich vergoß, da ich an einem regnerischen Morgen die Mauern Jerusalems erblickte, und von meinem Besuch am Heiligen Grab, im Frack, mit Pater Potte; von den Worten, die ich vor dem Grabmal gestammelt hatte, schluchzend und von Priestern umringt: »O mein Jesus, o mein Heiland, hier bin ich, ich komme auf Tantchens Geheiß!«
Und die schreckliche Dame stöhnte, nach Atem ringend: »Wie mich das rührt! Vor dem herzallerliebsten Grab!«
Ich wischte mit dem Taschentuch über mein erregtes Gesicht und sagte: »An diesem Abend zog ich mich ins Hotel zurück, um zu beten ... Und jetzt, meine Herrschaften, kommt ein unangenehmer kleiner Punkt ...«
Und zerknirscht gestand ich, daß ich – ich sei das der Religion, meiner Ehre als ein Raposo und der Würde Portugals schuldig gewesen –, daß ich im Hotel einen Konflikt mit einem großen, bärtigen Engländer gehabt hätte.
»Eine Rauferei!« rief heimtückisch der scheußliche Negrão, begierig, den Glanz der Heiligkeit zu dämpfen, mit dem ich Tantchen blendete! »Eine Rauferei in der Stadt Jesu Christi! Aber, aber! Welche Unehrerbietigkeit!«
Mit zusammengebissenen Zähnen sah ich dem niederträchtigen Pater ins Gesicht: »Jawohl, Senhor, eine Prügelei. – Aber nehmen Sie zur Kenntnis, Senhor, daß der Herr Patriarch von Jerusalem mir völlig recht gegeben hat! Er hat mir sogar auf die Schulter geklopft und zu mir gesagt: ›Recht so, Theodorico, Sie haben sich benommen wie ein Held!‹ Was haben Euer Wohlgeboren jetzt noch dazwischenzukrächzen?«
Negrão senkte das Haupt, dem die Tonsur einen fahlen, bläulichen Schein verlieh, wie der Mond zu Pestzeiten.
»Wenn Seine Eminenz einverstanden war ...«
»Jawohl, Senhor! Und nun hören Sie, Tantchen, weshalb die Rauferei entstand! ... Im Zimmer neben dem meinen wohnte eine Engländerin, eine Ketzerin; und kaum hatte ich zu beten angefangen, begann sie Klavier zu spielen, Lieder und Couplets zu singen und Schweinereien aus dem ›Blaubart‹ ... Nun stellen Sie sich vor. Tantchen, wenn ein Mensch in vollster Andacht auf den Knien liegt und fleht: ›O heilige Maria, mach, daß mein gutes Tantchen viele Jahre lebt!‹ – und durch die Bretterwand kommt die Stimme einer Exkommunizierten, die grölt: ›Der Blaubart bin ich –‹ Es ist zum Rasendwerden. Kurz, eines Abends bin ich außer mir, vermag nicht länger an mich zu halten, gehe auf den Korridor, schlage mit der Faust gegen die Tür und rufe hinein: ›Haben Sie die Güte, still zu sein, denn hier ist ein Christ, der beten will.‹«
»Und mit vollem Recht«, erklärte Dr. Margaride. »Sie hatten das Gesetz auf Ihrer Seite!«
»So hat der Patriarch gesagt! Also, Herrschaften, wie ich schon sagte, ich schreie das dem Weib zu und gehe dann sehr ruhig in mein Zimmer, da kommt ihr Vater heraus, ein großer, graubärtiger Mensch, mit einem Rohrstock in der Hand ... Ich war sehr vorsichtig; ich kreuzte die Arme, und in guter Manier sagte ich ihm dann, daß ich hier am Grabe Unseres Heilands keinen Skandal wolle; ich wolle nichts als in Ruhe beten. Und was antwortet mir der Kerl? Daß kurz und gut, ich kann es nicht einmal wiederholen. Etwas Unanständiges gegen das Grab Unseres Heilands! Und mir, Tantchen, steigt das Blut zu Kopf, ich packe ihn am Kragen ...«
»Und du hast ihn geschlagen, Kind?«
»Ich habe ihn verdroschen. Tantchen!«
Alle bejubelten meine Wildheit. Pater Pinheiro zitierte die kanonischen Gesetze, die den Gläubigen gestatten, die Gottlosen lahmzuprügeln. Justino feierte, hin und her hüpfend, diesen von einem festen lusitanischen Faustschlag vernichteten John Bull. Und ich, durch das Lob angefeuert wie durch eine Kampftrompete, stand da und schrie fürchterlich: »Gottlosigkeiten in meiner Gegenwart dulde ich niemals! Ich zerschmettere alles, ich trete alles nieder ... In Religionsfragen bin ich ein wildes Tier!« Und ich benützte diesen heiligen Zorn, um vor dem verkniffenen Mund des Negrão meine behaarte, furchterregende Faust zu schütteln. Der abgezehrte Diener des Herrn duckte sich. Aber in diesem Augenblick trat Vicencia mit dem Tee ein; sie servierte ihn in dem kostbaren Silbergeschirr des G. Godinho.
Nun brachen die geliebten Freunde mit den Sandwiches in der Hand in glühende Lobsprüche aus.
»Was für eine lehrreiche Reise! Als ob man einem Vortrag zuhörte!«
»Und was für einen schönen Abend wir hier verbracht haben! Was ist dagegen das Theater! Hier unterhält man sich!«
»Und wie er erzählt! Welch warmer Eifer! Was für ein Gedächtnis!«
Langsam hatte der gute Justino mit Teetasse und Kuchen sich dem Fenster genähert, als wolle er den Sternenhimmel betrachten; und zwischen den Fransen der Vorhänge winkten mich seine leuchtenden Äuglein vertraulich heran. Ein frommes Lied summend, ging ich zu ihm; beide versteckten wir uns im Schatten der Damastvorhänge, und der tugendhafte Notar, mit seinem Mund meinen Bart streifend, fragte; »Na, Freundchen, und die Weiber?«
Ich vertraute dem Justino. Ich flüsterte in seinen Vatermörder hinein: »Zum Fingerabschlecken, Justinchen!«
Seine Pupillen funkelten wie die eines Katers im Januar; die Tasse klirrte in seiner Hand.
Und gedankenvoll trat ich wieder ins Licht.
»Ja, eine recht hübsche Nacht! ... Aber es sind nicht die heiligen Sterne, die wir dort am Jordan sahen!«
Jetzt kam Pater Pinheiro, mit vorsichtigen Schlucken seinen Tee trinkend, zu mir heran und klopfte mir schüchtern auf die Schulter. Hatte ich im Heiligen Lande bei all diesen Ablenkungen an sein Fläschchen mit Jordanwasser gedacht? ...
»O Pater Pinheiro, das ist doch klar! Ich habe alles mitgebracht. Auch den Zweig vom Ölberg für unseren Justino ... Und die Photographie für unseren Margaride ... Alles!«
Ich eilte auf mein Zimmer, um diese holden Andenken an Palästina zu holen. Ein Taschentuch voll von frommen Kostbarkeiten zwischen den Fingerspitzen, eilte ich wieder zurück. Doch ich blieb vor dem Speisezimmer stehen, weil ich drinnen meinen Namen gehört hatte ... Süße Freude! Es war der unschätzbare Dr. Margaride, der Tantchen mit seiner gewaltigen Autorität versicherte: »Dona Patrocinio, ich wollte es vor ihm nicht sagen ... Aber Sie haben an ihm mehr als einen Neffen und einen Kavalier! Sie haben in Ihrem Hause und zu Ihrer Erquickung einen intimen Freund Unseres Heilands Jesus Christus!«
Ich hustete und trat ein. Aber Dona Patrocinio hatte ein eifersüchtiges Bedenken. Es erschien ihr unzart gegen Unseren Heiland (und gegen sie selbst), daß diese geringeren Reliquien verteilt würden, bevor ihr als Hausfrau und Tante in der Kapelle die Große Reliquie übergeben worden sei.
»Denn erfahren Sie, meine Freunde«, verkündete sie, und ihre keusche Brust schwoll vor Befriedigung, »daß mein Theodorico mir eine heilige Reliquie mitgebracht hat, die mich von allen meinen Sorgen befreien und mich von meinen Leiden heilen wird.«
»Bravo!« schrie der stürmische Dr. Margaride. »So haben Sie, Theodorico, meinen Rat befolgt? Haben Sie jene Gräber durchforscht? Bravo! Das ist mir ein großmütiger Pilgersmann!«
»Ein Neffe, wie es in unserem Portugal keinen zweiten gibt!« pflichtete der Pater Pinheiro bei, der vor dem Spiegel stand und seine belegte Zunge studierte ...
»Ein Sohn, ein Sohn!« proklamierte Justino und reckte sich auf die Fußspitzen.
Aber der Negrão zeigte seine hungrigen Zähne und spuckte die niederträchtigen Worte aus: »Bleibt noch zu erfahren, meine Herren, um was für eine Reliquie es sich handelt!«
Ich verspürte Durst, einen brennenden Durst nach dem Blut dieses Paters! Ich durchbohrte ihn mit zwei Blicken, spitzer und stechender als eherne Speere.
»Vielleicht werden Sie, wenn Sie ein wahrer Priester sind, sich niederwerfen und beten, wenn dieses Wunder zum Vorschein kommt!«
Und ich wandte mich an Dona Patrocinio mit der Ungeduld einer beleidigten edlen Seele, die Genugtuung heischt.
»Und nun. Tantchen, gehen wir ins Oratorium. Ich wünsche, daß alles staunend dasteht. Mein deutscher Freund hat mir gesagt: ›Wenn diese Reliquie ausgepackt wird, wird eine ganze Familie einfach sprachlos sein!‹ ...«
Ganz hingerissen erhob Tantchen die gefalteten Hände. Ich eilte, mich mit einem Hammer zu versehen. Als ich zurückkehrte, zog Dr. Margaride würdevoll seine schwarzen Handschuhe an ... Und hinter der Dona Patrocinio, deren Seidenkleid auf dem Fußboden rauschte wie Prälatengewänder, zogen wir über den Korridor, wo die große Gasflamme in ihrer dunklen Glashülle zischte. Im Hintergrund lauerten Vicencia und die Köchin mit ihren Rosenkränzen in der Hand.
Das Oratorium strahlte. Die alten Silbergeräte, von den Flammen der Wachskerzen überglänzt, verbreiteten im Hintergrund des Altars den weißen Schimmer himmlischer Herrlichkeit. Über frischgewaschenen Spitzen, unter dem frischen Schnee der Kamelien sahen die blauen und roten Gewänder der Heiligen in ihrem Seidenglanz wie neu aus, wie speziell in der himmlischen Werkstatt für diesen Festabend geschneidert ... Manchmal erzitterte der Strahl einer Aureole, sandte einen Blitz aus; dann schien es, als ob durch das Holz der Heiligenbilder Jubelschauer liefen. Und an seinem Kreuz von schwarzem Holz schimmerte der kostbare Christus, massiv, ganz aus Gold, Gold schwitzend, Gold blutend, auf das köstlichste.
»Alles sehr geschmackvoll! Welch köstliche Szene!« murmelte Dr. Margaride, geschmeichelt in seiner Leidenschaft für das Erhabene.
Mit frommer Sorgfalt stellte ich die Kiste auf den samtenen Betstuhl; darüber geneigt schnarrte ich ein Ave; dann hob ich das Tuch auf, das sie bedeckte, legte es über meinen Arm, und nach einem feierlichen Räuspern sagte ich: »Tantchen, meine Herren ... Ich wollte die Reliquie noch nicht enthüllen, die in diesem Kistchen hier liegt, denn so hat es mir der Herr Patriarch von Jerusalem empfohlen ... Jetzt aber will ich euch sagen ... Aber vorher scheint es mir angebracht, klarzustellen, daß alles hier an dieser Reliquie heilig ist; Papier, Bändchen, Kiste, Nägel! So zum Beispiel stammen die kleinen Nägel von der Arche Noah ... Sie können sie sich ansehen, Pater Negrão, Sie dürfen sie betasten! Es sind die Nägel der Arche, sogar noch rostig ... Und alles vom Besten, alles mit wundertätigen Eigenschaften! Vor allem aber möchte ich noch erklären, daß diese Reliquie Tantchen hier gehört und daß ich sie ihr mitbringe, um zu beweisen, daß ich in Jerusalem nur an sie gedacht habe, und daran, wie unser Heiland litt, und indem ich ihr diese Kostbarkeit –«
»Du bleibst immer bei mir, mein Kind!« stammelte die entsetzliche Dame verzückt.
Ich küßte ihr die Hand und besiegelte damit den Pakt, dem Rechtswesen und Kirche als wahrhafte Zeugen dienten. Dann, wieder zum Hammer greifend, sagte ich: »Und nun, damit ein jeder Bescheid weiß und die Gebete sagen kann, die ihm am meisten am Herzen liegen, muß ich mitteilen, welche Reliquie das ist ...«
Ich räusperte mich und schloß die Augen: »Es ist die Dornenkrone!«
Überwältigt, mit einem heiseren Stöhnen, stürzte Tantchen sich über die Kiste, umschlang sie mit bebenden Armen ... Aber Margaride strich sich nachdenklich die strenge Wange, Justino verschwand in der Tiefe seiner Vatermörder; und der hinterhältige Negrão sperrte gegen mich ein schwarzes Maul auf, in dem Entrüstung und Entsetzen emporquoll. Gerechter Himmel! Juristen und Priester zeigten einen Unglauben, der mich das Schlimmste befürchten ließ.
Ich zitterte, schweißgebadet – da neigte sich der Pater Pinheiro ernst und überzeugt und reichte Tantchen die Hand, um sie zu der religiösen Stellung zu beglückwünschen, zu der sie der Besitz dieser Reliquie erhob. Der starken liturgischen Autorität des Paters Pinheiro nachgebend, drückten alle der Reihe nach der von Speichel tropfenden Dame zum Zeichen stummen Glückwunsches die Hand.
Ich war gerettet! Rasch kniete ich neben der Kiste nieder, schob das Stemmeisen in die Ritze des Deckels, hob den Hammer im Triumph ...
»Theodorico, Kind!« brüllte Tantchen entsetzt, als wollte ich auf das lebende Fleisch des Heilands hämmern.
»Keine Angst, Tantchen! Ich habe in Jerusalem diese Sächelchen Gottes handhaben gelernt!«
Als das dünne Brett von den Nägeln gelöst war, schimmerte die weiße Lage Watte. Ich hob sie in zarter Ehrfurcht ab; und den ekstatischen Augen bot sich das hochheilige Paket im braunen Packpapier mit seinem roten Bändchen dar.
»Ach, welcher Duft! Ach, ach, ich sterbe!« seufzte Tantchen, vor frommer Wonne vergehend, während das Weiße ihrer Augen über den dunklen Brillengläsern zum Vorschein kam.
Ich erhob mich, rot vor Stolz.
»Meinem geliebten Tantchen allein kommt es kraft ihrer vielen Tugenden zu, das Paketchen aufzupacken.«
Aus ihrer Ohnmacht erwachend, zitternd und bleich, aber mit der Würde eines Hohenpriesters, nahm Tantchen das Paket, maß den Abstand von den Heiligenbildern, legte es auf den Altar; fromm knüpfte sie den Knoten des roten Bandes auf, dann schlug sie mit der Vorsicht eines Menschen, der einen göttlichen Leib zu verletzen fürchtet, eine nach der anderen die Falten des braunen Packpapiers zurück ... Weißes Leinen kam zum Vorschein ... Tantchen faßte es mit den Fingerspitzen – stieß es plötzlich von sich – und auf dem Altar, zwischen den Heiligen, über den Kamelien, zu Füßen des Kreuzes breitete sich, mit Schleifen und Spitzen, Marys Nachthemd aus! ...
Marys Nachthemd! In all seinem Luxus, in all seiner Schamlosigkeit, zerknittert von meinen Umarmungen, aus jeder seiner Falten nach Sünde stinkend! Marys Nachthemd! Und daran, mit einer Stecknadel angeheftet, nur zu gut lesbar im hellen Schein der Kerzen, der Zettel mit der Widmung in dicken Buchstaben: »Meinem Theodorico, meinem starken Portugieschen, in Erinnerung an den großen Genuß, den wir miteinander hatten!« Gezeichnet: M. M. ... Marys Nachthemd!
Ich weiß kaum, was im blumengeschmückten Oratorium geschah! Ich fand mich plötzlich an der Tür, in den grünen Vorhang verwickelt, mit schlotternden Knien, einer Ohnmacht nahe. Neben dem Kopftuch der Tante hörte ich wie Fackeln, die man in ein Feuer wirft, die Verwünschungen prasseln, die Negrão gegen mich ausstieß: »Ausschweifung! Ruchloser Hohn! Das Hemd einer Dirne! Verspottung der Senhora Dona Patrocinio! Entweihung des Oratoriums!« Ich nahm wahr, wie sein Schuh wütend den weißen Fetzen in den Korridor hinausstieß. Einen nach dem anderen sah ich die Freunde vorbeiziehen wie lange Schatten, die ein Wind des Entsetzens fortträgt. Die Lichter der Kerzen flackerten traurig. Und schweißgebadet bemerkte ich zwischen den Falten des Vorhangs, wie Tantchen auf mich zuschritt, langsam, fahl, mager, schrecklich ... Sie blieb stehen. Ihre kalten und grimmigen Brillengläser durchbohrten mich. Und durch die geschlossenen Zähne spie sie dieses Wort: »Schweinigel!«
Und ging hinaus.
Ich wankte auf mein Zimmer, fiel jählings auf das Bett. Das Getöse eines Skandals hatte das ernste Haus aufgeweckt. Und Vicencia erschien aufgeregt, mit ihrer weißen Schürze in der Hand: »Kindchen, Kindchen! Die Gnädige läßt Ihnen bestellen, Sie sollen sofort auf die Straße hinaus, sie will Sie nicht einen Augenblick länger in ihrem Haus haben ... Und sie sagt, Sie kennen Ihre Wäsche mitnehmen und alle Ihre Schweinereien!«
Hinausgeworfen!
Ich hob das fassungslose Gesicht von dem Spitzenkissen. Vicencia zupfte niedergeschmettert an ihrer Schürze: »Ach, Kindchen! Ach, Kindchen! Wenn Sie nicht gleich auf die Straße hinausgehen, sagt die Gnädige, läßt sie einen Polizisten rufen!«
Fortgejagt!
Ich schlurfte mit unsicheren Füßen über den Boden. Ich versenkte eine Zahnbürste in meiner Tasche; an den Möbeln herumtorkelnd, suchte ich die Pantoffel und wickelte sie in eine Nummer der »Nação« ... Wahllos ergriff ich unter den Gepäckstücken eine Kiste mit Eisenklammern – und auf den Fußspitzen stieg ich Tantchens Treppe hinab, geduckt und kriechend, wie ein räudiger Hund, den seine Räude quält.
Kaum war ich aus dem Hof, da schlug Vicencia, die grausamen Befehle Tantchens ausführend, die eisenbeschlagene Tür hinter mir zu – für immer!
Ich stand allein auf der Straße und im Leben! Im Licht der kalten Sterne zählte ich mein Geld auf meiner Hand. Ich hatte zwei Libras, achtzehn Testonen, einen spanischen Duro und Kupfergeld ... Und nun bemerkte ich, daß die Kiste, die ich blindlings aus dem Gepäck hervorgeholt hatte, die Kiste mit den kleinen Reliquien war. Vollendeter Hohn des Geschicks! – Um meinen schutzlosen Körper zu bedecken, hatte ich nichts als von Sankt Josef gehobelte Brettchen und Scherben vom Kruge der Jungfrau! Ich steckte das Paket mit den Pantoffeln in die Tasche, und ohne die trüben Augen zum Hause meiner Tante zurückzuwenden, marschierte ich zu Fuß, mit der Kiste unter dem Arm, durch die schweigende, sternenklare Nacht in die Unterstadt, ins Hotel »Zur Goldenen Taube«.
Am nächsten Tag löffelte ich, blaß und elend, an der Wirtstafel der »Taube« in einer zweifelhaften Rübensuppe – da ließ sich ein Herr mit einem schwarzen Samtkragen auf dem Platz mir gegenüber nieder, neben einer Flasche Vidagowasser, einer Pillenschachtel und einer Nummer der »Nação«. Auf seinem großen Kopf, der gewölbt war wie ein Kapellendach, wanden sich zwei dicke Adern; und unter den weiten, von Schnupftabak geschwärzten Nasenlöchern trug er als Bart ein kurzes Büschel grauer Haare, die hart waren wie Besenruten.
Der Kellner, der ihm die Rübensuppe servierte, rief ehrfurchtsvoll: »Habe die Ehre, Sie willkommen zu heißen, Senhor Lino!«
Beim Rindfleisch legte dieser Herr die »Nação« fort, in der er höchst genau die Inserate durchgelesen hatte, und wandte mir mit der Bemerkung, daß wir seit den Drei Königen ein prachtvolles Wetter hätten, seine Augen zu, deren gelbliches Weiß von einem Gallen- oder Milzleiden herzurühren schien.
»Wundervoll!« murmelte ich zurückhaltend.
Senhor Lino stopfte die Serviette tiefer in den losen Kragen.
»Und Sie, mein Herr, entschuldigen Sie die Neugier, Sie kommen wohl aus den Nordprovinzen?«
Ich fuhr langsam mit der Hand durch meine Haare: »Nein, Senhor ... Ich komme aus Jerusalem!«
Vor Erstaunen ließ Senhor Lino den Reis von seiner Gabel fallen. Und nachdem er stumm seine innere Bewegung unterdrückt hatte, bekannte er, daß ihn diese heiligen Stätten sehr interessierten, weil er religiös veranlagt sei, Gott sei Dank! Und er hätte ein Amt, gleichfalls Gott sei Dank, in der Patriarchatskammer ...
»Ah, in der Patriarchatskammer!« sagte ich. »Ja, sehr ehrenvoll ... Ich habe einen Patriarchen sehr gut gekannt ... Ich habe den Herrn Patriarchen von Jerusalem sehr gut gekannt ... Ein sehr heiliger Herr, und sehr lieb ... Wir haben einander sogar geduzt!«
Senhor Lino bot mir von seinem Vidagowasser an, und wir plauderten von den Ländern der Schrift.
»Wie steht es in Jerusalem mit den Läden?«
»Läden? Modeläden?«
»Nein, nein!« unterbrach mich Senhor Lino. »Ich meine Läden, in denen Heiligtümer verkauft werden, Reliquien, heilige Sächelchen ...«
»Ach so ... Nicht schlecht. Es gibt den Damiani in der Via, Dolorosa, der alles führt, auch Märtyrerknochen ... Aber am besten forscht jeder selbst nach, gräbt aus ... Ich habe wundervolle Dinge dieser Art mitgebracht!«
Eine Flamme sonderbarer Gier belebte die gelblichen Augäpfel des Senhor Lino von der Patriarchatskammer. Und mit einer plötzlichen Eingebung rief er: »Lieber André, ein Tröpfchen Portwein ... Heute ist ein Fest für mich!«
Als der Kellner die Karaffe niederstellte, an der ein alter Leinenfetzen mit der handschriftlichen Datumsangabe hing, bot mir Senhor Lino ein volles Glas an.
»Auf Ihr Wohl!«
Aus Höflichkeit lud ich, sobald der Käse verzehrt war, diesen Gott sei Dank religiös veranlagten Menschen ein, in mein Zimmer zu kommen und die Photographien von Jerusalem zu bewundern. Er nahm mit Feuereifer an; aber kaum war er durch die Tür, so rannte er schon gegen alle Etikette gierig zu meinem Bett, auf dem einige der Reliquien ausgebreitet waren, die ich an diesem Morgen ausgepackt hatte.
»Interessiert Sie das, mein Herr?« fragte ich. Ich entrollte eine Ansicht des Ölbergs und dachte daran, ihm einen Rosenkranz zu schenken.
Er drehte schweigend eine Flasche Jordanwasser in den dicken Händen mit den abgenagten Nägeln, roch daran, wog sie, schüttelte sie. Dann fragte er sehr ernst mit geschwollenen Adern auf der breiten Stirn: »Haben Sie ein Zeugnis?«
Ich reichte ihm die Bescheinigung des Franziskanerpaters, der die Echtheit und Unvermischtheit dieses Wassers aus dem Taufstrom verbürgte. Voll Genuß las er das ehrfurchterregende Schriftstück. Und begeistert rief er: »Ich gebe zehn Taler für das Fläschchen!«
Es war für meinen armen Juristenverstand, als ob sich ein Fenster öffnete und die Sonne hineinschiene! In ihrem klaren Licht sah ich plötzlich die wirkliche Natur dieser Medaillen, Skapuliere, Wässer, Holzsplitter, Steineben, Strohhalme, die ich bisher für kirchlichen Plunder gehalten hatte, den der Kehrbesen der Philosophie noch übriggelassen habe. Die Reliquien waren Werte! Sie hatten die allmächtige Eigenschaft von Werten! Man gab einen Tonscherben – und bekam eine Rolle Goldstücke dafür! ... Und auf solche Weise erleuchtet, begann ich unmerklich zu lächeln, stemmte die Hände auf den Tisch wie auf ein Ladenbrett und sagte: »Zehn Taler für reines Jordanwasser! So gering veranschlagen Sie unseren Sankt Johannes den Täufer ... Zehn Taler! Das ist ja fast eine Gotteslästerung! ... Bilden Sie sich vielleicht ein, daß das Jordanwasser wie unser Leitungswasser ist? Aber, aber! ... Drei Milreis habe ich von einem Pater von Santa Justa heute nicht annehmen wollen, hier neben diesem Bett ...«
Er ließ das Fläschchen auf seiner fetten Hand tanzen, überlegte, rechnete.
»Ich gebe vier Milreis!«
»Gut, weil wir Gefährten in der ›Taube‹ sind!«
Und als Senhor Lino mit dem in die »Nação« eingeschlagenen Fläschchen Jordanwasser mein Zimmer verlassen hatte, fand ich, Theodorico Raposo, mich durch das Schicksal, durch die Vorsehung als Reliquienhändler etabliert!
Die Reliquien gaben mir in den beiden Monaten, die ich ruhig und zufrieden in der »Goldenen Taube« verbrachte, zu essen, zu rauchen, zu lieben. Fast an jedem Morgen schlurfte Senhor Lino in Pantoffeln in mein Zimmer, wählte einen Scherben vom Wasserkrug der Jungfrau oder einen Strohhalm von der Krippe, wickelte ihn in die »Nação«, spendete das Geld und ging von hinnen, das De Profundis summend. Und offenbar verkaufte der würdige Mann meine Schätze mit fettem Profit, denn sehr bald erglänzte über seinem schwarzen Samtkragen eine goldene Kette.
Unterdessen versuchte ich klugerweise nicht (weder mit Bitten, noch mit Erklärungen, noch mit Hilfsgesuchen), den frommen Zorn meiner Tante zu besänftigen und wieder ihre Achtung zu erwerben. Ich begnügte mich damit, ganz in Schwarz gekleidet mit einem Gebetbuch in die Sant'-Anna-Kirche zu gehen. Ich begegnete Tantchen nicht, denn der schändliche Negrão las jetzt jeden Morgen für sie im Oratorium die Messe. Aber ich warf mich dort nieder, schlug zerknirscht an meine Brust, seufzte das Allerheiligste an in der Gewißheit, daß durch den Sakristan Melchior die Kunde von meiner unbeirrbaren, unwandelbaren Frömmigkeit zu der ekelhaften Dame gelangen würde.
Schlauerweise suchte ich auch Tantchens Freunde nicht auf, die aus Vorsicht die Leidenschaften ihrer Seele teilen mußten, um die Vorteile ihres Testaments zu genießen; so ersparte ich diesen wohlverdienten Männern des Rechtswesens und der Kirche peinliche Nöte. Sooft ich dem Pater Pinheiro oder Dr. Margaride begegnete, kreuzte ich die Arme, senkte den Blick, trug Demut und Zerknirschung zur Schau. Und diese Zurückhaltung war den Freunden sicher angenehm, denn eines Abends traf ich Justino in der Nähe des Bordells der Benta Bexigosa, und der würdige Mann flüsterte nahe an meinem Bart, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Gasse leer war: »Nur so weiter, Freundchen! ... Alles wird noch in Ordnung kommen ... Denn jetzt ist sie wie ein wildes Tier ... O Teufel, da kommen Leute!«
Und verschwand.
Unterdessen verschacherte ich durch Linos Vermittlung Reliquien. Aber sehr bald erinnerte ich mich der Lehrbücher der Nationalökonomie und überlegte, daß meine Profite fetter werden mußten, wenn ich Lino ausschaltete und es wagte, mich direkt an die frommen Konsumenten zu wenden!
Ich schrieb den adeligen Damen von der Schwesternschaft des Herrn von den Schritten Briefe mit Preislisten der Reliquien. Ich sandte Prospekte über Märtyrergebeine an Provinzkirchen. Ich zahlte Sakristanen Gläser Branntwein, damit sie alten kränklichen Weibern zuraunten: »Für heilige Sachen gibt's keinen Besseren als den Herrn Dr. Raposo, der frisch aus Jerusalem kommt!«
Und das Glück begünstigte mich. Meine Spezialität war Jordanwasser in versiegelten Zinkkrügen, mit einem flammenden Herzen gestempelt; ich verkaufte dieses Wasser für Taufen, für Gastmähler, für Bäder; und eine kurze Zeit lang gab es einen zweiten Jordan, wasserreicher und klarer als der in Palästina; er floß durch Lissabon, und seine Quelle war in einem Zimmer der »Goldenen Taube«. Erfindungsreich führte ich einträgliche und poetische Novitäten ein; ich lancierte sehr wirksam die »Scherbe von dem Krug, mit dem Unsere Liebe Frau zum Brunnen ging« in den Handel, ich war es auch, der der nationalen Frömmigkeit die Echtheit »eines der Hufeisen des Eselchens, auf dem die Heilige Familie floh«, beglaubigte. Hie und da klopfte Lino in Pantoffeln an die Tür meines Zimmers, in dem die Strohhalme aus der Krippe neben Stößen von Brettchen des heiligen Josefs lagen; ich öffnete die Tür einen winzigen Spalt breit und zischte: »Alles fort ... Ausverkauft! ... Erst nächste Woche ... Ich bekomme ein Kistchen aus dem Heiligen Lande ...«
Die Stirnadern des talentierten Mannes schwollen vor Entrüstung über diese Ausschaltung des Zwischenhandels ...
Alle meine Reliquien wurden mit der stärksten Inbrunst aufgenommen, denn sie kamen »von dem Raposo, der gerade aus Jerusalem zurückgekommen war«. Die anderen Reliquienhändler verfügten nicht über eine so glänzende Garantie, eine Reise ins Heilige Land. Nur ich, Raposo, hatte dieses riesige Magazin der Heiligkeit durcheilt. Und nur ich wußte auf das mit Talg bestrichene Papier, das die Echtheit der Reliquie bescheinigte, die verschnörkelte Unterschrift des Herrn Patriarchen von Jerusalem zu setzen.
Aber sehr bald mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß dieser Überfluß an Reliquien die Frömmigkeit meines Landes gesättigt hatte. Vollgepfropft, gemästet mit Reliquien, hatte dieses katholische Portugal keinen Raum mehr dafür – nicht einmal für die Sträußchen gepreßter Blumen aus Nazareth, die ich für fünf Taler das Stück abgab!
Unruhig geworden, ermäßigte ich melancholisch die Preise. Verschwenderisch ließ ich im »Diario de Noticias« verlockende Anzeigen erscheinen: »Kostbarkeiten aus dem Heiligen Lande im Tabakgeschäft von Rego zu verkaufen.« An manchem Morgen belagerte ich in einem geistlichen Gewand und mit einem seidenen Halstuch über meinem Bart die Tore der Kirchen, bot alten Betschwestern Stücke vom Mantel der Jungfrau an. Schnüre von Sankt Peters Sandalen, und leierte angstvoll, indem ich mich an die Mantillen und Kopftücher herandrückte: »Sehr billig, meine Gnädige, sehr billig ... Sehr gut gegen Katarrhe ...«
Schon schuldete ich der »Goldenen Taube« eine gesalzene Rechnung; ich huschte heimlich über die Stiegen, um dem Besitzer nicht zu begegnen; ich rief den Kellner schmeichlerisch: »Mein liebster André! ...«
Meine ganze Hoffnung setzte ich in eine Erneuerung des Glaubens. Das geringste Anzeichen eines Kirchenfestes erfreute mich als eine Förderung der Frömmigkeit im Volke. Ich haßte glühend die Republikaner und Philosophen, die den Katholizismus vernichten – und damit auch den Wert der Reliquien, die er eingeführt hat. Ich schrieb Artikel für die »Nação«, in denen ich tobte: »Wenn ihr die Gebeine der Märtyrer nicht ehrt, wie wollt ihr, daß dieses Land gedeihe?« Im Café Montanha schlug ich auf den Tisch: »Religion ist notwendig, Caramba! Ohne Religion schmeckt auch der Braten nicht!« Im Bordell der Benta Bexigosa drohte ich den Mädchen, wenn sie nicht ihre Rosenkränze und Skapuliere gebrauchten, würde ich nicht wieder hinkommen, sondern ins Haus der Dona Adelaide gehen! ... Meine Sorge um das tägliche Brot wurde sogar so bitter, daß ich von neuem den Lino um seine Vermittlung anging – als einen Mann mit gewaltigen Verbindungen in der Kirche und einen Verwandten von Klosterkaplänen. Wieder zeigte ich ihm mein mit Reliquien bedecktes Bett. Wieder sagte ich händereibend zu ihm: »Machen wir doch Geschäfte miteinander, Freundchen! Hier habe ich ein frisches Sortiment, eben aus Zion eingetroffen!«
Aber von dem würdigen Mann aus der Patriarchatskammer bekam ich nichts als bittere Vorwürfe zu hören ...
»Auf den Leim gehe ich nicht, Herr!« schrie er, und die Adern schwollen ihm vor Zorn auf der glühenden Stirn. »Sie haben den Handel ruiniert! ... Der Markt ist überfüllt, es ist nicht einmal mehr möglich, eine Windel des Jesuskindes anzubringen, eine Reliquie, die sich so gut verkaufen ließ! Ihr Handel mit den Hufeisen ist durchaus unanständig ... durchaus unanständig! Vor ein paar Tagen erst hat mir ein Kaplan, mein Vetter, gesagt: ›Zu viele Hufeisen für ein so kleines Land!‹ ... Vierzehn Hufeisen, Herr! Das ist ein Mißbrauch! Wissen Sie, wie viele von den Nägeln, mit denen Christus ans Kreuz genagelt wurde, Sie losgeschlagen haben, alle mit Dokumenten? Fünfundsiebzig, Herr! ... Ich sage weiter kein Wort: fünfundsiebzig!« Sprach's und ging hinaus, warf die Tür wütend hinter sich zu, ließ mich vernichtet zurück.
Zum Glück traf ich an diesem Abend im Bordell der Benta Bexigosa den Rettich und erhielt von ihm eine beachtliche Bestellung auf Reliquien. Der Rettich war im Begriff, ein Fräulein Nogueira zu heiraten, eine Tochter der Frau Nogueira, der reichen Betschwester und Schweinezüchterin in Beja; und er wollte ihr »zum Polterabend ein hübsches kleines Präsent verehren, lauter moralische Sächelchen und möglichst vom Heiligen Grab«. Ich richtete ihm einen schönen Reliquienschrein her (in den ich meinen sechsundsiebzigsten Nagel legte) und schmückte ihn mit meinen reizenden getrockneten Blumen aus Galiläa. Mit dem reichlichen Geld, das mir der Rettich gab, bezahlte ich die »Goldene Taube« und nahm aus Sparsamkeit ein Zimmer in der Pension Pitta im Strohgäßchen.
So schmolz mein Wohlstand zusammen. Mein Zimmer lag hoch oben im fünften Stock, hatte ein Eisenbett und einen uralten Lehnstuhl, aus dessen zerrissenem Kattunbezug das schmutzige Werg herausquoll. Als einziger Zierat hing über der Kommode in einem mit Quasten geschmückten Rahmen eine kolorierte Lithographie des gekreuzigten Christus; schwarze Gewitterwolken ballten sich zu seinen Füßen, und seine weit offenen klaren Augen verfolgten und beobachteten alle meine Handlungen, auch die intimsten, selbst das schwierige Hühneraugenschneiden.
Seit einer Woche hatte ich mich derart etabliert und durchbummelte Lissabon auf der Suche nach dem ungewissen Brot, in Schuhen, an denen die Sohlen zu zerreißen begannen; da brachte mir eines Morgens der André von der »Goldenen Taube« einen Brief mit der Aufschrift »dringend«, der dort am Abend hinterlegt worden war. Das Papier war schwarz umrändert, auch das Siegel war schwarz. Ich öffnete ihn zitternd und erblickte Justinos Unterschrift. »Mein lieber Freund! Es ist meine peinliche Pflicht, die ich unter Tränen erfülle, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre verehrte Tante und meine gnädige Klientin unverhofft – «
Caramba! Die Alte war krepiert!
Aufgeregt überflog ich die Zeilen, las in rasender Hast die Einzelheiten ... »Lungenentzündung ... Sakramente empfangen ... Alle in Tränen ... Unser Negrão ...« Und erbleichend und schweißgebadet entdeckte ich am Ende des Nekrologs die schreckliche Mitteilung: »Aus dem Testament der tugendhaften Dame geht hervor, daß sie ihrem Neffen Theodorico das Fernrohr hinterläßt, das im Speisezimmer hängt ...«
Enterbt!
Ich packte meinen Hut, lief, alle Leute umrennend, bis in Justinos Büro zu São Paulo. Ich fand ihn an seinem Schreibtisch, mit einer Trauerkrawatte, die Feder hinter dem Ohr, wie er in Scheiben geschnittenen Kalbsbraten von einem alten Zeitungsblatt aß.
»Also das Fernrohr?« stammelte ich und lehnte mich erschöpft an ein Bücherregal.
»Ja, das Fernrohr!« murmelte er mit vollem Mund.
Ich ließ mich, fast von Sinnen, auf das Ledersofa fallen. Er bot mir Bucellas-Wein an. Ich trank ein Glas. Und mit der zitternden Hand über das fahle Gesicht streichend, sagte ich: »Also erzählen Sie, erzählen Sie mir alles, lieber Justino!«
Justino seufzte. Die heilige Dame, die Ärmste, hatte ihm zwei Rententitel zu tausend Milreis vermacht ... Und sonst hatte sie in ihrem Testament die Reichtümer des G. Godinho in der regellosesten und tollsten Weise verstreut. Das Grundstück auf dem Campo de Sant' Anna und vierzigtausend Milreis in Renten dem Heiland von der Passion. Die Aktien der Gasgesellschaft, das beste Silberzeug, das Haus in Linda-a-Pastora dem Casimiro, der schon im Sterben lag und sich nicht mehr rühren konnte. Ein Grundstück in der Rua de Arsenal dem Pater Pinheiro. Das prächtige Gut Mosteiro mit seinem malerischen Eingangstor, auf dem noch das Wappen der Grafen von Lindoso zu sehen war, die Staatsschuldverschreibungen, das Mobiliar vom Campo de Sant' Anna, der goldene Christus – dem Pater Negrão. Dreitausend Milreis und die Uhr dem Margaride. Die Vicencia bekam die Bettwäsche. Ich – das Fernrohr.
»Um den Rest aus der Ferne zu betrachten«, bemerkte philosophisch Justino und schnippte mit den Fingern.
Ich kehrte ins Strohgäßchen zurück. Und stundenlang, in Pantoffeln, mit flammenden Augen, erwog ich den verzweifelten Plan, Tantchens Leichnam zu insultieren – ihr ins fahle Gesicht zu spucken, mit einem Rohrstock den von Fäulnis aufgetriebenen Bauch zum Platzen zu bringen. Ich rief allen Zorn der Natur auf sie herab. Ich flehte die Bäume an, ihrem Grab keinen Schatten zu spenden! Ich flehte die Winde an, allen Schmutz der Erde daraufzuwehen! Ich beschwor den Teufel: »Ich schenke dir meine Seele, wenn du die Alte unaufhörlich quälst!« Ich schrie mit erhobenen Armen: »Gott, wenn du einen Himmel hast, schmeiß sie hinaus!« Ich plante, das Mausoleum, das man ihr errichten würde, mit Steinwürfen zu zerstören ... Und ich beschloß, Berichte für die Zeitungen zu schreiben und darin zu erzählen, sie habe sich jeden Abend auf dem Dachboden mit einem Dienstmann prostituiert, im Unterrock und mit der schwarzen Brille auf der Nase.
Vom Haß ermüdet, schlief ich fest ein. Am Abend weckte mich der Senhor Pitta, der mit einem länglichen Paket eintrat. Es war das Fernrohr. Justino sandte es mir mit dem Freundeswort: »Das ist die bescheidene Erbschaft!«
Ich zündete eine Kerze an. Mit schmerzlicher Bitterkeit nahm ich das Erbstück, öffnete das Fenster und blickte hindurch wie vom Bord eines Schiffes, das in den Wogen untergeht. Ja, sehr weise hatte Justino das gesagt: die widerwärtige Patrocinio hatte mir das Fernrohr mit grollendem Hohn hinterlassen, damit ich den Rest der Erbschaft durch seine Linsen sehen sollte! Und ich sah trotz der dunklen Nacht, sah ganz deutlich den Heiland von der Passion die Bündel von Wertpapieren in seine violette Tunika einhüllen; den Casimiro wie er sterbend mit der Hand die Silberarbeiten betastete, die auf seinem Bett ausgebreitet lagen; und den schändlichen Negrão in der Soutane und in Galoschen, wie er selbstzufrieden am Flußufer unter den Ulmen des Mosteiros spazierenging. Und ich hier mit dem Fernrohr! Ich für immer hier im Strohgäßchen, mit siebenhundertfünfzig Reis in der Tasche einer geflickten Hose siebenhundertfünfzig Reis, mit denen ich mich durch die Stadt und durchs Leben schlagen sollte! Brüllend schmiß ich das Fernrohr fort, daß es bis zur Hutschachtel rollte, in der ich den Korkhelm von meiner Reise ins Heilige Land verwahrte. Da lagen sie, der Helm und das Fernrohr, die Embleme meiner beiden Existenzen, des Glanzes und der Not! Vor einigen Monaten war ich mit diesem Helm im Nacken der triumphierende Raposo gewesen, der Erbe der Senhora Dona Patrocinio das Neves, dem Gold in der Tasche klimperte und der ringsum, duftend und darauf wartend, von ihm gepflückt zu werden, alle Blumen der Zivilisation blühen sah! Und jetzt, mit dem Fernrohr, war ich der armselige Raposo mit zerrissenen Schuhen, der um sich schwarz und stachlig alle Disteln des Lebens fühlte ... Und all das warum? Weil eines Tages im Gasthof einer asiatischen Stadt zwei braune Pakete verwechselt worden waren!
Nie hatte es einen so schlechten Witz des Schicksals gegeben! Einer gottseligen Tante, die die Liebe als eine schmutzige Sache haßte und nur darauf wartete, daß ich, alle Unterröcke schmähend, ihr aus Jerusalem eine Reliquie mitbrächte – einer Tante, die bereit war, mir sodann Häuser und Silberzeug zu hinterlassen – der hatte ich das Nachthemd eines Dämchens mitgebracht! Und in einer Aufwallung von Nächstenliebe, die dazu bestimmt war, den Himmel günstig zu stimmen, hatte ich einem zerlumpten Weib, an dessen Brust das hungrige Söhnchen schluchzte, als fettes Almosen – einen mit Dornen besetzten Zweig zugeworfen ... O Gott, sage mir, wie konnte das geschehen? Wie vollzog sich die Tragödie meines Lebens?
Die Pakete waren einander ähnlich im Format und mit den gleichen Bändchen verschnürt. Aber das mit dem Hemd lag auf dem finsteren Grund des Kleiderschrankes. Das mit der Reliquie thronte glorreich auf der Kommode zwischen zwei Leuchtern. Und niemand hatte es berührt, nicht der fröhliche Potte, nicht der gelehrte Topsius, nicht ich! Niemand mit menschlichen, mit sterblichen Händen hatte gewagt, die beiden Pakete zu vertauschen. Wer also hatte sie vertauscht? Einer mit unsichtbaren Händen.
Ja, es gab einen Körperlosen, Allmächtigen, der aus Haß die Dornen in Spitzen verwandelt hatte, damit Tantchen mich enterbte und ich für immer in die Tiefen der Gesellschaft gestürzt würde! Und während ich in meiner Verwirrung so tobte, sah ich plötzlich, daß die Augen des gekreuzigten Christus auf dem Bild mit dem quastengeschmückten Rahmen kalt und weit geöffnet auf mich gerichtet waren.
»Du warst es!« schrie ich in plötzlicher Erleuchtung, das Wunder begreifend: »Du! Du!«
Und mit geballten Fäusten entlud ich vor ihm die Flut meiner Klagen, die Beschwerden meines Herzens: »Ja, du warst es, der vor Tantchens frommen Augen die Schmerzenskrone deiner Legende in Marys schmutziges Nachthemd verwandelte! ... Und warum? Was habe ich dir getan? Undankbarer und wankelmütiger Gott! Wo und wann hast du vollkommenere Verehrung genossen? Lief ich nicht alle Sonntage schwarz gekleidet in die Kirchen, die besten Messen zu hören, die dir Lissabon darbot? Stopfte ich mich nicht alle Freitage, nur um dir zu gefallen, mit Stockfisch in Öl voll? Verzettelte ich nicht ganze Tage in Tantchens Oratorium, wo ich mit schmerzenden Knien deine beliebtesten Rosenkranzgebete leierte? In welchem Gebetbuch gab es Gebete, die ich nicht für dich auswendig lernte? In welchem Garten erblühten Blumen, mit denen ich dir nicht deine Altäre schmückte?«
Und wütend, mir die Haare raufend, mich am Bart reißend, schrie ich so dicht an seinem Bild, daß der Speichelregen meines Zorns das Glas besprühte: »Sieh mich gut an! ... Erinnerst du dich nicht, dieses Gesicht, diese Haare vor Jahrhunderten gesehen zu haben, in einem marmornen Atrium, unter einem Sonnendach, wo ein römischer Prätor Recht sprach? Am Ende erinnerst du dich nicht! Es ist ein großer Unterschied zwischen einem siegreichen Gott über seinem Altar und einem mit Stricken gefesselten Rabbi aus der Provinz! ... Also gut! An diesem Tag im Nisan, da du noch keine komfortablen Plätze im Himmel und in der Glückseligkeit an deine Getreuen zu verteilen hattest, an diesem Tage, an dem du noch für niemanden ein Quell des Reichtums und ein Born der Macht geworden warst, an diesem Tage, an dem Tantchen und alle jene, die sich heute zu deinen Füßen winden, dich ausgezischt hätten wie die Händler des Tempels, die Pharisäer und der Pöbel von Akra; an diesem Tage, da die Soldaten, die dich heute mit Blechmusik eskortieren, die Juristen, die heute jeden einsperren, der dich beleidigt oder verleugnet, die besitzenden Klassen, die dich heute verschwenderisch mit Gold und Kirchenfesten beschenken, sich mit ihren Waffen und Gesetzbüchern und Börsen vereinigt hatten, um deinen Tod durchzusetzen, den Tod des Revolutionärs, des Feindes der Ordnung, des Schreckens der Besitzenden ... an diesem Tage, da du nichts warst als ein schöpferischer Intellekt und tätige Güte und daher von allen seriösen Menschen für eine soziale Gefahr gehalten wurdest – gab es da nicht in Jerusalem ein Herz, das ohne Hoffnung auf den Himmel und ohne Angst vor der Hölle um dich zitterte? Es war das meine! ... Und jetzt verfolgst du mich! Weshalb?«
Da auf einmal – welch Wunder! Aus dem dunklen Rahmen mit den Quasten brachen zitternde Strahlen hervor, schneeweiß und goldfarben. Das Glas öffnete sich in der Mitte mit dem Getöse einer aufgehenden Himmelspforte. Und Christus an seinem Kreuz glitt, ohne die angenagelten Arme abzuziehen, heiter auf mich zu, wuchs bis zum Stuck der Decke, war schöner, hoheitsvoller und glänzender als die Sonne, wenn sie über den Bergen aufgeht.
Mit einem Schrei fiel ich auf die Knie, schlug entsetzt mit der Stirn auf den Fußboden. Und nun hörte ich durch das Zimmer wie den sanften Hauch eines leichten Windes zwischen Jasminblüten eine ruhige und milde Stimme schweben: »Wenn du zu den Gnadenaltären gingst, um die Füße eines Heiligenbildes zu küssen, so geschah es, um knechtisch Tantchen von der Frömmigkeit zu erzählen, mit der du den Kuß gegeben hattest; denn nie war ein Gebet auf deinen Lippen, nie lag Demut in deinem Blick, außer wenn du wolltest, daß Tantchen sich in ihrer gottseligen Leidenschaft geschmeichelt fühle. Der Gott, vor dem du dich niederwarfst, war das Geld des G. Godinho, und der Himmel, zu dem deine zitternden Arme sich erhoben, war Tantchens Testament ... Um darin den besten Platz zu gewinnen, spieltest du den Frömmler und warst doch ungläubig, den Keuschen und warst doch ein Wüstling, den Barmherzigen und warst doch schlecht; du heucheltest die Zärtlichkeit des Sohnes, und dich verzehrte doch nur die Gier des Erben ... Du warst ein vollkommener Heuchler! Du hattest zwei Existenzen: eine vor Tantchens Augen zur Schau getragene, ganz Rosenkranz, Fasten, Buße; und fern von Tantchen heimlich eine andere, voll von Völlerei, voll von Adelia und Benta ... Immer hast du gelogen – und warst dem Himmel, der Welt gegenüber nur dann wahr, wenn du zu Jesus und zur Jungfrau betetest, sie möchten Tantchen bald krepieren lassen. Dann faßtest du diesen mühsamen Betrug eines ganzen Lebens in einem Paket zusammen – in das du einen Zweig packtest, der so falsch war wie dein Herz; und damit gedachtest du endgültig das Silber und die Häuser der Dona Patrocinio einzuheimsen! Aber in einem anderen ähnlichen Paket trugst du durch Palästina, mit Spitzen und Schleifen, den unumstößlichen Beweis deiner Verstellung ... So geschah es dann gerechterweise, daß das Paket, das du Tantchen brachtest und das Tantchen öffnete – jenes war, das deine Verderbtheit enthüllte. Und dies beweist dir, Theodorico, die Nutzlosigkeit der Heuchelei!«
Ich ächzte, auf dem Fußboden ausgestreckt. Die Stimme brauste, stärker als der Abendwind zwischen den Zweigen.
»Nicht ich habe diese possenhafte und schreckliche Verwechslung deiner Pakete bewerkstelligt! Vielleicht war es niemand, vielleicht warst du es selbst! Dein Jammer als Enterbter rührt nicht von dieser Verwandlung von Dornen in Spitzen, sondern daher, weil du zwei Leben lebtest, ein wahres der Ruchlosigkeit und ein erlogenes der Heiligkeit. Da du auf der rechten Seite der fromme Raposo warst und auf der linken dagegen der obszöne Raposo, konntest du nicht lange Zeit neben Tantchen einhergehen und ihr nur die eine in sonntäglich reine Hüllen gekleidete Seite zeigen, die vor Tugend strahlte; es mußte selbstverständlich der Tag kommen, an dem sie entsetzt die abgewandte, die natürliche Seite mit den schwarzen Flecken der Sünde sehen mußte ... und das ist es, worauf ich anspiele, Theodorico: die Nutzlosigkeit der Heuchelei!«
Ausgestreckt daliegend näherte ich knechtisch meine Lippen den Füßen Christi, die durchscheinend in der Luft hingen, durchbohrt von Nägeln, die zitternden Juwelenglanz aussandten. Und die Stimme strich voll und tönend über mich hin, wie der Sturm, der die Zypressen biegt.
»Du sagst, daß ich dich verfolge! Nein. Das Fernrohr und das, was du die Tiefen der Gesellschaft nennst, ist das Werk deiner Hände – nicht mein Werk. Nicht ich schaffe die Episoden deines Lebens; ich wohne ihnen bei und beurteile sie mit Gelassenheit ... Ohne daß ich mich rühre, ohne jede überirdische Einmischung kannst du zu noch schwärzerem Elend hinabsteigen oder dich zu den einträglichen Paradiesen der Erde erheben und Direktor einer Bank werden ... Das hängt allein von dir ab, von deiner Anstrengung als Mann ... Höre ferner! Du fragtest mich vor kurzem, ob ich mich nicht an dein Antlitz erinnere ... Ich frage dich jetzt, ob du dich nicht an meine Stimme erinnerst ... Ich bin nicht Jesus von Nazareth, noch ein anderer Gott, den die Menschen geschaffen haben ... Ich bin älter als die wandelbaren Götter; sie werden in mir geboren, in mir dauern sie, in mir verwandeln sie sich, in mir lösen sie sich auf, und ewig bleibe ich um sie herum, erfinde und zerstöre sie, im dem ewigen Bemühen, außerhalb meines Ichs den absolutem Gott zu schaffen, den ich in mir fühle. Ich heiße das Gewissen; ich bin in diesem Augenblick dein eigenes Gewissen, von dir nach außen reflektiert, in Licht und Luft, das vor deinen Augen die altgewohnte Form angenommen hat, unter der du, ein schlecht erzogener und wenig philosophischer Mensch, gewohnt bist, mich zu begreifen. Aber es genügt vollkommen, daß du aufstehst und mich berührst, damit dieses strahlende Bild gänzlich vergehe.«
Und noch hatte ich nicht die Augen erhoben – da war schon alles verschwunden!
Ergriffen wie vor einem Beweis des Übernatürlichen, warf ich die Hände himmelwärts und schrie: »O mein Herr Jesus, Gott und Gottes Sohn, der du Fleisch geworden bist und für uns gelitten hast! ...«
Aber ich verstummte ... Die unsägliche Stimme widerhallte noch in meiner Seele, bewies mir die Nutzlosigkeit der Heuchelei. Ich befragte mein Gewissen, das in mein Inneres zurückgekehrt war – und in der Gewißheit, nicht daran zu glauben, daß Jesus der Sohn Gottes und einer verheirateten Frau in Galiläa war (wie Herkules der Sohn Jupiters und einer verheirateten Frau in Argolis), spie ich den nutzlosen Rest des Gebetes von meinen für immer wahrhaftig gewordenen Lippen.
Am nächsten Tag kam ich zufällig in den Park von São Pedro d'Alcantara – einen Ort, den ich seit meiner Schulzeit nicht mehr betreten hatte. Kaum hatte ich zwischen der Beeten einige Schritte getan, da begegnete ich meinem alten Chrispim, dem Sohn der Firma Teiles, Chrispim & Co., Spinnerei in Pampulha – einem Kameraden, den ich seit meiner Promotion nicht mehr gesehen hatte. Das war der blonde Chrispim, der mir einst auf dem Korridor des Gymnasiums gierige Küsse gegeben und mir abends Briefchen geschrieben hatte, in denen er mir Schachteln mit Stahlfedern versprach. Der alte Chrispim war tot; Telles, alt und dick, war zum Visconde de São Telles aufgerückt; und mein Chrispin war jetzt die Firma.
Nachdem wir uns lärmend umarmt hatten, bemerkte Chrispim & Co. nachdenklich, daß ich »sehr garstig« geworden sei. Dann beneidete er mich um meine Reise ins Heilige Land (von der er durch das »Jornal das Novidades« erfahren hatte) und spielte mit freundschaftlicher Mitfreude auf die »vielen Moneten« an, die mir die Senhora Patrocinio das Neves vermacht haben mußte.
Bitter zeigte ich ihm meine zerrissenen Schuhe. Wir setzten uns auf eine Bank neben einer Rosenhecke; und dort, in der duftenden Stille, erzählte ich ihm von Marys verhängnisvollem Hemd, von der Reliquie in ihrem Paket, dem Unglück im Oratorium, von dem Fernrohr, von meinem elenden Zimmer im Strohgäßchen.
»So daß ich also, Chrispimchen meiner Seele, jetzt ohne Brot dastehe!«
Chrispim & Co. war bewegt, zwirbelte seinen blonden Schnurrbart und murmelte, daß in Portugal dank der Verfassung und der Religion alle Welt eine Schnitte Brot habe; was einigen fehle, sei der Käse.
»Und den Käse will ich dir geben, mein Alter!« fügte die Firma fröhlich hinzu und gab mir einen Schlag aufs Knie. »Einer von den Büroangestellten dort in Pampulha hatte angefangen, Verse zu machen, sich mit Schauspielerinnen einzulassen ... Außerdem war er ein wilder Republikaner, der sich über die heiligen Dinge lustig machte ... Kurzum, ein Scheusal, und ich habe mich seiner entledigt. Nun hast du immer eine gute Schrift gehabt. Eine Addition wirst du doch ausführen können ... Dort steht der Schreibtisch des Menschen, geh hin, du kriegst fünfundzwanzig Milreis, immerhin ist es der Käse!«
Mit zwei Tränen, die in meinen Wimpern blinkten, umarmte ich die Firma. Chrispim & Co. murmelte nochmals, mit einem Gesicht, als schmecke er etwas Bitteres: »Geh, du bist sehr garstig geworden!«
Ich begann also mit großem Eifer der Spinnerei in Pampulha zu dienen; und alle Tage saß ich mit Lüsterärmeln am Schreibtisch, kopierte in meiner schönen Rundschrift Briefe und reihte Zahlen in ein ungeheures Kassabuch ... Die Firma lehrte mich die Dreisatz-Rechnung und andere Fertigkeiten. Und wie aus einem Samen, den der Wind zufällig auf ein Brachfeld verweht hat, unversehens nützliche Pflanzen hervorwachsen und gedeihen, so knospeten aus den Lektionen der Firma in meiner unbeackerten Natur eines Doktors der Rechte erhebliche Fähigkeiten für das Spinnereigeschäft auf. Schon sagte die Firma voll Überzeugung im Karmelklub: »Mein Raposo da hat trotz Coimbra und den Pandekten, die sie ihm eingetrichtert haben, eine Hand für die ernsten Dinge!«
An einem Samstagnachmittag im August, als ich eben das Kassabuch schließen wollte, blieb Chrispim & Co. vor meinem Schreibtisch stehen und zündete sich lachend eine Zigarre an.
»Hör zu, Raposo, welche Messe pflegst du zu besuchen?«
Schweigend streifte ich meine Lüsterärmel ab.
»Ich frage«, fügte die Firma hinzu, »weil ich morgen mit meiner Schwester ans andere Tejoufer fahre, zu unserem Landhaus, der ›Ribeira‹. Also, wenn du nicht allzusehr an eine andere Messe gewöhnt bist, komm um neun in die Allerheiligenkirche; wir gehen dann ins Hotel Central frühstücken und fahren von dort mit dem Schiff nach Cacilhas. Ich möchte, daß du meine Schwester kennenlernst!«
Chrispim & Co. war ein religiöser Herr, der die Religion als unentbehrlich für seine Gesundheit, für sein Wohlergehen als Kaufmann und für die gute Ordnung im Lande betrachtete. Er besuchte mit ehrlicher Frömmigkeit den Heiland von den Schritten und gehörte zur Sankt-Josefs-Bruderschaft. Der Angestellte, dessen Schreibtisch ich einnahm, war ihm hauptsächlich deswegen unerträglich geworden, weil er in der republikanischen Zeitung »Futuro« Feuilletons veröffentlichte, die Renan lobten und die Eucharistie schmähten. Ich wollte Chrispim & Co. eben sagen, ich sei so sehr an die Messe in der Empfängniskirche gewöhnt, daß mir keine andere gefiele ... da gedachte ich der strengen und heilsamen Stimme aus dem Strohgäßchen! Ich verdrängte die fromme Lüge, die mir schon die Lippen beschmutzte, und sagte sehr blaß und sehr fest: »Schau, Chrispim, ich gehe nie in die Messe. Das alles sind Torheiten ... Ich kann nicht daran glauben, daß der Leib Gottes an jedem Sonntag in einem aus Mehl gebackenen Stück Hostie steckt ... Gott hat keinen Leib, hat nie einen gehabt ... Das ist lauter Aberglaube, Götzendienst ... Ich sage es dir frei heraus ... Jetzt kannst du mit mir machen, was du willst, ich halte still!«
Die Firma sah mich einen Augenblick lang an und kaute an ihrer Lippe: »Siehst du, Raposo, diese Offenheit gefällt mir ... Ich habe ehrliche Leute gern. Der andere, der Feigling, der hier an diesem Schreibtisch saß, sagte zu mir: ›Ein großer Mann, der Papst!‹, und dann ging er in die Kneipe und trat den Heiligen Vater mit Füßen ... Nun, das ist vorbei! Abgemacht ... Du hast keine Religion, aber Ehre im Leibe ... Auf jeden Fall um zehn Uhr im ›Central‹ zum Frühstück und dann zu Schiff nach der ›Ribeira‹!«
So lernte ich die Schwester der Firma kennen. Sie hieß Dona Jesuina, war zweiunddreißig Jahre alt und schielte. Aber schon an diesem Sonntag im Freien und auf dem Fluß machte mich der Reichtum ihrer roten Evahaare, ihre feste, üppige Brust, ihre apfelfarbene Haut nachdenklich – und allerlei ging mir durch den Kopf, als ich am Abend mit meiner Zigarre am Kai entlang in die Stadt zurückschlenderte, die Maste der Barken betrachtend.
Sie war bei den Salesianerinnen erzogen worden; sie wußte in der Geographie Bescheid, kannte alle Flüsse Chinas, kannte die Geschichte und alle Könige von Frankreich und nannte mich Theodorico Löwenherz, weil ich in Palästina gewesen war. – An den Sonntagen speiste ich jetzt in Pampulha; Dona Jesuina bereitete ein Gericht Spiegeleier für mich; und ihr schielendes Auge ruhte mit unablässigem Wohlgefallen auf meinem starken, bärtigen Gesicht. Eines Nachmittags beim Kaffee lobte Chrispim & Co. die königliche Familie, ihre konstitutionelle Mäßigung, die anmutige Wohltätigkeit der Königin.
Dann gingen wir in den Garten hinunter; und als Dona Jesuina die Blumen goß, drehte ich an ihrer Seite eine Zigarette, seufzte und flüsterte an ihrer Schulter: »Verehrte Dona Jesuina, Sie würden so gut zur Königin passen, wenn der gute Raposo König wäre!« Sie errötete und schenkte mir die letzte Rose des Sommers.
Am Weihnachtsabend kam Chrispim & Co. an meinen Schreibtisch, legte neckisch seinen Hut auf die Seite des Kassabuches, die ich mit schwarzen Ziffern bedeckte, kreuzte die Arme und sagte mit einem biederen Freundeslachen: »Also wie, Königin, wenn der gute Raposo König wäre? Nun sagen Sie mal, Senhor Raposo: glüht in dieser Brust eine wahre Liebe zu Schwesterchen Jesuina?«
Chrispim & Co. schätzte die Leidenschaft und das Ideal. Ich war im Begriff, ihm zu sagen, daß ich die Senhora Dona Jesuina anbetete wie ein fernes Gestirn ... Aber ich erinnerte mich an die reine und stolze Stimme im Strohgäßchen, ich drängte die sentimentale Lüge zurück, die mir schon die Lippen befleckte, und sagte mutig:
»Liebe, Liebe, nein ... Aber ich finde, sie ist ein Prachtweib; mir gefällt ihre Mitgift sehr gut; und ich würde ein guter Ehemann sein!«
»Her mit deiner redlichen Hand!« schrie die Firma.
Ich heiratete. Ich wurde Vater. Ich besitze einen Wagen, die Hochachtung meines Stadtviertels, das Komturkreuz des Christusordens.
Dr. Margaride, der alle Sonntage im Frack bei mir speist, erklärt, daß der Staat mir bei meinem Ansehen, meinen ausgedehnten Reisen und meinem Patriotismus den Titel eines Barons von Mosteiro schulde. Denn ich habe das Mosteiro gekauft! Die würdige Justizperson kündigte mir eines Abends bei Tisch an, der abscheuliche Negrão wünsche seine Besitzungen in Torres abzurunden und habe daher beschlossen, das alte Schloß der Grafen von Lindoso zu verkaufen.
»Diese Bäume, Theodorico«, mahnte der hochverdiente Mann, »haben Ihrer Frau Mama Schatten gespendet. Ich sage noch mehr: die gleichen Schatten fielen auch auf Ihren ehrenwerten Vater, Theodorico! ... Ich für mein Teil, wenn ich die Ehre hätte, ein Raposo zu sein, ich hielte nicht an mich, kaufte das Mosteiro und baute einen Turm mit Zinnen!«
Chrispim & Co. setzte das Glas nieder und sagte: »Kaufe es, das ist eine Familiensache, das geziemt sich so.«
Und an einem Osterabend unterzeichnete ich im Büro des Justino mit dem Anwalt Negrãos das Schriftstück, das mich nach so vielen Hoffnungen und so vielen Enttäuschungen endlich zum Herrn des Mosteiros machte!
»Was treibt jetzt dieser Schuft von einem Negrão?« erkundigte ich mich bei dem guten Justino, sobald der Agent des schmutzigen Pfaffen gegangen war.
Der treue, geliebte Freund schnippte mit den Fingern. Dem Negrão fiel das Geld in den Schoß! Er hatte alles vom Pater Casimiro geerbt, denn dessen Leib war schon auf dem Friedhof zu Sankt Johannes und seine Seele in Gottes Schoß. Und jetzt war er der intimste Freund des Paters Pinheiro, der keine Erben hatte und den er nach Torres mitgenommen hatte, »um ihn zu kurieren«. Der arme Pinheiro ging dort umher, täglich erschöpfter, vollgestopft mit den ungeheuren Diners des Negrão, ließ vor jedem Spiegel die Zunge heraushängen. Er würde nicht mehr lange machen, der Ärmste! Und das Ende würde sein, daß sich in den Händen des Negrão der beste Teil des Vermögens des G. Godinho vereinigte, abgesehen vom Anteil des Heilands von der Passion, der – sagte Justino – nicht auch noch sterben könne.
Ich wurde kreideweiß und grollte: »So eine Bestie!«
»Nennen Sie ihn nur Bestie, lieber Freund! ... Er hat Wagen und Pferde, hat ein Haus in Lissabon, hält die Adelia aus ...«
»Welche Adelia?«
»Eine Dicke; sie hat früher mit dem Eleuterio gelebt ... Dann hatte sie ein geheimnisvolles Verhältnis mit einem Schafskopf, einem Juristen, ich weiß nicht, wie er hieß ...
»Ich weiß!«
»Wahrhaftig? Der Negrão hält sie aus, sehr luxuriös, Teppich auf der Treppe, Damastvorhänge, alles ... Und er wird dicker. Ich habe ihn heute gesehen, nach seiner Predigt ... Wenigstens sagte er mir, er komme eben von Sankt Rochus und sei todmüde von der Mordsarbeit, einem Teufel von Heiligen Liebenswürdigkeiten zu sagen! Der Negrão ist manchmal sehr lustig. Und er hat gute Freunde, hat ein tüchtiges Mundwerk und Einfluß in Torres ... Den sehen wir noch als Bischof!«
Ich kehrte gedankenschwer zu meiner Familie zurück. Alles, was ich erhofft und geliebt hatte (sogar die Adelia!), besaß jetzt auf gesetzliche Weise der abscheuliche Negrão! ... Ein furchtbarer Verlust! Und er war weder durch die Vertauschung meiner Pakete entstanden noch durch die Irrtümer meiner Heuchelei.
Jetzt, als Vater, Komtur, Grundbesitzer, hatte ich einen positiveren Begriff vom Leben und verstand, daß ich aus den Hunderttausenden des G. Godinho einfach deswegen hinausgedrängt worden war, weil mir in Tantchens Oratorium eines gefehlt hatte – der Mut, Behauptungen aufzustellen!
Jawohl! Als statt einer Marterkrone auf Tantchens Altar ein Hemd der Sünde erschien, hätte ich mit sicherer Stimme rufen sollen: »Sehet hier die Reliquie! Ich wollte euch eine Überraschung bereiten ... Es ist nicht die Dornenkrone, sondern etwas Besseres! Es ist das Hemd der heiligen Maria Magdalena ... Sie hat es mir in der Wüste gegeben! ...«
Und hätte das dann mit dem Papier bewiesen, auf dem in vollendeten Schriftzügen stand: »Meinem starken Portugieschen in Erinnerung an den großen Genuß, den wir miteinander hatten ...« Dies war der Brief, in dem die Heilige mir das Hemd anbot. Dort strahlten ihre Anfangsbuchstaben – M. M.! Dort las man das klare, unzweideutige Geständnis: »Genuß, den wir miteinander hatten«: der große Genuß, den ich dabei hatte, da ich der Heiligen meine Gebete in den Himmel sandte, und der große Genuß, den die Heilige im Himmel hatte, da sie meine Gebete empfing!
Und wer hätte es bezweifelt? Zeigen nicht die heiligen Missionare von Braga in ihren Predigten Briefchen ohne Siegel, die ihnen die Jungfrau Maria vom Himmel geschickt hat? Und garantiert nicht die »Nação« die echte, göttliche Herkunft dieser Sendschreiben, die in ihren Falten den Wohlgeruch des Paradieses bewahren? Die beiden Priester Negrão und Pinheiro, eingedenk ihrer Pflicht und in ihrer natürlichen Neigung, dem wankenden Glauben Stützen zu verschaffen, hätten sofort in dem Hemd, in dem Zettel und in den Initialen einen wunderbaren Triumph der Kirche erblickt. Die Tante Patrocinio wäre an meine Brust gesunken, hätte mich »ihren Sohn und Erben« genannt. Und ich wäre reich gewesen. Ich wäre geheiligt gewesen! Mein Bild hätte man in der Sakristei der Kathedrale aufgehängt! Der Papst hätte mir seinen apostolischen Segen durch den Telegrafendraht geschickt!
So wäre mein gesellschaftlicher Ehrgeiz befriedigt worden. Und wer weiß – vielleicht auch der geistige Ehrgeiz, den mir der gelehrte Topsius eingepflanzt hatte. Denn vielleicht hätte die Wissenschaft, neidisch auf den Triumph des Glaubens, dieses Hemd der Maria von Magdalena als archäologisches Dokument für sich in Anspruch genommen ... Es konnte dunkle Punkte der Sittengeschichte aus der Zeit des Neuen Testaments erhellen – die Hemdenmode in Judäa zur Zeit des ersten Jahrhunderts, den Zustand der Spitzenindustrie in Syrien unter der römischen Verwaltung, die Waschmethoden bei den semitischen Rassen ... Ich wäre in der Hochachtung Europas gestiegen, ganz wie die Champollions, die Topsius, die Lepsius und andere weise Wiedererwecker der Vergangenheit. Dann riefe die Akademie: »Her zu mir, Raposo!« Renan, dieser gefühlvolle Ketzer flüsterte: »Ein lieber Kollega, der Raposo!« Sofort wären über Marys Hemd gelehrte, gewichtige Bücher in deutscher Sprache geschrieben worden, mit Karten meiner Pilgerfahrt in Galiläa ... Und so wäre ich dann gern gesehen von der Kirche, gefeiert von den Universitäten, hätte mein gesichertes Eckchen in der ewigen Seligkeit, meine reservierte Seite in der Geschichte, könnte mit den Millionen des G. Godinho friedlich fett werden!
Und alles das hatte ich verloren. Warum? Weil es einen Augenblick gab, da es mir an jenem unverschämten Mut zum Behaupten gebrach, der mit starkem Fuß auf die Erde stampft oder bleich die Augen zum Himmel erhebt – und inmitten der allgemeinen Verblendung Wissenschaften und Religionen ins Leben ruft.