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Der Waldbach

Der Tannenbaum hatte seine Erzählung mit der melancholischen Aussicht auf eine zweifelhafte Fortsetzung beschlossen; seine letzten Worte waren leise verrauscht, und über den ganzen Wald lagerte sich eine tiefe Ruhe. Ein Geräusch nur tönte durch diese Feier: das Plätschern des Waldbachs, der in abgebrochenen Klängen an Stein und Baumwurzel pochte, – diese ewige Uhr des Waldes. Und wie er dahinmurmelte, bald hell aufglitzernd im Sonnenschein, bald, trüb' vom Schatten der Bäume und der Wolken, die Bilder verzitternd, die sich in seiner Fläche spiegelten, gestaltete sich dieser einförmige Ton zu vernehmlichen Worten, und unaufgefordert und doch belauscht von Blumen und Bäumen begann der Waldbach eine Erzählung.

Baum und Blume hörten aufmerksam zu. Feierliches Schweigen lag auf dem Walde, nur der Bach plätscherte weiter, der einzige Ton weit und breit. Das ist die Waldstille. Wer kennt sie nicht! Wem wäre sie nicht schon einmal entgegengetreten wie die Sonntagsfeier der Pflanzen des Waldes! Alles so still rings und feierlich. Selbst das Wild atmet leiser auf und regt sich nicht; selbst den Jäger überfällt es wie ein heiliger, lieblicher Schauer, und er vergißt seine Leidenschaft und sinkt nieder in das Gras zu der allgemeinen Ruhe des Waldes. Das ist die Zeit, wo der Bach den Bäumen und Blumen Märchen erzählt, das ist die Waldstille.

Und der Bach erzählte: »Wißt ihr, woher ich stamme? Kennt ihr meine Entstehung? Vom Wiesenbach weiß man sie. Da quillt sie deutlich hervor wie ein Brünnchen über einen Stein oder an einem Hügel, das dann größer und größer wird, daß das kurze Kleid von Gräsern ihm nicht mehr genügt, wie sehr sich auch ihm zuliebe die Halme recken, und bis es endlich das starre feste Mieder von Schilf anlegt mit den lockeren Blütenflittern oder mit den schwarzen Knöpfen. Vom Bergbach weiß man es auch, wo er herkommt. Auf der Höhe liegt der Schnee, die ewige Haube der Berge, die nur die Sonne färbt, wenn sie auf- und untergeht, und die die Wolken schmücken mit wunderbaren Schleiern, wenn sie vorüberziehen, und daneben in den Schluchten schimmert das Eis der Gletscher starr und dunkelblau in seinen Klüften. Oben sieht es unveränderlich fest aus; aber innen regt sich doch ein munteres Leben: da fließt es und quillt es, und durch die Sprünge und Klüfte hindurch spielen die Tropfen und Wasser ein ewiges Haschen und Verstecken; denn der Sonnengott küßt unablässig die Gipfel des Berges. Diese beständige Liebe rührt und erweicht auch sein starres Eisherz, und diese Quellchen sind die Kinder dieser Küsse; die haschen und suchen, bis es ihnen zu eng wird, und dann finden sie schon den Ausweg. Aber wenn sie ans Licht treten, staunen und stutzen sie erst über die weite Welt, die sich vor ihnen aufschließt. Andere neugierige Quellchen kommen ihnen nach, und nun wagen sie sich weiter, erst langsam zögernd, dann schnell und schneller, und dann springen sie, ein munterer Bergbach, wie die Gemse, die nicht weit von ihm geboren wurde, mutwillig von Fels zu Fels. Bald schäumt er hoch auf, wie der Schnee des Berges, bald glitzert er klar, ein ungebrochener Spiegel, wie das Eis der Gletscher, bis er niederkommt ins Tal und ruhig wird in der lieblichen Ruhe der Fluren. Aber woher stamme ich, der Waldbach? Ihr findet die Quelle nicht, die mich erzeugt, nicht Schnee noch Eis, dessen Kind ich wäre. Verfolgt meinen Lauf. Hier, denkt ihr, entspringt er, und hascht hinter einen Stein, einen Mooshügel; aber fort ist er, und weiterhin, hinter einer knorrigen Baumwurzel, lacht er euch aus. Bald erstrecke ich mich, ein breiter Spiegel, unter tausend Kräutern und Blüten, bald versenke ich mich in ein Geröll von Steinen, die, eifersüchtig auf das Grün des Waldes, sich auch grüne Mooskappen auf ihre grauen Häupter gesetzt haben; aber da fließe ich weiter, und hier tröpfle ich wieder hervor. Ihr findet die Quelle nicht, die bleibt das Rätsel des Waldes. So hört denn, wie ich entstand.

Oben auf einer lichten Wolke, die leise über die Fluren hinwegzog, saß ein zartes Elfchen, die Lieblingsdienerin der Elfenkönigin, und ordnete das Geschmeide ihrer Herrin. Da zog sie aus einem Kästchen eine lange, lange Schnur kostbarer Perlen, ein Geschenk des Meeres. ›Hüte sie wohl,‹ hatte Titania gesagt, ›die Tränen des Meeres, sie sind mein liebster Schmuck.‹ Die Perlen sind auch Tränen des Meeres, die es aber nicht ausweint, die es fest verschließt in seinem Grunde, bis der Fischer mit Gefahr seines Lebens sie ans Licht zieht. Sie sind starr und fest geworden; aber sie sehen in ihrem matten Glanze noch immer aus wie verweinte Augen. Das Elfchen hatte seine Freude an den Perlen und hob die Schnur hoch empor, ob sie nicht heller schimmern möchte im Sonnenschein; aber die Perle ist nicht wie der Edelstein, der seinen Glanz borgt von außen: die Träne des Meeres schließt in sich ihr Gemüt und glänzt von innen heraus. Hinter dem Elfchen saß Puck, der Schalk, der Menschen neckt und Elfen, und während es sich freute an dem Schmuck, schnitt er unbemerkt die Schnur durch, und nieder rollten die Perlen erst über die Wolke fort und dann herab zur Erde. Das Elfchen saß erst starr vor Schreck, dann aber raffte es sich auf und flog von der Wolke hernieder den fallenden Perlen nach. Als es so schwebte in dem unendlichen Raum zwischen den Wolken und der Erde, sah es, wie die hellen Kügelchcn nach allen Seiten hin zerstoben und rollten und flimmerten, und hoffnungslos wollte es schon zurückkehren; da erblickte es unter sich eine grüne Flur, und in dem Grase und an den Blumen schimmerten tausendfache Perlen, die es für die verlorenen hielt. Noch trug das Elfchen den Kasten im Arm, in welchem die Perlenschnur verschlossen gewesen war, und emsiglich begann es, sie wieder einzusammeln. Schon fing das Kästchen an, sich zu füllen, da gewahrte Titanias liebliche Dienerin, daß es nicht Perlen, die Tränen des Meeres, waren, die sie sammelte, sondern Tau, die Tränen der Blumen, und traurig zog sie weiter, das Verlorene zu suchen. Siehe, da erblickte sie in den Augen einer Mutter, die sich über ihr sterbendes Kind beugte, Perlen hängen, und sie sammelte sie, dort Tränen der Liebe; und als sie weiterzog, fand sie noch andere weinende Augen: Tränen so viel, daß ihr Kästchen überfloß. Ach, wieviel Tränen werden geweint auf der Erde! Denn aus den Augen der Menschen quillt oft ein wunderbares Bächlein; aber seine Quelle kann ich euch nennen, seine Quelle ist das Herz, da muß der Schmerz, die Wehmut, die Reue, mitunter auch die Freude anpochen, damit das Bächlein fließt. Und dieses Bächlein übt einen wunderbaren Zauber aus; denn das Herz muß schon sehr hart sein, das fremde Tränen nicht mehr bewegen. Oft wollen die Menschen es betäuben und sagen: ›Ich habe kein Mitleid für diese Tränen, sie sind wohlverdient.‹ Das ist aber sehr falsch; denn Tränen bleiben es immer, und die kommen auch aus dem Herzen, an das vielleicht um so härter geklopft wurde. – Unser Elfchen hielt nun das alles für die verlorenen Perlen, schloß das Kästchen fest in den Arm und schwebte damit zur Wolke empor. Ach, und das Kästchen wurde ihm immer schwerer und schwerer, denn Tränen wiegen nicht leicht, und als es dasselbe öffnete, da waren alle die vermeintlichen Perlen zerronnen. Trostlos flog es von Wolke zu Wolke, denn die hatten es alle lieb, und klagte seinen Kummer. Die Wolken aber schickten ihren Regen hernieder auf die Erde, um das Verlorene zu suchen. Das strömte und floß, und Baum und Kräuter beugten sich, und den Tau wischte es ab, aber die Perlen fand es nicht wieder. Puck, der Schalk, sah das, sah den Schmerz des armen Elfchens, den er verschuldete, und das tat ihm doch leid; denn necken wollte er, aber nicht bekümmern. Nieder tauchte er in den Schoß der Erde und holte von seinen Freunden, den Kobolden und Gnomen, bunte, schimmernde Erze, glänzende Flitter, und trug sie herauf zum Elfchen. ›Da hast du all den Plunder wieder, und besser und glänzender,‹ sagte er.

Das Elfchen jubelte, und die Wolken hörten auf zu regnen. Aber als es die Gabe näher betrachtete, war es eitler Tand und Schein, und zornig ergriff es die Schale, worin sie lag, und schleuderte sie weithin, daß die schimmernden Stückchen in einem weiten Bogen über den ganzen Horizont flogen. Das war der erste Regenbogen. Wenn seitdem die Wolken wieder weinen, holt Puck auch immer wieder seine Flitter, und das Schauspiel wiederholt sich. Schön ist der Regenbogen, wir alle freuen uns darüber und die Menschen auch; aber trügerisch, eine Gabe der Gnomen, ein Bauwerk Pucks, des Schalks, ist er doch. Das wissen die Menschen wohl, denn wenn sie ihm nacheilen, läuft er unerreichbar vor ihnen her, und auf einmal ist er verschwunden. Wo blieb er? Er fällt in den See, sagen die Kinder, und die Nixen machen sich ihre bunten Gewänder daraus. Was damals der Zufall erzeugte, baut Puck jetzt selbst auf. Mit seinen Schätzen zieht er über den Himmel, und wenn ihm dann etwas übrigbleibt, fliegt er auch wieder zurück und baut aus den Resten einen zweiten, kleineren, weniger glänzenden Bogen. Darum seht ihr so oft doppelt am Horizont diese glänzende Erscheinung, darum immer nur, wenn die Wolken weinten aus Mitgefühl mit dem Kummer der Elfen, die Puck neckte und dann doch zu trösten sucht.

Unser Elfchen saß noch immer traurig auf der Wolke und konnte sich nicht erfreuen an dem ersten Regenbogen, den es selbst hervorgebracht hatte. Da trat Titania zu ihm. Diesmal war die launische Königin sehr heiter, und als ihr die Dienerin die Ursache ihres Kummers erzählt hatte, lächelte sie und vergab ihr schnell. Vielleicht konnte sie sich leichter über den Verlust hinwegsetzen, weil ihr schon ein Geist des Meeres, dessen Herz sie gewonnen, einen anderen Perlenschmuck versprochen; denn die Großen sind freigebig, selbst mit den Tränen, die ihnen anvertraut sind. Aber was sollte sie nun beginnen mit dem schweren Inhalt des Kästchens, den das Elfchen noch immer im Arme trug?

›Eile nieder zu der heimlichsten, traulichsten Stelle meines Waldes,‹ sagte Titania, ›und gieße diese Tropfen aus zwischen die duftigsten Kräuter, laß diese Tränen bleiben, was sie sind; aber vereint sollen sie fließen, eine große Träne des Waldes.‹

Die Dienerin gehorchte dem Befehle der Königin, und so floß der erste Waldbach dahin, so hatte auch der Wald seine Tränen. Wißt ihr nun, woher ich entstehe? Wie von der Träne des Menschen, ist auch meine Quelle das Herz, das verborgene Herz des Waldes. Wenn die Wehmut, die Sehnsucht, der Schmerz daran pochen, dann fließt die Träne. Im Sommer, wo so manches Kind des Waldes geknickt und vernichtet wird, fließe ich leise, aber unaufhaltsam. Im Herbst, wenn alles schied, beweine ich in stillem Schmerz die Blüten und Blätter, die oft der Wind in meinen Lauf streut, damit der Kummer um sie auch ihr Grab werde. In der wüsten Einsamkeit des Winters erstarre ich, und die Träne wird zur Perle, wie der verschlossene Kummer des Meeres. So hänge ich an den Wurzeln, an den Steinen in mattem Glanze verweinter Augen. Aber im Lenze, wenn die Sehnsucht aufgeht in allen Herzen, dann fließt die Träne des Waldes in Wehmut und Freude, dann schwelle ich hoch auf und trete über die Grenzen meines Laufes, um Blumen und Gräser zu begrüßen, so weit ich kann. Oft auch weckt mich das Mitgefühl; denn wenn die Wolken Regen weinen oder die Blumen Tau, dann auch schwillt der Waldbach. Fühlt ihr es nicht, daß meine Quelle das Herz des Waldes ist, an meiner ganzen Erscheinung, an dem Hauch von Gefühl und Wehmut, der euch aus mir entgegenatmet? Das melancholische Schilf drängt sich an mich heran. Wo ich fließe, sprießt vor allem das gefühlvolle Vergißmeinnicht, das sanft aufblickt wie treue, blaue Augen in der Abschiedsstunde. Die Tränenweide in ihrer ewigen Trauer hängt ihre Zweige hernieder bis in meine Wellen. Überall errege ich das Gefühl. Selbst der Stein, der an meinen Lauf stößt, der unwandelbare Stein, an dem die Zeit unbemerkt vorüberschreitet, er weint mir nach in lichten Tränen, wenn er meine Welle berührte, und meine Küsse sind das einzige, dem er nicht widersteht. Darum liebe ich den Stein.

Die Menschen wissen eine seltsam traurige Sage von einem Mann, der alles überlebt, den der Tod ewig flieht. So gemahnt mich der Stein, er ist der Ahasverus des Waldes, und er könnte euch manches erzählen, denn sein Gedächtnis ragt in längst vergangene Zeiten.

Puck, der Schalk, ist jetzt neidisch auf den Waldbach, den er mit seinem Flitter ausstechen wollte, und der nun doch eine ewige Bedeutung erhielt, und oft wirft er mir neckisch eine knorrige Wurzel, einen spitzen Stein in den Lauf, daß meine Tropfen hoch aufspringend zerstäuben. Dann seht ihr im Sonnenglanze bunte Farben, wie die des Regenbogens, mich umspielen. Das sind die Flitter Pucks, die er neben meinen Glanz hängt, als wollte er sagen: ›Nun, sind meine Gaben nicht doch schöner?‹ Aber schnell sind sie verronnen, und ich fließe unverändert. So drängt sich oft das Komische und Schalkhafte in die Nähe des Traurigen und Wehmütigen, als wenn ein neckischer Geist es erzeugte. Selbst das Herz des Menschen, wenn es brechen will im tiefsten Kummer, zuckt oft in komischer Regung; selbst um das weinende Antlitz spielt oft ein Zug des Lächelns. In der tiefsten Harmonie der Natur begegnet uns oft eine barocke Verzerrung. Zwischen den reichen Teppichen des Rasens, der gerundeten Fülle des Laubes streckt sich eine knorrige Wurzel, ein verwelkter, trockener Ast hervor; unter den gesunden, vollen Rosen findet sich auf einmal eine verkümmerte, die zwischen den Schwestern hervorblickt wie ein verzerrtes Gesicht. Das alles bringt Puck zuwege. Aber ein tiefes Gemüt weiß, wie die Natur, alle diese Unarten auszugleichen.«

So schloß der Waldbach. Noch dauerte die Stille fort, und nur leise rauschte und flüsterte Blatt und Blume. Da knarrte es plötzlich: krachend brach ein dürrer Ast auf dem Wipfel einer Eiche; er stürzte hernieder, daß die Blätter oben auseinanderstoben und die Blüten unten zerknickten, und fiel prasselnd in den Bach, daß die Tropfen hoch aufflogen und er sich düster aufwühlte aus der Tiefe. Eine Sekunde, und alles war wieder still.

Auch das hatte Puck getan, der Schalk.


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