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II

Es war ein Sonntag und der Tag des heiligen Hieronymus, als meine lateinischen Füße auf dem Kai von Alexandria den Boden des sinnenfreudigen und religiösen Orients betraten. Ich dankte dem Herrn und der guten Jungfrau. Und mein Reisegenoß, der illustre Topsius, Doktor der deutschen Universität Bonn, Mitglied des Kaiserlichen Instituts für Historische Ausgrabungen, spannte seinen riesigen grünen Sonnenschirm auf und murmelte feierlich, wie beschwörend, vor sich hin: »Ägypten, Ägypten! Ich grüße dich, schwarzes Ägypten. Und es sei mir gnädig dein Gott Ptah, der Gott der Wissenschaft, der Gott der Geschichte, der Inspirator beim Werk der Kunst und beim Werk der Wahrheit! ...«

Durch dieses wissenschaftliche Summen hindurch fühlte ich, wie über mir warme Luft zusammenschlug, wie von einem Ofen, von entnervenden Rosen- und Sandeldüften durchzogen.

Auf dem schimmernden Kai, zwischen Wollballen, erstreckte sich banal und schmutzig die Zollbaracke. Aber dahinter flogen in Schwärmen weiße Tauben um die weißen Minaretts; der Himmel blendete. Von ernsten Palmen umgeben, schien ein üppiger Palast am Ufer zu schlafen; und in der Ferne verloren sich die Sanddünen des alten Libyen in einem heißen, löwengelben, staubigen Dunst.

Ich liebte dieses Land der Trägheit, des Schlafes und des Lichts sofort. Und in die mit Kattun tapezierte Kutsche springend, die uns ins »Hotel zu den Pyramiden« bringen sollte, rief auch ich die Gottheiten an, wie es der illustre Bonner Doktor getan hatte: »Ägypten, Ägypten! Ich grüße dich, schwarzes Ägypten! Und gnädig sei mir ...«

»Nein, Ihnen, Senhor Raposo, sei Isis gnädig, die liebreiche Kuh!« verbesserte der hochgelehrte Mann und ergriff lachend meine Hutschachtel.

Ich verstand nicht, aber ich verehrte. Ich hatte Topsius an einem frischen Morgen in Malta kennengelernt, als ich eben einem Blumenmädchen Veilchen abkaufte, dessen große, schmachtende Augen bereits einen muselmanischen Schmelz hatten; er ging herum und maß bedächtig mit seinem Regenschirm die martialischen und mönchischen Mauern des Großmeisterpalastes.

Überzeugt, es sei die intellektuelle Pflicht eines Doktors, in diesem vom Geist der Geschichte erfüllten Lande der Levante die Denkmäler des Altertums abzumessen, zog ich mein Taschentuch und legte es nun wie ein Ellenmaß rings an die strengen Quadern. Topsius warf mir über seine Goldbrille hinweg einen mißtrauischen und eifersüchtigen Blick zu, aber durch den Anblick meines vergnügten und unvergeistigten Gesichts, meiner parfümierten Handschuhe, meines frivolen Veilchensträußchens beruhigt, hob er höflich sein Käppchen aus schwarzer Seide von dem langen, glatten, semmelblonden Haar. Ich grüßte, indem ich meinen Korkhelm lüftete, und wir kamen ins Gespräch. Ich nannte ihm meinen Namen, mein Vaterland, die heiligen Motive, die mich nach Jerusalem führten. Er erzählte mir, er sei im glorreichen Deutschland geboren und reise ebenfalls nach Judäa, als wissenschaftlicher Pilger, um Notizen für sein ungeheures Werk zu sammeln, die »Geschichte der Herodiaden«. Aber er wolle sich einige Zeit in Alexandria aufhalten, um das gewichtige Material für ein anderes monumentales Buch, die »Geschichte der Lagiden«, zu sammeln ... Denn diese beiden unruhigen Familien, die Herodiaden und die Lagiden, waren das historische Eigentum des hochgelehrten Topsius.

»Nun, da wir beide die gleiche Reiseroute haben, sollten wir Bekanntschaft schließen, Dr. Topsius!«

Der lange, überaus magere und dünnbeinige Mensch im kurzen Lüsterrock, dessen Taschen mit Manuskripten vollgepfropft waren, verbeugte sich erfreut.

»Also, schließen wir Bekanntschaft, Senhor Raposo! Es wird ein Vergnügen sein und eine Ersparnis!«

Mit seinem dürren Hals, der herabwallenden Mähne, der scharfen, nachdenklichen Nase, den dünnen Waden kam mir mein gelehrter Freund wie ein Storch vor, lächerlich und voll Wissen, mit einer Goldbrille auf der Schnabelspitze. Aber das Animalische in mir verehrte bereits das Intellektuelle in ihm; und wir gingen miteinander Bier trinken.

Die Gelehrsamkeit dieses Menschen war eine ererbte Gabe. Sein Großvater mütterlicherseits, der Naturforscher Schlock, hatte eine berühmte achtbändige Abhandlung über »den physiognomischen Ausdruck der Eidechsen« geschrieben und damit Deutschland in Staunen versetzt. Und sein Onkel, der uralte Topsius, hatte mit siebenundsiebzig Jahren im Lehnstuhl, in dem ihn die Gicht festhielt, jenes geniale leichte Büchlein geschrieben: »Die monotheistische Synthesis der ägyptischen Theogonie, untersucht an den Beziehungen des Gottes Ptah und des Gottes Imhotep zu den Triaden der Nomen.«

Der Vater meines Topsius war leider, leider trotz der hohen Gelehrsamkeit seiner Familie Hornbläser in einer Münchner Musikkapelle geblieben; aber mein Kamerad knüpfte wieder an die Tradition an und hatte als Zweiundzwanzigjähriger mit glänzendem Scharfsinn in neunzehn Artikeln, die er in der »Wöchentlichen Rundschau für historische Ausgrabungen« veröffentlichte, das für die Zivilisation so lebenswichtige Problem einer Ziegelmauer aufgeklärt, die der König Pi-Sibkmé von der einundzwanzigsten Dynastie rings um den Tempel Ramses' des Zweiten in der sagenreichen Stadt Tanis gebaut hatte. In der deutschen Wissenschaft strahlt heute die Ansicht des Dr. Topsius über diese Mauer unwiderleglich wie die Sonne.

Ich habe nur erhabene und angenehme Erinnerungen an Topsius bewahrt. Auf den wilden Wogen des Meeres von Tyrus, in den düsteren Gassen Jerusalems, damals, als wir Seite an Seite im Zelt schliefen neben den Ruinen von Jericho, damals auf den grünen Fluren Galiläas – überall fand ich ihn lehrreich, hilfsbereit, geduldig und diskret. Selten habe ich seine klangvollen und wohlgedrechselten Aussprüche verstanden, die wie kostbar geprägte Goldmedaillen waren; aber ich stand in Ehrfurcht davor wie vor der verschlossenen Pforte eines Heiligtums, weil ich wußte, daß da drinnen im Dunkel die reine Essenz der Idee erstrahlte. Manchmal konnte der Dr. Topsius auch einen gemeinen Fluch brüllen; und dann entstand eine angenehme Gemeinschaft zwischen ihm und mir mit meinem schlichten Verstand eines gewöhnlichen Doktors der Rechte. Er blieb mir schließlich sechs Moedas schuldig – aber diese belanglose Geldangelegenheit verschwindet in der mächtigen Woge des historischen Wissens, mit der er meinen Geist befruchtete. Nur eins mißfiel mir, abgesehen von seinem pedantischen Räuspern – seine Gewohnheit, sich meiner Zahnbürste zu bedienen.

Außerdem war er unerträglich eingebildet auf sein Vaterland. Unausgesetzt hob er seinen Schnabel in die Luft und pries Deutschland, das geistigste der Völker; dann drohte er mir mit der Unwiderstehlichkeit deutscher Waffen. Deutschlands Allwissenheit! Deutschlands Allmacht! Deutschland herrschte, verschanzt hinter Foliobänden, in einem riesigen Kriegslager, in dem, erhaben thronend, eine bewaffnete Metaphysik Wache hielt. Meinem Stolz gefiel diese Prahlerei nicht. Als man uns im »Hotel zu den Pyramiden« ein Buch vorlegte, in das wir unsere Namen und unsere Herkunft einzutragen hatten, schrieb mein gelehrter Freund seinen »Topsius« hin und setzte voll Hochmut in langen Lettern, die diszipliniert waren wie Rekruten, hinzu: »Aus dem deutschen Kaiserreich.« Da ergriff ich hastig die Feder, dachte an den bärtigen João de Castro, an das brennende Ormuz, an Adamastor, an die Kapelle von Sankt Rochus, an den Tejo und an andere Glorien Portugals und schrieb in breiten Kurven, die weiter geschwellt waren als die Segel von Galionen: »Raposo, Portugiese von diesseits und jenseits der See.« Und sogleich flüsterte neben mir ein magerer, trübseliger Bursche seufzend und fassungslos: »Wenn der Herr Landsmann einmal irgendeinen Auftrag hat, könnte er den Alpedrinha rufen lassen!«

Ein portugiesischer Patrizier! Er erzählte mir seine düstere Geschichte, während er meinen Koffer aufschnallte. Er stammte aus Trancoso und war unglücklich. Er hatte studiert und war der Autor eines Nekrologs »Auf unseren Soares de Passos«, von dem er noch die traurigsten Verse auswendig konnte. Aber kaum war sein Mamachen gestorben und hatte ihm Landbesitz vererbt, war er schon nach dem verhängnisvollen Lissabon geeilt, um sich dort zu vergnügen; er hatte in der Rua da Conceição eine entzückende Spanierin kennengelernt, die den süßen Namen Dulce führte, und war mit ihr nach Madrid entschwunden, einem Idyll entgegen. Ach, das Spiel machte ihn arm, die Dulce verriet ihn, ihr Zuhälter versetzte ihm einen Messerstich. Kaum geheilt, ging er nach Marseille; und jahrelang schleppte er sich, ein soziales Wrack, durch unsägliches Elend. In Rom war er Sakristan. In Athen war er Barbier. In Morea bewohnte er eine Hütte neben einem Sumpf und beschäftigte sich mit der fürchterlichen Blutegelfischerei; im Turban, mit schwarzen Schläuchen auf der Schulter, hausierte er in den Gäßchen Spaniens mit Wasser. Das fruchtbare Ägypten zog ihn unwiderstehlich an ... Und da lebte er nun als Hausknecht im »Hotel zu den Pyramiden« und war traurig.

»Wenn der gnädige Herr irgendeine Zeitung aus unserem Lissabon mitgebracht haben sollte – ich möchte gern wissen, wie es mit der Politik steht.«

Großmütig gewährte ich ihm jenes »Jornal de Noticias«, in das ich meine Schuhe eingewickelt hatte.

Der Hotelbesitzer war ein Grieche aus Lakedämon mit einem wilden Schnauzbart, der »un poquitito el castellano« sprach. Respektvoll und steif führte er uns selbst in seinem schwarzen, mit einem Ordensband gezierten Überrock in den Speisesaal – »ohne Zweifel der eleganteste Speisesaal de todo el Oriente, caballeros!«

Auf dem Tisch welkte ein großer Strauß scharlachroter Blumen; in der Ölkaraffe schwammen anheimelnde Fliegenleichen, die Pantoffeln des Kellners streiften jeden Augenblick eine alte, mit Weinflecken bedeckte Nummer des »Journal des Débats«, die seit dem letzten Abend dort herumlag und von anderen nachlässigen Pantoffeln zertreten war; und an der Decke hatte der schwelende Rauch der Blechleuchter schwarze Wolken zu den rosigen Wölkchen gefügt, in denen Engel und Schwalben herumflogen. Unter der Veranda spielten eine Geige und eine Harfe die »Mandolinata«. Und während Topsius sich mit Bier füllte, spürte ich, wie meine Liebe zu diesem Land der Trägheit und des Lichtes auf seltsame Weise wuchs.

Nach dem Kaffee zog mein hochgelehrter Freund mit dem Notizbleistift in der Tasche des Schoßrockes aus, um Antiquitäten und Ruinen aus der Zeit der Ptolemäer zu durchstöbern. Ich zündete mir eine Zigarre an, rief den Alpedrinha und vertraute ihm an, daß ich ohne Zaudern beten und lieben gehen wollte – ersteres wegen der Tante Patrocinio, die mir ein Stoßgebet zu Sankt Josef empfohlen hatte, sobald ich den Boden Ägyptens beträte, der seit der Flucht der Heiligen Familie auf ihrem Eselchen heiliger Boden geworden sei wie der einer Kathedrale; letzteres wegen des Dranges meines begierigen und glühenden Herzens. Alpedrinha öffnete wortlos die Fensterläden und zeigte mir einen hellen Platz, dessen Mitte ein bronzener Held auf einem bronzenen Streitroß schmückte; ein heißer Luftzug wehte Staubwolken über zwei trockene Wasserbecken, und ringsum hoben sich hohe Häuser vom blauen Hintergrund ab, jedes mit der Fahne seines Vaterlandes auf dem Dach, wie rivalisierende Burgen auf einem besiegten Boden. Dann zeigte mir der traurige Alpedrinha an einer Ecke, wo eine Alte Zuckerrohr feilbot, die ruhige Schwesterngasse. Dort, flüsterte er, würde ich über der Türe eines diskreten kleinen Geschäfts eine schwere, holzgeschnitzte Hand hängen sehen, dunkelviolett angestrichen, und darüber auf einem schwarzen Schild in goldenen Lettern die einladenden Worte: »Miss Mary, Handschuhe und Wachsblumen.« Das war die Zufluchtsstätte, die er meinem Herzen anriet. Am Ende der Straße neben dem Plätscherbrunnen zwischen jenen Bäumen gäbe es eine neue Kapelle, wo meine Seele Trost und ich Kühlung finden würde.

»Und sagen Sie, gnädiger Herr, der Miss Mary, daß man Sie aus dem ›Hotel zu den Pyramiden‹ hingeschickt hat!«

Ich steckte eine Rose ins Knopfloch und zog im Triumph ab. Am Ende der Schwesterngasse sah ich die jungfräuliche kleine Kapelle, wie sie im Plätschergeräusch des Wassers zwischen den Platanen schlief. Aber der allerliebreichste Patriarch Sankt Josef war gewiß zu dieser Stunde damit beschäftigt, inbrünstigere Stoßgebete von edleren Lippen zu empfangen; ich wollte den gütigen Heiligen nicht belästigen – und hielt vor der hölzernen, violett gestrichenen Hand an, die da, ausgestreckt und geöffnet, zu warten schien, daß sie mein Herz ergreife. Bewegt trat ich ein. Hinter dem lackierten Ladentisch, vor einer Vase voll Rosen und Magnolien, saß sie und las die »Times«, mit einer weißen Katze auf dem Nacken. Was mich sofort für sie einnahm, waren ihre hellblauen Augen, von einem Blau, das es nur auf Porzellan gibt, einem einfach himmlischen Blau, wie ich es im brünetten Lissabon nie gesehen hatte. Doch noch zauberhafter war ihr lockiges Haar, gewellt wie ein Krimmerpelz aus Gold, so süß und fein, daß man Lust bekam, ewig und in Hingebung mit zitternden Fingern darin zu wühlen; und unwiderstehlich war der profane Nimbus, mit dem es ihr verführerisches, milchweißes, volles Gesichtchen umgab, auf dem ein Hauch von Karminrot zerfloß. Lächelnd und mit Gefühl die dunklen Wimpern senkend, fragte sie mich, ob ich Glacé oder Schwedische wünsche.

Ich lehnte mich aufgeregt an den Ladentisch.

»Ich bringe Ihnen Grüße von Alpedrinha.«

Sie wählte aus der Vase eine schüchterne Rosenknospe und reichte sie mir zwischen den Fingerspitzen. Ich schlürfte wie rasend den Duft ein. Und die Gier dieser Liebkosung schien ihr zu gefallen, denn heißeres Blut strömte ihr ins Gesicht, und leise nannte sie mich: »Sie Schlimmer!« Ich vergaß Sankt Josef und sein Stoßgebet – und unsere Hände, die sich einen Augenblick vereinten, als sie mir den hellen Handschuh anzog, lösten ihren Bund nicht mehr in diesen Wochen, die ich in der Stadt der Lagiden zubrachte, in muselmanische Wonnen versunken.

Sie kam aus York, jener heroischen Grafschaft Altenglands, in der starke und freimütige Frauen wachsen, Frauen, die den Rosen ihrer herrlichen Gärten gleichen. Wegen ihrer Sanftmut und wegen ihres goldenen Lachens, wenn ich sie liebkoste, hatte ich ihr den galanten Schmeichelnamen Maricoquinhas gegeben. Topsius, der sie schätzte, nannte sie »unsere symbolische Kleopatra«. Sie liebte meinen schwarzen, mächtigen Bart; und nur, um mich nicht von der Wärme ihrer Unterröcke entfernen zu müssen, verzichtete ich darauf, Kairo zu sehen, den Nil und die ewige Sphinx, die am Tor der Wüste ob der eitlen Menschheit lächelt ...

Weiß gekleidet wie eine Lilie genoß ich unbeschreiblich süße Vormittage, an Marys Ladentisch gelehnt, respektvoll den Rücken der Katze krauend. Sie war schweigsam, aber ihr schlichtes Lächeln, bei dem sie die Arme kreuzte, ihre reizende Art, die »Times« zu falten, erfüllte mein Herz mit strahlender Fröhlichkeit. Sie brauchte mich gar nicht ihr »Portugieschen«, ihren »kleinen Bibi« zu nennen – wenn nur ihr Busen wogte und diese holde, lüsterne Woge mir verriet, daß die Sehnsucht nach meinen Küssen sie erregt hatte! Dafür allein wäre ich aus so weiter Ferne nach Alexandria geeilt, wäre noch weiter gereist, zu Fuß, ohne Rast, bis dorthin, wo die Fluten des Nils weiß sind!

Des Nachmittags unternahmen wir in der mit Kattun ausgeschlagenen Kutsche mit unserem Topsius langsame genußreiche Spazierfahrten am Ufer des Kanals Mahmoudieh. Unter den dichtbelaubten Bäumen, längs der Mauern von Serailgärten, sog ich den berückenden Duft von Magnolien und andere heiße Wohlgerüche ein, die ich nicht kannte. Im Wasser lagen die schweren Barken, die den heiligen, segenspendenden Nil emporfahren sollten, bei Tempelruinen vor Anker gehen, an den grünen Inseln vorbeisegeln, wo die Krokodile schlafen. Allmählich brach der Abend herein. Topsius murmelte Verse von Goethe. Und die Palmen am Wüstenrand hoben sich im gelben Abendschein ab wie ein bronzenes Relief auf einer Scheibe von Gold.

Maricoquinhas speiste immer mit uns im »Hotel zu den Pyramiden«; und vor ihr entfaltete Topsius seine liebenswürdige Gelehrsamkeit. Er erzählte uns von den Festabenden im alten Alexandria der Ptolemäer, auf dem Kanal, der nach Canopia führte: Beide Ufer erstrahlten von Palästen und Gärten; die Barken mit seidenen Segeln glitten beim Klang der Lauten dahin; die Priester des Osiris, mit Leopardenfellen bedeckt, tanzten unter den Orangenbäumen; und auf den Terrassen lüfteten die Damen von Alexandria die Schleier und tranken aus Lotosblütenkelchen auf die assyrische Venus. Eine schwebende Wollust machte die Seelen milde. Selbst die Philosophen waren liederlich.

»Und«, sagte Topsius mit verliebten Augen, »in ganz Alexandria gab es nur eine anständige Dame, die Homer kommentierte und eine Tante Senecas war. Nur eine!«

Maricoquinhas seufzte. Wie bezaubernd, in diesem Alexandria zu leben und auf einer Barke mit seidenen Segeln nach Canopia zu fahren!

»Ohne mich?« rief ich eifersüchtig.

Sie schwur, ohne ihr starkes Portugieschen wolle sie nicht einmal im Himmel wohnen!

Befriedigt bezahlte ich den Champagner.

Und so verflossen die Tage, sorglos, üppig, genußvoll, reich an Küssen – bis der traurige Tag kam, an dem wir nach Jerusalem reisen mußten.

»Was der gnädige Herr tun sollte«, sagte am Morgen dieses Tages Alpedrinha, während er meine Schuhe putzte, »er sollte hier im lieben Alexandria bleiben und sich erholen!«

Ach, wenn ich das gekonnt hätte! Aber unabweislich waren die Befehle Tantchens! Und ihrem Geld zuliebe mußte ich nun zum düsteren Jerusalem reisen, vor den dürren Ölbäumen niederknien, fromme Rosenkränze an kalten Grabmalen beten ...

»Bist du schon in Jerusalem gewesen, Alpedrinha?« fragte ich ihn und zog mir verzweifelt die Unterhosen an.

»Nein, Herr, aber ich weiß Bescheid ... Ein Nest, ärger als Braga!«

»Pfui Teufel!«

Bei unserem Mahl mit Maricoquinhas am Abend in meinem Zimmer verstummte das Gespräch immer wieder oder wurde von Seufzern unterbrochen; die Kerzen brannten melancholisch wie Fackeln; der Wein umnebelte uns wie der, den man bei Begräbnissen trinkt. Topsius spendete freigebig Trost: »Schöne Dame, schöne Dame, unser Raposo wird zurückkehren ... Ich bin sogar gewiß, er wird aus dem glühenden Land Syrien, aus dem Land der Venus und der Braut des Hohenliedes, in seinem Herzen eine neu lodernde, eine verjüngte Flamme zurückbringen ...«

Ich erstickte fast. Ich biß mir auf die Lippen.

»Das ist ja ausgemacht! Wir müssen noch im Wagen zum Mahmoudieh fahren! Es handelt sich nur darum, einige Vaterunser am Kalvarienberg zu beten. Es wird mir sogar guttun! Ich komme zurück wie ein Stier!«

Nach dem Kaffee lehnten wir uns an die Balkonbrüstung und betrachteten schweigend die üppige Nacht Ägyptens. Die Sterne waren wie eine große, leuchtende Staubwolke, die der liebe Gott dort oben aufgewirbelt hatte, als er ganz einsam über die Straften des Himmels schritt. Das Schweigen war feierlich, weihevoll. Auf den dunklen Terrassen dort unten bewegte sich manchmal eine weiße Gestalt ein wenig, zeigte, daß es noch andere Geschöpfe gab, die wie wir sich stumm in den Anblick des Sternenhimmels versenkten; und in dieser religiösen Stimmung, gleich der einer dumpfen Menge, die staunend vor den Lichtern eines Hauptaltars steht, fühlte ich unwiderstehlich und süß ein Ave-Maria auf meine Lippen treten ...

In der Ferne schlief das Meer. Und im heißen Glanz der Sterne konnte ich auf einem sandigen Ufervorsprung ein verlassenes kleines Haus unterscheiden, das fast ins Wasser tauchte, weiß und poetisch zwischen zwei Palmen gelegen ... Mir kam der Gedanke, daß ich sofort, nachdem Tantchen gestorben und ihr Gold mein sein würde, diese holde Zufluchtsstätte kaufen, ihre Räume mit schönen Seiden ausschlagen und an der Seite meiner Handschuhverkäuferin dort leben könnte, türkisch gekleidet, frisch, heiter, frei von aller Unruhe der Zivilisation. Gebetsübungen zum Allerheiligsten Herzen Jesu würden mir ebenso gleichgültig sein wie die Kriege, die Könige gegeneinander anzetteln mochten. Von den Dingen des Himmels würde mich nichts interessieren als das blauschimmernde Licht, das mein Fenster badete, und von der Erde nur die aufgeblühten Blumen in meinem Garten, die mein heiteres Dasein mit Duft erfüllen sollten. Und ich würde die Tage in orientalischer Trägheit verbringen, den reinen Latakia rauchen, Cello spielen und ständig in jenem Bewußtsein vollkommenen Glücks leben, das Mary mir gab, wenn sie nur ihren Busen wogen ließ und mich ihr »starkes Portugieschen« nannte.

Ich drückte sie an meine Brust und empfand das Verlangen, sie einzuschlürfen. Dicht an ihrem Ohr, das weiß war wie eine weiße Schnecke, flüsterte ich unaussprechliche Kosenamen. Sie erschauerte und hob ihre traurigen Augen zu der goldenen Staubwolke empor.

»Wie viele Sterne! Gott gebe, daß morgen das Meer ruhig ist!«

Bei dem Gedanken an jene weiten Wogen, die mich in das rauhe Land des Evangeliums tragen sollten, so weit fort von meiner Mary, befiel eine unendliche Traurigkeit mein Herz – und unwiderstehlich entrangen sich wohltönende, wehmütige, schmachtende Klagetöne meinen Lippen ... ich sang. Über den schlummernden Terrassen des muselmanischen Alexandria erhob sich meine schmerzerfüllte Stimme zu den Sternen; und mit den Fingern am Aufschlag meines Rockes zupfend, wo die Saiten des Cellos hätten sein sollen, gab ich meinem Weh tränenvollen Ausdruck, schluchzte ich den gefühlvollsten Gassenhauer der portugiesischen Melancholie:

»Mit meiner Seele bleibst du hier zurück,
Ich reise ab, allein mit meinem Weh;
Und alles, alles sagt mir, o mein Glück,
Daß ich dich nie mehr wiederseh!«

Von Leidenschaft überwältigt, hielt ich inne. Der gelehrte Topsius wollte wissen, ob diese schönen Verse von Luiz de Camões seien. Dann zog er sich zurück.

Ich schloß das Fenster; und nachdem ich auf den Korridor gegangen war, um heimlich rasch ein Kreuz zu schlagen, öffnete ich begierig zum letztenmal die Hafteln des Kleides meiner appetitlichen Geliebten.

Kurz, geizig kurz war diese ägyptische Sternennacht!

Schnell, bitter schnell kam der Grieche aus Lakedämon, um mir mitzuteilen, daß auf der Reede schon der Dampfer rauche, der den wilden Namen »Kaiman,« führte und mich den Betrübnissen Kanaans zuführen sollte.

»El Señor Don Topsius« war als Frühaufsteher schon unten, aß behaglich seine Eier mit Schinken und schlürfte sein Bier aus einer riesigen Kanne. Ich nahm kaum einen Schluck Kaffee, im Zimmer, auf einer Ecke der Kommode, in Hemdsärmeln, mit roten Augen unter dem Tränennebel. Mein stabiler Lederkoffer, verschlossen und verschnürt, verstellte den Korridor; und Alpedrinha packte noch in Eile die schmutzige Wäsche in den leinenen Reisesack. Und Maricoquinhas saß verzweifelt auf dem Bettrand, ihren hübschen mohnblumengeschmückten Hut auf dem Kopf, blaue Ringe um die lieben Augen, und sah sich diese zusammengepackten Flanellhemden an, als wären es Stücke ihres Herzens, die man da in den Sack stopfte, auf daß sie wegführen und nimmer wiederkehrten!

»Soviel Schmutzwäsche nimmst du mit, Theodorico?«

Ich stammelte zerschmettert: »Das lasse ich in Jerusalem waschen, mit Gottes Hilfe!«

Ich legte mir mein Skapulier um den Hals. Da erschien Topsius, den Griff seines Sonnenschirmes unter dem Arm, wegen der Nässe des Verdecks in Galoschen – und mit einer Bibel in der vollgepfropften Tasche seines Tuchrockes.

Als er mich ohne Rock sah, tadelte er mein verliebtes Zaudern.

»Aber ich verstehe, schöne Dame, ich verstehe!« antwortete er auf Marys höfliche Entschuldigung; mager und krumm stand er da, die Brille auf der Nasenspitze. »Es ist schmerzlich, aus Kleopatras Armen zu scheiden ... Schon Antonius hat für sie Rom und die Welt verloren ... Ich selbst, obgleich ganz vertieft in meine Mission, in die dämmerdunklen Winkel der Geschichte, die ich aufzuhellen habe, nehme angenehme Erinnerungen an diese Tage von Alexandria mit ... Reizend, unsere Spazierfahrten am Mahmoudieh ... Gestatten Sie mir, daß ich Ihren Handschuh zuknöpfe, schöne Dame ... Und kehre ich je in dieses Land der Ptolemäer zurück, werde ich die Schwesterngasse nicht vergessen ..., ›Miss Mary, Handschuhe und Wachsblumen‹. Sehr gut! Sie werden mir gestatten, daß ich Ihnen meine Geschichte der Lagiden sende, sobald sie fertig ist ... Es gibt da sehr pikante Einzelheiten ... Als Kleopatra sich in Herodes, den König von Judäa, verliebte ...«

Alpedrinha rief aufgeregt vom Bett her: »Gnädiger Herr! Da ist noch schmutzige Wäsche!«

Unter den zerwühlten Decken suchend, hatte er ein langes Spitzenhemd mit hellen Seidenbändern gefunden. Er schüttelte es, und es verbreitete sich ein melancholischer Duft von Veilchen und Liebe ... Ach, es war Marys Nachthemd, noch warm von meinen Armen!

»Es gehört dem Fräulein Mary! Es ist dein Nachthemd, Schatz!« seufzte ich und befestigte meine Hosenträger.

Meine Handschuhverkäuferin, die zitternd und bleich dasaß, hatte einen poetischen Anfall von Leidenschaft. Sie rollte ihr Nachthemd zusammen und warf es mir in die Arme, so nachdrücklich, als hätte sie ihr Herz in seine Falten gewickelt. »Ich schenke dir das, Theodorico! Nimm das mit, Theodorico! Es ist noch zerdrückt von unserer Zärtlichkeit! Nimm es mit und schlafe damit, laß es an deiner Seite, als ob ich es wäre ... Warte, warte noch. Liebster! Ich will ein Wort dazu schreiben, eine Widmung!«

Sie eilte zum Tisch. Dort lag noch etwas von dem würdevollen Papier, auf dem ich Tantchen die erbauliche Geschichte meiner Fasten in Alexandria geschrieben hatte, der Nächte, die ich mit dem Studium des Evangeliums verbracht ... Und ich, mit dem parfümierten Nachthemd im Arm, fühlte, wie mir zwei Tränenperlen in den Bart rollten, und sah mich hastig um, wo ich diese köstliche Reliquie der Liebe verwahren könnte. Die Koffer waren geschlossen, der Reisesack prall gefüllt.

Ungeduldig hatte Topsius aus den Tiefen der Brust seine silberne Uhr gezogen. Unser Lakedämonier brüllte an der Tür: »Señor Don Theodorico, es ist spät, es ist muy tarde!«

Aber meine Geliebte schwenkte schon das Papier, das sie mit ihren breiten Schriftzügen bedeckt hatte, mit Worten, die stürmisch und freimütig waren wie ihre Liebe!

»Meinem Theodorico, meinem starken Portugieschen, in Erinnerung an den großen Genuß, den wir miteinander hatten!«

»Oh, mein Schätzchen! Und wohin soll ich das legen? Ich kann das Hemd doch nicht auf dem Arm tragen, so ohne Hülle!«

Schon schnürte Alpedrinha auf den Knien verzweifelt den Sack auf. Da ergriff Maricoquinhas in einer zärtlichen Eingebung einen Bogen Packpapier, raffte vom Boden ein rotes Bändchen auf; und ihre geschickten Handschuhmacherhände formten aus dem Nachthemd ein rundes Paket, bequem und graziös – das nahm ich unter den Arm, drückte es gierig mit entflammter Leidenschaft an mich.

Dann folgten Seufzer, Küsse, Gemurmel von Kosenamen ...

»Mary, geliebter Engel!«

»Theodorico, Liebster!«

»Schreib mir nach Jerusalem!«

»Vergiß dein kleines Kätzchen nicht ...!«

Ich trottete niedergeschlagen die Stiege hinab. Und die Kutsche, die mich und Mary so oft am Ufer unter den duftenden Bäumen des Mahmoudieh spazierengeführt hatte – da fuhr sie nun im Trab des weißen Gespanns, entriß mich einem Glück, in dem mein Herz Wurzeln geschlagen hatte, die nun zerrissen waren und in meiner schweigenden Brust bluteten. Der gelehrte Topsius, hinter seinem grünen Sonnenschirm verbarrikadiert, fing schon wieder an, gefühllos Dinge von antiquarischer Gelehrsamkeit zu murmeln. Wußte ich, wo wir dahinrollten? Auf der edlen Straße der Sieben Stadien, die der erste der Lagiden gebaut hatte, zur Verbindung mit der Insel Pharos, die schon Homer besingt! Ich hörte ihm nicht zu, lehnte mich nach hinten aus dem Wagen, winkte mit dem tränenfeuchten Taschentuch meiner Sehnsucht. Die holde Maricoquinhas, reizend anzusehen unter ihrem mohnblumenumblühten Hut, schwenkte am Eingang des Hotels neben Alpedrinha gleichfalls liebevoll ihr Taschentuch; und einen Augenblick ließen diese beiden weißen Stückchen Batist in der heißen Luft die Glut unserer Herzen einander entgegenschwingen. Dann sank ich wie tot auf das Kattunkissen ...

Kaum auf dem »Kaiman« eingeschifft, wollte ich in meine Kajüte laufen, um meinen Schmerz zu verbergen. Topsius erwischte mich noch am Ärmel, um mir Stätten der Größe der Ptolemäer zu zeigen, den Hafen des Eunotos, die marmorne Mole, an der Kleopatras Galeeren geankert hatten. Ich entfloh; auf der Treppe prallte ich, rollte ich fast gegen eine Barmherzige Schwester, die schüchtern heraufkam, ihren Rosenkranz in der Hand. Ich murmelte: »Entschuldigen Sie, meine Hochwürdige.« Und endlich aufs Lager sinkend, ließ ich die Tränen frei auf das Packpapier des runden Pakets strömen; es war alles, was mir von dieser Leidenschaft von unvergleichlichem Glanz geblieben war, die ich im Lande Ägypten erlebt.

Zwei Tage und zwei Nächte schnaubte und rollte der »Kaiman« auf den Riesenwogen des Meeres von Tyrus. In eine Decke gewickelt, ohne Marys Paket von meiner Brust zu nehmen, wies ich mit Abscheu die Zwiebacke zurück, die mir von Zeit zu Zeit der humane Topsius brachte; und ohne auf die gelehrten Dinge zu hören, die er mir mit unerschütterlicher Ruhe über dies Gewässer berichtete, welches die Ägypter »Das große Grüne« genannt hätten, suchte ich vergeblich in meinem Gedächtnis nach den Bruchstücken eines Gebets zur Beschwichtigung der Wogen, das ich von Tantchen gehört hatte.

Aber eines Abends in der Dämmerung, als ich die Augen geschlossen hatte, schien es mir, als fühlte ich unter meinen Pantoffeln einen festen Boden, Felsenboden, auf dem es nach Rosmarin duftete: und ich fand unbegreiflicherweise, daß ich einen ländlichen Hügel emporstieg, in Gesellschaft Adelias und meiner blonden Mary, die aus dem Paket gestiegen war, frisch und adrett, ohne daß die Mohnblumen ihres Hutes zerdrückt worden wären! Dann, hinter einem Fels, tauchte vor uns ein nackter Mann auf, riesenhaft, kohlschwarz, gehörnt; seine Augen leuchteten rot wie runde Laternengläser; und mit seinem endlosen Schweif machte er auf dem Boden einen Lärm wie eine Natter, die sich in trockenem Laube wälzt. Ohne uns zu grüßen, begann er unverschämt an unserer Seite zu schreiten. Ich bemerkte wohl, daß es der Teufel war; aber ich fühlte keine Gewissensbisse, keine Angst. Die unersättliche Adelia warf von der Seite Blicke auf seine gewaltige Muskulatur. Ich sagte entrüstet zu ihr: »Du Sau, sogar der Teufel ist dir gut genug?«

So marschierend gelangten wir auf den Gipfel des Berges – dort neigte sich eine zerzauste Palme über einen dunklen, schweigenden Abgrund. Vor uns, sehr fern, entfaltete sich der Himmel wie ein ungeheures gelbliches Tuch; und auf diesem lebendigen Hintergrund von der Farbe eines Eies hob sich ein tief schwarzer Hügel ab; auf ihm ragten drei Kreuze empor, wie mit feinen Strichen gezeichnet. Der Teufel spuckte aus, dann murmelte er, indem er mich am Ärmel zupfte: »Das in der Mitte ist das Kreuz von Jesus, Josefs Sohn, den sie auch den Christus nennen; und wir sind zur Zeit gekommen, um die Himmelfahrt zu genießen.« Und tatsächlich! Das mittlere Kreuz, das des Christus, entwurzelte sich aus dem Hügel wie ein Strauch, den der Wind ausreißt, begann emporzusteigen, langsam, wachsend, den Himmel zerteilend. Und nun flogen aus dem ganzen Weltenraum Schwärme von Engeln herbei, um das Kreuz zu tragen, gedrängt wie die Tauben, wenn sie den Körnern zueilen; die einen zogen es von oben, hatten es in der Mitte an lange seidene Stricke gebunden; andere, von unten, schoben es – und wir sahen die schwellende Anstrengung ihrer himmelblauen Arme. Manchmal löste sich von dem Holz ein dicker Blutstropfen wie eine überreife Kirsche; ein Seraph fing ihn in den Händen auf und trug ihn in den höchsten Teil des Himmels; dort blieb er hängen und leuchtete hell wie ein Stern. Ein ungeheurer Alter in einem weißen Gewand, dessen Umrisse wir kaum erkennen konnten unter der flutenden Fülle des Haupthaares und des schneeweißen Bartes, kommandierte, zwischen Wolken ausgestreckt, dieses Manöver der Himmelfahrt in einer Sprache, die dem Lateinischen ähnlich war und laut wie das Getöse von hundert Kriegswagen. Plötzlich verschwand alles. Und der Teufel blickte mich an und sagte gedankenvoll: »Consummatum est, Freund! – Kein anderer Gott mehr! Keine andere Religion mehr! Und diese wird auf Erden und im Himmel eine unsägliche Langeweile verbreiten!«

Während er mich den Hügel hinunter begleitete, begann der Teufel, mir lebhaft von den Kulten, den Festen, den Religionen zu erzählen, die in seiner Jugend geblüht hatten. Diese ganze Küste des »Großen Grünen« von Byblos bis Karthago, von Eleusis bis Memphis war damals von Göttern überfüllt gewesen. Die einen strahlten in ihrer vollendeten Schönheit, die anderen zeichneten sich durch raffinierte Grausamkeit aus. Aber alle mischten sich ins menschliche Leben, vergöttlichten es, fuhren auf Triumphwagen, tranken den Wein, entjungferten schlafende Mädchen. Deswegen wurden sie mit einer Liebe geliebt, die nicht wiederkehren würde; und die Völker, wenn sie auswanderten, konnten ihre Herde im Stich lassen oder die Flüsse vergessen, aus denen sie getrunken hatten – aber sie trugen sorgfältig ihre Götter mit sich. »Freund«, fragt er, »warst du niemals in Babylon?« Dort kamen an einem Tage alle Weiber, Matronen und Jungfrauen, um sich in den heiligen Hainen zu prostituieren, der Göttin Mylitta zu Ehren. Die Reichsten kamen in silberbeschlagenen, von Büffeln gezogenen Karren, Sklavinnen begleiteten sie; die Ärmsten trugen einen Strick um den Nacken. Die einen breiteten einen Teppich aufs Gras, kauerten in geduldigem Gebet nieder; die anderen standen, nackt, weiß, das Haupt in einem schwarzen Schleier verborgen, wie strahlender Marmor zwischen den Pappelstämmen. Und alle warteten, bis irgend jemand ihnen eine Silbermünze zuwarf und ihnen sagte: »Im Namen der Venus!« Dann folgten sie ihm, ob er nun ein Prinz war aus Susa mit einer Perlentiara, oder ein Kaufmann, der in seiner ledernen Barke den Euphrat hinabfuhr; und die ganze Nacht lang stöhnte im Dunkel des Gebüschs das Delirium der religiösen Orgie. Dann erzählte der Teufel mir von den menschlichen Fackeln des Molochs, von den Mysterien der Bona Dea, bei denen die Lilien mit Blut begossen wurden, und vom glühenden Begräbnis des Adonis ...

Und mit einem Lachen innehaltend: »Warst du nie in Ägypten, Freund?«

Ich sagte ihm, daß ich dort gewesen war und dort Maricocas kennengelernt hatte. Und der Teufel erwiderte höflich: »Das war nicht Maricocas, das war Isis! Wenn die Überschwemmung Memphis erreichte, bedeckten sich die Fluten mit geweihten Barken. Eine heroische Freude stieg zur Sonne empor, machte die Menschen den Göttern gleich. Osiris mit seinen Ochsenhörnern trat Isis; und unter dem Getön der bronzenen Harfen hörte man am ganzen Nil das Liebesgebrüll der göttlichen Kuh.«

Darauf erzählte mir der Teufel, wie hold und schön in Griechenland die Naturreligionen blühten. Dort war alles weiß, glatt, rein, licht und heiter; Harmonie ging von den Formen der marmornen Statuen aus, von der Verfassung der Städte, der Beredsamkeit der Akademien und der Gewandtheit der Athleten; zwischen den Ionischen Inseln, die in den weichen Wogen des stummen Meeres wie Blütenkörbe schwammen, hängten sich die Nereiden an den Bord der Schiffe an, um den Geschichten der Reisenden zu lauschen; die Musen sangen in den Tälern; und die Schönheit der Venus war wie die Verkörperung der Schönheit von Hellas.

Aber da war dieser Zimmermann von Galiläa erschienen und nun war alles aus! Das menschliche Antlitz war für immer bleich geworden, gezeichnet von Kasteiung; ein dunkles Kreuz verfinsterte die Erde, nahm den Rosen ihren Glanz und den Küssen den Geschmack – und angenehm waren dem neuen Gott häßliche Formen.

Ich nahm an, Luzifer sei betrübt, und suchte ihn zu trösten: »Lassen Sie nur, noch gibt es auf der Welt viel Stolz, viel Prostitution, viel Blut, viel Raserei! Sehnen Sie sich nicht nach den Fackeln des Molochs. Man wird Juden verbrennen!« Und er, entsetzt: »Ich? Die einen oder die anderen, was geht mich das an, Raposo? Sie gehen vorbei, ich bleibe!«

So, ohne auf den Weg zu achten, im Gespräch mit Satan vertieft, fand ich mich plötzlich auf dem Campo de Sant' Anna. Wir waren stehengeblieben, und während, er seine Hörner aus den Ästen eines Baumes befreite, hörte ich plötzlich neben mir ein Gekreisch: »Sieh da, der Theodorico mit dem Saumensch!« Ich wandte mich um, es war Tantchen! Tantchen, fahl, schrecklich, das Gebetbuch zum vernichtenden Schlag erhoben! Schweißgebadet erwachte ich.

An der Kabinentür rief Topsius fröhlich: »Stehen Sie auf, Raposo! Palästina ist in Sicht!«

Der »Kaiman« stoppte; und in der Stille hörte ich das Wasser mit dem Schnurren einer zahmen Liebkosung an die Schiffswand branden. Warum hatte ich, da ich mich Jerusalem nahte, von den falschen Göttern geträumt, von Jesus, ihrem Besieger, und Satan, dem Rebellen gegen sie alle? Welche höchste Erleuchtung bereitete der Herr für mich vor?

Ich wickelte mich aus der Decke; schlaftrunken, schmutzig, ohne Marys kostbares Paket loszulassen, ging ich auf Deck, in meinen Überrock gehüllt. Eine feine, starke Luft badete mich aufs köstlichste, brachte mir Gebirgsaroma und den Duft von Orangenblüten. Das Meer war still geworden, es glänzte blau in der Frische des Morgens. Und vor meinen sündigen Augen breitete sich das Land Palästina aus; sandig und flach – mit einer dunklen Stadt zwischen Obstgärten, auf der Höhe von den Strahlen der Sonne erhellt wie ein Heiligenbild von Kerzen.

»Jaffa!« rief mir Topsius entgegen und schwang seine Tonpfeife. »Hier haben Sie, Dom Raposo, die älteste Stadt Asiens, das uralte Joppe, vor der Sintflut erbaut! Ziehen Sie die Kappe, grüßen Sie dies Denkmal alter Zeiten, so voll der Legende und der Geschichte ... Hier hat der versoffene Noah seine Arche erbaut!«

Ich sagte niedergeschlagen: »Caramba! Kaum kommt man her, fangen schon die religiösen Geschichten an!«

Und ich blieb barhäuptig stehen – denn da nun der »Kaiman« vor dem Heiligen Lande ankerte, hatte er die Weihe einer Kapelle angenommen, war voll von Salbung und frommer Betätigung. Ein Lazarist in weißer Kutte ging gesenkten Blickes auf und ab; er meditierte über seinem Brevier. Zwei Nonnen in schwarzen Lüsterkapuzen ließen bleiche Finger über die Perlen ihrer Rosenkränze gleiten. Längs der feuchten Reling staunten Pilger aus Abessinien und behaarte griechische Geistliche aus Alexandria die sonnenvergoldeten Häuser von Jaffa an wie ein illuminiertes Gotteshaus. Und die Bordglocke am Heck klingelte in der salzigen Brise mit dem frommen, süßen Klang des Meßglöckchens ...

Da ich eine schwärzliche Barke auf den »Kaiman« losrudern sah, eilte ich in die Kabine hinab, den Korkhelm und schwarze Handschuhe anzulegen, um würdig das Land meines Heilands zu betreten. Als ich zurückkehrte, gut gebürstet, gut parfümiert, hatte das Boot angelegt. Und ich stieg voll Begierde hinunter, hinter einem bärtigen Franziskaner – da entfiel Marys geliebtes Paket meinen sorgsamen Armen, hüpfte die Treppe hinab wie ein Ball, schlug an den Rand des Bootes ... drohte in das gelbe Wasser zu fallen! Ich schrie auf. Eine der Nonnen packte es geschickt und voll Erbarmen.

»Besten Dank, meine Gnädige!« rief ich aufgeregt. »Es ist ein kleines Bündel Wäsche! Dank im heiligen Namen der Mutter Gottes!«

Sie zog sich bescheiden in das Dunkel ihrer Kapuze zurück – und während ich es mir zwischen Topsius und dem bärtigen Franziskaner bequem machte, der nach Knoblauch roch, behielt das heilige Geschöpf das Paket auf ihrem reinen Schoß, legte sogar die Perlen ihres Rosenkranzes darüber.

Der Lotse ergriff das Steuer und schrie: »Allah ist groß, vorwärts!« Die Araber ruderten singend. Die Sonne stieg hinter Jaffa empor. Und ich, auf meinen Sonnenschirm gestützt, betrachtete die züchtige Nonne, wie sie auf ihrem Schoß Marys Nachthemd in das Land der Keuschheit trug.

Sie war jung, und ihre traurige Kapuze aus schwarzem Lüsterstoff umgab ein ovales, elfenbeinfarbiges Gesicht, dem die langen Wimpern die Schatten einer leidenden Melancholie verliehen. Die Lippen hatten alle Farbe und alle Wärme verloren, weil sie nutzlos waren, einzig und allein dazu bestimmt, die bläulichen Füße eines göttlichen Leichnams zu küssen. Verglichen mit Mary, der blühenden, sinnlichen Rose von York, die Alexandria mit ihrem Duft erfüllte, neigte sich diese wie eine noch geschlossene Lilie, die bereits in der Moderluft einer Kapelle welkt. Gewiß reiste sie in irgendein Hospital des Heiligen Landes. Das Leben mußte für sie eine lange Reihe von Wunden sein, die sie zu verbinden, und von Leintüchern, die sie über tote Gesichter zu decken hatte ... Und gewiß hatte die Furcht Gottes sie so bleich gemacht.

»Zu dumm!« murmelte ich.

Arme, unfruchtbare Kreatur! Hatte sie etwa bemerkt, was dieses braune Paket enthielt? Spürte sie vielleicht, wie das seltsame, verführerische Parfüm von Vanille und liebesheißer Haut daraus emporstieg, sich im Dunkel ihrer Kapuze verbreitete? War die Wärme des zerwühlten Bettes, die in den Spitzen des Hemdes geblieben war, vielleicht durch das Papier gedrungen und brannte ihr sanft auf den Wangen? Wer weiß! Einen Moment lang schien es mir, als färbe ein Tropfen jungen Bluts ihr abgehärmtes Gesicht rosig, als woge unter dem Habit, auf dem ein Kreuz glänzte, ihre Brust ganz verstört; ich glaubte sogar unter ihren Wimpern einen flüchtigen, schüchternen Blick aufleuchten zu sehen, der meinen dichten schwarzen Bart suchte ... Aber es war nur wie ein Blitz. Schon wieder wurde das Gesicht unter der Kapuze kalt wie geweihter Marmor; und auf ihrer Brust lastete eifersüchtig das Kreuz aus Eisen. Neben ihr lächelte die andere Nonne, ein kleines, fettes, bebrilltes Wesen, das grüne Meer und den gelehrten Topsius an – es war ein Lächeln, das aus dem Frieden ihres Herzens kam und ihr ein Grübchen ins Kinn gegraben hatte.

Kaum waren wir auf Palästinas Sand gesprungen, beeilte ich mich, ihr Dank zu sagen, den Korkhelm in der Hand, wohlerzogen und weltmännisch.

»Schwester, ich bin Ihnen sehr verbunden ... Sehr unangenehm, wenn das Paketchen verlorengegangen wäre! ... Es ist von meiner Tante, ein Auftrag für Jerusalem ... Ich werde es Ihnen erzählen ... Tantchen ist eine große Verehrerin alles Heiligen, sie zerreißt sich vor Wohltätigkeit ...«

In den Falten ihrer Kapuze verborgen, reichte sie mir stumm das kleine Paket mit den Spitzen ihrer zarten Finger, die durchscheinender waren als die auf den Bildern Unserer Lieben Frau von der Agonie. Und die beiden schwarzen Gewänder verloren sich zwischen den schimmernden, frisch getünchten Mauern eines in Stufen ansteigenden Gäßchens, in dem ein Hundekadaver, umschwärmt von Schmeißfliegen, faulte. Ich murmelte noch: »Zu dumm!«

Als ich mich umwandte, plauderte im Schatten seines Sonnenschirms Topsius mit dem gefälligen Mann, der dann unser Führer im Lande der Schrift wurde. Er war jung, dunkelhaarig, hochaufgeschossen, mit einem langen Schnurrbart, der im Winde flatterte; er trug eine Plüschjacke und weiße Reitstiefel; die versilberten Kolben zweier Pistolen, aus einem schwarzen Wollgürtel hervorragend, bildeten den kriegerischen Schmuck seiner starken Brust; und um den Kopf geknüpft trug er ein grelles Kopftuch aus gelber Seide, dessen Zipfel und Fransen nach hinten fielen. Sein Name war Paulo Potte, sein Vaterland Montenegro; und an der ganzen Küste Syriens kannte man ihn als den lustigen Potte ... Jesus, was für ein lustiger Reisekamerad! Die Lustigkeit blitzte ihm im hellblauen Auge; die Lustigkeit sang zwischen seinen unvergleichlichen Zähnen, die Lustigkeit klang aus dem Getrampel seiner Sohlen. Von Askalon bis zu den Basaren von Damaskus, vom Karmel bis zu den Gärten von Engeddi war er der lustige Potte. Er reichte mir freigebig den Beutel voll parfümierten Tabaks. Topsius setzte er durch sein biblisches Wissen in Staunen. Ich klopfte ihm freundschaftlich auf den Bauch; und nach kräftigem Händeschütteln gingen wir ins »Hotel Josaphat«, um unseren Kontrakt zu unterzeichnen und reichlich Bier dazu zu trinken.

Der so ungemein lustige Potte arrangierte sogleich unsere Karawane nach der Stadt des Herrn. Ein Maulesel trug unser Gepäck; der arabische Treiber in seinem blauen Mantel war so stolz und schön, daß ich unwillkürlich fortwährend die schwarze Liebkosung seiner samtenen Augen suchte; und aus orientalischem Luxus folgte uns als Eskorte ein alter eingeschrumpfter Beduine im schwarzgraugestreiften Kamelhaarburnus mit einer starken rostigen Lanze, die ganz mit Quasten umwickelt war. In einer Satteltasche bewahrte ich sorgsam das liebe kleine Paket mit Marys Nachthemd.

Nachdem er die Steigbügel des langbeinigen Topsius verlängert hatte, schwang der festlich gestimmte Potte anmutig den Reitstock und stieß den alten Ruf der Kreuzfahrer und des Richard Löwenherz aus: »Vorwärts nach Jerusalem, Gott will es!« Und im Trab, mit brennenden Zigarren, ritten wir durchs Markttor von Jaffa aus, zu der Stunde, da es im Hospiz der Lateinischen Väter milde zur Vesper läutete.

In der sanften Helle des Spätnachmittags zog sich die Straße durch Gärten, Obsthaine, Orangenwälder, Palmen, durch das leuchtende, liebenswerte Land der Verheißung. Zwischen den Myrtensträuchern verlor sich das flüchtige Singen der Rinnsale. Die Luft, die von einer unaussprechlichen Milde war, als ob in ihr Gottes erwähltes Volk besser atmen sollte, durchzog der Duft von Jasmin und Zitronen. Das ernste, friedliche Knarren der Wasserräder verstummte allmählich im endenden Arbeitstage zwischen den blühenden Granatbäumen. Hoch und heiter flog ein großer Adler am azurblauen Himmel.

Beglückt hielten wir an einem Brunnen aus schwarzem und rotem Marmor im Schatten von Sykomoren, in denen Turteltauben girrten. Daneben erhob sich ein Zelt, in dem ein weißbärtiger Alter saß; den Rasen vor ihm bedeckte ein Teppich, auf dem Trauben ausgebreitet waren und Milchnäpfe standen; und mit dem Anstand eines Patriarchen grüßte uns der Greis im Namen Allahs. Das Bier hatte mir Durst gemacht; und ein Mädchen, schön wie einst Rachel, gab mir aus einem Krug von biblischer Form zu trinken, lächelnd, mit entblößter Brust; zwei lange goldene Ohrgehänge schlugen ihr ans braune Gesicht, und ein weißes, zahmes Zicklein hatte sie in den Saum des weiten Gewandes eingeschlagen.

Stumm und golden kam der Abend herab, als wir in die Ebene von Saron gelangten, die dereinst, wie die Bibel berichtet, mit Rosen erfüllt gewesen war ... In der Stille klingelten die Glöckchen einer Herde schwarzer Ziegen, die ein Araber, nackt wie Sankt Johannes, weidete. Dort im Hintergrund schienen die düsteren Berge von Juda, welche die ins Tyrische Meer tauchende Sonne mit schrägen Strahlen beschien, so schön, so blau und so voll von sehnsüchtiger Süße wie die Illusionen der Sünde. Dann wurde alles dunkel. Zwei Sterne von unendlichem Glanz stiegen auf und begannen vor uns dahinzuziehen, auf Jerusalem zu.

 

Unser Zimmer im »Hotel Mittelmeer« in Jerusalem mit seiner weißgetünchten gewölbten Decke und dem ziegelgepflasterten Boden war wie die strenge Zelle eines primitiven Klosters. Aber die mit einer blaugeblümten Tapete bedeckte Wand gegenüber dem Fenster bestand nur aus dünnen Brettern; sie trennte unseren Raum von einem anderen Zimmer, in dem wir eine frische Stimme die Ballade vom »König in Thule« singen hörten. Ein glänzender Kleiderschrank aus Mahagoni strahlte Komfort und Zivilisation aus. Ich öffnete ihn, wie man einen Reliquienschrein öffnet, um mein gesegnetes Paketchen einzuschließen. Die beiden kleinen Eisenbetten verschwanden hinter den jungfräulichen Falten der Batistvorhänge; und in der Mitte stand ein Tisch von Fichtenholz, an dem Topsius die Karte von Palästina studierte, während ich in Pantoffeln auf und ab ging und mir die Nägel feilte. Es war der fromme Freitag, an dem die Christenheit die heiligen Märtyrer von Evora verehrt. Wir waren an diesem Abend bei trübem, feinem Regen in die Stadt des Heilands gekommen; und von Zeit zu Zeit hob Topsius seine Brillengläser von den Landstraßen Galiläas, betrachtete mich mit gekreuzten Armen und murmelte freundschaftlich: »Nun ist Freund Raposo also in Jerusalem!«

Ich blieb vor dem Spiegel stehen, warf einen Blick auf meinen lang gewordenen Bart, das sonnenverbrannte Gesicht und murmelte ebenfalls beifällig: »Wirklich, da ist also der schöne Raposo in Jerusalem!«

Und unersättlich betrachtete ich von neuem durch die trüben Scheiben das göttliche Zion. Im melancholischen Regen erhoben sich mir gegenüber die weißen Mauern eines stillen Klosters, mit geschlossenen grünen Fensterläden und zwei riesigen Regenrinnen aus Zink an jeder Ecke, von denen die eine sich rauschend in ein verlassenes Gäßchen entleerte, die andere ihr Wasser auf den durchweichten Boden eines mit Kohl bepflanzten Gartens niederplätschern ließ, in dem ein Pferd wieherte.

Auf dieser Seite hatte man eine weite Aussicht auf flache, düstere, kotfarbene Dächer, von denen jedes mit einer kleinen backofenförmigen Ziegelkuppel und langen Stangen zum Trocknen der Wäsche versehen war; fast alle waren jämmerlich verfallen, sie schienen sich in dem Wasserguß aufzulösen, der sie überströmte. Auf der anderen Seite erhob sich im feuchten Nebel eine Anhöhe mit schmutzigen verräucherten Hütten und kleinen grünen Gärten; zwischen den Hütten wand sich ein steiles Gäßchen mit Stiegen, wo fortwährend Mönche in Binsenschuhen unter ihren Regenschirmen aneinander vorbeigingen; ab und zu erblickte man dunkle Juden mit herabfallenden Schläfenlocken oder einen hübschen Beduinen mit aufgeschürztem Burnus ... Oben lastete der graue Himmel. So erschien mir an meinem Fenster das alte Zion, das wohlgebaute, das lichtstrahlende, die Lust der Erde, die schönste unter den Städten.

»Das ist gräßlich, Topsius! Alpedrinha hatte recht! Das ist ärger als Braga, Topsius! Und nicht einmal eine Promenade, kein Billard, kein Theater! Nichts! In was für einer Stadt hat unser Heiland gelebt!«

»Jawohl! Zu seiner Zeit war sie amüsanter«, brummte mein weiser Freund.

Und dann schlug er mir vor, am Sonntag zum Gestade des Jordans aufzubrechen, wohin ihn seine Studien über die Herodiaden riefen. Dort könne ich ländliche Freuden genießen – im heiligen Wasser baden, in den Palmenhainen von Jericho Rebhühner schießen. Ich stimmte mit Vergnügen zu. Und wir gingen zum Essen hinunter, da uns eine Klosterglocke rief, die im Dunkel des Korridors traurig wie zu einem Begräbnis bimmelte.

Das Refektorium war gleichfalls gewölbt; eine Matte von Spartgras lag auf den Fliesen des Bodens. Der gelehrte Historiker der Herodiaden und ich saßen allein an der trübseligen Tafel, die Papierblumen in schadhaften Vasen zierten. In den Nudeln einer geschmacklosen Suppe herumlöffelnd, brummte ich niedergeschlagen: »Jesus, Topsius, was für eine gewaltige Langweile!« Aber da öffnete sich leise eine Glastür im Hintergrund, und erregt rief ich: »Caramba, Topsius, was für ein großartiges Weib!«

Großartig, tatsächlich! Gesund und robust wie ich, weiß, von der Weiße vielgewaschener Wäsche, mit Sommersprossen besät, von einer glühenden Fülle welligen kastanienbraunen Haares gekrönt, in einem Kleid aus blauer Serge, das die straffen Brüste fast zu sprengen schienen – so trat sie ein, einen frischen Geruch nach Windsorseife und Kölnischwasser verbreitend, und erhellte das ganze Refektorium mit dem Glanz ihres Fleisches und ihrer Jugend ... Der fruchtbare Topsius verglich sie mit der kraftstrotzenden Göttin Kybele.

Kybele setzte sich oben an die Tafel, heiter und stolz. Neben ihr ließ sich ein ruhiger, glatzköpfiger Herkules mit dichtem grauem Bart nieder, daß der Stuhl unter der Last seiner gewaltigen Glieder krachte; indem er die Serviette entfaltete, enthüllte er schon die Allmacht des Geldes und die veraltete Gewohnheit zu befehlen. Ein Yes, das sie murmelte, verriet mir, daß sie aus dem Lande Maricocas' war. Sie erinnerte mich an die Engländerin des Herrn Barons.

Sie hatte neben ihren Teller ein geöffnetes Buch gelegt, das mir Verse zu enthalten schien; der Graubart, der mit der majestätischen Anmut eines Löwen kaute, schlug ebenfalls schweigend seinen »Führer durch den Orient« auf. Und ich vergaß mein Schafsragout über der begierigen Betrachtung jeder einzelnen ihrer Vollendungen. Von Zeit zu Zeit erhob sie den dichten Vorhang ihrer Wimpern; ich erhoffte sehnsüchtig das Geschenk ihres klaren und milden Blickes, aber sie ließ ihn über die getünchten Wände schweifen, über die Papierblumen, und ihn interesselos und kühl wieder auf die Seiten ihres Gedichtbandes sinken.

Nach dem Kaffee küßte sie die behaarte Hand des Graubarts und verschwand durch die Glastür, allen Duft, alles Licht und alle Freude Jerusalems mit sich nehmend. Der Herkules zündete gemächlich seine Pfeife an; sagte dem Kellner, er möchte ihm »den Ibrahim schicken, den Führer«, stand auf, schwerfällig und massiv. An der Tür warf er den Regenschirm des Topsius um, meines ehrwürdigen Topsius, des Ruhmes der deutschen Nation, Mitglieds des Kaiserlichen Instituts für Historische Ausgrabungen – und hob ihn nicht auf, schenkte ihm nicht einmal einen hochmütigen Blick.

»Verdammter Flegel!« fauchte ich, vor Wut kochend. Mit der gesellschaftlichen Feigheit des disziplinierten Deutschen ergriff mein gelehrter Freund seinen Regenschirm, säuberte den Stoff und sagte dabei ganz erschrocken, der Graubart könnte vielleicht ein Herzog sein.

»Was Herzog! Für mich gibt es keinen Herzog. Ich bin Raposo, aus dem Hause der Raposos von Alemtejo! Ich hätte ihn in Stücke gerissen!«

Aber der Abend sank herab – und wir mußten unseren ehrfurchtsvollen Besuch am Grabe unseres Heilands machen. Ich eilte ins Zimmer, um, wie ich es Tantchen versprochen, meinen Zylinderhut aufzusetzen; und als ich in den Korridor trat, sah ich Kybele die Tür neben unserer Tür öffnen, in einen grauen Mantel gehüllt, mit einer Mütze, auf der zwei weiße Möwenfedern prangten. Das Herz schlug mir in einer großen, rasenden Hoffnung. So war sie es, die die Ballade vom König in Thule geträllert hatte! So waren unsere Betten nur durch die dünne, gebrechliche Bretterwand mit der blaugeblümten Tapete getrennt! Ich suchte kaum nach meinen schwarzen Handschuhen; in großer Aufregung ging ich hinunter, gewiß, daß ich ihr am Grabe Christi wieder begegnen würde; und schon plante ich, in die Bretterwand ein Loch zu bohren, durch das mein verliebtes Auge sich an den Schönheiten ihres Negligés sättigen konnte.

Noch regnete es trübselig. Kaum begannen wir in den Morast der Via Dolorosa hineinzupatschen, die tief zwischen den kotfarbenen Mauern dahinlief, da rief ich unter meinem Regenschirm nach Potte und fragte ihn, ob er im Hotel meine starke, sommersprossige Kybele gesehen hätte. Der vergnügte Potte hatte sie bereits bewundert. Und von Ibrahim, seinem verehrten Kollegen, wußte er, daß der Graubart ein Schotte war, ein Schnittwarenhändler.

»Da sehen Sie es, Topsius!« rief ich. »Schnittwarenhändler! Ein schöner Herzog! Ein Vieh ist er! Ich hätte ihn in Stücke gerissen. In Ehrensachen bin ich ein wildes Tier. Ich hätte ihn in Stücke gerissen!«

Die Tochter mit den dichten Haarflechten, sagte Potte, hätte einen strahlenden Juwelennamen; sie hieße Ruby – Rubin. Sie liebe Pferde, sei sehr mutig; in Obergaliläa, woher sie kamen, hätte sie einen schwarzen Adler getötet ...

»Und hier sehen die Herren das Haus des Pilatus ...«

»Verschone uns mit dem Haus des Pilatus, Mensch! Mich interessiert das Haus des Pilatus nicht! Und was sagt der Ibrahim noch? Schieß los, Potte!«

Hier verengte sich die Via Dolorosa unter ihrem Gewölbe wie ein Katakombengang. Zwei aussätzige Bettler, vor Schmutz starrend, nagten grunzend an Melonenschalen. Ein Hund heulte. Und der lachende Potte erzählte mir, Ibrahim habe Miss Ruby oftmals von der Schönheit der Männer Syriens begeistert gesehen; nachts, am Eingang des Zelts, während der Papa Bier soff, sprach sie leise Verse vor sich hin und blickte auf die flimmernden Sterne. Ich dachte: ›Caramba, die paßt zu mir!‹

»Und hier befinden sich nun die Herren vor dem Heiligen Grab!«

Ich schloß meinen Regenschirm. Im Hintergrund eines Hofes mit geborstenem Pflaster erhob sich die baufällige, traurige Fassade einer Kirche mit zwei Bogentoren, das eine schon mit Kies und Kalk als überflüssig vermauert, das andere schüchtern, ängstlich halb geöffnet. Und an den schwachen Flanken dieses düsteren Tempels, den die Anzeichen des Verfalls schändeten, klebten zwei baufällige Bauwerke, eins für den lateinischen und eins für den griechischen Ritus – wie entsetzte Töchter, die der Tod bedroht und die sich in den Schoß der gleichfalls halbtoten und schon erkaltenden Mutter flüchten.

Ich zog meine schwarzen Handschuhe an. Und sofort umschwärmte uns gierig ein Haufen schmutziger Männer, bot Reliquien an, Rosenkränze, Kreuze, Skapuliere, Stücke der von Sankt Josef gehobelten Tische, Medaillen, Weihwasserbecken, Fläschchen voll Jordanwasser, Wachskerzen, Agni Dei, Lithographien der Passion, in Nazareth hergestellte Papierblumen, geweihte Steine, Olivenkerne vom Ölberg und Mäntel, »wie die Jungfrau Maria einen trug«. Um zu Christi Grab auf den Knien hineinrutschen zu können – Tantchen hatte es mir empfohlen, schluchzend und den Rosenkranz betend –, mußte ich einen verdächtigen Kerl prügeln, der sich an meine Jacke gehängt hatte, verhungert, wütend, und brüllend verlangte, wir sollten ihm Zigarrenspitzen abkaufen, die aus einem Stück von Noahs Arche gemacht seien.

»Weg da, Caramba! Laß mich los, Bestie!«

Und auf diese Weise fluchend, mit zum Schlag erhobenem Regenschirm, stürzte ich mich ins Innere des erhabenen Heiligtums, in dem die Christenheit das Grabmal ihres Heilands bewahrt. Aber jetzt blieb ich erstaunt stehen, denn ich roch ein köstliches und willkommenes Aroma von syrischem Tabak. Auf einer geräumigen Estrade, die mit karamanischen Teppichen und alten Seidenkissen als Diwan gepolstert war, rekelten sich drei Türken, bärtig und würdevoll, und rauchten aus langen Weichselrohrpfeifen. An der Wand hingen ihre Waffen. Der Fußboden war schwarz von ihrem Speichel. Und vor ihnen stand wartend ein zerlumpter Diener mit einer dampfenden Kaffeetasse auf der Fläche jeder Hand.

Ich dachte, die katholische Kirche habe rücksichtsvoll am Tor der Heiligen Stätte einen Ausschank eingerichtet, als Annehmlichkeit für ihre Pilger. Ich sagte leise zu Potte: »Großartige Idee! Ich glaube, ich werde auch einen Schwarzen genehmigen!«

Doch da setzte mir der lustige Potte auseinander, daß diese ernsthaften Männer mit den Pfeifen muselmanische Soldaten waren, die als Polizei die christlichen Altäre bewachten, um zu verhindern, daß die rivalisierenden Kleriseien, die hier ihre gleichfalls rivalisierenden Riten übten, einander aus Aberglauben, aus Fanatismus, aus Neid wegen der Opferspenden zerfleischten – Katholiken wie der Pater Pinheiro, orthodoxe Griechen, für die das Kreuz vier Arme hat, Abessinier und Armenier, Kopten, Nachkommen der Leute, die zu Memphis den Ochsen Apis verehrt hatten, Nestorianer, die von Chaldäa kommen, Georgier, die vom Kaspischen Meer kommen, Maroniten, die vom Libanon kommen – alle Christen, alle unduldsam, alle wild! ... Voller Dankbarkeit grüßte ich diese Soldaten Mohammeds, die, um die fromme Ruhe rings um den toten Heiland zu erhalten, ernst und in Waffen das Tor bewachten und rauchten.

Gleich am Eingang erblickten wir einen quadratischen Stein, der in die dunklen Fliesen des Bodens eingelassen war – ein Stein, so glatt und mit einem so hübschen Perlmutterglanz, daß er aussah wie das ruhige Wasser eines Teiches, in dem sich die Lichter der Lampen spiegeln. Potte zog mich am Ärmel, erinnerte mich daran, es sei Sitte, dieses Stück Fels zu küssen, das heilig sei unter allen, weil einst im Garten Josef von Arimathia –

»Ich weiß, ich weiß ... Soll ich küssen, Topsius?«

»Küssen Sie immerhin«, sagte mir der bedachtsame Historiker der Herodiaden. »Ihnen schadet es nichts; und Ihrer Frau Tante macht es Vergnügen.«

Ich küßte nicht. Schweigend traten wir nacheinander in einen weiten Saal, dessen Konturen im qualmigen Dämmerlicht so sehr verschwammen, daß der Kreis der runden Luken rings um die Kuppel nur ganz schwach schimmerte, wie eine Perlenschnur rings um eine Tiara; die Säulen, die die Kuppel trugen, ragten schlank und dicht aneinander wie die lanzenförmigen Stäbe eines Gitters aus dem Dunkel empor – jede mit einem roten Fleck wie eine tödliche Wunde: einer bronzenen Lampe. In der Mitte erhob sich auf dem hallenden Steinboden spiegelglatt und weiß ein marmornes Mausoleum mit Ornamenten und Blumen; eine alte Damastdecke mit verblichenen Goldstickereien bedeckte es wie ein Zeltdach, und zwei Reihen von Kerzenständern bildeten eine Allee von Totenlichtern bis zu der Tür, die eng wie ein Spalt und mit einem blutfarbenen Vorhang verhängt war. Ein armenischer Pater mit herabgezogener Kapuze, der ganz unter seinem weiten schwarzen Mantel verschwand, schwang schläfrig und stumm ein Weihrauchgefäß.

Potte zog mich wieder am Ärmel: das Grab!

O meine fromme Seele! O Tantchen! Da lag nun, in Reichweite meiner Lippen, das Grab meines Heilands! – Und sogleich stürzte ich vorwärts wie ein Schlächterhund, um unter der lärmenden Menge von Mönchen und Pilgern ein volles sommersprossiges Gesicht und einen Damenhut mit Möwenfedern zu suchen! Lange tappte ich verwirrt herum ... Einmal stieß ich gegen einen Franziskaner, umgürtet mit seinem hanfenen Strick, dann wieder prallte ich auf einen koptischen Pater, der wie ein Schatten hinter zwei dienstbaren Geistern herhuschte, die heilige Tamburine schlugen wie zur Zeit des Osiris. Hier trat ich auf einen Haufen weißen Tuchs, das wie ein Bündel auf die Fliesen niedergefallen war und aus dem Seufzer der Zerknirschung hervordrangen; dort wieder taumelte ich gegen einen vollkommen nackten Neger, der, am Fuß einer Säule lang ausgestreckt, ruhig schlief. Manchmal erschallte das heilige Getöse einer Orgel, rollte unter dem Marmor des Schiffes dahin, erstarb mit dem Laut einer verbrandenden Woge; und nun schlug aus der Ferne ein armenischer Gesang zittrig und angstvoll gegen die strengen Mauern, wie der bebende Flügelschlag eines gefangenen Vogels, der ins Licht entfliehen möchte. Neben einem Altar bemerkte ich zwei fette Sakristane, einen griechischen und einen lateinischen, die einander wütend »Bibante« schimpften, erhitzt, nach Zwiebel stinkend; und ich sah eine Schar russischer Pilger mit zerzausten Mähnen, die gewiß vom Kaspischen Meer kamen, mit Lumpen um ihre schmerzenden Füße; sie wagten sich nicht zu bewegen, so sehr waren sie von Gottesfurcht gelähmt; und sie drehten die Filzmützen in den Händen, aus denen große gläserne Rosenkränze herabhingen. Kinder in Lumpen spielten im Dunkel der Pfeilernischen; andere bettelten. Man erstickte vor Weihrauch; die Patres der rivalisierenden Kulte zupften mich am Rock, um mir ihre ebenfalls rivalisierenden Reliquien zu zeigen, die teils heroischer, teils göttlicher Natur waren – der eine wies mir die Sporen Gottfrieds und der andere ein Stück der Heiligen Lanze.

In meiner Bestürzung flüchtete ich in eine Prozession von Büßern, wo ich zwischen schwarzen Büßerschleiern weiß und hoch die beiden Möwenfedern zu bemerken glaubte. Eine Karmeliterin, allen voran, brummelte die Litanei und verhielt bei jedem Schritt. Wir standen in frommem Entsetzen um die Eingänge höhlenartiger Kapellen geschart, die der Passion geweiht waren – der Kapelle des »Improperiums«, wo der Herr gegeißelt wurde, und der Kapelle der »Tunika«, wo man ihn entkleidete. Dann stiegen wir, Kerzen in den Händen, eine finstere, in den Fels gehauene Treppe empor ... Und auf einmal warf sich die ganze fromme Herde nieder, heulte, schlug sich die Brust, rutschte auf den Knien, ächzte, rief nach dem Herrn, schauerlich, herzzerreißend. Wir standen auf dem Kalvarienfelsen.

Die Kapelle, die ihn überdacht, strahlte ringsum in sinnlich-heidnischem Luxus. Auf der himmelblauen Decke leuchteten silberne Sonnen, die Zeichen des Tierkreises, Sterne, Engelsflügel, purpurne Blumen; und dazwischen hingen an Perlenschnüren die uralten Symbole der Fruchtbarkeit, Straußeneier, die der Astarte und dem Bacchus heiligen goldenen Eier. Über dem Altar ragte ein rotes Kreuz mit einem dunkel vergoldeten Christus – er schien zu vibrieren, zu leben inmitten des schwebenden Glanzes der Lichtpyramiden, der schimmernden Altargeräte, des Wohlgeruchs des Räucherwerks, das auf Bronzeplatten verbrannte. Spiegelnde Kugeln ruhten auf Ebenholzständern, reflektierten die Juwelen der Altarbilder, den Glanz der mit Jaspis, Perlmutter und Achat eingelegten Wände. Und aus dem Boden ragte inmitten dieser köstlichen Helle von Licht und Edelgestein zwischen den weißen Marmorfliesen ein Stück eines rohen, unbehauenen Felsblocks hervor, mit einem Spalt, den lange Jahrhunderte hindurch Küsse und selige Liebkosungen erweitert und geglättet hatten. Ein griechischer Archidiakon mit schmutzigem Bart schrie: »In diesen Felsen wurde das Kreuz gepflanzt! Das Kreuz! Das Kreuz! Miserere! Kyrie eleison! Kyrie eleison! Christus, Christus!« Die Gebete überstürzten sich, wurden glühender, man hörte lautes Schluchzen. Ein klagender Gesang wogte auf unter dem Schwirren der Räuchergefäße. »Kyrie eleison! Kyrie eleison!«

Und die Diakone eilten auf und ab, gierig, mit riesigen Samtsäcken, in denen die Opfergaben der Gläubigen klirrten und verschwanden.

Verstört und verwirrt entfloh ich. Der weise Historiker der Herodiaden ging unter seinem Regenschirm auf dem Hof spazieren und atmete die feuchte Luft ein. Von neuem umringte uns die verhungerte Bande der Reliquienverkäufer. Ich wies sie grob zurück und verließ die Heilige Stätte, wie ich gekommen war – als ein Sünder und fluchend.

Im Hotel zog sich Topsius sogleich in sein Zimmer zurück, um seine Eindrücke vom Grabe Jesu zu Papier zu bringen; ich blieb rauchend und biertrinkend mit dem schätzbaren Potte in der Halle. Als ich recht spät hinaufging, schnarchte mein erlauchter Freund bereits neben der brennenden Kerze – und auf dem Bett lag ein geöffnetes Buch, das ich mitgebracht hatte, um mich im Lande des Evangeliums zu erbauen: »Der Mann mit den drei Unterhosen«. Ich zog die vom ehrwürdigen Kot der Via Dolorosa beschmutzten Schuhe aus und dachte an meine Kybele. Unter welchen hochheiligen Ruinen, unter welchen heiligen Bäumen – geheiligt durch den Schatten, den sie dem Heiland gespendet – hatte sie diesen nebligen Abend zu Jerusalem verbracht? War sie im Tale Kidron gewesen? Oder am weißen Grabe Rachels? ... Ich seufzte verliebt und gerührt und schlug gähnend die Bettdecke zurück – da hörte ich deutlich durch die dünne Bretterwand das Geräusch von Wasser, das in eine Badewanne gelassen wurde. Aufgeregt lauschte ich; und nun, umgeben von jenem düsteren, schmerzlichen Schweigen, das Jerusalem für immer einhüllt, vernahm ich das unverkennbare leise Geräusch eines Schwammes, der ins Wasser patscht. Ich preßte hastig mein Gesicht an die blaugeblümte Tapete. Die leisen Schritte nackter Füße glitten über die Matte, die den Ziegelboden bedeckte; und das Wasser plätscherte, wie von einem schönen Arm bewegt, der seine Wärme untersucht. Dann hörte ich, ganz entflammt, all die intimen Töne eines langen, genußreichen Bades; das Ausdrücken des Schwammes, das behagliche Reiben einer Hand voller Seifenschaum, den lässigen, glücklichen Seufzer eines Leibes, der sich unter der Liebkosung des lauen Wassers ausstreckt, in dem ein Tropfen Parfüm duftet ... Das Blut stieg mir zu Kopfe; und ich musterte verzweifelt die Wand, suchte ein Loch, eine Spalte. Ich versuchte sie mit der Schere anzubohren, aber die feinen Spitzen brachen ab ... Wieder plätscherte das Wasser, ich glaubte die spritzenden Tropfen zu sehen, wie sie die Furche zwischen den festen weißen Brüsten hinabliefen, die das Sergekleid so prall gefüllt hatten ...

Ich konnte nicht widerstehen; in Unterhosen schlich ich auf den schlafenden Korridor und preßte an das Schlüsselloch ihrer Tür ein so starrendes, so glühendes Auge, daß ich die Tür mit der verzehrenden Flamme meines sanguinischen Blickes zu verbrennen fürchtete ... Ich erspähte in einem Lichtkreis ein auf den Boden gefallenes Leintuch, einen roten Schlafrock, ein Stück von dem weißen Vorhang ihres Bettes. Und in dieser Stellung, mit Schweißtropfen auf den Wangen, wartete ich, daß sie nackt und herrlich den spärlichen Lichtkreis durchschreiten würde – da hörte ich plötzlich hinter mir eine Tür gehen, sah, wie ein heller Schein sich über die Wand verbreitete. Es war der Graubart, in Hemdsärmeln, mit einem Leuchter in der Hand! Und ich Ärmster konnte nicht entwischen! Auf der einen Seite stand er, riesig; auf der anderen Seite war das Ende des Korridors massiv vermauert. Langsam, schweigend, methodisch stellte der Herkules die Kerze auf den Boden, hob seinen derben, doppelt besohlten Schuh und gab mir einen Tritt in die Flanke ... Ich brüllte: »Schuft!« Er zischte: »Ruhe!« Er preßte mich gegen die Mauer; und nochmals verletzte mir sein viehischer eherner Schuh aufs schrecklichste die Hüften, Hinterbacken, Schienbeine, all mein wohlgepflegtes und kostbares Fleisch! Dann griff er ruhig nach seinem Leuchter. Leichenblaß, in Unterhosen, sagte ich mit unendlicher Würde zu ihm: »Wissen Sie, was Ihr Beefsteak Sie kosten kann? Sie haben Glück, daß wir hier am Grabe des Heilands sind und ich keinen Skandal verursachen will, meiner Tante wegen ... Aber wenn wir in Lissabon wären, vor den Toren, an einer Stelle, die ich kenne, ich würde Sie lebendig fressen! Sie wissen gar nicht, was Ihnen da erspart bleibt. Lebendig gefressen!«

Und sehr würdevoll hinkte ich in mein Zimmer zurück, um geduldig Arnikakompressen aufzulegen. So verbrachte ich meine erste Nacht in Zion.

 

Früh am nächsten Tage pilgerte der gründliche Topsius zum Ölberg, zur klaren Quelle Siloah. Ich mit meinen Schmerzen hatte nicht zu Pferde steigen können und blieb auf dem Sofa mit dem »Mann mit den drei Unterhosen«. Und um den schrecklichen Graubart zu vermeiden, ging ich unter dem Vorwand, traurig zu sein und Heimweh zu haben, nicht einmal ins Refektorium hinunter. Aber als die Sonne ins Tyrische Meer tauchte, war ich wiederhergestellt und lebendig. Potte hatte für diese Nacht ein sinnenfreudiges Fest im Hause der Fatmé vorbereitet, einer entgegenkommenden Matrone, die in der armenischen Vorstadt einen holden Taubenschlag voll Täubchen hatte; dorthin gingen wir, um die berühmte Tänzerin von Palästina anzusehen, die »Blume von Jericho«, und jenen Bienentanz zu genießen, der die Kältesten in Glut bringt und die Reinsten verdirbt.

Das verborgene Türchen Fatmés, mit einem dürren Rebstecken geziert, öffnete sich an der Ecke einer schwarzen Mauer neben dem Davidsturm. Fatmé erwartete uns mit Korallenschnüren zwischen den Flechten; auf jedem ihrer nackten Arme sah man eine schwarze Narbe, die von einer Pestbeule herrührte. Unterwürfig faßte sie meine Hand, legte sie an den öligen Kopf, an die mit Scharlach bepinselten Lippen und führte mich feierlich vor einen schwarzen Vorhang mit Goldfransen. Und ich zitterte vor Freude, als ich nun in die betörenden Geheimnisse eines verschwiegenen, rosenduftenden Serails eindrang.

Es war ein frischgekalkter Saal mit roten Kattunvorhängen über den Jalousien; an der Wand zog sich ein gemauerter Diwan entlang, dessen gelber Seidenbehang Flicken von hellerer Seide aufwies. Auf einem Fetzen von einem persischen Teppich stand ein Kohlenbecken aus Messing, erloschen unter einem Haufen Asche; daneben lag vergessen ein mit Flittern besetzter Samtpantoffel. Von der weißlichen Holzdecke, auf der sich ein feuchter Fleck ausbreitete, hing an zwei mit Quasten verzierten Ketten eine Petroleumlampe herab. In einer Ecke, zwischen Kissen, schlummerte eine Mandoline. In der schwülen Luft machte sich ein süßlicher, muffiger Geruch bemerkbar, wie nach Schimmel und Benzoeharz. Auf den Steinquadern unter der Fensterbank liefen große Käfer herum.

Ich setzte mich bedächtig neben den Geschichtsschreiber der Herodiaden. Eine Dongolanegerin in einem roten Hemd mit klirrenden Silberreifen um die Arme kam, uns aromatischen Kaffee anzubieten; und gleich darauf erschien zaghaft Potte und sagte, wir würden den berühmten Bienentanz leider nicht genießen können! Die »Rose von Jericho« sei ausgegangen, um vor einem deutschen Prinzen zu tanzen, der an diesem Morgen nach Zion gekommen war, um am Grab des Heilands zu beten. Und Fatmé erschloß uns in Demut ihr Herz, rief Allah zum Zeugen an, nannte sich unsere Sklavin. Es war ein Verhängnis! Die »Rose von Jericho« sei für den blonden Prinzen bestimmt, der mit Pferden und Federbüschen aus dem Lande der Germanen dahergekommen war!

Wütend bemerkte ich, ich sei zwar kein Prinz, aber meine Tante besitze schimmernde Reichtümer; die Raposos seien an Adel des Blutes die ersten im adeligen Alemtejo. Wenn die »Blume von Jericho« engagiert gewesen war, um meine katholischen Augen zu ergötzen, war es eine Rücksichtslosigkeit, daß man sie den pilgernden Kürassen aus dem ketzerischen Deutschland abgetreten hatte ...

Der gelehrte Topsius, heftig den Schnabel hebend, erwiderte, Deutschland sei das geistigste aller Völker ...

»Der Glanz, der vom deutschen Helm ausgeht, Dom Raposo, ist das Licht, das die Menschheit leitet!«

»Ich pfeife auf den Helm! Mich leitet niemand. Ich bin Raposo aus dem Hause Raposo von Alemtejo! ... Mich leitet niemand als unser Heiland Jesus Christus ... Und in Portugal gibt es große Männer. Es gibt den Affonso Henriques, den Herculano ... Ich pfeife darauf!«

Ich erhob mich, schrecklich anzusehen. Der hochgelehrte Topsius zitterte, duckte sich. Potte stürzte hinzu: »Frieden, Christen und Freunde, Frieden!«

Und Topsius und ich setzten uns wieder auf den Diwan, nachdem wir einander freimütig als Ehrenmänner die Hände geschüttelt hatten.

Unterdessen schwur Fatmé, Allah sei groß und sie sei unsere Sklavin. Und wenn wir sie mit sieben Goldpiastern begnaden wollten, würde sie uns ein unschätzbares Juwel darbieten, eine Zirkassierin, weißer als der Vollmond, stolzer als die Lilien von Galgala ...

»Die Zirkassierin soll kommen!« schrie ich aufgeregt. »Caramba, ich bin zu den heiligen Stätten gekommen, um mich zu amüsieren ... Die Zirkassierin soll kommen! Rücke heraus mit den Piastern, Potte! Rasch! Ich will meinem Fleisch ein Vergnügen machen!«

Fatmé ging rückwärtsschreitend hinaus; der lustige Potte setzte sich bequem zwischen uns nieder, öffnete seinen duftenden Beutel voll Aleppotabak. Eine in der gekalkten Mauer verborgene kleine Tür knarrte ein wenig, und eine Gestalt trat ein, verschleiert, geheimnisvoll, duftig. Weite türkische Hosen aus karminfarbener Seide bauschten sich üppig von ihrem wogenden Gürtel bis zu den Knöcheln, wo sie in Fransen endeten und mit goldgewirkten Strumpfbändern befestigt waren; ihre weißen Füßchen standen kaum in den Pantoffeln von gelbem Maroquinleder; und durch den Gazeschleier, der ihr Haupt, Brust und Arme verhüllte, schimmerten Goldstickereien, Juwelen und die beiden schwarzen Sterne ihrer Augen. Ich streckte mich aus, überwältigt von Verlangen.

Hinter ihr hob Fatmé mit den Fingerspitzen ihr langsam, langsam den Schleier auf – und aus der Gazewolke kam ein gipsfarbenes Gesicht hervor, ausgemergelt, langnasig, mit Schielaugen und verdorbenen Zähnen, die schwarz in ihrem albern und geil lächelnden Munde standen ... Potte sprang vom Diwan auf und beschimpfte Fatmé; sie rief Allah an und schlug sich an die Brüste, die hohl tönten wie schlecht gefüllte Schläuche.

Und sie verschwanden gekränkt, von einem Strahl des Zornes hinweggefegt. Die Zirkassierin mit ihrem ekelhaften Lächeln warf mir noch schmachtende Blicke nach, streckte ihre schmutzige Hand aus und verlangte mit einer von Branntwein heiseren Stimme ein »kleines Präsent«. Ich wies sie wütend zurück; sie kratzte sich den Arm, dann die Hüfte, nahm ruhig ihren Schleier wieder auf und schlurfte auf ihren Pantoffeln hinaus.

»O Topsius!« fluchte ich. »Das scheint mir eine große Gemeinheit!«

Der Weise stellte Betrachtungen über die Wollust an. Sie sei immer trügerisch. Unter dem leuchtenden Lächeln lauere der faule Zahn. Von den menschlichen Küssen bleibe nur die Bitterkeit. Wenn der Körper in Ekstase gerate, werde die Seele traurig ...

»Was für eine Seele! Es gibt keine Seele! Es gibt hier nur eine ungeheure Unverschämtheit! In Lissabon hätte man dieser Fatmé längst zwei Ohrfeigen in die Fresse gegeben! Zum Teufel!«

Ich setzte mich erbost auf und hatte Lust, die Mandoline zu zerschmettern ... Aber da kam Potte wieder zum Vorschein, strich sich den Schnurrbart und sagte, daß für weitere neun Goldpiaster Fatmé sich bereit erklärt habe, ihren geheimen Wunderschatz zu zeigen, eine Jungfrau vom Ufer des Nils, aus Obernubien, schön wie die schönste Nacht des Orients. Und er habe sie gesehen, versicherte er; sie sei den Tribut einer fruchtbaren Provinz wert.

Schwach und verschwenderisch gab ich nach. Einer nach dem anderen fielen die neun Goldpiaster klingend in Fatmés fleischige Hand.

Von neuem knarrte die getünchte Tür, schloß sich – und vor dem weißen Hintergrund erschien in bronzefarbener Nacktheit ein prächtiges Weib, gebaut wie eine Venus. Einen Augenblick blieb sie, vom Licht und vom Anblick der Männer verwirrt, stehen und rieb sich langsam die Knie. Ein weißer Schurz bedeckte ihre starken, beweglichen Hüften; die dichten, ölglänzenden Haare, durchflochten mit Goldzechinen, fielen ihr über den Rücken, eine wilde Mähne; eine lange Kette aus blauen Glasperlen umschlang ihren Hals und lief dann zwischen den starren, vollendeten, ebenholzdunklen Brüsten hinab. Plötzlich brach sie in ein krampfhaftes, verzweifeltes Geheul aus: »Lu! Lu! Lulu! Lulu!« Sie warf sich bäuchlings auf den Diwan; und hingestreckt, in der Lage einer Sphinx, blitzte sie, ernst und unbeweglich, uns aus ihren großen finsteren Augen an.

»Nein!« sagte Potte und stieß mich an. »Sehen Sie nur diesen Körper! – Sehen Sie die Arme! – Sehen Sie das Rückgrat, wie es wogt! – Sie ist eine Pantherkatze!«

Und Fatmé, das Weiße der Augen hervordrehend, drückte Küsse auf ihre Fingerspitzen, um die überwältigenden Wonnen auszudrücken, die die Liebe dieser Nubierin gewähren mußte ... Durch die Beharrlichkeit ihrer Blicke überzeugt, daß mein starker Bart sie erobert hätte, rekelte ich mich vom Diwan auf und näherte mich ihr, langsam, wie einer sicheren Beute. Ihre Augen erweiterten sich, liefen unruhig und blitzend hin und her. Freundlich nannte ich sie »hübsches Kind«, streichelte ihr die kalte Schulter; und die Nubierin erschauerte bei der Berührung meiner weißen Haut und schrak zurück mit dem dumpfen Schrei der verwundeten Gazelle. Mir gefiel das nicht. Aber ich wollte liebenswürdig sein. Ich sagte ihr väterlich: »Ach, wenn du mein Vaterland kennen würdest! Und schau, ich bin imstande, dich mitzunehmen. Lissabon, das ist das richtige! Man geht nach Dafundo, man speist bei Silva ... Hier bekommt man ja einen Saufraß! Und Mädchen wie du werden gut behandelt, man erweist ihnen Achtung, die Zeitungen sprechen von ihnen, sie heiraten Hausbesitzer ...«

Ich flüsterte ihr noch andere tiefsinnige und süße Dinge zu. Sie verstand meine Sprache nicht; und in ihren starren Augen stand das bange Heimweh nach ihrem nubischen Dorf, nach den Büffelherden, die im Schatten der Tamarinden schlafen, nach dem großen Strom, der in Ewigkeit heiter zwischen den Ruinen der großen Religionen einherfließt und den Gräbern der Dynastien ...

Ich bildete mir ein, ich könnte ihr Herz an der Flamme des meinen entzünden, und preßte sie lüstern an mich. Sie floh, drückte sich ganz in einen Winkel, verbarg das Gesicht in den Händen und begann laut zu weinen.

»Herrgott, wie scheußlich!« rief ich erzürnt, griff nach dem Korkhelm und stürzte hinaus, wobei ich in meiner Wut fast den schwarzen Vorhang mit den Goldfransen mitriß. Wir gerieten in eine vergitterte Türloge, in der es schlecht roch. Und hier gab es auf einmal zwischen Potte und der schmutzigen Matrone eine wilde Rauferei wegen der Bezahlung für dieses strahlende orientalische Fest; sie verlangte noch sieben Goldpiaster; Potte, mit gesträubtem Schnurrbart, überschüttete sie mit gemeinen arabischen Schimpfwörtern, die sich überstürzten wie Kiesel, die einen Abhang hinunterpurzeln. Und wir verließen diese Stätte der Wonne, verfolgt von Fatmés Schreien, die sich vor Wut besabberte, die von der Pest gezeichneten Arme schwang und uns verfluchte, uns und unsere Eltern, unsere Großeltern, das Land, das uns geboren hatte, das Brot, das wir essen, und die Schatten, die uns vor der Sonne Schutz bieten würden. Auf der dunklen Gasse verfolgten uns zwei Hunde lange Zeit mit unheimlichem Gebell.

Überwältigt von Heimweh nach meinem lieblichen Vaterland, trat ich ins »Hotel zum Mittelmeer«; die Vergnügungen, derer ich mich in diesem schmutzigen, feindlichen Zion beraubt sah, ließen mich immer glühendere Sehnsucht nach den Freuden empfinden, die das leichtlebige, liebenswürdige Lissabon mir gewähren würde, sobald Tantchen gestorben war und ich die grüne Seidenbörse mit ihrem klingenden Inhalt geerbt hatte ... Dort würde ich nicht in schlummernden Korridoren einen rohen Fußtritt bekommen! Dort würde kein barbarischer Leib mit Tränen vor der Liebkosung meiner Finger fliehen. Von Tantchens Gold vergoldet, würde meiner Liebe niemals eine Kränkung widerfahren, noch meine Begierde je zurückgewiesen werden. O du mein Gott! Gelänge es mir nur, durch meine Heiligkeit Tantchen zu gewinnen! ... Und ich setzte mich sogleich nieder und schrieb der unerquicklichen Dame diesen höchst zärtlichen Brief:

»Geliebtes Herzenstantchen! Von Tag zu Tag fühle ich meine Tugend wachsen. Ich führe das darauf zurück, daß der Heiland diese meine Visite an seinem heiligen Grab sehr gern sieht. Tag und Nacht verbringe ich die Zeit damit, über seine göttliche Passion zu meditieren und an Tantchen zu denken. Jetzt eben komme ich von der Via Dolorosa. Ach, wie war sie rührend! Es ist eine so gesegnete Straße, daß ich mich scheue, sie in Schuhen zu betreten; und neulich konnte ich mich nicht zurückhalten, ich warf mich nieder und küßte ihre teuren Steinchen! Diese Nacht verbrachte ich fast gänzlich damit, zu Unserer Lieben Frau zu beten, die hier in Jerusalem alle Welt sehr verehrt. Sie hat einen sehr hübschen Altar, obwohl mein Tantchen in dieser Hinsicht (wie in jeder) sehr recht hatte, als sie sagte, daß in bezug auf Feste und Prozessionen niemand unseren Portugiesen gleichkommt. Also heute nacht, als ich in der Kapelle der Jungfrau kniete, wandte ich mich nach sechs Salve Reginas an ihr schönes Bild und sagte zu ihm: ›Ach, wer mich doch wissen ließe, wie es meiner Tante Patrocinio geht!‹ – Und wollen Sie es mir glauben, Tantchen, die Jungfrau sagte mir mit ihrem göttlichen Munde wörtlich dies – ich habe es, um es nicht zu vergessen, gleich auf meine Manschette geschrieben –: ›Meinem geliebten Patenkind geht es gut, Raposo, und sie hofft, dich glücklich zu machen!‹ – Und das ist kein ungewöhnliches Wunder, denn mir erzählen hier alle die ehrenwerten Familien, bei denen ich den Tee nehme, daß die Jungfrau und ihr göttlicher Sohn immer einige freundliche Worte an jeden richten, der sie besuchen kommt. – Es freut Sie sicher, zu hören, daß ich schon gewisse Reliquien bekommen habe: einen Strohhalm aus der Krippe und ein Brett, das der heilige Josef gehobelt hat. Mein deutscher Reisegefährte, den ich bereits in meinem Brief aus Alexandria erwähnte – er ist sehr religiös und sehr weise –, hat die Bücher konsultiert, die er mithat, und mir versichert, daß das Brett von der gleichen Art ist, wie sie Sankt Josef nachgewiesenermaßen in Mußestunden zu hobeln pflegte. Was die Große Reliquie betrifft, jene, die ich Ihnen mitbringen will, um Sie von allen Ihren Leiden zu heilen und Ihrer Seele das Heil zu geben und Ihnen so alles zu bezahlen, was ich Ihnen schulde, so hoffe ich sie bald zu erhalten. Aber für jetzt kann ich noch nichts sagen ... Grüße an unsere Freunde, an die ich viel denke und für die ich unausgesetzt gebetet habe – vor allem an unseren tugendhaften Casimiro. Und geben Sie, Tantchen, Ihren Segen Ihrem treuen Neffen, der Sie sehr verehrt und schon ganz abgezehrt ist vor Heimweh und Ihnen alles Gute wünscht.

Theodorico.

PS. Ach, Tantchen, welchen Ekel verursachte mir heute das Haus des Pilatus! Ich habe es tatsächlich angespuckt. Und ich habe der heiligen Veronika gesagt, daß mein Tantchen ihre große Anbeterin ist. Mir schien es, als wäre die Frau Heilige sehr befriedigt gewesen ... Ich sage es ja allen diesen Geistlichen und Patriarchen hier: man muß Tantchen kennen, um zu wissen, was Tugend ist!«

Bevor ich mich auszog, legte ich das Ohr an die geblümte Wand, um zu horchen. Die Engländerin schlief regungslos; ich murrte, mit geballter Faust hinüberdrohend: »Bestie!«

Dann öffnete ich den Kleiderschrank, zog das geliebte Paket mit Marys Nachthemd hervor und drückte einen langen, dankbaren Kuß darauf.

Früh im Morgengrauen des nächsten Tages brachen wir zum frommen Jordan auf.

*

Langweilig, einschläfernd war unser Marsch zwischen den Hügeln von Juda! Einer hinter dem andern liegen sie da, fahl, rund wie Schädel, ausgedörrt, von einem Wind der Verdammung kahlgefegt; man erblickt höchstens von Zeit zu Zeit auf irgendeinem Abhang spärlichen Ginster, der in der unerbittlichen Vibration des Lichts von fern aussieht wie der Schimmel des Alters und der Fäulnis. Der kalkfarbene Boden leuchtet vor Hitze. Das strahlende Schweigen stimmt traurig, man fühlt sich wie unter der Kuppel einer Grabstätte. Im harten Glanz des Himmels kreiste schwarz und träge ein Geier über uns ... Als die Sonne sank, erreichten wir unsere Zelte auf den Ruinen von Jericho.

Köstlich war es, nun auf weichen Teppichen auszuruhen und in der milden Abendluft Limonade zu schlürfen. Der frische Hauch eines munteren Baches, der neben unserem Lager im grünen Gesträuch plätscherte, mischte sich mit dem Duft der Blüten dieser Büsche, die gelb waren wie Ginsterblüten; vor uns grünte eine Wiese mit hohem Gras, belebt durch das Weiß stolzer, üppiger Lilien; am Wasser spazierten nachdenkliche Störche paarweise herum. Gegen Juda hin erhob sich der Berg des Fastens, furchtbar, düster in seiner an ewige Buße gemahnenden Traurigkeit; und an den Grenzen Moabs verloren sich meine Augen in dem alten heiligen Lande Kanaan, einer aschgrauen, trostlosen Sandebene, die sich wie das Leichentuch einer längst vergessenen Rasse bis zum einsamen Gestade des Toten Meeres ausdehnt.

Im Morgengrauen brachen wir mit wohlgefüllten Satteltaschen zu dieser frommen Pilgerfahrt auf. Es war im Dezember; der syrische Winter war milde; und der belesene Topsius, der an meiner Seite durch den feinen Sand trabte, erzählte mir, wie diese Ebene von Kanaan einst ganz bedeckt gewesen sei mit lärmenden Städten, mit weißen Landstraßen zwischen Weingärten und Wasserkanälen, die die Mauern voller Scheunen bespülten; die Frauen, mit Anemonen bekränzt, kelterten singend die Trauben; der Duft der Gärten war dem Himmel angenehmer als Weihrauch; und die Karawanen, die von Segor her das Tal betraten, sahen hier den Überfluß des reichen Ägyptens und fanden, daß dies in Wahrheit der Garten des Herrn sei. »Dann«, erklärte Topsius mit einem unendlich sarkastischen Lächeln, »langweilte sich der Allerhöchste eines Tages und vernichtete alles!«

»Aber warum denn? Warum?«

»Eigensinn, schlechte Laune, Grausamkeit ...«

Die Pferde wieherten, als sie die Nähe der verfluchten Gewässer fühlten – und gleich darauf erblickten wir sie: unbewegt, stumm, einsam unter einsamem Himmel funkelnd, erstreckten sie sich bis zu den Bergen von Moab. O unvergleichliche Trübsal! Und man versteht, daß auf ihnen noch immer der Zorn des Herrn ruht, wenn man bedenkt, daß sie nun schon seit so vielen Jahrhunderten dort liegen – ohne einen heiteren Badeort wie Cascaes, ohne helle Segeltuchbaracken am Strande, ohne Regatten, ohne Fischerei, ohne daß zarte Damen in Galoschen poetisch kleine Muscheln am Strande suchen, ohne daß zur Stunde der Sterne die Geigen eines festlichen Tanzkränzchens sie beleben – da liegen sie, tot, zwischen felsigen Gebirgen begraben wie zwischen den Quadern eines Grabes.

»Dort hinten lag die Burg von Makeros!« sagte gravitätisch der belesene Topsius, sich in den Steigbügeln aufrichtend und mit dem Regenschirm auf die umblaute Küste des Meeres weisend. »Dort lebte einer meiner Herodiaden, Antipas, der Tetrarch von Galiläa, ein Sohn Herodes des Großen; dort, Dom Raposo, wurde der Täufer enthauptet.«

Und im Schritt auf den Jordan zureitend (während der fröhliche Potte uns Zigaretten aus dem guten Tabak von Aleppo drehte), erzählte mir Topsius jene bedauerliche Geschichte. Makeros, die stolzeste Festung Asiens, erhob sich auf furchtbaren Basaltfelsen. Ihre Mauern waren hundertundfünfzig Ellen hoch; die Adler konnten kaum zur Höhe ihrer Türme emporfliegen. Außen war sie schwarz und finster, aber innen erstrahlte sie von Elfenbein, Jaspis und Alabaster; und die hohen Decken von Zedernholz mit den daran aufgehängten großen Goldschilden waren wie ein Sommerhimmel in seiner Sternenpracht. Im Mittelpunkt des Berges, in einer Höhle, lebten die zweihundert Stuten des Herodes, die schönsten der Erde, milchweiß, mit ebenholzschwarzen Mähnen, die mit Honigkuchen gefüttert wurden und so leicht waren, daß sie über eine Wiese voll weißer Lilien laufen konnten, ohne deren Reinheit zu beflecken. Und noch tiefer, in einem Kerker, lag Jochanan – er, den die Kirche den Täufer nennt.

»Aber, verehrter Freund, wie geschah denn das Unglück?«

»Das war so, Dom Raposo ... Mein Herodes hatte in Rom Herodias kennengelernt, seine Base, die Gattin seines Bruders Philipp, die in Italien üppig lebte und über dem Genuß des lateinischen Luxus Judäa vergessen hatte. Sie war herrlich, düster, schön, die Herodias! ... Antipas Herodes entführt sie auf einer Galeere nach Syrien, verstößt seine Frau, eine edle Moabiterin, die Tochter des Königs Aretas, der die Wüste und die Karawanen beherrschte, und schließt sich in Unzucht mit Herodias in dieser Feste Makeros ein. Entrüstung im ganzen frommen Judäa gegen diese Beleidigung der Gesetze des Herrn! Und nun läßt der schlaue Antipas Herodes den Täufer holen, der im Jordantal predigte ...«

»Aber warum denn, Topsius?«

»Deswegen, Dom Raposo: Wenn sich der rauhe Prophet umschmeichelt sehen würde, verhätschelt, milde gestimmt durch Lobsprüche und durch den guten Wein von Sichem, sollte er diese dunkle Liebesgeschichte billigen und durch die Überzeugungskraft seines Wortes, die groß war in Judäa und Galiläa, sie in den Augen der Gläubigen weißwaschen wie der Schnee des Karmels. Aber zum Unglück, Dom Raposo, fehlte es dem Täufer an Originalität. Ein ehrenwerter Heiliger, ja, aber keine Originalität ... Der Täufer ahmte in allem sklavisch den großen Propheten Elia nach: er lebte in einer Höhle wie Elia; er hüllte sich in Tierfelle wie Elia; er nährte sich von Heuschrecken wie Elia; er wiederholte die klassischen Beschwörungen wie Elia – und wie Elia gegen die Unzucht Ahabs geschrien hatte, so donnerte plötzlich der Täufer gegen die Unzucht der Herodias los. Nur aus Nachahmungssucht, Dom Raposo!«

»Und sie brachten ihn im Kerker zum Schweigen!«

»Ach was! Er schrie noch ärger, noch fürchterlicher! Und Herodias verbarg ihr Haupt unter dem Mantel, um den Fluch nicht zu hören, der aus dem Berginnern aufstieg.«

Ich stammelte, während mir eine Träne die Wimpern feuchtete: »Und Herodes ließ unseren guten Sankt Johannes köpfen!«

»Nein! Antipas Herodes war ein Schwächling, ein Lauer ... Sehr minderwertig, Dom Raposo, unendlich minderwertig. Welche Unentschlossenheit! ... Außerdem hatte er wie alle Galiläer eine geheime Schwäche, eine unheilbare Sympathie für Propheten. Und dann fürchtete er die Rache des Elia, des Patrons und Freundes des Jochanan ... Denn Elia ist nicht gestorben, Dom Raposo. Er wohnt im Himmel, lebendig, im Fleische, noch mit Lumpen bedeckt, unerbittlich, ein Schreier und fürchterlich ...«

»Donnerwetter!« murmelte ich, entsetzt ...

»So war es also ... Jochanan lebte weiter, heulte weiter ... Aber hinterlistig und raffiniert ist der Haß des Weibes, Dom Raposo. Es kommt im Monat Schebat der Geburtstag des Herodes; er gibt in Makeros ein großes Fest, dem Vitellius beiwohnt, der damals in Syrien reiste. Sie erinnern sich, Dom Raposo, der dicke Vitellius, der später Herr der Welt wurde ... Nun, zu der Stunde, da man nach dem Zeremoniell der tributpflichtigen Provinzen auf das Wohl Cäsars und Roms trank, tritt plötzlich eine wunderbare Jungfrau unter dem Klang der Tamburine in den Saal und tanzt nach babylonischer Art. Es war Salome, die Tochter der Herodias und ihres Gatten Philipp, die sie insgeheim in Cäsarea erzogen hatte, in einem Hain beim Tempel des Herkules. Salome tanzte, nackt und betörend. Antipas Herodes, entflammt, von Begierde verwirrt, verspricht ihr, für einen Kuß ihrer Lippen alles zu gewähren, was sie verlangt ... Sie nimmt einen goldenen Teller und fordert, die Mutter anblickend, das Haupt des Täufers. Antipas, erschreckt, bietet ihr die Stadt Tiberias an. Schätze, die hundert Dörfer von Genezareth ... Sie lächelte, sah die Mutter an, und nochmals, unsicher und stammelnd, verlangte sie Jochanans Haupt ... Nun riefen alle Gäste, Sadduzäer, Schriftgelehrte, reiche Leute aus der Dekapolis, selbst Vitellius und die Römer in heiterem Chor: ›Du hast es versprochen, Tetrarch, du hast es geschworen, Tetrarch!‹ Augenblicke später, Dom Raposo, trat ein idumäischer Neger ein, er trug in der einen Hand einen krummen Säbel, in der anderen an den Haaren das Haupt des Propheten. Und so endete Sankt Johannes, dem zu Ehren man Lieder singt und in einer milden Juninacht Feuer entzündet ...«

Während wir im Schritt dahinritten und hingerissen diesen alten Geschichten lauschten, erblickten wir in der Ferne im Sand eine Hecke, deren tristes Grün schon ins Bronzefarbene spielte. Potte rief: »Der Jordan, der Jordan!« Und hastig galoppierten wir zu dem Flusse der Schrift.

Der lustige Potte kannte am Ufer des Taufstroms ein entzückendes Plätzchen für eine christliche Siesta, und dort verbrachten wir die heißen Stunden, träge auf einem Teppich lagernd und Bier trinkend, das in den Fluten des heiligen Flusses gut gekühlt worden war. Der Jordan bildet an dieser Stelle eine helle, liebliche Bucht, um von der langen heißen Wanderung vom See von Galiläa her durch die Wüste auszuruhen, bevor er für immer in der Bitternis des Toten Meeres verschwindet – dort faulenzt er, auf feinem Sande ausgebreitet; er singt leise, ist voll von durchscheinendem Licht, wälzt die hellen Kiesel seines Bettes hin und her und schläft an den kühlsten Stellen unbeweglich und grün im Schatten der Tamarinden ... Über uns rauschten die Blätter hoher persischer Pappeln, im Grase wiegten sich jene unbekannten Blumen, mit denen einst die Mädchen von Kanaan am Morgen der Weinlese ihre Flechten schmückten; und im üppigen Dunkel des Gezweigs, wo sie längst nicht mehr die schreckliche Stimme Jehovas aufscheucht, zwitscherten friedlich die Drosseln. Vor uns erhoben sich fleckenlos blau, wie aus einem einzigen Block von Edelgestein, die Berge von Moab. Der weiße, stumme, ruhige Himmel schien wonnig von dem wilden Tumult auszuruhen, der ihn bewegte zur Zeit des großen Sterbens, als hier noch das düstere Volk Gottes wohnte und Gebete zu ihm emporsandte; und wo einst fortwährend die Flügelschläge der Seraphim wehten und die Gewänder der vom Allerhöchsten entführten Propheten flatterten, war es beruhigend, höchstens einen Schwärm weißer Tauben zu sehen, die zu den Obstgärten Engeddis flogen.

Tantchens Gebot gehorchend, entkleidete ich mich und nahm ein Bad im Flusse des Täufers. Anfangs trat ich in frommer Rührung ehrfürchtig auf den Sand, als wäre es der Teppich vor einem Altar; und mit gekreuzten Armen, nackt, während die träge Strömung mir an die Knie schlug, dachte ich an den lieben Sankt Johannes und flüsterte ein Vaterunser. Dann lachte ich und genoß dieses bukolische Bad zwischen den Bäumen; Potte warf mir meinen Schwamm zu, und ich seifte mich in dem heiligen Wasser ab, Adelias Gassenhauer summend.

Als es kühler wurde, stiegen wir zu Pferde. Ein Beduinenstamm, von den Hügeln von Galgala herabsteigend, trieb seine Kamelherden zum Jordan; die weißen, dichtbehaarten Kameljungen liefen hüpfend hinzu; Schlachtrufe ausstoßend, galoppierten die Hirten mit erhobener Lanze in weiten, flatternden Burnussen dahin; und es war, als wäre im Abendglanz im ganzen Tal ein Idyll aus dem biblischen Zeitalter wiederaufgestiegen, da Hagar jung war! Straff im Sattel sitzend, die Zügel fest in der Hand, verspürte ich eine kurze Aufwallung von Heroismus; ich sehnte mich nach einem Schwert, einem Gesetz, einem Gott, um dafür zu kämpfen ... Langsam senkte sich auf die heilige Ebene eine erhabene Stille herab, und der höchste Gipfel von Moab bedeckte sich mit einem seltsamen rosigen und goldigen Glanz, als spiegele sich in ihm flüchtig, im Vorübergleiten, das Antlitz des Herrn wider. Topsius hob die weiße Hand: »Dieser leuchtende Gipfel, Dom Raposo, ist der Moriah, wo Moses starb!«

Ich erbebte. Und durchdrungen von der göttlichen Ausstrahlung dieser Gewässer, dieser Berge, fühlte ich mich stark – und ebenbürtig den starken Männern des Exodus. Ich glaubte einer von ihnen zu sein, ein Freund Jehovas, eben aus dem dunklen Ägypten angelangt, mit meinen Sandalen in der Hand ... Jener Seufzer der Erleichterung, den die Brise herübertrug, kam von den Stämmen Israels, die endlich die Wüste hinter sich hatten. Über die Höhen dort stiegen, von einer Leibwache von Engeln gefolgt, die vergoldete Bundeslade auf den Schultern schaukelnd, in weißes Leinen gekleidete singende Leviten zu Tal. Nochmals verehrte ich auf dem trockenen Sand das Land der Verheißung. Weiß lag Jericho zwischen den Feldern, und unter den dichten Wipfeln der Palmen ertönten im Marschtakt die Posaunen Josuas.

Ich konnte mich nicht zurückhalten, riß den Helm vom Kopf und ließ über Kanaan das fromme Gebrüll erschallen: »Hurra unser Heiland Jesus Christus! Hurra der ganze himmlische Hofstaat!«

 

Früh am anderen Morgen brach der unermüdliche Topsius, mit Bleistiften und Sonnenschirm versehen, auf, um die Ruinen von Jericho zu studieren, jener alten Palmenstadt, deren Boden Herodes mit Thermen bedeckt hatte, mit Tempeln, Gärten und Statuen, und wo sich seine verwickelte Liebelei mit Kleopatra abspielte ... Und ich, am Eingang des Zeltes mit gespreizten Beinen auf einer Kiste sitzend, nahm gemächlich meinen Kaffee und blickte auf das friedliche Bild unseres Lagers. Der Koch rupfte Wasserhühner; der traurige Beduine rieb am Ufer seinen friedlichen Krummsäbel mit Sand ab; und unser schöner Maultiertreiber vergaß das Füttern der Pferde, um dem weißen Schwarm der Störche nachzublicken, die am strahlenden saphirblauen Himmel paarweise gen Samaria flogen.

Dann setzte ich den Helm auf und ging in der Milde des Morgens spazieren, die Hände in den Hosentaschen, ein zärtlich-wehmütiges Liedchen trällernd. Ich dachte an Adelia und an den Senhor Adelino ... Im Schlafzimmer, umschlungen, unter wilden Küssen, nannten sie mich vielleicht eben »Betbruder«, während ich hier an den stillen Stätten der Schrift spazierenging! Zu dieser Stunde pilgerte Tantchen in der schwarzen Mantille mit ihrem Gebetbuch gerade zur Messe nach Sant' Anna; die Kellner im Café Montanha, ungekämmt, pfeifend, kehrten das Billardtuch rein; und an der Praça da Figueira setzte Dr. Margaride sich am Fenster bedächtig die Brille auf und entfaltete das »Diario de Noticias«. O mein schönes Lissabon! ... Aber noch viel näher, jenseits der Wüste Gaza, im grünen Ägypten, füllte in diesem Augenblick meine Maricoquinhas die Vase auf dem Ladentisch mit Magnolien und Rosen; ihre Katze schlief auf dem Plüschsessel; Maricoquinhas seufzte nach ihrem »starken Portugieschen« ... Ich seufzte ebenfalls; das traurige Lied auf meinen Lippen wurde noch trauriger.

Und plötzlich, als ich aufschaute, fand ich mich an einem Ort von großer Einsamkeit und Melancholie wieder. Fern war der Bach und die gelbblühenden Büsche; ich sah unsere weißen Zelte nicht mehr; und vor mir in der Runde lag eine kahle, fahle Einöde, rings umschlossen von glatten Felswänden, die steil waren wie die Wände eines Brunnens – und so schauerlich, daß das blonde Licht des heißen orientalischen Morgens dort tödlich erbleichte, trübe wurde. Ich erinnerte mich an Bilder solcher Einöden, auf denen ein Eremit mit langem Bart neben einer Höhle über einem großen Folioband meditiert. Aber kein Einsiedler vernichtete hier sein Fleisch in heroischer Buße. Nur in der Mitte der wüsten Stätte erhob sich einsam, stolz, als hätten die Felsen sich aufgetürmt, um ihm die Abgeschiedenheit eines Heiligtums zu geben, ein so abstoßender Baum, daß sein Anblick sogleich auf meinen Lippen den Rest des traurigen Liedes ersterben ließ ...

Es war ein dicker, kurzer, untersetzter Stamm ohne Wurzelknoten, ähnlich einem riesigen Stock, der jählings in die Luft ragte; die glatte Rinde hatte den öligen Glanz einer schwarzen Haut, und von seinem starren Wipfel, der die Farbe eines erloschenen Feuerbrands hatte, gingen, wie lange Spinnenbeine, acht Äste aus, schwarz, weich, haarig, klebrig und mit Dornen bewehrt ... Nachdem ich dieses Ungeheuer schweigend betrachtet hatte, zog ich langsam meinen Korkhelm und murmelte: »Er lebe hoch!«

Denn da stand ich gewiß vor einem berühmten Baum! Genau so ein Zweig wie diese hier (vielleicht der Urahne) hatte, von einem römischen Zenturio der Garnison Jerusalem zur Krone gewunden, einst zum Hohn das Haupt eines zu Tode verurteilten Zimmermanns aus Galiläa geschmückt – verurteilt deshalb, weil er, in stillen Dörfern und in den heiligen Höfen des Tempels wandelnd, sich Davids Sohn genannt und gegen die alte Religion gepredigt hatte, gegen die alten Institutionen, gegen die alten Formen! Und siehe da, weil dieser Zweig die ungepflegten Haare des Rebellen berührt hat, wird er göttlich, erhält einen Platz auf den Altären, und trägt man ihn auf geschmückten Traggerüsten vorbei, wirft sich die gerührte Menge bei seinem Anblick zu Boden ...

Im Gymnasium der Brüder Isidoro, an den Dienstagen und Samstagen, pflegte der dicke Pater Soares zähnefletschend zu sagen: »Es gab dort, Kinder, in einer Gegend Judäas ...« – das war hier – »einen Baum, der nach Aussage der Autoren ganz schauderhaft war« ... Das war dieser! Vor meinen frivolen Augen – den Augen eines gemeinen Doctor juris – stand der hochheilige Dornenbaum!

Und nun kam mir mit dem Glanz einer himmlischen Vision ein Gedanke ... einen dieser Zweige Tantchen mitzubringen, den am stärksten verästelten, den dornigsten, als wäre er die wunderreiche Reliquie, der sie ihre betschwesterliche Glut weihen und von der sie vertrauensvoll himmlische Gnaden erflehen könnte! »Wenn du der Ansicht bist, daß ich irgendwelchen Dank für das verdiene, was ich für dich getan, dann bringe mir jetzt von diesen heiligen Stätten eine heilige Reliquie ...« So hatte Dona Patrocinio das Neves am Abend vor meiner frommen Reise gesprochen, auf ihrem roten Damastsofa thronend, vor der Justiz und der Kirche, indem sie eine Tränenperle unter ihrer strengen Brille hervorquellen ließ. Konnte ich ihr etwas Heiligeres, Rührenderes und Wirksameres mitbringen als einen Ast vom Dornenbaum, im Jordantale an einem hellen, rosigen Morgen zur Messezeit gepflückt?

Aber auf einmal befiel mich eine peinigende Unruhe ... Und wenn wirklich eine metaphysische Kraft in den Fibern dieses Baumes kreiste? Wenn Tantchens Leberleiden verschwand und sie neu zu grünen begann, sobald ich nur in ihrem Oratorium zwischen Lichtern und Blumen einen dieser von Dornen starrenden Zweige niedergelegt haben würde? Das wäre mir ein schöner Gewinn! Dann wäre ich selbst es, der ihr, ohne es zu wissen, die wunderbare Heilkraft brächte und sie stark, unzerstörbar, unbegrabbar machte, mit den Hunderttausenden des G. Godinho fest in ihrer geizigen Hand! Ich! Ich, der ich erst zu leben beginnen würde, wenn sie zu sterben begann.

Um den Dornbaum herumgehend, fragte ich ihn düster und mit heiserer Stimme: »Sag, Ungeheuer, bist du eine göttliche Reliquie mit übernatürlichen Kräften? Oder bist du nur ein groteskes Gewächs mit einem lateinischen Namen in der Klassifizierung Linnés? Sprich! Hast du wie jener, dessen Haupt du zum Hohn bekränztest, die Gabe zu heilen? Schau her ... Wenn ich dich in ein schönes portugiesisches Oratorium mitnehme, dich von der Qual der Einsamkeit und der Melancholie der Dunkelheit befreie, wenn ich dir dort alle Gaben eines Altars schenke, den verklärenden Duft der Rosen, die lobpreisende Flamme der Kerzen, die Verehrung der gefalteten Hände, alle Liebkosungen des Gebets – dann geschieht das nicht, damit du gutmütig ein für mich lästiges Leben verlängerst, mich der schnellen Erbschaft beraubst und der Freuden, auf die mein junges Fleisch ein Recht hat! Schau her! Wenn du, weil du das Evangelium durchlebt hast, dich mit kindlichen Ideen von Nächstenliebe und Barmherzigkeit vollgesogen haben solltest und in der Absicht mitkommst, Tantchen zu heilen – dann bleibe hier zwischen diesen Felsen, gepeitscht vom Staub der Wüste, befleckt von den Exkrementen der Raubvögel, gelangweilt, im ewigen Schweigen! ... Aber wenn du versprichst, gegen Tantchens Bitten taub zu bleiben, dich wie ein armer, dürrer Zweig ohne Einfluß zu benehmen und den ersehnten Verfall ihrer Gewebe nicht aufzuhalten – dann sollst du in Lissabon die wohltuende Behaglichkeit einer mit Damast ausgeschlagenen Kapelle genießen, die Wärme der frommen Küsse, alle Genugtuungen eines Idols; und ich werde dir so viel Anbetung verschaffen, daß du den Gott nicht beneiden sollst, den deine Dornen verletzten ... Sprich, Ungeheuer!«

Das Ungeheuer sprach nicht. Aber nun fühlte ich durch meine Seele wie die tröstliche Frische der Sommerbrise das Vorgefühl streichen, daß Tantchen bald sterben und in ihrem Grabe faulen würde. Der Dornbaum entsandte mittels der verbindenden Ströme der Natur von seinem Saft zu meinem Blut die sanfte Vorahnung des Todes der Dona Patrocinio – als ein hinreichend nachdrückliches Versprechen, daß im Oratorium keiner seiner Zweige die Leber dieser unerquicklichen Dame am Anschwellen und an der Zersetzung hindern werde ... Und es war, als hätten wir in dieser Einöde stillschweigend einen schwerwiegenden Pakt auf Tod und Leben geschlossen.

Aber war es auch wirklich der Dornbaum? Seine schnelle Herablassung ließ mich an seiner göttlichen Kraft zweifeln. Ich beschloß, meinen gründlichen, hochgelehrten Topsius um Rat zu fragen. So eilte ich zur »Elysäischen Quelle«, wo er nach Steinen, Splittern, Kehricht suchte, Überresten der stolzen Palmenstadt. Ich erblickte den erleuchteten Historiographen, wie er neben einer Wasserpfütze kniete und mit gierigen Augen hinter der Brille ein Stück eines schwarzen, halb im Schlamm begrabenen Pfeilers auskratzte. Neben ihm vergaß ein Esel das zarte Gras und betrachtete philosophisch und melancholisch die Aufregung, die Leidenschaft dieses Weisen, der bäuchlings auf dem Boden hingestreckt die Thermen des Herodes suchte.

Ich erzählte Topsius von meinem Fund, von meiner Ungewißheit ... Er stand sofort auf, dienstbeflissen, eifrig, bereit zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

»Ein Dornbaum?« murmelte er und wischte sich den Schweiß ab. »Das muß der Nabka sein. Sehr häufig in ganz Syrien. Der Botaniker Hasselquist behauptet, daß daraus die Dornenkrone gemacht wurde ... Er hat sehr klebrige, herzförmige grüne Blätter, wie der Efeu ... Ah, er hat sie nicht? Sehr gut, dann ist es das Lycium Spinosum ... Nach der lateinischen Tradition hat dieser Strauch als Dornenkrone gedient ... Allerdings, meiner Ansicht nach ist diese Tradition hinfällig, und Hasselquist ist ein Ignorant, ein unglaublicher Ignorant ... Aber ich werde das schon klarstellen, Dom Raposo, unwiderleglich und für immer klarstellen!«

Wir gingen hin. In der Einöde vor dem furchtbaren Baum hob Topsius schulmeisterhaft die Nase in die Luft wie auf einem Katheder, zog sich für einen Augenblick in die inneren Lagerräume seines Wissens zurück und erklärte mir dann, daß ich meiner bigotten Tante nichts Kostbareres mitbringen könne. Seine Beweisführung war glänzend. Alle Instrumente der Kreuzigung, die Nägel, der Schwamm, der Rohrstab, waren wohl für kurze Zeit als Gegenstände der göttlichen Tragödie vergöttlicht worden, wurden aber nach und nach infolge der Bedürfnisse der Zivilisation wieder grobe Bedarfsgegenstände des täglichen Lebens. So blieb der Nagel nicht bis in alle Ewigkeit müßig auf den Altären, zur Erinnerung an die Allerheiligsten Wunden; die Menschheit, katholisch und handeltreibend, fühlte sich nach und nach bewogen, den Nagel als ein wichtiges Eisengerät zu verwenden; und nachdem er die Hände des Messias durchbohrt hat, sichert er heute, arbeitsam und bescheiden, die Deckel auch der allerschmutzigsten Kisten ... Die ehrfurchtsvollsten Brüder unseres Heilands verwenden das Rohr zum Angeln; es findet ergötzlicherweise bei der Herstellung von Feuerwerkskörpern Verwendung; und der Staat selbst (sonst so skrupelhaft in religiösen Dingen) benutzt es in dieser Funktion an frohen Festabenden zu Ehren einer neuen Verfassung oder bei der festlichen Raserei am Hochzeitstag eines Prinzen ... Der Schwamm, einst im Essig des Spottes getränkt und auf einer Lanzenspitze dargereicht, wird heute zu jenen irreligiösen Zeremonien der Reinwaschung verwendet, welche die Kirche immer mit Haß mißbilligte ... Sogar das Kreuz, das erhabene Zeichen, hat unter den Menschen seine Göttlichkeit verloren. Die Christenheit hat es erst als Standarte verwendet, dann zum Schmuck: das Kreuz ist Brosche, ist Anhängsel, klingelt am Handgelenk, wird auf Siegelpetschaften eingegraben, auf Manschettenknöpfe graviert; das Kreuz gehört in diesem stolzen Jahrhundert wirklich mehr der Goldschmiedekunst als der Religion.

»Aber die Dornenkrone, Dom Raposo, die hat zu nichts anderem mehr gedient!«

Nein, zu gar nichts mehr! Die Kirche hat sie aus den Händen eines römischen Prokonsuls erhalten; und sie blieb vereinsamt und für alle Ewigkeit in den Händen der Kirche, als Erinnerung an die Große Schmach. In diesem ganzen vielgestaltigen Weltall hat sie einen geeigneten Platz nur im Halbdunkel der Kapellen gefunden; ihr einziges Talent ist, zur Zerknirschung zu überreden. Kein Juwelier hat sie je in Gold nachgebildet, besetzt mit Rubinen, um eine blonde Frisur zu schmücken; sie ist nur Werkzeug des Martyriums, und mit den Blutstropfen auf den frisierten Haarwellen der Heiligenbilder regt sie unsäglich zu Tränen an ... Der schlaueste Industrielle legt sie, wenn er sie nachdenklich in den Händen gewogen hat, wieder auf den Altar zurück, als ein im Leben, im Handeln, in der Zivilisation unnützes Ding; sie ist nur Attribut der Passion, Zuflucht der Traurigen, Gegenstand der Rührung für die Schwachen. Sie allein unter allen Requisiten der Schrift bewegt aufrichtig zum Gebet. Wer, und wäre es der Frömmste, würde sich niederwerfen und Vaterunser stammeln vor einem in eine Badewanne gefallenen Schwamm oder vor einem Rohr am Ufer eines Teiches? ... Aber vor der Dornenkrone erheben sich immerdar die gläubigen Hände; und die Erinnerung an ihre Grausamkeit geistert noch durch die Melancholie des Miserere!

Welch größeres Wunder könnte ich Tantchen mitbringen?

»Ja, Topsius, mein Lieber ... Deine Reden sind reines Gold ... Aber die andere Dornenkrone, die wirkliche, jene, die benützt wurde, kam sie von diesem Baum hier, von diesem Stamme? He, Freundchen?«

Der belesene Topsius entfaltete langsam sein kariertes Taschentuch und erklärte (gegen die unzuverlässige lateinische Tradition und gegen den Oberignoranten Hasselquist), die Dornenkrone sei aus einer dünnen, biegsamen Brombeerranke gewunden worden, die in allen Tälern bei Jerusalem wuchert, mit der man die Lichter anzündet, mit der man die Zäune stachlig macht und die eine kleine violette Blüte trägt, traurig und ohne Duft ...

Ich murmelte niedergeschlagen: »Wie schade! Tantchen hätte es so viel Freude gemacht, Topsius, wenn die Dornenkrone von hier gewesen wäre! Tantchen ist so reich!«

Da verstand der weise Philosoph, daß es eine Familienräson gibt, wie es eine Staatsräson gibt – und benahm sich prachtvoll. Er streckte die Hand über den Baum aus, verbürgte sich als Wissenschaftler großzügig für seine unbedingte Echtheit und sprach diese denkwürdigen Worte: »Dom Raposo, wir sind gute Freunde geworden. Sie können also Ihrer Frau Tante von Seiten eines Mannes, dem Deutschland in Fragen der archäologischen Kritik gerne lauscht, versichern, daß der Zweig, den Sie ihr von hier mitbringen, jener war ...«

»Jener war?« stammelte ich erwartungsvoll.

»Derselbe war, der der Stirne des Rabbi Jeschua von Nazareth Blutstropfen entlockte, des Mannes, den die Lateiner Jesus von Nazareth nennen und andere auch den Christus!« ...

Die hohe Weisheit Germaniens hatte gesprochen! Ich zog mein sevillanisches Messer und hieb einen der Zweige ab. Und während Topsius zurückkehrte, um im nassen Gras Steine der Burg von Kypron und anderer Bauwerke des Herodes zu suchen, kehrte ich mit meiner Kostbarkeit zu unserem Zelt zurück. Der gefällige Potte saß auf einem Sattel und mahlte Kaffee.

»Prachtvoller Zweig!« rief er. »Den muß man zur Krone flechten! ... Das macht einen frommen Effekt! ...«

Und sofort wand der fröhliche Mensch mit seltener Geschicklichkeit den rohen Zweig in die Form der heiligen Krone. Und so gut getroffen! So rührend!

»Es fehlen ihr nur noch die Blutstropfen!« sagte ich bewegt. »Jesus! Tantchen wird sich vor Wonne besabbern!«

Aber wie diese unbequemen Dornen durch die Berge von Juda nach Jerusalem bringen? Kaum starrten sie in ihrer Passionsform, schienen sie auch schon begierig, unschuldiges Fleisch zu ritzen. Für den fröhlichen Potte gab es keine Schwierigkeiten; er zog aus seinem vorausschauend gefüllten Reisesack eine üppige Wattewolke, hüllte sacht die Dornenkrone darin ein wie ein zerbrechliches Juwel, dann machte er mit einem Bogen Packpapier und einem scharlachroten Bändchen ein rundes, festes, leichtes und sauberes kleines Paket daraus ... Und ich drehte mir lächelnd eine Zigarette und dachte an jenes andere Päckchen voll Spitzen und Seidenschleifen, das nach Veilchen und Liebe roch und in Jerusalem geblieben war und nun auf mich und meine Küsse wartete.

»Potte, Potte!« rief ich strahlend. »Du weißt nicht, welche Menge Geld mir dieser kleine Zweig in diesem Paket einbringen wird!«

Kaum war Topsius von der heiligen »Elysäischen Quelle« zurückgekehrt, da reichte ich ihm, um die zukunftsreiche Begegnung mit der Großen Reliquie zu feiern, eine der goldgesiegelten Champagnerflaschen hin, die Potte in seinem Reisesack mitgenommen hatte. Topsius trank »auf die Wissenschaft«, ich trank »auf die Religion«, und reichlich begoß der Schaum des Moed et Chandon die Erde Kanaans.

Am Abend zündeten wir, um die Festfreude zu erhöhen, einen Scheiterhaufen an; und die arabischen Weiber von Jericho kamen, um vor unserem Zelt zu tanzen. Wir gingen schlafen, als über Moab, über Makeros der Mond aufging, dünn und gekrümmt wie jener goldene Säbel, der das glühende Haupt Jochanans abgeschlagen hatte.

Das Paket mit der Dornenkrone lag am Rande meines Feldbettes. Das Licht erlosch, unser Lager schlief in der unendlichen Stille des Tales der Schrift. Ruhig, glücklich schlief auch ich ein.


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