Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Mohnblume

Wir sind im Irrtum, wenn wir glauben, daß die Blumen nichts können als knospen, blühen, duften und verwelken; denn diese Ansicht, so viel verbreitet sie auch sein mag, hat uns doch nur unser eigener Egoismus ausgedrungen, der uns gern weismachen möchte, alles in der Natur sei allein für uns da, und da wir eben nur das äußere Leben der Blumen wahrnehmen könnten, hätten sie auch gar kein inneres. Wie gesagt aber, dem ist nicht so, und wie jede Blume ihren eigenen Charakter hat, die eine bescheiden ist, die andere stolz und eitel, diese heiter und glänzend, jene düster und unscheinbar, oder wie sie sich sonst noch in Farben und Gewohnheiten äußern mögen, so hat auch jede ihr eigenes Wünschen, Streben, Jauchzen, Trauern und Lieben; alle aber haben sie einen überwiegenden Patriotismus, das heißt eine Anhänglichkeit nicht allein an das Land, sondern sogar an die Stelle, auf der sie ausgewachsen sind, so daß sie anderswo gar nicht existieren könnten, ein Gefühl, welches man in neuerer Zeit bei den Menschen oft hat vermissen wollen. Aber auch ein Organ der Mitteilung haben die Blumen; und wer nur ihre Sprache verstünde, dem könnten sie manches Gedicht, manches Märchen ins Ohr hauchen, der würde gern manche Nacht (denn das ist besonders die Zeit ihrer Mitteilungen, wie wir bald sehen werden) auf der blumigen Flur lauschen, und all die bunten Bilderchen, die ihm vorgeführt würden, möchten ihm leicht wie ein schöner poetischer Traum erscheinen. Der Erzähler des vorliegenden Märchens lag auch einmal in einer duftigen, mondhellen Nacht auf dem blühenden Teppich des Waldes und lauschte – oder träumte, was ihm mancher eher glauben wird, – da hörte er auf einmal tausend Stimmchen aus den Blumen aufsteigen. Wahrscheinlich hatte ein freundliches Elfchen, dem er einmal unbewußt irgendwie einen Dienst geleistet hatte, ihm sein Gehör für die Nacht geliehen. Melancholisch flüsterte das Schilfgras dem Nachbar ein langes lyrisches Gedicht ins Ohr, und der Nachbar horte aufmerksam zu. Dazwischen klapperte die Klatschrose, die bei den Blumen die Chronikskandaleuse ist und die Klatschliteratur repräsentiert. Nicht weit ab kicherten rote Moosblüten zusammen und hatten sich gewiß eben was recht Launiges erzählt. Die Glockenblume war zwar stumm, aber sie bestätigte fortwährend die Reden der Nachbarn, indem sie rechts und links mit dem Kopf nickte. Das war nun mit dem Zittergras ganz anders, denn das schüttelte beständig mit dem Kopfe und wollte nichts glauben von alle dem, was es um sich hörte. Mochten sie nun den Lauscher gewahrt haben und ihn, nach dem alten Sprichwort, für seine Unbescheidenheit bestrafen wollen, oder mag es überhaupt ein Lieblingsthema der Blumen sein, kurz, diesmal drehte sich ihre Unterhaltung meist um die Ungerechtigkeit und die lieblose Art, die sich die Menschen gegen sie zuschulden kommen ließen.

»O weh,« rief klagend eine Schar von Thymianblüten, »da hat uns wieder der plumpe Fuß eines Menschen unsere liebsten Geschwister zerknickt.«

»Ja, sie achten uns gar nicht,« sagte eine Pechnelke, die so gern bemerkt wäre und sich deshalb recht hoch auf ihrem schlanken Stiel emporstreckte, »wie wir uns auch zärtlich an sie schmiegen und festhalten. Wenn sie uns noch vernichteten, weil wir ihnen schädlich sind, wie der Schierling; aber nichts ist schwerer zu tragen als ihre Mißachtung, in der sie es nicht einmal für wert halten, ihren Fuß von uns zu wenden.«

»Nicht doch,« flüsterte begütigend ein Vergißmeinnicht dazwischen; »sollte man doch nach euren Reden die Menschen für gar ungerecht gegen uns halten! Und doch kann ich eure Vorwürfe widerlegen. Sind wir ihnen nicht der liebste Schmuck bei festlichen Gelegenheiten, und wählen sie uns nicht immer als Boten für ihre heiligsten Gefühle – für die Liebe?«

»Die Zeiten sind längst vorüber,« sagte höchst verstimmt der Sauerampfer. »Halten sich die Menschen nicht in ihrem aufgeblasenen Stolze für berechtigt, selbst dem Schöpfer ins Handwerk zu pfuschen, ja ihn zu verbessern, indem sie uns in jämmerlichen, papiernen, gemalten Dingen nachahmen, ja verschönert nachbilden wollen ? Und womit schmücken sie sich denn jetzt, mit uns oder mit jenen verächtlichen Abbildern? Und zu Liebesboten nehmen sie uns auch nur, wenn sie nichts Besseres haben; sonst ist aber diese Blumensprache längst aus der Mode gekommen, man nennt sie Sentimentalität und macht sie lächerlich.«

»Ich ließe mir das alles gefallen,« nahm die Lilie das Wort; »wie können die Menschen unsere Gefühle achten, da sie sie nicht kennen? Aber sie müßten sie nicht ableugnen, wo sie ihnen augenscheinlich entgegentreten. Erinnert euch nur. Wenn die Nacht vorüber ist, und wir beim Morgenlicht um uns schauen, dann fehlt immer eine oder die andere von unseren Gespielen, die entweder schon in der Abenddämmerung ihr Haupt neigte, oder die ein wilder Nachtwind entblätterte. Dann betrauern wir sie, und Tränen hängen in unsern Augen. Die Menschen sehen das; aber ohne sich zu bemühen, es zu verstehen, leugnen sie, daß diese Tropfen ein Zeichen unseres Gefühls und unseres Schmerzes sind, und sagen, das wäre der Tau, den der Morgennebel über uns ausgeschüttet habe.« Dieser Beweis von der Ungerechtigkeit der Menschen mußte so schlagend sein, daß für den Augenblick keine etwas zu erwidern oder hinzuzufügen hatte. Da bildete sich nicht weit von mir eine Gruppe um eine glänzende, hochaufgeschossene Mohnblume. Schon lange hatte ich bemerkt, daß ihre Umgebung die Köpfe zusammengesteckt und an dem für mich so wenig schmeichelhaften Disput gar keinen Teil genommen hatte. Als nun diese Pause eintrat, rief die Schlüsselblume, indem sie laut ihr Glöckchen schwang: »Still, still, ihr Schwestern, die Mohnblume will uns etwas erzählen.« – »Die Mohnblume erzählt,« hieß es, »still! still!« Und alles horchte, denn auch das Schilfgras hatte eben sein langes Gedicht vollendet.

Die Mohnblume streckte sich auf ihrem schlanken Stiel, sah um sich und neigte sich dann einige Male hin und her. Ich hatte erwartet, daß sie sich erst lange bitten lassen, Heiserkeit vorschützen und mindestens viele Entschuldigungen voranschicken würde; aber das muß dermalen bei den Blumen noch nicht Sitte gewesen sein, denn die Mohnblume fing frischweg an zu erzählen: »Ihr wollt mich anhören? Wohlan, so will ich euch erzählen, wie nach alten grauen Sagen, die sich in meinem Geschlecht von einer Generation zur andern fortgepflanzt haben, wir Mohnblumen einem ganz eigenen Vorfalle unsere Existenz verdanken; denn ihr dürft ja nicht glauben, daß bei Erschaffung der Welt wir Blumen alle auf einmal über die Erde ausgestreut waren. O nein, da kam eine nach der andern, und es ging damals ungefähr ebenso her, wie es jetzt noch im Frühling hergeht.«

»Wie geht es denn im Frühling her?« unterbrach sie eilig die Klatschrose.

»Das kannst du noch vorher vom Gänseblümchen erfragen,« erwiderte die Mohnblume; »denn das ist immer schon früh dabei; dann aber stör' mich auch in meiner Erzählung nicht wieder.«

Das Gänseblümchen, das meist wenig berücksichtigt wurde, ja sogar bei vielen für etwas simpel gilt, während seine Cousine, das Tausendschönchen, weil es etwas mehr Erziehung genossen hat, schon höher angeschrieben steht, war zugleich erfreut und verlegen, daß es auch einmal das Wort führen sollte, und ein leichtes Rot zog sich über die weißen Blättchen, wie man das zu öftern wohl schon an dieser kleinen Blume bemerkt hat. Dann hob es das Haupt dankbar zur hohen Gönnerin empor und erzählte, ohne weiter eine Frage zu erwarten.

»Was wir dem Winter zuleide getan haben, daß er uns armen Blumen so gar gram ist, das kann ich euch nicht sagen, und darüber sind die Meinungen sehr verschieden. Das nur steht fest, daß er uns nicht leiden kann und nicht eher ruht, als bis er uns alle von der Erde vertrieben hat. Aber sein Reich dauert ja auch nicht ewig, und nach ihm kommt unser bester Freund, der Frühling. Der sieht sich nun ganz betrübt um, wenn von allen den bunten Kindern, die er beim Scheiden dem Sommer so angelegentlich empfohlen hat, keins mehr da ist, und muß sein Haar in lange graue Schleier hüllen, weil er noch kein Blümchen oder Blatt hat, sich einen Kranz zu flechten. Da fährt er denn mit seiner lieben, warmen Hand leise über die Erde und winkt und ruft seine Lieblinge, von denen noch keiner das Haupt herausstrecken mag, denn sie sind noch gar erschreckt, so sehr hat sie der rauhe Winter eingeschüchtert. Auch ist diese Furcht nicht unbegründet, denn man hat Beispiele, daß der Winter, wenn er schon weit fort war, umgekehrt ist und die Blumen auf den Kopf geschlagen hat. Einige Blumen zwar, die ein besonders freundliches Gemüt haben, wollen den Frühling nicht lange warten lassen und kommen eiligst hervor. So auch das gute Veilchen. Aber wenn es um sich schaut, und die Erde noch so sehr kahl aussieht, und von all den Schwestern erst so wenige erwacht sind, dann fürchtet es sich und steckt scheu das Köpfchen wieder unter die grünen Blätter. Die Menschen nennen das Bescheidenheit, es ist aber vielmehr Furcht; und dann erwacht in dem Veilchen die große Sehnsucht nach Gefährtinnen, die sie in ihren lieblichen Düften aushaucht. Armes Veilchen! Die Sehnsucht bleibt unbefriedigt, und wenn die anderen Blumen gekommen sind, ist seine Zeit längst erfüllt. Weil es sich aber immer wieder zu ihnen hingezogen fühlt, kommt es zuweilen im Herbst noch auf einige Tage hervor, und sein Sehnen ist gestillt. Das ist aber auch der Grund, warum es dann nicht mehr so lieblich duftet, wie bei seinem ersten Erblühen.«

»Nun seht ihr, so geht es im Frühling zu,« nahm die Mohnblume ihre Erzählung wieder auf, »und ähnlich so ging es auch bei der Schöpfung. Eine Blume kam nach der andern. Zu der Zeit aber, in die meine Sagen reichen, waren schon die meisten versammelt, und es war gar schön auf der Erde, denn überall herrschten Freude und Eintracht. Tiere und Menschen wohnten friedlich beieinander, und da war nichts als Jubel vom Morgen bis zum Abend. Ein Wesen nur, das einzige in der weiten, weiten Schöpfung, teilte nicht dies allgemeine Glück und wandelte traurig über die junge Erde: es war die Nacht. Warum sie traurig war, werdet ihr fragen. Ja seht, sie war einsam in der Welt, wo jedes andere Wesen einen Gefährten hatte: und gibt es ein Glück, wenn wir es nicht mitteilen können? Dazu kam noch, daß die Nacht mehr und mehr empfand, was sie sich so gerne verheimlicht hätte, daß sie das einzige Wesen war, dem die andern sich nicht liebend nahen mochten. Denn wie sie auch ihre freiwilligen Lämpchen anzündete, sie mußte doch den Menschen und Tieren die Schönheiten der Erde verbergen, und das wendete alle von ihr ab. Nicht daß sie ihr ins Angesicht geklagt hätten; aber in dem Jubel, mit dem die Morgensonne begrüßt wurde, sprach es sich deutlich genug aus, wie wenig man der Nacht zugetan war. Das betrübte sie natürlich; denn sie war gut und liebevoll, und sie hüllte ihr Haupt in den dichtesten Schleier, um ihren bitteren Kummer auszuweinen. Das rührte nun uns mitleidige Blumen gar sehr, und wie sich alles von ihr wendete, suchten wir, wie wenig wir auch ihren Schmerz stillen konnten, ihr Freude zu machen, so viel es unsere Kräfte erlaubten. Aber wir hatten nichts zu bieten als Farben und Düfte, und an den Farben hat die Nacht seit jeher keine große Freude gehabt. So sparten wir für sie unsere schönsten Düfte auf; ja einzelne, zum Beispiel die Nachtviole, duftete bei Tage gar nicht, um alle ihre Wohlgerüche der Nacht darzubringen, und diese Gewohnheit hat sie denn auch, wie bekannt, seitdem bewahrt. Doch alles das konnte die Trauernde nicht trösten, und sie warf sich in ihrem Schmerz vor den Thron des Schöpfers.

»Allmächtiger Vater« hob sie an, »du siehst, wie alles glücklich ist in deiner Schöpfung, – ich allein ziehe freudelos, einsam und ungeliebt über die Erde und habe kein Wesen, dem ich mich in meinem Kummer anschließen kann. Der Tag flieht vor mir, wie sehnsüchtig ich ihm auch nacheile, und wie er, wenden sich alle Geschöpfe von mir ab. Darum, allmächtiger Vater, erbarme du dich meines Schmerzes und gib mir einen Gefährten!«

Da lächelte in Mitleid der Schöpfer, erhörte das Gebet der Nacht, schuf den Schlaf und gab ihn ihr zum Genossen. Erkennt man es nicht, daß der Schöpfer ihn lächelnd schuf, daran, daß er nur geliebt ist, nur Segen austeilt, nur Glück und Trost? Die Nacht nahm den Freund in ihre Arme, und nun ging eine ganz andere Zeit für sie an. Nicht allein, daß sie nicht mehr einsam war, sondern es wurden ihr auch die Herzen aller zugetan, seit der Schlaf, der Liebling aller Lebenden, mit ihr kam, wenn sie den Tag von der Erde verscheuchte. Bald fanden sich noch andere freundliche Wesen in ihrem Gefolge, die Kinder der Nacht und des Schlafes, – die Träume. Die zogen mit den Eltern über die Erde und hatten bald Freundschaft mit den Menschen geschlossen, die damals auch noch in ihrem Herzen wie Kinder waren. Aber leider änderte sich das bald. Leidenschaften erwachten in den Menschen, und in ihrem Gemüte wurde es trüber und trüber. Kinder verderben leicht in böser Gesellschaft, und so kam es denn, daß auch einzelne Träume durch den Umgang mit den Menschen leichtsinnig, trügerisch und unfreundlich wurden. Der Schlaf bemerkte diese Veränderung seiner Kinder und wollte die ungeratenen schon aus seiner Gesellschaft ausstoßen, da baten die Geschwister für sie und sagten: »Laß uns die Brüder, sie sind nicht so schlimm, wie sie scheinen, und wir versprechen dir, nach Kräften wieder gutzumachen, wo sie sich in ihrem Mutwillen einmal vergehen.« – Der Vater erhörte den Wunsch seiner guten Kinder, und so blieben auch die bösen Träume in seiner Gesellschaft, die aber, wie die Erfahrung gelehrt hat, sich wunderbarerweise immer am meisten zu den bösen Menschen hingezogen fühlen.

Mit den Menschen wurde es jedoch schlimmer und schlimmer. Einst lag ein Mann in einer herrlichen Nacht auf dem duftenden Rasen, und der Schlaf und die Träume waren zu ihm getreten; aber die Sünde ließ sie nicht Macht über ihn bekommen. In seiner Seele stieg ein furchtbarer Gedanke auf, der Gedanke an Brudermord. Vergebens schüttelte der Schlaf aus seinem Zauberstab die beruhigenden Tropfen auf ihn aus, vergebens umgaukelten ihn die Träume mit ihren bunten Bildern, – immer wieder entzog er sich ihrer sanften Herrschaft. Da rief der Schlaf seine Kinder zu sich. »Laßt uns fliehen« sprach er, »dieser Mensch ist unserer Gaben nicht wert!« und sie flohen. Als sie fern waren, nahm der Schlaf seinen Zauberstab, halb im Zorn, daß er ihm diesmal seine Kraft so schlecht bewährt hatte, und steckte ihn in die Erde. Oben darauf hängten die Träume spielend ihre leichten, luftigen, bunten Bilderchen, die sie dem Menschen hatten schenken wollen. Das sah die Nacht, und sie hauchte Leben in den Stab, daß er Wurzel schlüge in die Erde. Er ergrünte und barg nach wie vor in sich die Tropfen, die den Schlaf herbeirufen. Und die Gaben der Träume gestalteten sich zu zarten, bunten, flatternden Blättern. So sind wir Mohnblumen entstanden.« –

Die Erzählung war beendigt, und dankend beugten sich die Blumen von allen Seiten zur Erzählerin. Da dämmerte der Morgen heran. Als es nun hell wurde, flatterten die Blätter einer Zentifolie zerstreut durch den Wald und hielten still bei jeder Blume, an der sie vorbeikamen, jeder einen wehmütigen Abschied zuflüsternd. Und Tränen hingen in allen Blumen.


 << zurück weiter >>