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I

Meines Vaters Pate war der Pater Rufino da Conceição, Lizentiat der Theologie, Autor eines frommen »Lebens der heiligen Philomena« und Prior des Klosters Amendoeirinha. Mein Vater hieß nach seiner Patronin, Unserer Lieben Frau von der Himmelfahrt, Rufino da Assumpção Raposo und lebte in Evora mit meiner Großmutter, Philomena Raposo, die man auch »die Fette« zu nennen pflegte; sie besaß eine Konditorei in der Rua do Lagar dos Dizimos. Der Papa hatte eine Anstellung bei der Post und schrieb zu seinem Vergnügen Artikel für den »Leuchtturm von Atemtejo«.

Im Jahre 1853 zu Johannis besuchte ein hervorragender Geistlicher, Dom Gaspar de Lorena, Bischof von Chorazin (in Galiläa), das Haus des Kanonikus Pitta in Evora, wohin der Papa oftmals des Abends kam, um Violine zu spielen. Aus Höflichkeit gegen die beiden Priester veröffentlichte der Papa im »Leuchtturm« eine Notiz, sorgsam aus dem »Handbuch für Prediger« geschöpft, in der er Evora zu dem Glück gratulierte, »in seinen Mauern den hervorragenden Prälaten Dom Gaspar zu beherbergen, dieses strahlende Licht der Kirche, diesen Hort der Heiligkeit«. Der Bischof von Chorazin schnitt sich dieses Stück aus dem »Leuchtturm« aus, um es zwischen die Blätter seines Breviers zu legen, und alles an Papa begann ihm zu gefallen: die Sauberkeit seiner Wäsche und sogar die weinerliche Anmut, mit der er, sich auf der Violine begleitend, die Romanze vom Grafen Ordonho sang. Aber als er erfuhr, daß dieser brünette sympathische Rufino da Assumpção das leibliche Patenkind seines alten Rufino da Conceição war, seines Studiengefährten im guten Seminar Sankt Josef und auf den theologischen Pfaden der Universität, wurde seine Vorliebe für den Papa ganz übertrieben. Bevor er von Evora schied, schenkte er ihm eine silberne Uhr; und durch seinen Einfluß wurde der Papa, nachdem er einige Monate als Aspirant im Zollhaus von Porto herumgefaulenzt hatte, skandalöserweise zum Direktor des Zollamtes von Vianna ernannt.

Die Apfelbäume bedeckten sich mit Blüten, als der Papa in den milden Ebenen der Provinz Entre-Minho-e-Lima ankam; und im folgenden Juli lernte er einen Edelmann aus Lissabon kennen, den Komtur G. Godinho, der mit seinen beiden Nichten den Sommer in einem Landhaus am Flußufer verbrachte; es wurde »Mosteiro«, Kloster, genannt und war einst der Sitz der Grafen von Lindoso gewesen. Die ältere dieser Damen, Dona Maria do Patrocinio, trug eine dunkle Brille und ritt, von einem Diener in Livree begleitet, täglich auf einem kleinen Esel zur Stadt, um in Sant' Anna die Messe zu hören. Die andere, Dona Rosa, rundlich und brünett, spielte die Harfe, konnte die Verse von »Melancholie und Liebe« auswendig und verbrachte Stunden am Ufer des Flusses unter den Erlen; ihr weißes Kleid streifte über den Rasen, und sie band Sträuße aus Wiesenblumen.

Der Papa begann im Mosteiro zu verkehren. Ein Zollwächter trug ihm die Geige hin; und wenn der Komtur und ein anderer Freund des Hauses, der Gerichtsadjunkt Dr. Margaride, sich in eine Partie Tricktrack vertieft hatten und Dona Maria oben den Rosenkranz betete – dann ließ auf der Veranda der Papa neben Dona Rosa im Schein des Mondes, der rund und weiß über dem Fluß stand, die Saiten durch die Stille seufzen und sang von der Trauer des Grafen Ordonho. Manchmal spielte er die Tricktrack-Partie mit; dann saß Dona Rosa zu Väterchens Füßen, mit einer Blume im Haar, und mein Papa fühlte, während er die Würfel schüttelte, die verheißungsvolle Liebe in ihren langbewimperten Augen.

Sie heirateten. Ich wurde am Nachmittag eines Karfreitags geboren; und die Mama starb am Morgen darauf, als eben die fröhlichen Halleluja-Raketen abgebrannt wurden. Sie ruht unter den Levkojen auf dem Friedhof von Vianna an einem Weg neben der Mauer, der feucht daliegt im Schatten der Trauerweiden. Sie pflegte an Frühlingsabenden gern dort spazierenzugehen, weiß gekleidet, mit ihrem langhaarigen Hündchen, das Traviata hieß.

Der Komtur und Dona Maria kamen nicht wieder ins Mosteiro. Ich wuchs heran, bekam die Masern; der Papa wurde dick; und seine Violine schlief in der Salonecke, in einem Überzug aus grünem Flanell. An einem sehr heißen Julitag zog mir meine Kinderfrau Gervasia einen schweren schwarzen Plüschanzug an; Papa legte einen Flor um seinen Strohhut: das war die Trauer um den Komtur G. Godinho, den der Papa öfter zwischen den Zähnen »den Schuft« nannte.

Dann, in einer Nacht des Karnevals, starb der Papa plötzlich am Schlagfluß, als er, im Kostüm eines Bären, die Steintreppe unseres Hauses hinabging, um sich auf den Ball der Damen Macedos zu begeben.

Ich war damals sieben Jahre alt; und ich erinnere mich, tags darauf in unserem Hof eine große dicke Dame in einer prächtigen Mantille aus schwarzer Seide gesehen zu haben; sie schluchzte vor den Flecken von Papas Blut, die noch niemand fortgewischt hatte und die auf den Stufen eingetrocknet waren. In ihren Tuchmantel gehüllt, betete am Tor eine wartende Alte.

Die Vorderfenster des Hauses waren geschlossen; in dem dunklen Korridor stand auf einer Bank ein Leuchter aus Messing und spendete ein rauchiges, flackerndes Kapellenlicht. Es stürmte und regnete draußen. Während die Marianna unter vielen Tränen das Herdfeuer anfachte, sah ich durch das Küchenfenster auf dem Platz draußen den Mann vorbeigehen, der den Sarg für meinen Papa trug. Gegenüber auf dem Berg schimmerte die kleine Kapelle Unserer Lieben Frau von der Agonie mit ihrem schwarzen Kreuz noch trauriger als sonst weiß und kahl zwischen den Pinien, gleichsam im Nebel verschwimmend; und in der Ferne, vor den Klippen, grollte und rollte ohne Unterlaß eine hohe winterliche See.

Am Abend, im Bügelzimmer, setzte meine Kinderfrau mich auf den Boden, nachdem sie mich in einen Mantel gehüllt hatte. Von Zeit zu Zeit knarrten im Korridor die Stiefel Joãos, des Zollwächters, der kam, um mit Lavendel zu räuchern. Die Köchin brachte mir ein Stück Zwieback. Ich schlief ein; und bald fand ich mich am Ufer eines klaren Flusses dahingehen, wo die Pappeln, die schon sehr alt waren, eine Seele zu haben schienen und seufzten, und an meiner Seite schritt ein nackter Mann mit zwei Wunden an den Füßen und zwei Wunden an den Händen, das war Unser Heiland Jesus Christus.

Tage vergingen; man weckte mich an einem Morgen, da das Fenster meines Zimmers wundersam in den Strahlen der Sonne funkelte, wie als Verheißung eines heiligen Ereignisses. Neben meinem Bett kitzelte ein lustiger dicker Mensch zärtlich meine Füße und nannte mich »kleiner Strolch«. Die Gervasia sagte mir, das wäre der Senhor Mathias, der mich sehr weit wegbringen werde, ins Haus der Tante Patrocinio. Und der Senhor Mathias, seine Prise zwischen den Fingern, sah entsetzt auf die zerrissenen Strümpfe, die mir Gervasia angezogen hatte. Sie hüllten mich in das graue Plaid des Papas, und der Zollwächter João trug mich auf seinem Rücken bis zum Haustor, wo eine Sänfte mit Vorhängen aus Wachstuch stand.

Wir begannen nun unsern Weg über endlose Straßen. Halb im Schlaf hörte ich die trägen Glöckchen der Tragtiere; und der Senhor Mathias mir gegenüber streichelte von Zeit zu Zeit mein Gesicht und sagte: »Jetzt reisen wir hin!« An einem Abend, in der Dämmerung, hielten wir plötzlich an einer einsamen Stelle an, mitten in einem Morast. Der Maultiertreiber fluchte wütend und schwang eine brennende Fackel. Ringsum rauschte schwarz und klagend ein Föhrenwald. Senhor Mathias hatte Angst, er zog die Uhr aus der Tasche und verbarg sie in seinem Stiefelschaft.

Eines Abends kamen wir durch eine Stadt, deren Straßenlaternen ein freundliches Licht warfen, spärlich und doch so hell, wie ich es noch nie gesehen hatte, in der Form einer geöffneten Tulpe. In dem Wirtshaus, wo wir abstiegen, kannte der Kellner, der Gonçalves hieß, den Senhor Mathias, und nachdem er uns unsere Beefsteaks gebracht hatte, blieb er vertraulich am Tische sitzen, seine Serviette über der Schulter, und erzählte Geschichten vom Herrn Baron und von der Engländerin des Herrn Barons. Als wir uns dann in unser Zimmer zurückzogen und Gonçalves uns leuchtete, stürzte auf dem Korridor plötzlich eine große weiße Dame seiderauschend und Moschusgeruch verbreitend an uns vorbei. Es war die Engländerin des Herrn Barons. In meinem Eisenbett, wachgehalten durch den Lärm der vorbeirollenden Wagen, dachte ich an sie, während ich Ave-Marias betete. Nie hatte ich einen so schönen Leib gestreift, von dem ein so durchdringender Wohlgeruch ausging: sie war voll von Gnade, der Herr war mit ihr, und sie ging vorbei, gesegnet unter den Weibern, mit einem Rauschen von heller Seide ...

Dann reisten wir in einer großen Kutsche weiter, die das Wappen des Königs trug und im lärmenden schweren Trott von vier dicken Pferden eine schnurgerade glatte Straße entlangrollte. Der Senhor Mathias, mit Pantoffeln an den Füßen und seine Prise schnupfend, sagte mir hie und da den Namen einer Ortschaft, die in der Frische eines Tales um eine alte Kirche nistete. Am trüben Abend funkelten manchmal die Fenster eines stillen Gehöfts wie frisch geprägtes, schimmerndes Gold. Die Kutsche fuhr vorbei; das Haus schlief zwischen den Bäumen; durch das trübe Kutschenfenster sah ich den Stern Venus scheinen. Tief in der Nacht ertönte ein Horn, und über das Pflaster ratternd, kamen wir in eine schlafende Stadt. Vor dem Tor des Gasthofs bewegten sich lautlos Totenlaternen. Oben, in einem gemütlichen Saal, auf einem mit Tellern überfüllten Tisch, dampften die Terrinen; die fröstelnden Gäste gähnten, zogen die dicken Wollhandschuhe aus. Und ich, schlaftrunken und willenlos, aß meine Hühnersuppe an der Seite des Senhor Mathias, der immer irgendeinen Kellner kannte, sich nach dem Amtsarzt erkundigte oder wissen wollte, wie die Arbeiten des Kreisgerichts fortschritten.

Endlich, an einem Sonntagmorgen, es begann eben zu tröpfeln, kamen wir zu einem riesenhaften Gebäude auf einem schmutzigen Platz. Der Senhor Mathias sagte mir, das sei Lissabon; er wickelte mich in mein Plaid und setzte mich auf eine Bank im Hintergrund einer feuchten Halle, wo Gepäck und große eiserne Wagen herumstanden. Ein sanftes Läuten rief zur Messe; vor dem Tor zog eine Kompanie Soldaten vorbei, mit Waffen unter ihren Wachstuchumhängen. Ein Mann trug unsere Koffer; wir setzten uns in eine Droschke, und auf dem Schoß des Senhor Mathias schlief ich ein. Als er mich zu Boden setzte, hielten wir in einem düsteren Hof mit Mosaikpflaster und schwarz gestrichenen Bänken; und auf der Treppe zischelte ein dickes Dienstmädchen mit einem Mann in einem langen roten Mantel, der eine Almosenbüchse um den Hals zu hängen hatte.

Es war die Vicencia, das Mädchen der Tante Patrocinio. Der Senhor Mathias stieg im Gespräch mit ihr die Stufen empor und führte mich zärtlich an der Hand. In einem dunkel tapezierten Salon fanden wir eine sehr hohe, dürre Dame, schwarz gekleidet, mit einer goldenen Kette auf der Brust; düster umhüllte ihren Kopf ein violettes Tuch, und tief in seinem Schatten funkelten zwei schwarze beschlagene Brillengläser. Hinter ihr an der Wand blickte ein Bild Unserer Lieben Frau von den Schmerzen zu mir herüber, die Brust von Schwertern durchbohrt.

»Das ist Tantchen«, sagte der Senhor Mathias. »Du mußt Tantchen sehr gern haben ... du mußt immer ›ja‹ zu Tantchen sagen ...«

Langsam, widerwillig senkte sie das hagere grünliche Gesicht. Ich spürte einen vagen, steinkalten Kuß, und dann trat Tantchen entrüstet einen Schritt zurück: »Ich glaube gar, Vicencia ... Wie entsetzlich! Ich sehe, daß man ihm die Haare mit Öl eingefettet hat!«

Furchtsam, schon mit einem Zucken im kleinen Gesicht, erhob ich meine Augen zu ihr und murmelte: »Ja, Tantchen.«

Unterdessen rühmte der Senhor Mathias meine Klugheit, mein braves Betragen in der Sänfte, die Reinlichkeit, mit der ich an den Wirtshaustafeln meine Suppe gegessen hatte.

»Schon gut«, schnarrte Tantchen trocken. »Es hätte noch gefehlt, daß er sich schlecht aufführte; er weiß doch, was ich für ihn tue ... Gehen Sie, Vicencia, bringen Sie ihn hinein. Waschen Sie ihm die Pomade ab; sehen Sie zu, ob er das Zeichen des Kreuzes zu machen versteht ...«

Der Senhor Mathias gab mir zwei schallende Küsse. Vicencia brachte mich in die Küche.

Am Abend zog man mir meinen Plüschanzug an, und Vicencia, ernsthaft, mit einer reinen Schürze, zog mich an der Hand in einen Salon, wo scharlachrote Vorhänge hingen und die Tischbeine vergoldet waren wie die Säulen eines Altars. Tantchen saß in der Mitte des Kanapees, in schwarze Seide gekleidet, mit einem Kopfputz aus schwarzer Seide und die Finger von Ringen funkelnd. Neben ihr, auf gleichfalls vergoldeten Stühlen, saßen plaudernd zwei Geistliche. Der eine, lustig und fett, mit krausem, schon weißem Haar, öffnete mir väterlich die Arme. Der andere, dunkelhaarig und melancholisch, schnarrte nur: »Guten Abend!« Und vom Tische her, wo es in einem großen Bilderalbum geblättert hatte, nickte verlegen ein Männchen mit glattrasiertem Gesicht und riesigen Vatermördern, wobei ihm die Lorgnette von der Nase glitt.

Jeder von ihnen gab mir zögernd einen Kuß. Der traurige Pater fragte mich nach meinem Namen, den ich »Tedrico« aussprach. Der andere, der liebenswürdige, zeigte seine blanken Zähne, riet mir, die Silben zu trennen und zu sagen: The-o-do-ri-co. Dann fanden sie, ich sähe um die Augen der Mama ähnlich. Tantchen seufzte; lobte Gott, daß ich nichts vom Raposo an mir hätte. Und der Mensch mit den Vatermördern schloß das Buch, schloß die Lorgnette und fragte schüchtern, ob ich Heimweh nach Vianna hätte. Ich murmelte verstört: »Ja, Tantchen.«

Unterdessen hatte der alte fette Pater mich auf seine Knie gesetzt; er empfahl mir, gottesfürchtig zu sein, mäuschenstill im Hause, immer gehorsam gegen Tantchen ...

»Der Theodorico hat niemand auf der Welt als Tantchen ... Er muß immer ›ja‹ zu Tantchen sagen.«

Ich wiederholte zaghaft: »Ja, Tantchen!«

Tantchen befahl mir sehr streng, den Finger aus dem Mund zu nehmen. Dann sagte sie mir, ich möge zur Vicencia in die Küche zurückgehen, immer den Korridor entlang ...

»Und wenn Er am Oratorium vorbeikommt, wo das Licht und der grüne Vorhang ist, knie Er nieder, mache Er sein kleines Kreuz ...«

Ich machte das Zeichen des Kreuzes nicht. Aber ich schlug den Vorhang zurück; und Tantchens Oratorium blendete mich wundersam. Der Raum war ganz mit roter Seide ausgeschlagen; an den Wänden hingen rührende Bilder in geblümten Rahmen, die Leiden des Herrn darstellend; die Spitzen der Altardecke berührten den teppichbelegten Boden; die Heiligen aus Elfenbein und aus Holz, mit glänzenden Heiligenscheinen, lebten in einem Wald von Veilchen und roten Kamelien. Das Licht der Wachskerzen ließ zwei edle Silberplatten funkeln, die an die Wand gelehnt ruhten wie Schilde der Heiligkeit; und hoch an einem Kreuz von Ebenholz unter einem Baldachin hing Unser Heiland Jesus Christus, ganz aus Gold, und schimmerte.

Ich schlich mich langsam bis zu dem Betstuhl aus grünem Samt, der vor dem Altar stand, ausgehöhlt von Tantchens frommen Knien. Auf den gekreuzigten Jesus richtete ich meine hübschen schwarzen Augen. Und ich dachte, daß im Himmel die Engel, die Heiligen, Unsere Liebe Frau und Unser Aller Vater so sein mußten, aus Gold, vielleicht mit Edelsteinen besetzt; ihr Glanz bildete das Tageslicht; und die Sterne waren die funkelnden Spitzen des kostbaren Metalls, durchscheinend durch die schwarzen Schleier, in welche die Nacht die seligen Lieblinge der Menschen einhüllte, damit sie Schlaf fanden.

Nach dem Tee brachte Vicencia mich in einem kleinen Alkoven neben ihrer Kammer zu Bett. Sie ließ mich im Hemd niederknien, faltete mir die Hände, richtete mein Gesicht himmelwärts und sprach mir die Vaterunser vor, die ich für das Seelenheil Tantchens zu beten hatte, für die ewige Ruhe der Mama und für die Seele eines Komturs, der sehr gut, sehr heilig und sehr reich gewesen sei und Godinho heiße.

 

Kaum war ich neun Jahre alt geworden, ließ mir Tantchen Hemden und einen schwarzen Anzug machen und gab mich als Internen ins Gymnasium der Senhores Isidoro, damals zu Santa Isabel.

Schon in den ersten Wochen schloß ich mich innig einem Jungen namens Chrispim an; er war größer als ich und Sohn der Firma Telles, Chrispim & Co., der eine Spinnerei in Pampulha gehörte. Chrispim ministrierte sonntags bei der Messe; und wenn er auf den Knien lag, erinnerte er mit seinen dichten blonden Haaren an einen holdseligen Engel. Manchmal erwischte er mich im Korridor und bedeckte mein weiches und weibisches Gesicht mit saugenden Küssen; und abends, im Studiersaal, wenn wir in den einschläfernden Wörterbüchern blätterten, schob er mir mit Bleistift geschriebene Briefchen zu, nannte mich darin seinen »Angebeteten« und versprach mir Stahlfederschachteln.

Der Freitag war der unangenehmste Tag, an dem wir uns die Füße waschen mußten. Und dreimal wöchentlich kam, die Zigarre im Mund, der schmierige Pater Soares, um uns in der Christenlehre zu prüfen und uns das Leben des Herrn zu erzählen.

»Also, sodann ergriffen sie ihn und schleppten ihn in das Haus des Kaiphas ... Heda, du da an der Ecke der Bank, wer war Kaiphas? ... Falsch! ... Wieder falsch! ... Nein, auch nicht ... Zum Kuckuck, ihr Dummköpfe! ... Kaiphas war ein Jude, und einer von der schlimmsten Sorte ... Nun heißt es, daß es dort in einer sehr häßlichen Gegend Judäas einen Dornenbaum gibt, ein schauderhaftes Gewächs ...«

Das Pausenglöckchen klingelte, mit einem gemeinsamen Ruck und Knall schlossen wir alle die Hefte.

Der trübselige, mit Kies bestreute Schulhof roch wegen der Nähe der Latrinen schlecht; ein Fest für die Größten war es, einen Zug aus der Zigarette zu tun, versteckt in einem Saal des Erdgeschosses, in dem des Sonntags der alte Tanzmeister Cavinetti, mit wohlgekräuseltem Haar und in ausgeschnittenen Schuhen, uns Mazurka beibrachte.

Jeden Monat einmal kam Vicencia in Mantel und Kopftuch mich nach der Messe abholen, damit ich einen Sonntag mit Tantchen verbrächte. Isidoro junior untersuchte, bevor ich ging, immer meine Ohren und Nägel; sehr oft seifte er mich wütend in seinem eigenen Waschbecken ab und nannte mich leise »Schmutzfink«. Dann brachte er mich bis zur Tür, liebkoste mich, behandelte mich als seinen »lieben jungen Freund« und entbot durch die Vicencia der Senhora Dona Patrocinio das Neves seinen Respekt.

Wir wohnen am Campo de Sant' Anna. Wenn wir den Chiado hinuntergingen, blieb ich stets vor einem Bildergeschäft stehen, vor dem schmachtenden Bild einer blonden Frau mit nackten Brüsten, die auf einem Tigerfell lag und in ihren Fingern, die feiner waren als die Chrispims, eine schwere Perlenschnur hielt. Der helle Schein dieser Nacktheit ließ mich an die Engländerin des Herrn Barons denken; und jener Duft, der mich im Korridor des Gasthofes so aufgeregt hatte, ich atmete ihn wieder ein, wie er sich fast unmerklich über die besonnte Straße verbreitete: aus den seidenen Kleidern der Damen, die würdig und geschnürt zur Messe in die Loretokirche gingen.

Daheim streckte Tantchen mir die Hand zum Kusse hin, und den ganzen Vormittag verbrachte ich damit, in ihrem Boudoir Bände des »Weltpanoramas« zu durchblättern; es gab dort ein gestreiftes Sofa, einen prunkvollen Ebenholzschrank und kolorierte Lithographien mit rührenden Szenen aus dem allerreinsten Leben ihres Lieblingsheiligen, des Patriarchen Sankt Josef. Tantchen, mit dem schweren violetten Tuch um den Kopf, saß am Fenster, hatte die Füße in eine Decke gewickelt und prüfte sorgsam ein großes Heft mit Rechnungen.

Um drei Uhr schloß sie das Heft; und tief im Schatten des Kopftuches begann sie mir Fragen aus der Christenlehre zu stellen. Während ich das Credo sprach, die Zehn Gebote aufsagte, atmete ich, gesenkten Blicks, den scharfen, süßlichen Schnupftabakgeruch ein, der von ihr ausging.

Am Sonntag kamen die beiden Geistlichen zum Essen. Der Kraushaarige war der Pater Casimiro, Tantchens Bevollmächtigter; er gab mir schallende Küsse, lud mich ein zu deklinieren: »Arbor, arboris, currus, curri«; erklärte mich liebevoll für einen talentierten Jungen. Und der andere Geistliche lobte das Gymnasium der Senhores Isidoro, die schönste Erziehungsanstalt, wie es nicht einmal in Belgien eine gab. Jedesmal schien er mir dunkler und trauriger. Sooft er an einem Spiegel vorbeiging, steckte er die Zunge heraus und blieb entsetzt und niedergeschmettert stehen, um sie noch länger zu ziehen und zu studieren.

Beim Essen freute sich Pater Casimiro, meinen Appetit zu sehen.

»Noch einen Bissen Kalbsragout? Knaben sieht man gern lustig und gut genährt! ...«

Und Pater Pinheiro betastete seinen Magen: »Glückliche Jugend! Glückliche Jugend, in der man noch eine zweite Portion Kalbfleisch essen kann!«

Er und Tantchen sprachen dann von ihren Krankheiten. Pater Casimiro, hübsch gerötet, die Serviette am Hals, mit vollem Teller, vollem Glas, lächelte selig.

Wenn auf dem Platz zwischen den Bäumen die Gaslaternen zu leuchten begannen, nahm die Vicencia ihren alten karierten Schal um und brachte mich ins Gymnasium zurück. Um diese Stunde erschien an den Sonntagen der kleine glattrasierte Mann mit den Vatermördern, Senhor Jose Justino, Sekretär der Bruderschaft Sankt Josef und Tantchens Notar, vom Grundbuchamt zu São Paulo. Im Hof schon zog er den Paletot aus, streichelte mein Gesicht und fragte die Vicencia nach der Gesundheit der Senhora Dona Patrocinio. Und ich atmete glücklich auf, denn mich stimmte dieses große Haus mit seinem roten Damast, seinen unzähligen Heiligen und seinem Kapellengeruch traurig.

Auf dem Weg erzählte die Vicencia mir von Tantchen, die sie vor sechs Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatte. So erfuhr ich, daß Tantchen leberleidend war; sie hatte immer viel Goldgeld in einer grünseidenen Börse; und der Komtur Godinho, ihr Onkel und der meiner Mama, hatte ihr zweimalhunderttausend Milreis hinterlassen in Grundbesitz und Papieren, das Landgut Mosteiro unterhalb Vianna und Silberzeug und feines Porzellan ... So reich war Tantchen! Ich sollte brav sein, Tantchen immer zufriedenstellen!

Am Tor des Gymnasiums sagte die Vicencia: »Adieu, Liebling!« und gab mir einen Kuß. Sehr oft in der Nacht umarmte ich mein Kissen, dachte an die Vicencia und an ihre Arme, die ich ärmellos, fett und milchweiß vor mir sah. Und so entstand züchtig in meinem Herzen eine Leidenschaft für die Vicencia.

Eines Tages nannte mich ein Junge, der schon einen Milchbart hatte, im Speisesaal »Zierpuppe«. Ich forderte ihn auf, mit mir auf den Abort zu gehen, und schlug ihm mit einem bestialischen Faustschlag sein ganzes Gesicht blutig. Man fürchtete mich. Ich rauchte Zigarren. Chrispim verließ das Gymnasium; ich hatte den Ehrgeiz, fechten zu lernen. Und meine große Liebe zur Vicencia verschwand eines Tages, unmerklich, wie man auf der Straße eine Blume verliert.

Und so verflossen die Jahre. An den Weihnachtsabenden entzündete man im Speisesaal ein Kohlenbecken; ich zog meinen flanellgefütterten Wintermantel an, den ein Astrachankragen zierte; dann kehrten die Schwalben zu unseren Dachrinnen zurück, und in Tantchens Oratorium dufteten an Stelle der Kamelien die ersten Sträuße roter Nelken zu den goldenen Füßen Christi; dann kam die Zeit der Seebäder, und der Pater Casimiro schickte Tantchen einen Korb Trauben von seinem Landhaus in Torres ... Ich begann Rhetorik zu studieren.

 

Eines Tages sagte mir unser guter Geschäftsführer, ich würde nicht mehr zu den Isidoros zurückkehren, sondern meine Vorstudien in Coimbra beenden, im Hause des Dr. Roxo, Dozenten der Theologie. Wäsche wurde für mich genäht. Tantchen gab mir auf einem Papierblatt das Gebet, das ich täglich an Sankt Ludwig Gonzaga richten sollte, den Patron der studierenden Jugend, damit er meinem Körper die Frische der Keuschheit erhielte und meiner Seele die Furcht des Herrn. Der Pater Casimiro brachte mich in die liebliche Universitätsstadt, wo Minerva schläft.

Ich haßte Dr. Roxo. In seinem Hause führte ich ein hartes, klösterliches Leben; und es bereitete mir eine unsägliche Freude, als in meinem ersten juridischen Studienjahr der unangenehme Geistliche jämmerlich an einem Geschwür starb. Jetzt übersiedelte ich in die lustige Studentenherberge Pimentas – und lernte nun, ohne Maß, alle Freiheit kennen und die starken Wonnen des Lebens. Nie mehr leierte ich das zerfetzte Gebet an Sankt Ludwig Gonzaga herunter, nie mehr beugte ich mein Männerknie vor irgendeinem geweihten Bild mit einem Heiligenschein im Nacken; ich besoff mich lärmend bei Camellas; bewies meine Kraft, indem ich einen Oberkellner vom Café Trony blutig prügelte; sättigte meine fleischlichen Gelüste mit saftiger Liebe am Grasplatz; machte Mondscheinspaziergänge und sang aus voller Kehle Fados; trank schwarzen Kaffee; und da der Bart mir dicht und schwarz wuchs, nahm ich mit Stolz den Spitznamen »Schwarzer Raposo« an. Alle vierzehn Tage indessen schrieb ich in meiner guten Schrift Tantchen einen demütigen und frommen Brief, schilderte ihr darin die Strenge meiner Studien und die Zucht meiner Lebensgewohnheiten, die Fülle der Gebete und die harten Fasten, die Predigten, von denen ich mich nährte, die süßen Ergießungen in das Herz Jesu, des Abends, in der Kathedrale, und die Andachtsübungen, mit denen ich an stillen Feiertagen meine Seele in der Heiligenkreuzkirche tröstete ...

Die Sommermonate in Lissabon waren dann trübselig. Ich konnte nicht einmal zum Haarschneiden ausgehen, ohne von Tantchen knechtisch die Erlaubnis zu erbitten. Ich wagte im Café nicht zu rauchen. Ich mußte keusch am frühen Abend daheim sein; und vor dem Schlafengehen mußte ich mit der Alten im Oratorium einen langen Rosenkranz beten. Ich verurteilte mich geradezu zu dieser abscheulichen Frömmelei!

»Pflegst du dort an der Universität deinen Rosenkranz zu beten?« hatte Tantchen mich mit Härte gefragt.

Und ich, mit einem verworfenen Lächeln: »Aber, aber! Ich kann doch nicht einmal einschlafen, ohne meinen lieben Rosenkranz gebetet zu haben! ...«

An den Sonntagen ging die Geselligkeit weiter. Der Pater Pinheiro, der immer trauriger wurde, klagte jetzt über sein Herz und auch ein wenig über die Blase. Und es gab einen neuen Tischgenossen, den alten Freund des Komturs Godinho, den treuen Besucher der Familie das Neves: Dr. Margaride, der erst Adjunkt in Vianna gewesen war, dann Richter in Mangualde. Durch den Tod seines Bruders Abel, des Kammersekretärs des Patriarchen, reich geworden, setzte der Doktor sich zur Ruhe, da er der Akten müde war, lebte in Frieden und las die Zeitungen in seinem Haus auf der Praça da Figueira. Da er den Papa gekannt und unzählige Male ins Mosteiro begleitet hatte, behandelte er mich jetzt mit Autorität und per du.

Er war ein beleibter, ernsthafter Mann, schon kahl, mit einem fahlen Gesicht, aus dem die zusammengewachsenen dichten und kohlschwarzen Augenbrauen hervorstachen. Selten kam er in Tantchens Salon, ohne schon von der Tür aus eine Unglücksnachricht hereinzurufen: »Was, Sie wissen noch nichts? Ein schrecklicher Brand in der Unterstadt!« Es war höchstens ein Rauchfeuer in einem Kamin. Aber der gute Margaride hatte als junger Mensch in einem dunklen Anfall von Phantasie zwei Tragödien gedichtet, und daher war ihm die krankhafte Lust geblieben, zu übertreiben und Eindruck zu machen. »Niemand hat eine solche Freude am Grandiosen wie ich«, sagte er. Und während er Tantchen und die Priester erschreckte, nahm er jedesmal gravitätisch eine Prise.

Mir gefiel der Dr. Margaride. Ein Freund des Papas in Vianna, hatte er ihn oftmals die Romanze vom Grafen Ordonho zur Geige singen hören. – Lange Abende war er poetisch mit ihm im Mosteiro am Wasser gelustwandelt, während die Mama im Schatten der Erlen Wiesenblumen zum Strauße band. Und er hatte mir, kaum war ich an jenem Spätnachmittag am Karsamstag geboren, ein Taufgeschenk geschickt. Außerdem rühmte er, selbst in meiner Gegenwart, freimütig vor Tantchen meine Intelligenz und meine bedachtsame Art. »Unser Theodorico, Dona Patrocinio, ist ein Junge, der Ihnen Freude machen muß. Sie haben da, meine verehrteste Freundin, einen wahren Telemach!«

Bescheiden errötete ich.

Als ich einmal an einem Augusttag mit ihm auf dem Rocio spazierenging, lernte ich einen unserer entfernten Verwandten kennen, einen Vetter des Komturs G. Godinho. Dr. Margaride stellte mir ihn vor, sagte so leichthin: »Dein Vetter Xavier, ein sehr begabter Junge.« Es war ein unsauber gekleideter Mensch mit blondem Backenbart; er war leichtsinnig gewesen und hatte mit Schwung dreißigtausend Milreis durchgebracht, die Erbschaft von seinem Vater, dem Besitzer eines Seilerwarengeschäftes in Alcantara. Einige Monate, bevor er an einer Lungenentzündung starb, hatte der Komtur G. Godinho ihn aus Barmherzigkeit in der Justizkanzlei angestellt, mit zwanzig Milreis monatlich. Und nun lebte der Xavier mit einer Spanierin namens Carmen und ihren drei Kindern in einem Häuschen der Rua da Fé.

Eines Sonntags ging ich hin. Es gab fast keine Möbel; das Waschbecken, das einzige, war in den zerrissenen Strohsitz eines Sessels versenkt. Xavier hatte den ganzen Vormittag Blut gespuckt. Und die ungekämmte Carmen, in Pantoffeln, einen Barchentschlafrock mit Weinflecken nachschleppend, wiegte verdrossen ein in einen Lappen gewickeltes Kind, dessen Köpfchen von wunden Stellen bedeckt war.

Sofort sprach Xavier, der mich gleich duzte, von der Tante Patrocinio ... Sie war seine Hoffnung in diesem finsteren Elend, die Tante Patrocinio! ... Als eine Dienerin Christi, als Besitzerin so vieler Güter konnte sie doch einen Verwandten, einen Godinho nicht in dieser Hütte krepieren lassen, ohne Leintücher, ohne Tabak, umgeben von den zerlumpten Kindern, die nach Brot jammerten. Was konnte es der Tante Patrocinio ausmachen, ihm, wie es schon der Staat getan, ein kleines Monatsgeld von zwanzig Milreis auszusetzen?

»Du solltest mit ihr sprechen, Theodorico, du! ... Du solltest ihr sagen: Schau dir diese Kinder an, nicht einmal Strümpfe haben sie ... Komm her, Rodrigo, sag es hier deinem Onkel Theodorico! Was hast du heute zum Frühstück gegessen? ... Ein Stück trockenes Brot! Und ohne Butter, ohne alles! Das ist unser Leben, Theodorico. Siehst du, so was ist bitter, mein Junge!«

Gerührt versprach ich, mit Tantchen zu sprechen.

Mit Tantchen sprechen! Ich würde nicht einmal wagen, Tantchen zu erzählen, daß ich Xavier kannte und daß ich in dieser unreinen Hütte gewesen sei, wo es eine Spanierin gab, abgemagert in der Sünde.

Damit sie nicht meine unedle Angst vor Tantchen bemerkten, ließ ich mich nie wieder in der Rua da Fé blicken.

Mitte September, am Tage Mariä Geburt, erfuhr ich durch den Dr. Barroso, daß der Vetter Xavier, der schon fast im Sterben liege, mich unter vier Augen zu sprechen wünsche.

Ungern ging ich nachmittags hin. Auf der Stiege roch es nach Fieber. In der Küche unterhielt sich Carmen unter lautem Schluchzen mit einer anderen Spanierin, einem mageren kleinen Wesen in einer schwarzen Mantille und einer tristen Bluse aus kirschfarbigem Satin. Die Kleinen saßen auf dem Fußboden und kratzten einen Suppentopf aus. Und im Alkoven hustete schwer und stoßweise Xavier, in eine Decke eingehüllt. Neben ihm stand das Waschbecken, voll von blutigem Auswurf.

»Du, mein Junge?«

»Aber Xavier, was bedeutet denn das?«

Er sprach mit einem obszönen Ausdruck aus, daß er verloren sei. Und auf dem Rücken liegend, mit einem fiebrigen Glanz in den Augen, erzählte er dann von Tantchen. Er hatte ihr einen schönen, herzbewegenden Brief geschrieben; die Bestie hatte nicht geantwortet. Aber nun wollte er im »Jornal de Noticias« ein Inserat veröffentlichen, eine Bitte um ein Almosen, gezeichnet: »Xavier Godinho, Vetter des reichen Komturs G. Godinho.« Er wollte doch sehen, ob Dona Patrocinio das Neves einen Verwandten, einen Godinho, derartig öffentlich auf einem Zeitungsblatt betteln lassen würde.

»Aber du mußt mir unbedingt helfen, mein Junge, du mußt sie erweichen! Wenn sie das Inserat liest, erzähle ihr von unserem Elend! Erwecke ihr Ehrgefühl! Sag ihr, daß es eine Schande ist, wenn ein Verwandter, ein Godinho, verlassen stirbt. Sag ihr, daß man es schon herumerzählt! Schau, wenn ich heute eine Suppe essen konnte, verdanke ich es nur dem Mädchen dort, der Lolita, die im Bordell der Benta Bexigosa arbeitet; sie hat uns vier Kronentaler gebracht ... Siehst du, wohin ich gelangt bin?«

Ich erhob mich bewegt. »Rechne auf mich, Xavier.«

»Höre, wenn du fünf Testonen entbehren könntest, gib sie der Carmen.«

Ich gab ihr das Geld und ging, nachdem ich feierlichst geschworen hatte, im Namen der Godinhos und in Jesu Namen, ich würde mit Tantchen sprechen.

Am anderen Tag nach dem Frühstück entfaltete Tantchen gemächlich, den Zahnstocher im Munde, das »Jornal de Noticias«. Und sicher entdeckte sie sogleich das Inserat Xaviers, denn sie starrte lange die Ecke der dritten Seite an, wo es prangte, betrüblich, beschämend, erschreckend.

Unterdessen erschienen mir, aus dem nackten Grunde der Hütte auf mich gerichtet, die Augen Xaviers, das gelbe Gesicht Carmens, von Tränen gebadet, die armen Händchen der Kleinen, nach einer Brotkruste ausgestreckt ... Und alle diese Unglücklichen bangten um die Worte, die ich zu Tantchen sagen würde, rührende Worte, die sie retten und ihnen in diesem Sommer des Elends das erste Stück Fleisch geben sollten. Ich öffnete die Lippen. Aber schon krächzte Tantchen, in den Sessel zurückgelehnt, mit einem grausamen Lächeln: »Jetzt hat er es! ... Das geschieht, wenn einer Gott nicht fürchtet und mit dem Trinken anfängt ... Hätte er nicht alles mit seinen Verhältnissen verpraßt! ... Denn für mich ist ein Mensch erledigt, der sich durch die Unterröcke ins Verderben bringt, der den Unterröcken nachrennt ... Er hat Gottes Verzeihung nicht und meine nicht! Mag er leiden, denn auch Unser Herr Jesus Christus hat gelitten!«

Ich senkte das Haupt und murmelte: »Ja, wir leiden alle noch nicht genug ... Tantchen hat ganz recht … Hätte er nicht mit den Unterröcken angefangen.«

Sie stand auf, sprach ein Dankgebet zum Herrn. Ich ging auf mein Zimmer, schloß mich ein; ich zitterte, ich hörte noch immer die eisigen drohenden Worte Tantchens, für die Männer »erledigt« waren, die sich »mit Unterröcken« einließen. Auch ich hatte mich mit Unterröcken eingelassen, in Coimbra, am Grasplatz! Dort in meinem Koffer hatte ich Dokumente meiner Sünde, die Photographie der Theresa dos Quinze, ein seidenes Band und einen ihrer Briefe, den liebsten, in dem sie mich die einzige Neigung ihrer Seele nannte und von mir dreieinhalb Milreis verlangte! Ich hatte diese Reliquien ins Futter einer Tuchweste genäht, eingedenk der fortwährenden Nachforschungen Tantchens in meinen intimsten Besitztümern. Aber da waren sie, in dem Koffer, dessen Schlüssel sie bewahrte, im Futter der Weste, erzeugten dort eine Pappendeckelsteifheit, die ihre mißtrauischen Finger jeden Tag betasten konnten … Und dann war ich für Tantchen erledigt!

Leise öffnete ich den Koffer, trennte das Futter auf, zog Theresas entzückenden Brief hervor, das Band, das den Geruch ihrer Haut bewahrt hatte, und ihre Photographie in der Mantilla … Im Kamin der Veranda verbrannte ich ohne Gnade alles, Liebeswürdigkeiten und Gesichtszüge, und streute verzweifelt die Asche meiner Zärtlichkeit in den Lichthof.

In dieser Woche wagte ich nicht, in die Rua da Fé zurückzukehren. Dann, an einem regnerischen Tag, ging ich in der Dämmerung hin, geduckt unter meinem Regenschirm. Ein Nachbar sah mich von fern die schwarzen, toten Fenster der Hütte anstarren und sagte mir, daß der Senhor Godinho, der Ärmste, auf einer Bahre ins Hospital gebracht worden sei.

Betrübt stieg ich die Stufen zur Promenade hinab. In der feuchten Dämmerung streifte ich einen anderen Regenschirm, und auf einmal hörte ich jemand laut meinen Namen aus den Tagen von Coimbra rufen: »Schwarzer Raposo!«

Es war Silverio, der den Spitznamen »der Rettich« trug, mein Mitschüler und Gefährte im Haus Pimentas. Er verbrachte diesen Monat in Alemtejo, bei seinem Onkel, dem berühmten Millionär Baron Alconchel, und kam manchmal herüber, um eine gewisse Ernestina zu sehen, ein blondes Mädelchen, das im Vorort Salitre wohnte, in einem rosenfarbenen Haus mit Rosenstöcken an den Fenstern.

»Möchtest du nicht mitkommen, Schwarzer Raposo? Es ist dort noch ein anderes hübsches Mädel, die Adelia … Du kennst die Adelia nicht? Dann, zum Teufel, komm dir die Adelia ansehen … Das ist dir ein Weib!«

Es war ein Sonntag, Tantchens Gesellschaftsabend, ich mußte hübsch fromm um acht Uhr zu Hause sein. Ich zupfte unentschlossen an meinem Bart. Der Rettich sprach von Adelias weißen Armen; und ich begann neben dem Rettich einherzugehen.

Mit einer Tüte voll Zuckerwerk und einer Flasche Madeira versehen, trafen wir Ernestina an, wie sie an ihre tuchenen Halbschuhe ein Gummiband annähte. Und Adelia, in einer Nachtjacke und im weißen Unterrock – ihre Pantoffeln waren neben ihr auf den Teppich gefallen –, lag lang auf dem Sofa, rauchte lässig eine Zigarette. Ich setzte mich neben sie, bewegt und langweilig, mit meinem Regenschirm zwischen den Knien.

Erst als Silverio und Ernestina Arm in Arm in die Küche gelaufen waren, um Gläser für den Madeira zu suchen, wagte ich errötend Adelia zu fragen: »Und woher sind Sie, kleines Fräulein?«

Sie war aus Lamego. Und ich, von neuem eingeschüchtert, konnte nur noch stottern, wie traurig dieses Regenwetter sei. Sie bat mich um eine andere Zigarette, indem sie mich höflich »der Herr« anredete. – Ich wußte diese Manieren zu schätzen. Die weiten Ärmel ihrer Nachtjacke hatten sich verschoben und entblößten so weiße und weiche Arme, daß zwischen ihnen noch der Tod eine Wonne sein mußte.

Ich war es, der ihr den Teller anbot, auf den Ernestina das Zuckerwerk gelegt hatte. Sie wollte meinen Namen wissen. Sie hatte einen Vetter, der gleichfalls Theodorico hieß; und das war wie ein feiner, starker Faden, der sich von ihrem Herzen um das meine schlang.

»Warum stellt der Herr seinen Regenschirm nicht in die Ecke?« sagte sie lachend zu mir.

Der pikante Schimmer ihrer kleinen weißen Zähne ließ in mir die Blüte eines galanten Kompliments aufknospen: »Damit ich mich auch nicht den kleinsten Augenblick von diesem Platz zu den Füßen des kleinen Fräuleins entfernen muß.«

Sie kitzelte mich leicht am Nacken. Ich trank, vor Freude gereift, den Rest des Madeiras, den sie im Spitzglas gelassen hatte.

Ernestina, sehr poetisch aufgelegt und einen Gassenhauer trällernd, ließ sich auf den Knien des Rettichs nieder. Nun drehte sich Adelia schmachtend zu mir hin, hielt mir ihr Gesicht entgegen – und meine Lippen begegneten den ihren in dem ernstesten, längsten, gefühlvollsten Kuß, der bis dahin mein Wesen in Aufruhr versetzt hatte.

In diesem süßen Augenblick begann eine abscheuliche Uhr mit einer Mondscheibe als Zifferblatt, die mich auf der Marmorplatte eines Mahagonitisches zwischen zwei Vasen ohne Blumen zu belauern schien, ironisch und phlegmatisch zehn Uhr zu schlagen.

Herrje! Das war die Teestunde in Tantchens Haus!

Mit welchem Schrecken im Herzen rannte ich, ohne auch nur den Regenschirm zu öffnen, durch die dunklen und endlosen Gäßchen, die zum Campo de Sant' Anna führen! Zu Hause zog ich nicht einmal die kotigen Schuhe aus. Ich schoß auf den Salon zu; und dort im Hintergrund, auf dem Damastsofa, sah ich die Brille meiner Tante, schwärzer denn je, zornfunkelnd und Blitze sprühend auf mich warten. Ich stammelte noch: »Tantchen! …«

Aber schon schrie sie, grün vor Zorn, mit geballten Fäusten: »So eine Wirtschaft in meinem Hause dulde ich nicht! Wer hier leben will, hat zu den Stunden da zu sein, die ich festgesetzt habe. Ausschweifungen und Schweinereien nicht, solange ich lebe! Und wem es nicht paßt, auf die Straße!«

Unter dem schrilltönenden Entrüstungssturm der Senhora Dona Patrocinio hatten Pater Pinheiro und der Notar Justino verlegen das Haupt gesenkt. Um meine Schuld gewissenhaft zu ermessen, hatte Dr. Margaride seine schwere goldene Uhr gezogen. Und nur der gute Casimiro vermittelte, als Priester und Bevollmächtigter, geschmeidig und überzeugend: »Dona Patrocinio hat recht, hat tausendmal recht, wenn sie Ordnung in ihrem Hause will … Aber vielleicht ist unser Theodorico ein bißchen länger im Café geblieben, hat von seinen Studien gesprochen, von den Lehrbüchern …«

Ich rief bitter: »Keineswegs, Pater Casimiro! Ich war nicht einmal im Café. Wissen Sie, wo ich gewesen bin? Ich war im Kloster der Karmeliterinnen. Dort bin ich einem meiner Mitschüler begegnet, der seine Schwester abholen wollte. Da aber heute Feiertag ist, war die Schwester nicht da, sie hatte den Tag mit ihrer Tante verbracht, der Frau eines Komturs. Wir warteten auf sie, gingen im Hof auf und ab ... Die Schwester soll heiraten, er fängt an, mir von dem Bräutigam zu erzählen, und von der Aussteuer, und wie verliebt er ist ... Ich sterbe vor Verlangen, mich aus dem Staube zu machen, muß aber höflich gegen den Burschen sein, er ist ein Neffe des Barons Alconchel ... Und er, tritschtratsch, spricht weiter von der Schwester und dem Liebhaber und seinen Briefen ...

Die Tante Patrocinio heulte vor Wut.

»Siehst du, was für eine Konversation! Was für eine Schweinerei von einer Konversation! Was für eine unpassende Konversation für den Hof eines Klosters! Schweig, verlorene Seele, du solltest dich jetzt noch schämen! ... Und versteh Er mich wohl: wenn Er mir ein andermal zu solchen Stunden kommt, kommt Er mir nicht ins Haus herein. Auf der Gasse bleibt Er, wie ein Hund ...«

Da streckte Dr. Margaride eine feierliche und zum Frieden mahnende Hand aus: »Alles hat sich aufgeklärt! Unser Theodorico war unvorsichtig, aber der Ort, an dem er war, ist achtungswert ... Ich kenne den Baron Alconchel. Er ist ein sehr einsichtsvoller Kavalier und einer der größten Grundbesitzer in Alemtejo, vielleicht einer der reichsten Grundbesitzer Portugals ... Der reichste, möchte ich sagen ... Sogar im Ausland wird es kaum einen Großgrundbesitz geben, der größer ist. Kein Vergleich damit! Allein die Schweine! Allein der Kork! Dutzende von Millionen! Millionen!«

Er war aufgestanden; seine aufgeblasene Baßstimme rollte über ganze goldene Berge. Und der gute Casimiro flüsterte sanft an meiner Seite: »Trinken Sie Ihren guten Tee, Theodorico, trinken Sie nur den Tee. Und glauben Sie, die Tante hat keinen Wunsch als nur Ihr Bestes ...«

Ich ergriff mit bebender Hand die Teetasse; während ich halb ohnmächtig den Zucker umrührte, dachte ich daran, für immer das Haus dieser schrecklichen Alten zu verlassen, die mich vor Justiz und Klerus beschimpfte, ohne Rücksicht auf den Bart, der mir zu sprießen begann, stark, respektabel, schwarz.

An den Sonntagen wurde der Tee in dem Silberservice des Komturs Godinho serviert. Ich sah es vor mir, massiv und blank; die große Kanne, die in einen Entenschnabel auslief; die Zuckerdose, deren Henkel die Form einer zornigen Natter hatte; und das hübsche Salzfaß in Gestalt eines Maulesels, der unter seinen Säcken einhertrottet. Und das alles gehörte Tantchen. Wie reich war Tantchen! Man mußte gut sein, Tantchen immer zufriedenstellen! ...

Als sie nachher ins Oratorium eintrat, um den Rosenkranz abzubeten, lag ich daher schon ächzend auf den Knien, schlug mir auf die Brust und bat den goldenen Christus, er möge mir verzeihen, daß ich Tantchen gekränkt hatte.

 

Eines Tages kam ich nach Lissabon mit meinem Doktordiplom zurück, das in einer Blechrolle steckte. Tantchen sah es ehrfurchtsvoll an, entdeckte einen kirchlichen Geschmack in den lateinischen Zeilen, den paramentartigen roten Bändern, dem in seiner Kapsel ruhenden Siegel.

»Gut«, sagte sie, »nun bist du Doktor, Gott, unserem Herrn, verdankst du es, sieh zu, daß du ihm treu bleibst ...«

Mit der Rolle in der Hand lief ich gleich ins Oratorium, um Christus für meinen glorreichen Doktortitel zu danken.

Am folgenden Morgen stand ich vor dem Spiegel, um mir den jetzt schon dichten schwarzen Bart zu kämmen, da trat der Pater Casimiro in mein Zimmer. Er rieb sich mit einem freundlichen Lachen die Hände.

»Eine gute Neuigkeit für Sie, Herr Dr. Theodorico!«

Und nachdem er mich nach seiner liebreichen Gewohnheit mit seiner weichen Patschhand getätschelt hatte, erklärte der fromme Bevollmächtigte mir, daß Tantchen, von meiner Aufführung befriedigt, mir ein Pferd zu kaufen wünsche, damit ich sittsame Spazierritte machen und in Lissabon Luft schöpfen könne.

»Ein Pferd! Oh, Pater Casimiro!«

Ein Pferd. Und überdies, da sie nicht wolle, daß ihr Neffe, der ja bereits ein bärtiger Gelehrter sei, sich geniert fühlen müsse, wenn ihm hier und da ein wenig Kleingeld für den Opferstock Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz fehlen sollte, setzte Tantchen mir ein monatliches Taschengeld von drei Moedas aus.

Ich umarmte den Pater Casimiro wärmstens. Und ich wollte wissen, ob es Tantchens liebenswürdige Absicht sei, daß ich keine andere Beschäftigung haben sollte, als durch Lissabon zu reiten und Kleingeld in den Opferstock Unserer Lieben Frau zu werfen.

»Schauen Sie, Theodorico, es kommt mir vor, als ob Tantchen nicht wünscht, Sie möchten einen anderen Beruf haben als den, Gott zu fürchten ... Ich kann Ihnen sagen, lieber Freund, Sie werden es gut und üppig haben ... Und jetzt gehen Sie, gehen Sie hinein, sich bedanken; und sagen Sie ihr etwas Hübsches.«

In dem Boudoir, an dessen Wänden die frommen Taten des Patriarchen Sankt Josef prangten, saß Tantchen in einer Ecke des gestreiften Sofas, ihren Tongkingschal um die Schultern, und strickte Strümpfe.

»Tantchen«, sagte ich demütig, »ich komme, mich zu bedanken ...«

»Es ist gut, geh mit Gott.«

Ich küßte ihr mit Inbrunst die Fransen ihres Schals. Tantchen gefiel das. Ich ging mit Gott.

So begann nun meine üppige, bequeme Existenz als Neffe der Senhora Dona Patrocinio das Neves. Punkt acht Uhr ging ich, schwarz gekleidet, mit Tantchen in die Kirche Sant' Anna, die Messe des Paters Pinheiro zu hören. Wenn das Frühstück beendet war und ich Tantchen um Erlaubnis gebeten und im Oratorium drei Gloria Patri gegen die Versuchungen gebetet hatte, stieg ich, blank gestiefelt, zu Pferde. Fast immer gab Tantchen mir irgendeinen heiligen Auftrag mit: bei Sankt Domingos vorbeizuschauen und das Gebet für die drei heiligen Märtyrer in Japan zu sagen; in die alte Empfängniskirche einzutreten und dem Heiligen Herzen Jesu zu beichten ...

Und ich fürchtete so sehr, ihr zu mißfallen, daß ich nie unterließ, diese frommen Grüße zu bestellen, die sie ins Haus des Herrn sandte.

Aber es war der unangenehme Augenblick des Tages. Manchmal, wenn ich verstohlen aus dem Kirchentor treten wollte, stieß ich mit irgendeinem republikanischen Kollegen zusammen, mit einem von denen, in deren Gesellschaft ich in Coimbra an Prozessionstagen Witze über den »Heiland vom grünen Rohr« gerissen hatte.

»Aber, Schwarzer Raposo! Jetzt auch du?«

Ärgerlich wehrte ich ab: »Aber, aber! Das fehlte mir noch! Ich bin nur aus scheinheiligen Gründen da ... Ich bin wegen eines Mädels eingetreten ... Adieu, mein Pferd wartet.«

Ich stieg aufs Pferd, schwarz behandschuht, die Schenkel fest an den Sattel gepreßt, eine Kamelienknospe an der Brust, und tänzelte müßig und luxuriös bis zum Largo do Loreto. Ein andermal ließ ich das Pferd am Triumphbogen und genoß einen angenehmen Vormittag am Billard im Café Montanha. Vor dem Mittagessen richtete ich, in Pantoffeln, im Oratorium mit Tantchen ein Stoßgebet an Sankt Josef, Jesu Pflegevater, Mariens Hüter, den liebevollen Patriarchen. Am Mittagstisch, den höchstens Schalen mit Eingemachtem rings um eine Platte süßer Nudeln zierten, erzählte ich Tantchen von meinem Spazierritt, von den Kirchen, in denen ich mich ergötzt hatte, und welche Altäre illuminiert gewesen waren. Vicencia hörte gottergeben zu, an ihrem gewöhnlichen Platz zwischen den beiden Fenstern stehend, wo ein Bildnis unseres Heiligen Vaters Pius IX. den Streifen grüner Tapete ausfüllte; darunter hing an einer Seidenschnur ein altes Fernrohr, eine Reliquie des Komturs G. Godinho.

Nach dem Kaffee kreuzte Tantchen langsam die Arme, und ihr schlafendes, schweres Gesicht verlor sich im Schatten des violetten Kopftuchs.

Ich ging mir die Schuhe anziehen; und nun hatte ich ihre Erlaubnis, mich bis halb zehn außerhalb des Hauses zu vergnügen. Ich rannte zum Ausgang der Rua da Magdalena, unterhalb des Largo dos Caldas, und hier trat ich vorsichtig, mit aufgeschlagenem Rockkragen, an die Mauer gedrückt, als wäre die Gaslaterne dort Tantchens unerbittliches Auge, voller Verlangen in Adelias engen Hausflur ...

Ja, Adelia! Denn niemals hatte ich seit dem Abend, da der Rettich mich nach Salitre mitgenommen, den Kuß vergessen, den sie mir, lüstern und heiß, auf dem Sofa gegeben hatte. In Coimbra hatte ich sogar angefangen, Verse auf sie zu dichten; und diese Liebe in meiner Brust war im letzten Universitätsjahr, im Jahr des Kirchenrechts, wie eine wundersame Lilie, die niemand sah und deren Duft mein Leben erfüllte ... Kaum hatte Tantchen mir das Taschengeld von drei Moedas ausgesetzt, lief ich im Triumph nach Salitre: da standen die kleinen Rosenstöcke am Fenster, aber keine Adelia war mehr dort. Und wieder war es der zuvorkommende Rettich, der mir jenen ersten Stock nahe am Largo dos Caldas wies, wo sie jetzt unter dem Schutz Eleuterio Serras von der Firma Serra, Brito & Co. lebte, Manufakturwaren und Moden, nahe der alten Empfängniskirche. Ich sandte ihr einen glühenden und ernsthaften Brief mit der ehrfurchtsvollen Überschrift: »Meine Gnädigste!« Sie antwortete mit Würde: »Der Herr könnte am Mittag zu mir kommen.« Ich brachte ihr eine Schachtel Schokoladepastillen, mit einem blauseidenen Bändchen verschnürt. Erregt trat ich auf den neuen Teppich des Salons; die gestärkte Weiße der Gardinen ließ mich die Frische ihrer Unterröcke ahnen; und die strenge Ordnung der Möbel enthüllte mir die Geradheit ihrer Gefühle. Sie trat ein, ein wenig füllig geworden, mit einem roten Schal über den Schultern. Jetzt erkannte sie den Freund des Rettichs, sprach mit Strenge von Ernestina, die sie »Mistvieh« nannte. Und ihre Heiserkeit, ihr Schnupfen ließen mich die Lust verspüren, sie in meinen Armen zu kurieren, einen gemütlichen, schläfrigen Tag lang, unter dicken Bettdecken, im sanften Halbdunkel ihres Schlafzimmers. Dann fragte sie, ob ich Beamter oder Geschäftsmann sei.

Ich erzählte ihr mit Stolz von Tantchens Reichtum, von ihren Gütern, ihrem Silberzeug. Während sie ihre dicken Hände in die meinen legte, sagte ich ihr: »Wenn Tantchen jetzt krepierte, würde ich Ihnen ein hübsches Haus einrichten, kleines Fräulein!«

Sie überflutete mich mit der schwarzen Milde ihres Blickes und flüsterte: »Ach, wenn der Herr in Moneten schwimmen würde, hätte er mich sehr schnell vergessen!«

Ich kniete zitternd auf dem Teppich nieder, preßte meine Brust gegen ihre Knie, bot mich ihr wie eine Sache an; sie schlug ihren Schal zurück und nahm mich erbarmend entgegen.

Am Abend (während Eleuterio im Klub der Rua Nova do Carmo seine Partie Manilha spielte) feierte ich dort im Schlafzimmer der Adelia das strahlende Fest meines Lebens. Ich hatte mir dorthin ein Paar Pantoffeln mitgebracht – ich war der Erwählte ihres Herzens. Um halb zehn begleitete sie mich, mit gelöstem Haar, in einem Flanellschlafrock bloßfüßig die Hintertreppe hinab und pflückte auf jeder Stufe einen langen, schmerzlichen Abschiedskuß von meinen Lippen.

»Adieu, kleine Deli!«

»Laß es dir gut gehen, kleiner Millionär!«

Und ich kehrte langsam zum Campo de Sant' Anna zurück, meinen Genuß wiederkäuend.

Langsam verstrich der Sommer. Die ersten Oktoberwinde entführten die Schwalben und das Laub vom Campo de Sant' Anna; und nun plötzlich, in diesem Oktober, wurde mein Leben leichter, freier. Tantchen ließ mir einen Frack machen; und ich zog ihn mit ihrer Erlaubnis an, um im Theater São Carlos den »Polyeuctes« zu hören – eine Oper, die Dr. Margaride empfohlen hatte als »von religiösen Gefühlen durchdrungen und von höherer Belehrung erfüllt«. Ich ging mit ihm, frisiert, weiß behandschuht. Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte ich Tantchen von der frommen Handlung, der Zerstörung der Götzenbilder, den Hymnen, den vornehmen Damen in den Logen und was für ein schönes Samtkleid die Königin getragen hatte.

»Und wissen Sie, wer mich angesprochen hat, Tantchen? Der Baron Alconchel, der Millionär, der Onkel dieses Burschen, der mein Mitschüler gewesen ist. Er hat mir die Hand entgegengestreckt, wir standen ein wenig im Foyer zusammen, er hat mich mit großer Hochachtung behandelt.«

Tantchen war über diese Hochachtung erfreut.

Dann beklagte ich mich betrübt, als ein verletzter Moralist, über das unanständige Dekolleté einer dicken Dame mit nackten Armen und entblößter Brust, die all dies üppige und unfromme Fleisch, das Entsetzen der Gerechten und den Anstoß der Kirche, förmlich zur Schau getragen hatte.

»Herr Jesus, wie peinlich! Glauben Sie mir. Tantchen, ich war entrüstet!«

Tantchen war erfreut über diese Entrüstung.

Und als ich mich einige Tage später nach dem Kaffee, noch in Hausschuhen, ins Oratorium begab, um ein kurzes Gebet an die Wunden unseres goldenen Christus zu richten, sagte mir Tantchen mit gekreuzten Armen schläfrig, aus dem Schatten des Kopftuches heraus: »Gut, wenn du willst, geh heute wieder ins São Carlos ... geh, sooft du Lust verspürst, geniere dich nicht, du hast meine Erlaubnis, du kannst ein bißchen Musik genießen ... Jetzt, da du ein Mann bist, und es scheint, daß du gute Vorsätze besitzest, macht es mir nichts aus, wenn du bis elf oder halb zwölf ausbleibst ... Aber jedenfalls wünsche ich, daß um diese Stunde mein Tor geschlossen und alles bereit ist, so daß wir mit dem Rosenkranz anfangen können.«

Sie sah nicht das triumphierende Aufblitzen meiner Augen. Ich hauchte schmachtend in devoter Verzückung: »Ja, den Rosenkranz, meinen geliebten Rosenkranz würde ich wegen der schönsten Unterhaltung nicht missen wollen ... Nicht, wenn mich der König zu einem gemütlichen Tee ins Schloß einlüde!«

Rasend vor Freude lief ich in mein Zimmer, meinen Frack anzulegen. Dies war der Anfang der heiß ersehnten Freiheit, die ich mir mühsam erobert hatte, indem ich vor Tantchen den Rücken beugte und vor Jesus meine Brust zerfleischte! Eine sehr vollkommene Freiheit, jetzt, da Eleuterio Serra nach Paris gereist war, um für sein Geschäft einzukaufen, und Adelia allein gelassen hatte, frei, schöner denn je, lustiger, übermütiger denn je!

Ja, so hatte ich nun durch mein ordentliches, gesetztes, serviles und bigottes Betragen Tantchens Vertrauen gewonnen! Aber was sie dazu gebracht hatte, mir die Stunden anständiger Erholung so großmütig auszudehnen, das war (sie sagte es im Vertrauen dem Pater Casimiro) die Gewißheit, daß ich »mich religiös aufführte und nicht Unterröcken nachlief«. Denn für Tante Patrocinio bestanden alle menschlichen Handlungen, soweit sie sich außerhalb der Kirchentüren abspielten, entweder darin, daß man »Unterröcken nachlief« oder »Hosen nachlief« – und diese beiden süßen natürlichen Triebe waren ihr gleichermaßen verhaßt.

Sie war Jungfer, alt und dürr wie ein Rebstock; sie hatte auf ihrer fahlen Haut höchstens einmal den väterlichen grauen Backenbart des Komturs G. Godinho gespürt; sie murmelte fortwährend vor dem nackten Christus jene von göttlicher Liebe triefenden Gebete aus den »Stunden der Andacht« – kurz, Tantchen hatte sich nach und nach in einen neidischen und bitteren Groll gegen alle Formen und alle Segnungen der menschlichen Liebe verbohrt.

Und es genügte ihr nicht, die Liebe als etwas Profanes zu tadeln: die Senhora Dona Patrocinio das Neves schnitt eine Grimasse und lehnte die Liebe als eine schmutzige Sache ab. Ein ernster junger Mann mit einer ernsten Liebe im Herzen war für sie »eine Schweinerei«! Wenn sie erfuhr, daß eine Dame ein Kind bekommen hatte, spuckte sie aus und krächzte: »Was für ein Ärgernis!« Und sie fand die Natur fast obszön, weil sie zwei Geschlechter geschaffen hatte.

Obwohl sie reich war und den Komfort schätzte, wollte sie niemals einen Kutscher im Hause haben, damit nicht in der Küche, in den Korridoren »Hosen und Unterröcke einander streifen« müßten. Und obgleich die Haare der Vicencia weiß geworden waren, obgleich die Köchin hinfällig war und schlotterte und das andere Dienstmädchen, die Eusebia, keine Zähne mehr hatte, durchwühlte sie immer noch hartnäckig ihre Koffer und suchte selbst in ihren Strohsäcken nach, ob sie nicht die Photographie eines Mannes entdeckte, den Brief eines Mannes, die Spur eines Mannes, den Geruch eines Mannes.

Alle Vergnügungen der Jugend – ein gesitteter Spazierritt mit Damen, auf kleinen Eselchen; eine betaute Rosenknospe, mit den Fingerspitzen dargereicht; ein sittiger Contretanz am frohen Ostertag; andere, noch unschuldigere Freuden – erschienen Tantchen pervers, schmutzig; sie nannte sie Ausschweifungen. Vor ihr wagten die gesetzten Freunde des Hauses jene aufregenden Geschichten nicht einmal zu erwähnen, von denen man in der Zeitung las und denen Motive der Liebe zugrunde lagen, denn das schockierte sie wie das Zurschaustellen von etwas Nacktem.

»Pater Pinheiro!« schrie sie eines Tages wütend mit flammenden Augen den unglücklichen Geistlichen an, als sie ihn von einem Mädchen erzählen hörte, das ihr Kind in die Kloake geworfen hatte. »Pater Pinheiro! Haben Sie die Güte, die Achtung gegen mich nicht zu verletzen ... Hier ist nicht der Ort für Latrinen und für andere Schweinereien!«

Aber sie selbst spielte fortwährend auf die Torheiten und die Sünden des Fleisches an – um sie mit Haß zu tadeln; und dabei warf sie das Wollknäuel vor sich auf den Tisch und spießte es rasend auf ihre Stricknadeln, als ob sie das weite, ewig unruhige Herz des Menschen durchbohren, es auf ewig kaltmachen wollte. Und fast jeden Tag wiederholte sie zähneknirschend, wenn jemand aus ihrem Blut, jemand, der ihr Brot esse, den Unterröcken nachlaufen oder sich Ausschweifungen hingeben sollte, würde er mit dem Besen auf die Gasse hinausgejagt werden wie ein Hund – was auf mich gemünzt war.

Deswegen traf ich jetzt sehr sorgfältige Vorsichtsmaßnahmen. Damit mir nicht an der Wäsche oder an der Haut Adelias köstlicher Duft haftenbliebe, trug ich in der Westentasche zerbröckelte Stückchen Räucherharz. Bevor ich die melancholische Stiege des Hauses emporsprang, schlich ich heimlich in den verlassenen Stall am Ende des Hofes, verbrannte auf dem Boden einer leeren Tonne ein Stück des frommen Harzes und setzte meine Rockschöße und meinen Männerbart dem reinigenden Rauch aus ... Dann ging ich hinauf und hatte die Genugtuung, daß Tantchen genießerisch schnüffelte: »Jesus, was für ein schöner Kirchengeruch!«

Bescheiden und mit einem Seufzer flüsterte ich: »Das bin ich, Tantchen!«

Um sie noch besser von meiner Gleichgültigkeit gegen Unterröcke zu überzeugen, legte ich einmal auf den Boden des Korridors einen versiegelten Brief, als hätte ich ihn verloren – fest überzeugt, daß die religiöse Dona Patrocinio, meine Herrin und Tante, ihn sofort begierig öffnen würde. Und sie öffnete ihn und genoß ihn. Er war von mir an einen Studienkollegen namens d'Arrayollos gerichtet und sagte in edlen Schriftzügen die folgenden erbaulichen Dinge: »Du mußt wissen, ich habe mich mit Simões, unserem Mitschüler aus der Philosophieklasse, verfeindet, weil er mich eingeladen hat, ein unanständiges Haus zu besuchen. Ich dulde eine solche Beleidigung nicht. Du erinnerst dich wohl, daß ich schon in Coimbra solche Ausschweifungen haßte. Und ich meine, es ist eine ungeheure Dummheit, wenn einer wegen einer solchen Vergnügung, die doch nur Strohfeuer ist, es riskiert, durch alle Ewigkeiten und Ewigkeiten, Amen, im Feuer Satans zu braten, Gott behüte uns. Einer solchen ausgemachten Eselei ist nicht fähig der Deinige von Herzen – Raposo.«

Tantchen las und war erfreut. Und sodann zog ich meinen Frack an, sagte, daß ich die »Norma« hören wollte, küßte ihr mit Salbung die knochigen Finger, lief zum Largo dos Caldas, stürzte in Adelias Schlafzimmer und versenkte mich Hals über Kopf in die Wonnen der Sünde. Dort, im matten Licht, das von der Petroleumlampe des Salons durch die Glastür drang, nahmen die batistenen Bettvorhänge und die aufgehängten Unterröcke die himmlische Weiße von Wolken an; der Geruch des Reispuders übertraf an Süße den Duft der mystischen Himmelsblumen; ich war im Himmel, ich war Sankt Theodoricus, und über die nackten Arme meiner Geliebten entrollten sich die Strähnen ihres schwarzen Haares, stark und hart wie der Schweif eines Streitrosses.

An einem dieser Abende verließ ich eine Konditorei, wo ich Bonbons gekauft hatte, um sie meiner Adelia zu bringen – da begegnete ich Dr. Margaride. Nach einer väterlichen Umarmung teilte er mir mit, daß er ins São Carlos ginge, den »Propheten« zu sehen. »Und Sie, wie ich sehe, im Frack, natürlich gehen Sie auch hin.«

Ich war niedergeschmettert. In der Tat hatte ich den Frack angezogen und Tantchen gesagt, ich wolle den »Propheten« genießen, eine Oper von solcher Vortrefflichkeit wie eine heilige Instrumentalmesse in der Kirche ... Und nun mußte ich wirklich den »Propheten« über mich ergehen lassen, auf einem Parkettsitz gegen die Knie des gelehrten Richters gepreßt, statt auf einem Liebeslager zu schwelgen, statt meine Göttin im Hemd ihre Bonbons essen zu sehen!

»Ja, tatsächlich, auch ich gehe in den ›Propheten‹«, stammelte ich vernichtet. »Es soll eine ganz vortreffliche Musik sein ... Tantchen war sehr erfreut, daß ich hingehe.« Mit meinem nutzlosen Päckchen Bonbons schritt ich an Dr. Margarides Seite die Rua Nova do Carmo hinauf.

Wir setzten uns auf unsere Sitze. Und in dem schimmernden, in Weiß und Gold gehaltenen Saal dachte ich sehnsüchtig an Adelias dunkles Schlafzimmer, an die Unordnung ihrer Unterröcke – da bemerkte ich, daß aus einer Proszeniumsloge nebenan eine blonde, reife Dame, eine herbstliche Ceres, in strohfarbene Seide gekleidet, bei jedem süßen Aufschluchzen der Geigen ihre klaren und ernsten Augen mir zuwandte.

Ich fragte Dr. Margaride, ob er diese Dame kenne, die ich an den Feiertagen in der Gnadenkirche zu sehen pflege, wie sie den Heiland von der Passion mit einer Hingabe anbete, mit einer Glut ...

»Der Herr, der in der Loge hinter ihr sitzt und jetzt eben den Mund öffnet, ist der Vicomte de Souto Santos. Und sie ist entweder seine Frau, die Vicomtesse de Souto Santos, oder sie ist seine Schwägerin, die Vicomtesse de Villar-o-Velho ...«

Im Hinausgehen blieb die Vicomtesse (de Souto Santos oder de Villar-o-Velho) einen Augenblick am Ausgang stehen, wartete, in einen köstlich mit weißen Federn verbrämten Mantel gehüllt, auf ihren Wagen; ihr Kopf erschien mir hochmütig, unfähig, sich ganz bleich auf einem Liebeslager zu wälzen; die strohfarbene Schleppe schleifte auf dem Pflaster; sie war großartig, ganz Vicomtesse.

Und nochmals suchten mich, durchbohrten mich ihre klaren, ernsten Augen.

Die Nacht war sternenhell. Und an Dr. Margarides Seite den Chiado hinuntergehend, dachte ich, daß ich, wenn einst all das Gold Tantchens meine Wenigkeit vergolden würde, eine Vicomtesse de Souto Santos oder de Villar-o-Velho kennen würde, nicht in ihrer Loge, sondern in meinem Schlafzimmer, es würde dann der große weiße Mantel gefallen sein, die strohfarbene Seide abgelegt; weiß, in schimmernder Nacktheit, würde sie sich klein machen in meinen Armen ... Ach, wann würde, süß vor allen andern, die Stunde von Tantchens Tod kommen?

»Wollen Sie Ihren Tee im Martinho nehmen?« fragte mich Dr. Margaride an der Ecke des Rocio. »Ich weiß nicht, ob Sie die Sandwiches im Martinho kennen ... die besten Sandwiches von Lissabon!«

Im Martinho war es schon still; das Gaslicht schlief zwischen den niederen Spiegeln; und nur an einem Tisch im Hintergrunde saß ein betrübter Jüngling, seinen Kopf zwischen die Fäuste gestützt, vor einer Limonade.

Dr. Margaride bestellte Tee, und da er mich unruhig sah, versicherte er, ich würde rechtzeitig nach Hause kommen, um eine rührende Andacht mit Tantchen zu verrichten.

Ich sagte: »Tantchen nimmt keinen Anstoß mehr daran, wenn ich länger ausbleibe ... Sie hat jetzt, Gott sei gedankt, mehr Vertrauen zu mir.«

»Und Sie verdienen es auch ... Sie tun ihr den Willen und sind gesetzt ... Nach und nach haben Sie ihre Freundschaft gewonnen, wie mir Casimiro sagt ...«

Da erinnerte ich mich der alten Liebe, die Dr. Margaride mit Pater Casimiro, Tante Patrocinios Bevollmächtigten und ihrem eifrigen Beichtvater, verband. So ergriff ich die Gelegenheit, seufzte leicht auf und erschloß dem Richter mein Herz wie einem Vater.

»Ja, Tantchen ist meine Freundin ... Aber glauben Sie mir, verehrter Dr. Margaride, daß meine Zukunft mich manchmal beunruhigt ... Sehen Sie, ich habe daran gedacht, mich für die Richteramtsprüfung vorzubereiten. Ich habe mich sogar erkundigt, ob es schwer wäre, Zollbeamter zu werden. Denn kurz und gut, Tantchen ist reich, ich bin ihr Neffe, ihr einziger Verwandter, ihr einziger Erbe, aber ...«

Und angstvoll sah ich Dr. Margaride an, der durch den geschwätzigen Pater Casimiro vielleicht Tantchens Testament kannte ... Das ernste Schweigen, in dem er verharrte mit auf dem Tisch gekreuzten Händen, schien mir unheilverheißend; und in diesem Augenblick brachte der Kellner das Teegeschirr und beglückwünschte den Richter lächelnd, weil sein Katarrh sichtlich besser geworden sei.

»Köstliche Sandwiches!« flüsterte der Doktor.

»Ausgezeichnete Sandwiches!« hauchte ich höflich.

Von Zeit zu Zeit stocherte Dr. Margaride in seinen Zähnen; dann wischte er sich Gesicht und Finger ab und begann von neuem langsam zu kauen, mit Anstand und religiöser Hingebung.

Ich wagte nochmals ein schüchternes Wort.

»Wirklich, Tantchen ist meine Freundin ...«

»Tantchen ist Ihre Freundin«, unterbrach mich mit vollem Mund der Richter, »und Sie sind ihr einziger Verwandter ... Aber die Frage ist eine andere, Theodorico – Sie haben einen Rivalen!«

»Ich erschlage den Kerl!« brüllte ich mit flammenden Augen und hieb auf die Marmorplatte.

Der betrübte Jüngling im Hintergrund hob den Kopf. Und Dr. Margaride mißbilligte mit Ernst meine Heftigkeit.

»Dieser Ausdruck ist unziemlich für einen Gentleman und wohlerzogenen jungen Mann. Im allgemeinen pflegt man niemanden zu erschlagen ... Und außerdem, Theodorico, ist Ihr Rivale kein anderer als unser Heiland Jesus Christus!«

Unser Heiland Jesus Christus? Und ich verstand erst, als der vortreffliche Jurist, nun wieder ruhiger, mir auseinandersetzte, daß Tantchen noch in meinem letzten Studienjahre die Absicht gezeigt hatte, ihr Vermögen, ihren Grundbesitz und ihre Häuser ihr sympathischen Bruderschaften und von ihr verehrten Patres zu hinterlassen.

»Ich bin verloren!« murmelte ich.

Meine Augen erblickten zufällig dort im Hintergrund den betrübten Jüngling vor seiner Limonade. Und es schien mir, als werde er mir ähnlich wie ein Bruder, als sei ich selbst, Theodorico, hierhergekommen, enterbt, schäbig, mit schiefgetretenen Schuhen, um nachts vor einer Limonade über das Leid meines Lebens nachzudenken.

Dr. Margaride war jetzt mit den Sandwiches fertig. Und behaglich die Beine ausstreckend, den Zahnstocher im Munde, freundlich und einsichtig, tröstete er mich: »Noch ist nicht alles verloren, Theodorico. Mir scheint nicht, daß alles verloren ist. Es ist möglich, daß Ihre Frau Tante ihre Absicht geändert hat ... Sie haben sich gut benommen, Sie regen sie an, lesen ihr die Zeitungen vor, beten den Rosenkranz mit ihr ... Alles das hat seine Wirkung. Natürlich, es tut auch not, der Rivale ist stark!«

Ich ächzte: »Kolossal stark!«

»Er ist stark. Und ich muß gestehen, jeder Achtung wert. Jesus Christus hat für uns gelitten, er ist die Staatsreligion, da kann man nur das Haupt neigen ... Sehen Sie, wollen Sie meine Meinung hören? Ehrlich und ohne Rückhalt, damit sie Ihnen zur Richtschnur dienen kann? ... Sie werden alles erben, wenn Dona Patrocinio, Ihre Tante und meine verehrteste Freundin, zur Überzeugung gelangt, daß Ihnen das Vermögen zu hinterlassen soviel bedeutet, wie es der heiligen Mutter Kirche zu hinterlassen.«

Der Jurist bezahlte großmütig den Tee. Dann sagte er mir auf der Straße, schon in seinen Paletot gehüllt, nochmals mit leiser Stimme: »Also, ehrlich, wie sind die Sandwiches?«

»Es gibt keine besseren Sandwiches in Lissabon, Dr. Margaride.«

Er drückte mir kräftig die Hand – und wir trennten uns, als die alte Turmuhr der Karmeliterkirche Mitternacht schlug. Während ich in der Rua Nova da Palma den Schritt beschleunigte, empfand ich sehr deutlich, sehr schmerzlich den Irrtum meines Lebens ... Ja, den Irrtum. Bisher hatte ich meine komplizierte Frömmigkeit, mit der ich Tantchen und ihrem Golde zu gefallen suchte, immer sehr regelmäßig ausgeübt, aber niemals leidenschaftlich. Was bedeutete es mit Korrektheit vor Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz zu beten, vor Unserer Lieben Frau in allen ihren Inkarnationen? Von jetzt an mußte ich, um Tantchen zu rühren, sehr auffällig und geschickt eine in den Flammen heiliger Liebe glühende Seele beweisen und einen kasteiten, bußfertigen, vom rauhen Büßerhemd wunden Leib ... Bis jetzt konnte Tantchen billigend sagen: »Er ist mustergültig!« Um zu erben, mußte ich es dahin bringen, daß sie eines Tages verblüfft mit erhobenen Händen ausrief: »Er ist ein Heiliger!«

Jawohl! Ich mußte mich so sehr mit den kirchlichen Dingen identifizieren und in ihnen aufgehen, daß Tantchen nach und nach mich nicht mehr zu unterscheiden vermochte von jenem abgeschmackten Wust von Kreuzen, Heiligenbildern, Kutten, Kerzen, Gebetbüchern, Skapulieren, Palmwedeln, Baldachinen, der für sie die Religion und den Himmel darstellte; meine Stimme müßte sie für das heilige Lispeln des Meßlateins nehmen, und mein schwarzer Überrock müßte ihr mit Sternen besät erscheinen und durchsichtig wie der Mantel der Seligen. Dann würde sie offenbar zu meinen Gunsten testieren – in der Gewißheit, daß sie zugunsten Christi testierte und ihrer teuren Mutter Kirche!

Denn ich war wirklich fest entschlossen, nicht Jesus, dem Sohn der Maria, das schätzenswerte Vermögen des Komturs G. Godinho zufallen zu lassen. Auf keinen Fall! Genügten dem Herrn nicht seine unzählbaren Schätze? Die dunklen Marmorkathedralen, die die Erde bedecken und sie verdüstern? Die Renten, die Wertpapiere, welche die menschliche Frömmigkeit immerfort auf seinen Namen ausstellt? Die Goldbarren, die ehrfürchtige Staaten fortwährend zu seinen durchbohrten Füßen aufhäufen, die Kleinodien, die in Kelche, die diamantenen Hemdknöpfe, die er in seiner Gnadenkirche trägt? Und dennoch richtete er von seinem Marterholz seine gierigen Augen noch auf eine silberne Teekanne und ein paar belanglose Grundstücke in der Unterstadt! Nun gut; wir werden miteinander um diese kleinliche, vergängliche Habe kämpfen – du, der Zimmermannssohn, indem du Tantchen die Wunden zeigst, die du für sie eines Nachmittags in einer Barbarenstadt Asiens empfingst, und ich, indem ich diese Wunden mit einem solchen Lärm und Gepränge anbete, daß Tantchen nicht mehr wissen kann, wo das wahre Verdienst steckt: ob bei dir, der du starbst, weil du uns zu sehr liebtest, oder bei mir, der ich sterben möchte, weil ich dich nicht genug zu lieben verstehe! ... So dachte ich im Schweigen der Rua São Lazaro und warf einen scheelen Blick zum Himmel empor.

Als ich heimkam, hörte ich, daß Tantchen ganz allein im Oratorium betete. Ich schlich mich verstohlen in mein Zimmer, zog die Schuhe und den Frack aus, zerzauste mein Haar, rutschte auf den Knien über den Boden und kroch auf diese Art über den Korridor, ächzend, jammernd, mir an die Brust schlagend, verzweifelt nach Jesus rufend, meinem Heiland ...

Als Tantchen im Schweigen des Hauses diese unheimlichen Klagen wildgewordener Bußfertigkeit vernahm, kam sie entsetzt an die Tür des Oratoriums.

»Was ist los, Theodorico, mein Sohn, was hast du?«

Ich warf mich schluchzend lang hin, überwältigt von frommer Leidenschaft.

»Entschuldigen Sie, Tantchen ... Ich war mit Dr. Margaride im Theater, wir nahmen den Tee zusammen, sprachen von Ihnen, Tantchen ... Und auf dem Heimweg, dort in der Rua Nova da Palma, mußte ich auf einmal daran denken, daß ich eines Tages sterben werde, und an das Heil meiner Seele und an alles, was unser Heiland für uns gelitten hat, und ich hatte große Lust zu weinen ... Ach, Tantchen, tun Sie mir den Gefallen, lassen Sie mich einen kleinen Augenblick hier allein im Oratorium, damit ich mein Herz erleichtere ...«

Sehr bewegt zündete sie ehrfürchtig eine nach der anderen die Kerzen des Altars an. Sie schob ein Bild Sankt Josefs, des Lieblings ihrer Seele, mehr in den Vordergrund, damit er als erster den heißen Strahl der Gebete empfinge, der stürmisch aus meinem vollen und kummerbeladenen Herzen hervorbrechen würde. Sie ließ mich hineinrutschen. Dann verschwand sie schweigend und schob behutsam den Türvorhang zu. Und ich blieb auf Tantchens Betstuhl sitzen, rieb mir die Knie, seufzte laut – und dachte an die Vicomtesse de Souto Santos oder de Villar-o-Velho und an die gierigen Küsse, die ich auf ihre reifen, fleischigen Schultern drücken würde, wenn ich sie nur einen Augenblick haben könnte, und wäre es selbst hier, im Oratorium, zu den goldenen Füßen Jesu, meines Heilands.

 

Von nun an steigerte ich meine Frömmigkeit und machte sie vollkommen. Da mir der freitägige Stockfisch keine genügende Kasteiung schien, trank ich an diesem Tag vor Tantchens Augen nur asketisch ein Glas Wasser und zerbröckelte eine Brotrinde; den Stockfisch aß ich abends, mit Zwiebeln und einem englischen Beefsteak, im Hause meiner Adelia. In meinem Kleiderschrank gab es in diesem harten Winter höchstens einen alten Paletot, so sehr wollte ich mich den sündigen Bequemlichkeiten des Fleisches abgewandt zeigen; und es war mein Stolz, daß dort unter all dem profanen Cheviot, ihn heiligend, meine rote Kutte eines Bruders der Bruderschaft des Herrn von den Schritten hing und das fromme graue Gewand des Dritten Ordens Sancti Francisci. Über der Kommode brannte ein Ewiges Lämpchen vor der kolorierten Lithographie Unserer Lieben Frau; ich steckte jeden Tag Rosen in ein Glas, um rings um sie die Luft mit Duft zu füllen; und wenn Tantchen kam, um in meiner Schublade zu stöbern, blieb sie, die Eitle, vor dem Bild ihrer Patronin lange stehen und wußte nicht, ob es die Jungfrau war oder indirekt sie selbst, der ich diese Huldigung des Lichts und diese Lobpreisung der Düfte widerfahren ließ. An die Wände hängte ich die Bilder der hervorragendsten Heiligen, als eine Galerie geistiger Vorbilder, die mir ständig das Beispiel der schwersten Tugenden gaben; und es gab im Himmel nicht den obskursten Heiligen, dem ich nicht einen Strauß blühender Vaterunser geweiht hätte. Ich war es, der Tantchen mit Sankt Telesphorus bekannt machte, mit Sancta Secundina, dem seligten Antonius Estronconius, Sancta Restituta, Sancta Umbulina, der Schwester des großen Sankt Bernhard, und der holdseligen Patrizierin Sancta Basilissa, die man zugleich mit Sankt Hypatius an jenem Feiertag im August verehrt, an dem die Pilger sich nach Atalaya einschiffen.

Wunderbar regsam war meine Frömmigkeit! Ich ging zu Morgengottesdiensten, ging zu Vespern. Niemals fehlte ich in der Kirche oder Kapelle, wo das Heilige Herz Jesu angebetet wurde. Bei allen Ausstellungen des Allerheiligsten war ich dabei. Bei allen Sühnungen durchs Sakrament war ich anwesend. Meine Gebetsübungen waren zahlreich wie die Sterne am Himmel, und das Septenarium zu Ehren der Schmerzen Maria war eine meiner Hauptsorgen.

An manchen Tagen lief ich, ohne auszuruhen, atemlos durch die Straßen, ging zur Siebenuhrmesse nach Sant' Anna, zur Neunuhrmesse in die Josefskirche, zur Mittagsmesse in die Oliveirinhakapelle. Ich ruhte einen Augenblick an einer Straßenecke aus, das Gebetbuch unter dem Arm, hastig an einer Zigarette ziehend; dann ging ich wieder zur Ausstellung des Allerheiligsten in der Pfarrkirche Sancta Engracia, zur Rosenkranzfeier im Kloster Sancta Johanna, zur Segnung des Sakraments in der Kapelle der Madonna von den Dornen, zur Andacht zu den Wunden Christi in der Heilandskirche, mit Musik. Dann nahm ich einen Wagen und besuchte noch ganz nebenbei kurz die Kirche des Büßerklosters, die Kirche der Salesianerinnen, die Kapelle von Monserrate und die Gloriakirche in Cardal da Graca, das flämische Kloster, die Empfängniskirche, die Karmeliterkirche, die Kathedrale!

Abends, im Hause Adelias, saß ich so erschöpft, stumpf und mitgenommen in meiner Sofaecke, daß sie, mit wütenden Klapsen auf meine Schultern, gereizt schrie: »Wach auf, Schlafmütze!«

Ich Ärmster! Und es kam der Tag, an dem Adelia, als ich, vom Dienste des Herrn ermattet, ihr kaum das Mieder aufzuschnüren vermochte, während meine unersättlichen Lippen immer fester an ihrem Halse hafteten, mich auf einmal abschüttelte und mich statt »Schlafmütze« eine Klette nannte ... Dies geschah am fröhlichen Vorabend des Sankt-Antonius-Festes, als sich die ersten Blüten hervorwagten, im fünften Monat meiner perfektionierten Frömmigkeit.

Adelia begann nachdenklich und zerstreut zu werden. Manchmal, wenn ich mit ihr sprach, hatte sie eine Art, mit unsicherem und flüchtigem Blick »He?« zu sagen, daß es eine Qual für mein Herz war. Dann hörte sie eines Tages auf, mir die schönste Liebkosung zu gewähren, jene, die ich am meisten schätzte – den aufregenden und genußreichen kleinen Kuß aufs Ohr.

Gewiß, sie blieb zärtlich genug ... Noch immer zupfte sie mütterlich die Falten meines Paletots zurecht; noch nannte sie mich ihren kleinen Millionär, noch begleitete sie mich im Hemd auf die Treppe und stieß, wenn unsere Umarmung sich löste, jenen langen Seufzer aus, der mir der kostbare Beweis ihrer Leidenschaft war – aber schon begünstigte sie mich nicht mehr mit dem Küßchen aufs Ohr.

Wenn ich erhitzt eintrat, zog sie sich gerade aus oder kämmte sich, träge, schlaftrunken und mit Ringen um die Augen. Sie streckte mir unliebenswürdig das Händchen hin, gähnte, klimperte lässig auf ihrer Laute; und während ich in einer Ecke, stumm Zigaretten rauchend, wartete, daß sich die Glastür des Schlafzimmers öffnete, die zum Himmel führte, lag die grausame Adelia, der die Pantoffeln von den Füßen geglitten waren, lang ausgestreckt auf dem Sofa, zupfte die Saiten und summte, unter langen Achs!, seltsam melancholische Lieder.

In einem Anfall von Zärtlichkeit kniete ich neben ihrer Brust nieder. Und da kam das harte, das eisige Wort: »Sei still, Klette!«

Und immer verweigerte sie mir ihre Liebe. Sie sagte: »Ich kann jetzt nicht, ich habe Sodbrennen«, oder: »Adieu, ich habe Seitenstechen!«

Ich klopfte meine Knie ab und ging zum Campo de Sant' Anna zurück – beraubt, elend, im Dunkel meiner Seele den Zeiten nachweinend, da sie mich »Schlafmütze« genannt hatte!

In einer Julinacht, die weich war wie schwarzer Samt und mit Sternen übersät, kam ich früher als sonst zu ihrem Haus. Ich fand das Tor offen. Die Petroleumlampe stand auf dem Treppenabsatz, erfüllte die Stiege mit Licht – und ich erblickte Adelia, wie sie im weißen Unterrock mit einem jungen Mann mit blondem Backenbärtchen sprach, der armselig in einen spanischen Mantelkragen gehüllt war. Sie wurde blaß, er wich zurück, als ich erschien, groß und bärtig, mit meinem Rohrstock in der Hand. Dann lächelte Adelia ohne jede Verwirrung, aufrichtig und unschuldig, und stellte mir »ihren Neffen Adelino« vor. Er sei der Sohn ihrer Schwester Ricardina, die in Vizeu lebte, und der Bruder des kleinen Theodorico ...

Ich zog den Hut, faßte mit breiter und biederer Hand die widerstrebenden Finger des Senhor Adelino.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Senhor. Ihre Mama, Ihr Bruder, alles wohl?«

In dieser Nacht war Adelia strahlender denn je, nannte mich wieder »Schlafmütze«, gewährte mir wieder das Küßchen aufs Ohr. Und diese ganze Woche war köstlich wie eine Flitterwoche. Der Sommer brannte; und in der alten Empfängniskirche hatte die neuntägige Andachtsübung für Sankt Joachim begonnen. Ich verließ das Haus am Campo de Sant' Anna zu der ruhevollen Stunde, da man die Straßen sprengt, zufriedener als die Spatzen, die auf den Bäumen des Campo de Sant' Anna zwitscherten. In dem hellen kleinen Salon mit den Leinenüberzügen auf allen Möbeln fand ich meine Adelia im Schlafrock, erfrischt vom Waschen, nach Kölnischwasser duftend und nach den hübschen roten Nelken in ihrem Haar; und nach den heißen Vormittagen gab es nichts Idyllischeres, nichts Süßeres, als wenn wir dann in der Küche Erdbeeren naschten, am offenen Fenster, von dem aus wir kleine grüne Gartenstückchen sehen konnten und nasse Unterhosen, die zum Trocknen auf die Leine gehängt waren.

Eines Abends, als wir uns in dieser Weise vergnügten, forderte sie von mir acht Libras.

Acht Libras! Während ich in der Nacht durch die Rua da Magdalena heimging, erwog ich hin und her, wer sie mir wohl ohne Zinsen und bereitwillig borgen könnte. Der gute Casimiro war in Torres, der gefällige Rettich war in Paris ... Ich dachte erst an den Pater Pinheiro (dessen Nierenschmerzen ich immer sehr liebevoll beklagt hatte); da sah ich einen Vermummten höchst heimlich aus einem jener unsauberen Gäßchen heraushuschen, wo die käufliche Venus in Pantoffeln schlurft – den José Justino, unseren José Justino, den frommen Sekretär der Bruderschaft von Sankt Josef, Tantchens tugendhaften Notar!

Ich rief: »Guten Abend, lieber Justino!« und ging seelenruhig heim zum Campo de Sant' Anna, genoß schon im vorhinein den doppelt liebevollen Kuß, den mir die kleine Deli geben würde, wenn ich ihr lachend auf der flachen Hand die acht Goldstücke hinhielt. Früh am nächsten Tag lief ich in Justinos Büro zu São Paulo und erzählte ihm die höchst jammervolle Geschichte von meinem kranken Mitschüler, der schwindsüchtig, elend in einem schmutzigen Logierhaus am Largo dos Caldas auf einem Strohsack röchle.

»Ein wahres Unglück, Justino! Er hat kaum Geld für ein Süppchen ... Ich helfe ihm natürlich; aber, Teufel, ich habe keinen Heller ... Ich leiste ihm Gesellschaft, soviel ich kann; ich lese ihm Predigten vor, die Übungen des christlichen Lebens. Heute nacht kam ich von dort ... Und glauben Sie mir, daß ich nicht sehr gern so spät durch diese Gassen gehe ... Jesus, was für Gassen, welche Schamlosigkeit, welche Unsittlichkeit! Ich habe gestern wohl gesehen, daß Sie entsetzt waren; ich ebenso ... Und so habe ich heute früh in Tantchens Oratorium für meinen Mitschüler gebetet, habe unseren Heiland angefleht, ihm zu helfen und ihm einiges Geld zu verschaffen, und da glaubte ich vom Kreuz herab eine Stimme zu hören: ›Verständige dich mit Justino, sprich mit unserem lieben Justino, er soll dir acht Libras für den Burschen geben ...‹ Ich war unserem Heiland so dankbar! So komme ich, Justino, in seinem Auftrag zu Ihnen.«

Justino, weiß wie seine Vatermörder, hörte mich an, wobei er betrübt mit den Fingern schnippte; dann reichte er mir schweigend die acht Goldstücke über den Schreibtisch, eins nach dem anderen. So konnte ich meiner Adelia gefällig sein.

Aber trügerisch war meine Herrlichkeit!

Einige Tage später saß ich behaglich im Café Montanha und aß Gefrorenes – da kam der Kellner und teilte mir mit, daß ein blondes Mädchen mit einem Kopftuch, die Dona Marianna, mich an der Ecke erwartete ... Heiliger Gott! Marianna war Adelias Dienstmädchen. Bebend lief ich hin, überzeugt, daß meine Vielgeliebte an ihrem abscheulichen Seitenstechen litt. Ich dachte sogar daran, das Rosenkranzgebet der Achtzehn Erscheinungen Unserer Lieben Frau von Lourdes zu beginnen, das Tantchen in Fällen von Seitenstechen und bei wildgewordenen Stieren für sehr wirksam hielt.

»Etwas Neues, Marianna?«

Sie zog mich in einen übelriechenden Hof; und mit roten Augen, wütend an ihrem Schal zupfend, noch heiser von dem Zank, den sie mit Adelia gehabt hatte, fing sie stürmisch an, mir gemeine, scheußliche, schmutzige Dinge zu erzählen. Adelia betrog mich!

Der Senhor Adelino war nicht ihr Neffe; er war der Liebhaber, der Zuhälter. Kaum ging ich, so trat er ein; Adelia warf sich an seinen Hals, raste vor Wonne, und dabei nannten sie mich die Klette, den Betbruder, den Bock; sie gaben mir die schwärzesten Schimpfworte, spuckten auf mein Bild. Die acht Libras waren für den Sommeranzug des Adelino bestimmt gewesen; und es war noch Geld übriggeblieben, um in einem offenen Wagen zur Kirchweih nach Belem zu fahren, und für eine Gitarre ... Adelia betete ihn bis zur Lächerlichkeit, bis zum Wahnsinn an; sie schnitt ihm die Hühneraugen; und die Seufzer ihrer Ungeduld, wenn er sich verspätete, glichen dem Brunstschrei der Hirschkühe in den heißen Wäldern im Mai! ... Ob ich noch zweifelte? Ob ich einen Beweis wollte? Dann sollte ich diese Nacht spät, nach ein Uhr, an Adelias Tür klopfen!

Totenbleich lehnte ich an der Mauer, wußte kaum, ob der Gestank, der mich erstickte, aus dem dunklen Winkel des Hofes kam oder von den Schmutzereien, die aus dem Mund der Marianna sprudelten wie aus einem geborstenen Kloakenrohr. Ich wischte mir den Schweiß ab, murmelte, einer Ohnmacht nahe: »Es ist gut, Marianna, sehr verbunden, ich werde kommen, geh mit Gott!«

Ich kam so erschöpft und bleich nach Hause, daß Tantchen mich lachend fragte, ob ich mir »unter dem Pferd weh getan« hätte.

»Unter dem Pferd. – – Nein, Tantchen, gewiß nicht! Ich war in der Gnadenkirche ...«

»Ich frage, weil du so blaß daherkommst, mit schlotternden Knien ... Also, war der Heiland heute lieb?«

»Ach, Tantchen, er war herrlich! ... Aber ich weiß nicht warum, er schien mir so betrübt, so betrübt ... ›Lieber Eugenio, der Heiland hat sich heute geärgert!‹ habe ich dem Pater Eugenio noch gesagt. Und er hat gesagt: ›Was wollen Sie, mein Freund? Das ist, weil er in dieser Welt soviel Schurkerei sieht!‹ Und schau, Tantchen, er sieht sie. Er sieht viel Undank, viel Verrat!«

Ich brüllte vor Wut; ich hatte die Faust geballt, wie um sie strafend und schrecklich auf die ungeheure menschliche Perfidie niedersausen zu lassen. Aber ich hielt an mich, knöpfte langsam meine Jacke auf, drängte ein Schluchzen zurück.

»Es ist wirklich wahr, Tantchen ... Diese Traurigkeit des Heilands hat mich so bewegt, daß ich noch ein bißchen blaß bin ... Und außerdem habe ich noch einen Kummer: einer meiner Mitschüler ist sehr krank, er liegt im Sterben ...«

Und wieder (Reminiszenzen an Xavier und die Rua da Fé verwertend) streckte ich wie bei Justino den Leichnam eines Mitschülers auf einem fauligen Strohsack aus. Ich sprach von dem Waschbecken voller Blut, von den fehlenden Suppen ... »Was für ein Elend, Tantchen, was für ein Elend! Und dabei ein junger Mann, der das Heilige so achtet, der so wohlgesinnte Artikel für die ›Nação‹ geschrieben hat!«

»Ein Unglück«, seufzte Tantchen und klapperte mit den Stricknadeln.

»Wirklich, Tantchen, ein Unglück. Und nun, da er keine Familie hat und die Leute in seinem Haus sich nicht um ihn kümmern, gehen wir Kameraden abwechselnd hin und dienen ihm als Krankenpfleger. Heute ist die Reihe an mir. Und ich wäre so froh, wenn Tantchen mir die Erlaubnis geben würde, bis gegen zwei Uhr auszubleiben ... Dann kommt ein anderer junger Mann, ein sehr gebildeter Mensch, er ist Abgeordneter.«

Tante Patrocinio gestattete – und erbot sich sogar, den Patriarchen Sankt Josef zu bitten, er möge meinem Mitschüler einen glücklichen Tod im Schlafe schenken ...

»Das ist eine große Gunst, Tantchen! Er heißt Maciera ... Der schielende Maciera. Damit Sankt Josef weiß, wer er ist!«

Die ganze Nacht strich ich durch die Stadt, schläfrig im milden Licht des Julivollmondes. Und durch jede Straße begleiteten mich stets zwei flüchtige, durchsichtige Gestalten, die eine im Hemd, die andere im spanischen Mantelkragen, die einander umschlungen hielten, sich inbrünstig küßten und die schmatzenden Lippen nur voneinander lösten, um mich »Betbruder« zu nennen.

Ich kam auf den Rocio, als die Uhr der Karmeliterkirche eins schlug. Unter den Bäumen blieb ich unschlüssig stehen und rauchte noch eine Zigarette. Dann wandte ich langsam und voll Angst die Schritte zum Hause Adelias. In ihrem Fenster sah ich ein fahles Licht. Ich faßte den großen Türklopfer – aber ich zögerte aus Furcht vor der endgültigen und unumstößlichen Gewißheit, die zu suchen ich kam ... Mein Gott! Vielleicht hatte die Marianna aus Rachsucht meine Adelia verleumdet! Noch am letzten Abend hatte sie mich mit solcher Wärme »kleiner Millionär« genannt! Wäre es nicht besonnener und vorteilhafter, ihr zu glauben, ihr eine flüchtige Aufwallung für den Senhor Adelino zu gönnen und egoistisch mein Küßchen aufs Ohr einzuheimsen?

Aber da kam mir der quälende Gedanke, daß sie auch den Senhor Adelino aufs Ohr küßte und daß der Senhor Adelino dabei auch »ach! ach!« sagte wie ich – und mich befiel der tierische Wunsch zu töten, verächtlich mit Faustschlägen zu töten, dort auf den Stufen, wo wir so oft süßen Abschied voneinander genommen hatten. Und ich schlug mit rabiater Faust an die Tür, als wäre ich schon über ihrer zarten, undankbaren Brust.

Ich hörte den Riegel des Fensters jäh kreischen. Sie stand im Hemd da, ihr schönes Haar war zerrauft.

»Wer ist der unmanierliche Mensch?«

»Ich bin es, öffne!«

Sie erkannte mich – das Licht drinnen ging aus, und es war, als hätte dieses Erlöschen des Kerzendochtes auch meine Seele, die nun für immer kalt und leer war, in der Finsternis gelassen. Ich fühlte mich auf eine eisige Art allein, verwitwet, ohne Beschäftigung und Heim. Von der Straße aus blickte ich zu den schwarzen Fenstern empor und murmelte: »Welch eine Katastrophe!«

Nochmals schimmerte Adelias Hemd auf der Veranda.

»Ich kann nicht öffnen, ich habe spät gegessen und bin sehr müde!«

»Öffne!« schrie ich und hob verzweifelt die Arme. »Öffne, oder ich komme nie wieder her!«

»Also geh zum Teufel, und einen Gruß an Tantchen!«

»Gehab dich wohl, du Hure!«

Nachdem ich ihr diese schwere Beschimpfung wie einen Stein zugeschleudert hatte, ging ich sehr aufrecht, sehr würdevoll die Gasse hinunter. Aber an der Ecke blieb ich schmerzgeschüttelt unter einem Haustor stehen, in Tränen aufgelöst, laut schluchzend.

Dann lastete auf meinem Herzen die träge Melancholie der Sommertage ... Ich hatte Tantchen erzählt, daß ich fromme Aufsätze für den »Almanach der Unbefleckten Empfängnis des Jahres 1878« schreiben wolle, und schloß mich den ganzen Vormittag in meinem Zimmer ein, während die Steine meines Balkons in der Sonne funkelten. Hier lag ich nun in Pantoffeln auf dem mit Wasser besprengten Boden, wühlte unter Seufzern in Erinnerungen an Adelia oder betrachtete vor dem Spiegel das Ohrläppchen, das sie immer geküßt hatte ... Dann hörte ich das Geräusch einer Tür und ihren perfiden, schmähenden Schrei: »Zum Teufel!« Darauf bearbeitete ich geistesabwesend und verwirrt das Kopfkissen mit den Faustschlägen, die ich nicht auf Senhor Adelinos magere Brust zu schmettern vermochte.

Am Spätnachmittag, wenn es kühler wurde, ging ich in die Unterstadt, um mich zu zerstreuen. Aber jedes den Abendlüften geöffnete Fenster, jede gestärkte Musselingardine erinnerte mich an die Intimität von Adelias Schlafzimmer; bei jedem einfachen Paar Strümpfe, das in einem Schaufenster ausgestellt war, erinnerte ich mich wehmütig an ihre vollendeten Beine; alles, was leuchtete, gemahnte mich an ihre Augen; und sogar das Erdbeereis im Café Martinho rief mir den süßen Geschmack ihrer Küsse wieder auf die Lippen.

Abends nach dem Tee floh ich ins Oratorium wie in eine geheiligte Festung und heftete meine Augen auf den goldenen Leib des Christus, der da an seinem hübschen Ebenholzkreuz hing. Aber nach und nach trübte sich der Glanz des edlen Metalls, nahm die weißliche Farbe warmen, zarten Fleisches an; die Magerkeit dieses traurigen Messias, der da seine Knochen zeigte, rundete sich zu göttlich vollen, herrlichen Formen; unter der Dornenkrone entrollte sich eine Flut schwarzen krausen Haares; auf der Brust über den beiden Wunden erhoben sich, straff und gerade, zwei herrliche Frauenbrüste mit einem Rosenknöspchen auf der Spitze – und sie war es, meine Adelia, die da oben am Kreuze hing! Nackt, übermütig, lachend, sieghaft schändete sie den Altar, mit Armen, die für mich ausgebreitet waren! Ich sah darin nicht eine Versuchung des Teufels – eher schien es mir eine Gnade des Herrn. Ich begann sogar meine Liebesklagen in den Text meiner Gebete einzuflechten. Der Himmel ist vielleicht dankbar; und die zahllosen Heiligen, an die ich Rosenkränze und Vaterunser verschwendet hatte, wünschten vielleicht meine Liebenswürdigkeit zu erwidern, indem sie mir die Liebkosungen zurückgaben, die mir der Mann im spanischen Kragen gestohlen hatte. Ich stellte noch mehr Blumen auf die Kommode vor das Bild der Maria, erzählte ihr von der Bangigkeit meines Herzens. Hinter dem klaren Glas ihres Rahmens war sie mit ihren gesenkten, leidvollen Augen die Vertraute der Qual meines Fleisches; und jeden Abend vor dem Schlafengehen, in Unterhosen, flüsterte ich ihr mit Innigkeit zu: »O meine geliebte Maria, mach, daß Adelia mich wieder liebhat!«

Dann nützte ich Tantchens Kredit bei den ihr befreundeten Heiligen aus, bei dem allerliebreichsten und verzeihenden Sankt Josef, bei Sankt Ludwig Gonzaga, der der Jugend so wohl will. Ich bat Tantchen, sie möge sie um die Erfüllung eines geheimen Bedürfnisses meiner Seele bitten, natürlich eines ganz unschuldigen. Sie war gern bereit; und ich, am Eingang des Oratoriums lauschend, hatte das Vergnügen, die gestrenge Dame mit dem Rosenkranz in der Hand auf den Knien liegen zu sehen und zu hören, wie sie die allerkeuschesten Patriarchen mit Gebeten bestürmte, auf daß Adelia mir wieder einen Kuß aufs Ohr gäbe ...

Eines Abends wollte ich feststellen, ob der Himmel so einflußreiche Bitten erhört hatte. Ich klopfte ganz leise und demütig an Adelias Tür. Der Senhor Adelino erschien in Hemdsärmeln am Fenster.

»Ich bin es, Senhor Adelino«, säuselte ich Erbärmlicher und zog den Hut. »Ich möchte mit der lieben Deli sprechen.«

Er rief meinen Namen ins Schlafzimmer. Ich glaube sogar, er sagte: »Der Betbruder!« Und dort aus dem Hintergrunde, zwischen den Bettvorhängen, wo ich ihre Anwesenheit fühlte, lässig und schön, schrie meine Adelia voll Wut: »Schütte ihm den Schmutzwasserkübel auf die Beine!«

Ich entfloh.

 

Ende September kam der Rettich aus Paris zurück; und eines Sonntagabends, als ich aus der St.-Caetans-Kirche kam, traf ich ihn im Martinho, umringt von jungen Leuten, wie er lärmend seine Pariser Liebesabenteuer und galanten Heldentaten erzählte. Betrübt schob ich einen Stuhl heran und hörte dem Rettich zu. Mit einer Rubinspange in der Krawatte und einem Monokel, das an einem breiten Bande herabhing, eine gelbe Rose an der Brust, machte der Rettich großen Eindruck, als er, vom Rauch seiner langen Zigarre umflossen, die Umrisse eines Zaubermärchens skizzierte: »Eines Abends im Café de la Paix, als ich mit Cora dinierte, dann mit der Valtesse und einem sehr schicken Kerl, einem Fürsten ...« Was der Rettich alles gesehen hatte! Was der Rettich alles mitgemacht hatte! Eine italienische Gräfin, eine Verwandte des Papstes, »Popotte« genannt, war sterblich in ihn verliebt gewesen, hatte ihn in ihrer Victoria in die Champs-Elysées mitgenommen – ihr uraltes Wappen zeigte zwei gekreuzte Schlüssel. Er hatte in Restaurants gespeist, wo das Licht goldenen Schlangen entströmte; und die hageren, würdevollen Kellner hatten ihn respektvoll »Monsieur le Comte« genannt. Und der »Alcazar«, mit Girlanden von Gaslampen zwischen den Bäumen, und die Pauline, mit entblößten Armen, das Lied von der »Marseiller Leberwurst« singend – das hatte ihn die Wahrheit, die Größe der Zivilisation verstehen gelehrt.

»Hast du Victor Hugo gesehen?« fragte ein junger Mensch mit schwarzer Brille, der an seinen Nägeln kaute.

»Nein, er kam nie in die elegante Gesellschaft!«

Die ganze Woche lang lebte die Idee, Paris zu sehen, in meinem Hirn, verführerisch und holder Verheißung voll ... Und es war weniger der Appetit auf die Genüsse der Eitelkeit und des Fleisches, in denen der Rettich geschwelgt hatte, als die heiße Begier, Lissabon zu verlassen, wo Kirchen und Geschäfte, klarer Fluß und klarer Himmel mir nur Adelia ins Gedächtnis riefen, den ekelhaften Kerl im spanischen Kragen, den für immer verlorenen Kuß aufs Ohr ... Ach, wenn Tantchen doch ihre Börse aus grüner Seide öffnen, mich die Hände hineinsenken, Gold erraffen und nach Paris reisen ließe!

Aber für die Senhora Dona Patrocinio war Paris ein unreiner Ort, voll von Trug und Sinnenlust, wo ein Volk ohne Heilige mit vom Blut seiner Erzbischöfe befleckten Händen fortwährend, im Sonnenschein und bei Gasbeleuchtung, Ausschweifungen begeht. Wie hätte ich es wagen können, Tantchen meinen unbescheidenen Wunsch nach einem Besuch dieser Stätten des Schmutzes und der sittlichen Finsternis zu verraten?

Am Sonntag nun, als wir am Campo de Sant' Anna mit den trauten Freunden speisten, geschah es, daß beim Rindfleisch von einem gelehrten Studiengenossen des Paters Casimiro gesprochen wurde, der kürzlich den Frieden seiner Zelle im Kloster Varatojo verlassen hatte, um, in bengalischer Beleuchtung, den mühereichen Bischofssitz von Lamego einzunehmen. Unser bescheidener Casimiro verstand diese Begier nach einer mit eitlen Edelsteinen besetzten Bischofsmitra nicht; für ihn bestand der Höhepunkt einer kirchlichen Laufbahn darin, mit siebzig Jahren gesund und heiter, ohne Furcht und Sehnsucht hier zu sitzen und den guten gedünsteten Reis der Senhora Dona Patrocinio das Neves zu essen.

»Denn lassen Sie mich Ihnen sagen, meine Verehrteste, Ihr Reis ist ein Meisterwerk! ... Und der Ehrgeiz, immer einen solchen Reis zu haben und Freunde, die ihn schätzen, scheint mir berechtigter und besser für die Seele eines Gerechten, als ...«

Und so begann man von den vernünftigen Arten des Ehrgeizes zu sprechen, die ein jeder, ohne dem Herrn zu mißfallen, im Herzen hegen dürfe.

Der Traum des Notars Justino war ein Landhäuschen mit Rosenstöcken und Weingelände in der Provinz Minho, wo er in Hemdsärmeln und in Ruhe und Frieden seine Tage beschließen könnte.

»Sehen Sie, Justino«, sagte Tantchen, »etwas, das Ihnen dann fehlen würde, wäre Ihre Messe in der Alten Empfängniskirche ... Wenn Menschen sich an so eine liebe Messe gewöhnt haben, kann ihnen keine andere Trost bieten ... Ich, wenn man mir die von Sant' Anna wegnähme – ich glaube, es wäre der Anfang von meinem Ende ...«

Pater Pinheiro zelebrierte diese Messe; gerührt legte ihm Tantchen noch einen Hühnerflügel auf den Teller – und Pater Pinheiro enthüllte gleichfalls die Sehnsucht, die ihn quälte. Sie war erhaben und heilig. Er wollte den Papst wieder auf jenen mächtigen und segensreichen Thron erhoben sehen, auf dem Leo X. geglänzt hatte ...

»Wenn sie wenigstens mehr Mitleid mit ihm hätten!« rief Tantchen aus. »Aber der Allerheiligste Vater, der teure Vikar unseres Heilands, derart in einem Verlies, in Lumpen, auf Stroh ... Das sind Kaiphasse! Das sind Juden!«

Dr. Margaride tröstete sie. Er glaubte nicht, daß der Pontifex auf Stroh schlafe. Aufgeklärte Reisende versicherten sogar, daß der Heilige Vater, wenn er es wünschte, eine Kutsche halten könnte.

»Das ist nicht alles; es ist bei weitem nicht alles, was dem Träger einer Tiara zukommt; aber eine Kutsche, meine Gnädigste, ist eine sehr große Annehmlichkeit ...«

Nun wollte unser Casimiro vergnügt wissen (da schon alle das Ziel ihrer Wünsche genannt hatten), welches das des verehrten Dr. Margaride sei.

»Sagen Sie es, Dr. Margaride, sagen Sie es!« riefen alle freundlich.

Er lächelte würdevoll.

»Lassen Sie mich zunächst, Dona Patrocinio, mein Fräulein, von dieser Pökelzunge nehmen, die auf uns zukommt und mir köstlich scheint.«

Nachdem er sich bedient hatte, gestand der ehrwürdige Justizbeamte, daß er gern Pair des Königreichs geworden wäre. Nicht aus Ehrsucht, auch nicht wegen des Prunks der Uniform, sondern um das heilige Prinzip der Autorität zu verteidigen ...

»Nur deswegen!« versicherte er mit Energie. »Denn ich möchte ferner wünschen, daß ich vor meinem Tode, verzeihen Sie den Ausdruck, verehrte Senhora Dona Patrocinio, dem Atheismus und der Anarchie eine tödliche Tracht Prügel zu geben vermag. Und das täte ich!«

Alle erklärten nachdrücklich Dr. Margaride dieser sozialen Gipfelstellung für würdig. Er, sehr aufgeräumt, war der gleichen Ansicht. Dann wandte er das majestätische graue Antlitz mir zu: »Und unser Theodorico? Unser Theodorico hat uns das Ziel seines Ehrgeizes noch nicht genannt.«

Ich wurde rot; und nun erstrahlte auf dem Grunde meiner Sehnsucht Paris mit seinen goldenen Lichtschlangen, seinen gräflichen Papstkusinen, seinem Champagnerschaum – faszinierend, berauschend, allen Schmerz betäubend ... Aber ich schlug die Augen nieder und versicherte, ich hätte nur den Ehrgeiz, an Tantchens Seite zum Nutzen meiner Seele und in Muße meinen Rosenkranz zu beten ...

Dr. Margaride aber schob den Teller von sich und beharrte auf seinem Verlangen. Es schiene ihm nicht Gleichgültigkeit gegen Gott oder Undankbarkeit gegen Tantchen, wenn ich, ein intelligenter, gesunder, braver junger Herr und Doctor juris, einen anständigen Wunsch hegte ...

»Ich hege einen!« rief ich nun, entschlossen wie einer, der einen Pfeil abschießt. »Ich hege einen, Dr. Margaride. Ich möchte sehr gerne Paris sehen!«

»Du meine Güte!« schrie die Senhora Dona Patrocinio in höchstem Entsetzen. »Er will nach Paris gehen! ...«

»Um die Kirchen anzusehen, Tantchen!«

»Man braucht nicht so weit zu gehen, um schöne Kirchen zu sehen«, antwortete sie gereizt. »Was das betrifft: Festmessen mit Orgelbegleitung, Ausstellung des Allerheiligsten mit allem Pomp, eine schöne Prozession auf der Straße, gute Stimmen und Respekt und Heiligenbilder, daß es eine Freude ist, in dieser Beziehung schlägt ja doch keiner unsere Portugiesen!«

Erschreckt schwieg ich. Und der aufgeklärte Dr. Margaride zollte Tantchens kirchlichem Patriotismus Beifall. Gewiß, nicht in einer gottlosen Republik dürfe man einen glanzvollen Kultus suchen.

»Nein, meine Gnädige, wenn ich die nötige Muße hätte, würde ich nicht nach Paris gehen, um in den Herrlichkeiten unserer heiligen Religion zu schwelgen ... Wissen Sie, verehrte Senhora Dona Maria do Patrocinio, wohin ich gehen würde?«

»Unser Doktor«, erinnerte der Pater Pinheiro, »würde direkt nach Rom eilen ...«

»Höher hinauf, Pater Pinheiro! Höher hinauf, mein liebes Fräulein!«

Höher? Weder der gute Pinheiro noch Tantchen begriffen, was denn höher sein konnte als das päpstliche Rom. Dr. Margaride zog feierlich die dichten, ebenholzschwarzen Brauen hoch: »Ich würde ins Heilige Land gehen, Dona Patrocinio! Ich würde nach Palästina gehen, meine Gnädige! Ich würde mir Jerusalem und den Jordan ansehen! Auch möchte ich einen Augenblick auf Golgatha stehen, wie Chateaubriand, mit meinem Hut in der Hand, meditieren, mich an diesem Anblick sättigen, sagen: Salve! Und ich könnte Notizen heimbringen, könnte historische Eindrücke veröffentlichen. Nun wissen Sie es. Gnädigste, wohin ich ginge: nach Zion!«

Er nahm von dem Lendenbraten; und alle versanken über ihren Tellern in ehrfurchtsvolles Nachdenken bei dieser Erwähnung des geheiligten Landes, wo der Heiland gelitten hatte. Und es war mir, als sähe ich dort in weiter Ferne, in Arabien, am Ende glutheißer Reisetage auf dem Rücken eines Kamels, einen Haufen Ruinen rings um ein Kreuz; ein düsterer Fluß fließt daneben unter Ölbäumen; der Himmel wölbt sich stumm und traurig wie eine Grabkuppel. So mußte Jerusalem sein.

»Schöne Reise!« murmelte Casimiro in Gedanken.

»Ohne in Rechnung zu ziehen«, schnarrte Pater Pinheiro leise, als lispele er ein Gebet, »daß unser Heiland Jesus Christus diese Besuche an seinem Heiligen Grab sehr hoch anrechnet und sehr gern sieht.«

»Ja, wer dorthin geht«, sagte Justino, »erhält Vergebung für alle seine Sünden. Nicht wahr, Pinheiro? So habe ich es im ›Panorama‹ gelesen ... Man kommt von allem gereinigt zurück!«

Pater Pinheiro (nachdem er nicht ohne Seelenqual den Blumenkohl zurückgewiesen hatte, den er für schwer verdaulich hielt) gab Aufklärungen. Wer in frommer Pilgerschaft ins Heilige Land ging, erhielt auf dem Marmor des Heiligen Grabes, aus den Händen des Patriarchen und gegen Erlegung der vorgeschriebenen Gebühren, seinen vollkommenen Ablaß ... »Nicht nur für sich allein, habe ich sagen hören«, versicherte der gebildete Geistliche, »sondern auch für eine fromme, geliebte Person aus seiner Familie, wenn sie nachweislich verhindert war, die Reise zu unternehmen. Gegen Erlegung doppelter Gebühren, versteht sich.«

»Zum Beispiel«, rief Dr. Margaride in plötzlicher Erleuchtung und gab mir einen kräftigen Rippenstoß, »für ein gutes, angebetetes Tantchen, das ein Engel an Tugend und Großmut ist! ...«

»Versteht sich«, beharrte Pater Pinheiro, »gegen Erlegung doppelter Gebühren!«

Tantchen sagte nichts, aber ihre Augen, die vom Priester zu dem Justizbeamten schweiften, schienen seltsam vergrößert und leuchtender in der inneren Helligkeit einer Idee; ihr grünliches Gesicht zeigte ein wenig Farbe. Vicencia reichte den Milchreis herum. Wir sprachen das Dankgebet.

Als ich mich später in meinem Zimmer entkleidete, fühlte ich mich unsäglich traurig. Niemals würde Tantchen mich das unreine Land Frankreich besuchen lassen, und ich würde wie ein Mönch in diesem Lissabon bleiben, wo alles mir eine Qual war und die lautesten Gassen die Einsamkeit meines Herzens nur noch größer machten, wo selbst die Reinheit des herrlichen Sommerhimmels mir die dunkle Perfidie jener ins Gedächtnis rief, die mir Stern gewesen war und Königin der Gnaden ... Zudem war mir an diesem Tage, beim Mittagessen, Tantchen aufrechter als sonst vorgekommen, rüstig, zählebig – für lange Jahre noch würde sie die Herrin der grünen Seidenbörse sein, der Grundstücke und Gelder des Komturs G. Godinho ... Ich Ärmster! Wie lange noch würde ich mit der verhaßten Alten den langweiligen Rosenkranz beten müssen, dem Heiland von der Passion die von diesem ehrenwerten Damenmund besabberten Füße küssen, Litaneien herunterbeten und mir die Knie wund scheuern vor dem mageren, mit Wunden bedeckten Leib des Gottes. O Leben, unter allen voll von Bitterkeit! Und ich hatte nicht mehr, um mich von dem mir so widrigen Dienst Jesu zu erholen, die weichen Arme der Adelia! ...

 

Am Morgen – mein Pferd war bereits gesattelt – ging ich, schon gespornt, Tantchen fragen, ob sie irgendeinen frommen Auftrag an Sankt Rochus hätte, denn dies war sein wunderreicher Tag. In dem der Glorie des heiligen Josef geweihten Salon prüfte Tantchen in der Sofaecke ihr großes Haushaltungsbuch, das offen auf ihren Knien lag; der Tongkingschal war ihr von den Schultern gerutscht, und ihr gegenüber lächelte der gute Casimiro mit auf dem Schoß gekreuzten Händen schweigend und nachdenklich die Blumen der Tapete an.

»Kommen Sie rasch her! Kommen Sie her!« sagte er, sobald ich mit gekrümmtem Rücken erschien. »Hören Sie die Neuigkeit! Denn Sie sind ein wahres Juwel, Sie achten das Alter und haben alles Gute von Gott und Ihrer gnädigen Tante verdient! Kommen Sie, kommen Sie in meine Arme!«

Ich lächelte beunruhigt. Tantchen schloß ihr Buch.

»Theodorico!« begann sie, die Arme kreuzend, hoch aufgerichtet. »Theodorico! Ich habe mich soeben mit dem Pater Casimiro beraten. Und ich habe beschlossen, daß einer, der mir gehört und von meinem Blute ist, in meinem Auftrag eine Pilgerreise ins Heilige Land unternehmen soll ...«

»Na, Sie Glückspilz!« sagte Casimiro strahlend.

»Es ist also abgemacht«, fuhr Tantchen fort, »und du kannst zur Kenntnis nehmen, daß du nach Jerusalem und allen heiligen Stätten reisen wirst. Ich verzichte auf deinen Dank, es geschieht, weil es mir Vergnügen macht, und um das Grab Jesu Christi zu ehren, da ich ja nicht hinfahren kann ... Da mir, Gott sei gedankt, die Mittel nicht fehlen, wirst du die Reise mit jeglicher Bequemlichkeit machen; und um alles weitere Zaudern zu vermeiden und weil es eilig ist, unserem Heiland zu gefallen, wirst du noch in diesem Monat abreisen ... Gut, jetzt geh, ich muß noch mit dem Pater Casimiro reden. Danke, ich habe nichts mehr für den Herrn Sankt Rochus; ich habe mich schon mit ihm verständigt.«

Ich stammelte: »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Tantchen; adieu, lieber Pater Casimiro!« und trat niedergedonnert in den Korridor.

In meinem Zimmer trat ich vor den Spiegel, um mein Gesicht, meinen Bart anzustarren, auf die sich bald der Staub Jerusalems legen sollte ... Dann ließ ich mich aufs Bett fallen.

Herrgott, was für eine schauerliche Belästigung! Nach Jerusalem! Und wo lag Jerusalem? Ich wandte mich dem Koffer zu, in dem meine Lehrbücher unter allerlei altem Zeug lagen, zog den Atlas hervor, öffnete ihn auf der Kommode, vor dem Bild der Maria, und begann Jerusalem zu suchen, dort in jener Gegend, wo die Ungläubigen leben, wo die dunklen Karawanen sich dahinschlängeln und ein wenig Wasser in einem Brunnen ein kostbares Geschenk des Herrn ist. Mein irrender Finger fühlte bereits die Müdigkeit einer langen Reise; und am gewundenen Ufer eines Flusses, der der fromme Jordan sein mußte, hielt ich inne. Es war die Donau. Und dann plötzlich tauchte der Name Jerusalem auf, schwarz, in einer großen weißen Einöde ohne Ortsnamen, ohne Linien, nichts als Sand, kahl, hart am Meere. Dort war Jerusalem. Mein Gott! Wie fern, wie einsam, wie traurig!

Doch dann begann ich zu erwägen, daß ich, um auf diesen Boden der Buße zu gelangen, durch liebenswürdige, freudenreiche Regionen reisen mußte. Da war zunächst das schöne Andalusien, das Land der Allerheiligsten Maria, im Duft der Orangenblüten, wo die Frauen, nur indem sie zwei Nelken ins Haar stecken und einen scharlachroten Schal anmutig drapieren, das rebellischste Herz gewinnen – gesegnet seien sie unter den Weibern! Da war ferner Neapel – und seine dunklen, heißen Gassen, mit Altären der Heiligen Jungfrau geschmückt und nach Weibern riechend wie die Korridore eines Bordells. Da war ferner Griechenland: seit dem Gymnasium war es mir immer wie ein heiliger Lorbeerhain erschienen, in dem weiße Tempelfassaden schimmern; und an schattigen Plätzen, wo die Tauben girren, erscheint plötzlich Venus, licht und rosenfarbig, und bietet jeder Lippe, sei sie tierisch oder göttlich, die Liebkosung ihrer unsterblichen Brüste dar! Venus lebte freilich jetzt nicht mehr in Griechenland, aber die Weiber dort hatten sich die Herrlichkeit ihrer Formen und den Zauber ihrer Schamlosigkeit bewahrt ... Jesus, was ich alles erleben würde! Ein Licht glomm in meiner Seele auf. Und mit einem Faustschlag auf den Atlas, der die allerkeuscheste Maria und alle Sterne ihrer Krone erzittern machte, rief ich: »Caramba, ich will mich erstklassig amüsieren!«

Jawohl! Und ich beschloß sogar, aus Angst, daß Tantchen in ihrem Geiz oder aus Mißtrauen gegen meine Frömmigkeit den Gedanken dieser Freuden verheißenden Pilgerfahrt wieder aufgeben könnte, sie auf übernatürliche Weise durch einen göttlichen Befehl zu binden. Ich ging ins Oratorium, zerraufte mein Haar, als wäre ein göttlicher Hauch hindurchgefahren, und eilte atemlos, die bebenden Arme schwingend, in Tantchens Zimmer.

»O Tantchen! Denken Sie nur! Ich war eben im Oratorium, um mein Dankgebet zu sprechen, und auf einmal glaubte ich zu hören, wie die Stimme unseres Herrn vom Kreuz herab zu mir sagte, ganz leise und ohne daß er sich dabei bewegte: ›Du tust recht daran, Theodorico, mein Heiliges Grab zu besuchen ... Ich bin sehr zufrieden mit deinem Tantchen ... Dein Tantchen ist eine der Meinen! ...‹«

Sie faltete im heißen Überschwang der Liebe die Hände: »Gelobt sei sein allerheiligster Name! Das hat er gesagt? Ach, das ist sehr möglich, denn unser Heiland weiß, daß ich dich nur ihm zu Ehren hinschicke ... Gelobt sei noch einmal sein allerheiligster Name! Gelobt im Himmel und auf Erden! Geh, mein Sohn, bete zu ihm ... Werde nicht müde, nicht müde!«

Ich ging, ein Ave-Maria murmelnd. Sie lief mir noch in einer Aufwallung von Sympathie bis zur Tür nach.

»Und höre, Theodorico, was die Wäsche betrifft ... Vielleicht brauchst du noch Unterhosen ... Bestelle nur, mein Sohn, bestelle, denn dank Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz bin ich vermögend, und ich wünsche, daß du anständig reisest und dort am herzallerliebsten Grab Gottes würdig auftrittst! ...«

Ich bestellte; und nachdem ich mir einen »Führer durch den Orient« und einen Korkhelm gekauft hatte, beriet ich mich über die vergnüglichste Art, nach Jerusalem zu gelangen, mit Benjamin Sarrosa & Co., einem weißen Juden, der alljährlich beturbant nach Marokko zu reisen pflegte, um Rinder zu kaufen. Benjamin schrieb mir meine großartige Reiseroute ganz genau auf. Ich sollte mich auf der »Malaga« einschiffen, einem Dampfer der Firma Jadley, der mich über Gibraltar und Malta durch ein ewig blaues Meer nach dem alten Ägypten bringen würde. Hier eine sinnliche Erholung im festlichen Alexandria. Dann auf dem Levante-Paketboot, das die ehrwürdige Küste Syriens entlangfährt, nach Jaffa, zu grünenden Obstgärten; und von dort auf einer makadamisierten Landstraße weiterreisend, im Trott eines sanften Pferdes, würde ich nach einem Tag und einer Nacht die Mauern Jerusalems schwarz zwischen traurigen Hügeln aufragen sehen.

»Teufel, Benjamin ... Das scheint mir etwas viel Meer, viel Paketboot. Also nicht einmal einen kleinen Happen von Spanien? Mensch, bedenken Sie, daß ich mich gut amüsieren möchte!«

»Amüsieren Sie sich in Alexandria. Dort haben Sie alles, Billards, Fiaker, Hasardspiel, hübsche Weiber ... Alles Gute. Dort werden Sie sich schon amüsieren!«

Unterdessen sprach man schon im Café Montanha und im Tabakladen von Brito über mein heiliges Unternehmen. Purpurrot vor Stolz las ich eines Morgens im »Jornal das Novidades« folgende ehrenden Zeilen: »Unser Freund Theodorico Raposo, der Neffe der verehrlichen Senhora Dona Patrocinio das Neves, der durch ihre vorbildlichen christlichen Tugenden bekannten reichen Grundbesitzerin, reist demnächst nach Jerusalem und an alle die Stätten, wo unser Erlöser für uns gelitten hat. Glückliche Reise.« Tantchen, außer sich vor Stolz, verwahrte die Zeitung im Oratorium, unter Sankt Josefs Postament; und ich jubelte, weil ich mir den Ärger Adelias vorstellte (einer treuen Leserin des »Jornal«), wenn sie mich so, von ihr befreit, mit Gold vollgestopft, in jene muselmanischen Länder ziehen sehen würde, wo man bei jedem Schritt über ein Serail stolpert, das stumm und nach Rosen duftend zwischen Sykomoren steht ...

Am Abend vor der Abfahrt herrschte in dem Damastsalon salbungsvolle Feierlichkeit. Justino betrachtete mich, wie man eine historische Gestalt ansieht.

»Unser Theodorico ... So eine Reise! ... Davon wird man zu sprechen haben!«

Und Pater Pinheiro murmelte fromm: »Es war eine Eingebung des Herrn! Es wird gewiß sein Heil werden!«

Ich zeigte ihnen meinen Korkhelm. Alle bewunderten ihn. Immerhin bemerkte unser Casimiro, nachdem er sich nachdenklich am Kinn gekratzt hatte, daß mir vielleicht ein Zylinderhut mehr Ernst verleihen würde.

Tantchen stimmte betrübt bei: »Das habe ich ihm auch gesagt! Ich finde diesen Helm sehr wenig feierlich für die Stadt, in der unser Heiland gestorben ist ...«

»Aber Tantchen, das habe ich Ihnen doch auseinandergesetzt! Der Helm ist doch nur für die Wüste! ... In Jerusalem und an all den heiligen Stätten gehe ich selbstverständlich nur im Zylinder ...!«

»Man sieht damit doch mehr wie ein Gentleman aus«, behauptete Dr. Margaride.

Pater Pinheiro wollte besorgt wissen, ob ich auch Heilmittel mithätte, für den Fall eines Darmunwohlseins in jenen biblischen Gefilden ...

»Ich habe alles mit, Benjamin hat mir die Liste gegeben ... Sogar Verbandstoff, sogar Arnika!«

Die phlegmatische Korridoruhr begann ächzend zehn zu schlagen; ich sollte früh aufstehen, und Dr. Margaride, sehr gerührt, barg schon seinen Hals unter dem seidenen Halstuch. Aber bevor wir uns umarmten, fragte ich meine aufrichtigen Freunde, was für ein Andenken ich ihnen aus den fernen Landen mitbringen sollte, in denen der Herr gelitten hatte. Pater Pinheiro wünschte sich ein Fläschchen voll Jordanwasser, Justino (der mich in einer Fensternische bereits um ein Paket türkischen Tabaks ersucht hatte) bat vor Tantchen nur um ein Olivenzweiglein vom Ölberg. Dr. Margaride begnügte sich mit einer guten Photographie des Heiligen Grabes, zum Einrahmen.

Nachdem ich diese frommen Aufträge notiert hatte, wandte ich mich fröhlich, schmeichelnd, demütig mit offenem Notizbuch an Tantchen ...

»Was mich betrifft«, sagte sie von der Sofamitte wie von einem Altar her, eingezwängt in ihr seidenes Sonntagskleid, »ich wünsche nichts, als daß du diese Reise in aller Frömmigkeit vollendest, daß du keinen Stein ungeküßt läßt, keine Messe versäumst, an keinem noch so kleinen Ort vorbeigehst, ohne dort den Rosenkranz oder ein Ave-Maria zu beten ... Außerdem wünsche ich dir gute Gesundheit.«

Ich eilte zu ihr hin, um auf ihre von Ringen funkelnde Hand einen Kuß tiefster Dankbarkeit zu drücken. Sie sagte trocken: »Bisher hast du durchaus meinen Erwartungen entsprochen, hast die Gebote nicht verletzt und dich keinen Ausschweifungen hingegeben ... Deswegen kannst du dich am Anblick der Ölbäume ergötzen, unter denen unser Heiland Blut schwitzte, kannst aus dem herzallerliebsten Jordan trinken ... Aber wenn ich erfahren sollte, daß du auf dieser Reise schlechte Gedanken gehegt oder eine Ausschweifung begangen hättest oder einem Unterrock nachgelaufen wärest, dann sei gewiß, daß du, obwohl du der Einzige meines Blutes bist und obwohl du Jerusalem besucht und Ablässe erhalten hättest, ohne eine Brotrinde auf die Straße hinaus müßtest wie ein Hund!«

Betreten senkte ich den Kopf. Und nachdem sie sich die dürren Lippen mit ihrem Spitzentuch gerieben hatte, fuhr Tantchen mit noch mehr Autorität und wachsender innerer Bewegung, die ihr unter die glatte Bluse so etwas wie das flüchtige Wogen einer Menschenbrust zauberte, fort: »Und nun wünsche ich dir zu deiner Richtschnur nur noch eins zu sagen ...«

Stehend und ehrfurchtsvoll nahmen wir nun alle zur Kenntnis, daß Tantchen im Begriff war, ein letztes großes Wort zu sprechen. In dieser Stunde der Trennung, umgeben von ihren Priestern, umgeben von ihren Rechtsbeiständen, würde Dona Patrocinio das Neves sicherlich enthüllen, welches der geheimste Beweggrund dafür war, daß sie mich, ihren Neffen, als Pilgersmann in die Stadt Jerusalem schickte. Ich würde endlich erfahren – und so unmißverständlich, als schriebe sie es mir auf ein Pergament –, welche die kostbarste meiner Sorgen zu sein habe, im Wachen und im Schlafen, in den Landen des Evangeliums.

»Dies ist es!« erklärte Tantchen ... »Wenn du der Ansicht bist, daß ich irgendwelchen Dank für das verdiene, was ich seit dem Tode deiner Mutter für dich getan habe, indem ich dich erzog, dich kleidete, dir ein Pferd zum Spazierenreiten schenkte, mich um deine Seele bekümmerte, dann bringe mir von diesen heiligen Stätten eine wundertätige Reliquie, auf daß ich sie aufbewahre, auf daß ich mich immer in meinen Bedrängnissen zu ihr flüchten kann und auf daß sie meine Krankheiten heile.«

Und zum erstenmal nach fünfzig Jahren lief unter der dunklen Brille hervor eine Träne über Tantchens Antlitz.

Dr. Margaride brach heftig gegen mich los: »Theodorico, wie sehr liebt Tantchen Sie! Durchforschen Sie jene Ruinen, durchwühlen Sie jene Gräber! Bringen Sie Tantchen eine Reliquie!«

Ich brüllte aufgeregt: »Tantchen – auf Ehrenwort, ich bringe Ihnen eine kolossale Reliquie!«

In dem strengen Damastsalon flossen unsere Herzen vor Rührung über. Ich kam zur Besinnung, als die Lippen des Justino, noch feucht vom Tee, an meinem Bart klebten ...

Früh am Morgen des Sonntags – es war der 6. September, der Tag der heiligen Libania – klopfte ich sachte an die Zimmertür Tantchens, die noch in ihrem keuschen Bette schlief. Ich hörte das Geräusch ihrer Pantoffeln auf dem Teppich. Züchtig öffnete sie die Tür nur einen Spalt breit, reichte mir durch den Schlitz ihre fleischlose, fahle, nach Schnupftabak riechende Hand. Ich verspürte Lust, hineinzubeißen; ich drückte einen schmatzenden Kuß darauf, und Tantchen flüsterte: »Adieu, mein Junge ... Viele Grüße an den Heiland!«

Ich stieg die Treppe hinab, den Tropenhelm auf dem Kopf, meinen »Führer durch den Orient« unter dem Arm. Hinter mir schluchzte die Vicencia.

Mein neuer Lederkoffer, mein voller Kanevasreisesack füllten das Kupee der Droschke. Noch sangen verspätete Schwalben unter den Dachtraufen; in der Sant'-Anna-Kapelle läutete es zur Messe. Und ein Sonnenstrahl, vom Osten kommend, aus Palästina mir entgegenkommend, badete mir lachend und bewillkommnend das Gesicht, wie eine Liebkosung des Heilands.

Ich schloß die Wagentür, streckte mich aus und rief: »Los, Kutscher!«

Als zufriedener Pilger, den Rauch meiner Zigarette in den Wind hinausblasend, ließ ich das Tor meiner Tante hinter mir – auf dem Weg nach Jerusalem!


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