Michail Prischwin
Der schwarze Araber und andere Erzählungen
Michail Prischwin

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Das Tier von Krutojar

I

In Bjeswjersk gibt es viele Kirchen, zahllose Kapellen und zwei Klöster. Die wundertätigen Ikonen waren alle ganz von selbst auf wunderbare Art erschienen: die heilige Paraskewa kam auf dem Fluß geschwommen, und der heilige Nikola – einfach zu Fuß. Die Stadt erhielt ihren Namen nicht wegen der Ungläubigkeit – ›Bjeswjerje‹ – ihrer Einwohner, sondern vom Worte ›Swjer‹ – das Tier. In den alten Büchern heißt es ausdrücklich: ›Bje Swjer‹ – Es war ein Tier. Die alten Weiber, die zum wundertätigen Bild der Finsteren Paraskewa pilgern, behaupten, daß das Tier noch heute in den Sümpfen von Krutojar wohne. Niemand hat das Tier gesehen, aber alle wissen, daß es eine Kalbsschnauze hat. Niemand hat das Tier gehört, es ist aber bekannt, daß es mit schwarzer Stimme schreit. Nur ein vom Schicksal gezeichneter und dem Verderben geweihter Mensch kann das Tier sehen und hören; es ruft ihm zu: »Meine Stunde naht!«

In Bjeswjersk denkt kein Mensch mehr an das Tier. Man erinnert sich seiner nur, wenn man angetrunken ist oder wenn Pawlik Wjerchne-Brodskij von Krutojar die Stadt besucht.

Pawlik Wjerchne-Brodskij kommt in seinen dummen Geschäften nur sehr selten in die Stadt. Zuerst bemerkt ihn immer der Mönch auf der Fähre. Aus der Ferne sieht man zunächst auf dem mit zwei Schindmähren bespannten Wagen nichts als einen mächtigen, grauweißen Bart, von der Farbe des ungebleichten Bauernleinens. Dieser Bart gehört dem Kutscher Timofej; der Herr von Krutojar dagegen ist glatt rasiert, hat weder Kinn- noch Schnurrbart, dafür aber eine Adlernase wie jene schwedischen Ritter, von denen das Geschlecht der Wjerchne-Brodskijs abstammen soll.

Von den edlen schwedischen Rittern hat dieser Sproß nur die Adlernase. Sonst ist an ihm nichts Schwedisches: die an zwei Beefsteaks gemahnenden roten Backen, die dicken Lippen, das runde Kinn, der dicke Bauch, die Glatze, das rote Fell, das seine Brust bedeckt und unter dem offenen Hemdkragen hervorguckt, und der leichtsinnige Ausdruck der von blonden Brauen überschatteten Augen – alles ist echt russisch. Nur die Nase allein ist schwedisch und adelig. Auch hat Pawlik in der Hand keine Lanze, sondern eine lange, mit einer Bleikugel am Ende versehene Reitpeitsche; diese Peitsche braucht er für die Hunde. Er liebt es, beim Passieren eines Dorfes irgendeinem besonders wütenden Köter ein paar überzuziehen. Hei, wie der Köter aufschreit! Timofej lacht sich halbtot. Auch die Bauern fühlen sich nicht beleidigt; nein, sie lachen mit. Den alten und gutmütigen Hunden tut er aber nichts; er neckt sie nur, indem er sie wie ein Hund anbellt.

»Das ist ein lustiger Herr!« sagen die Bauern, wenn sie ihn aus der Ferne bellen hören.

Um sich die Zeit während der Fahrt auf eine nutzbringende Art zu vertreiben, holt er zuweilen eine kleine hölzerne Schaufel hervor und schlägt mit diesem Werkzeug die vorbeifliegenden Bremsen, Hummeln und Käfer tot.

»Gut getroffen!« belobt ihn ab und zu Timofej.

Ruft in der Ferne eine Wachtel, so antwortet ihr Pawlik sofort wie eine Wachtel; ist es eine Krähe, schreit er wie eine Krähe, ist es eine Elster – schreit er wie eine Elster. Er macht es so täuschend, daß sich die Vögel oft im Fluge umsehen, ob nicht eine Wachtel, eine Krähe oder eine Elster im Wagen fahre. Auch für Timofej ist es das reinste Vergnügen, mit so einem Herrn zu fahren; besonders aber, wenn ihnen Mädchen begegnen. Alle Bauernmädchen kennen Pawlik; wenn sie aus der Ferne Timofejs Bart erblicken, flüchten sie von der Straße ins Feld. Pawlik hat aber lange Arme. Er kann immer auch aus großer Entfernung dem Mädchen so etwas zeigen, daß es aufschreit und wie angewurzelt stehenbleibt. Dann springt Pawlik aus dem Wagen und rennt ins Korn.

So fährt der Erbe der schwedischen Ritter vom See Krutojar nach Bjeswjersk. Ist der Tag schön, so nimmt Pawlik regelmäßig bei der Fähre, wo ihn lächelnd der Mönch erwartet, ein Bad.

Sein bärtiger Kutscher folgt ihm ins Wasser. Wjerchne-Brodskij liebt es, mit der flachen Hand aufs Wasser zu schlagen und dabei den Mönch anzuspritzen. Der hagere, ausgemergelte Mönch versieht in Erfüllung eines Gelübdes lebenslänglich das Amt eines Fährmanns; er ist sonst wenig zum Lachen aufgelegt, wenn er aber Pawlik baden sieht, muß er lächeln. An so einem silbernen Tage spielt im Wassers taub der Regenbogen; auf dem Wasserspiegel tummeln sich die erschrockenen Plattfische; aus der Tiefe lugt irgendein Tiefenfisch hervor. Es ist warm. Im Lehmboden regt sich die Aalraupe. Ein zufriedener Krebs läßt vom Boden Luftblasen steigen. Der Mönch sieht zu und lächelt.

»Geh ins Wasser, du heilige Seele!« befiehlt ihm Pawlik.

Der Mönch gehorcht. Er legt seine schwarzen Kleider ab und steigt trocken und gelb ins silberne Wasser. Wjerchne-Brodskij läßt den Mönch dreimal untertauchen und spricht dabei: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Ein blauer Fluß, ein blauer Himmel, blaue Kirchenkuppeln auf den fernen Hügeln. Wenn der Fluß zufriert, wird der Mönch wohl in seiner Zelle mit Wonne an diesen silbernen Tag zurückdenken.

Timofej steigt aus dem Wasser auf das steile Ufer. Sein Bart hängt herab wie ein schwerer, mit Wasser getränkter Schwamm. Die Schwalben fürchten sich nicht vor diesem Bart: sie tauchen und plätschern in nächster Nähe. Wjerchne-Brodskij klettert ans Ufer und schleppt auch den hageren Mönch hinauf. Alle drei setzen sich nackt in die Sonne.

»Du wirst alt, Mönch«, sagt zuweilen Pawlik.

»Es ist Gottes Wille«, erwidert der Mönch. »Auch Sie werden mit der Zeit alt werden.«

»Ich werde nie alt werden, ich werde mich gegen das Altern behandeln lassen. Heute ist es möglich: man spritzt den Menschen Bärensamen ein.«

»Bärensamen?«

»Oder Elefantensamen ... Es wurden verschiedene Versuche gemacht. Wenn man so einem alten Mönch Samen einspritzt, beginnt er gleich zu tanzen wie eine Libelle.«

Ob nun jetzt ein Bauer, ein Vagabund, der Notar mit seiner Angel oder der Bezirksrichter vorbeigeht – Pawlik macht keinen Unterschied: jedermann muß sich neben ihn hinsetzen und an diesen dummen Gesprächen teilnehmen; alle wissen ja, daß der Herr von Krutojar ein Sonderling und lustiger Patron ist. Nachdem sie eine Weile gesessen, kleiden sie sich wieder an. Der Mönch setzt sie mit der Fähre hinüber, und die beiden Schindmähren schleppen Pawlik den steilen Tjapkin-Berg hinauf.

»He, du schuftige Arina!« schreit Timofej das eine Pferd an.

»Du neidische Popenfrau!« ruft Pawlik dem anderen Pferd zu und zieht ihm ein paar mit der Peitsche über.

Oben auf dem Berg stehen zahllose Kirchen: man sieht nichts als Kuppeln: grüne, blaue mit goldenen Sternen, blaue ohne Sterne, goldene und silberne. Bjeswjersk erinnert mit seinen vielen Kirchen an Moskau; nur sind hier die Straßen mit Gras bewachsen, und statt Trottoirs führen rechts und links Fußpfade.

Sobald auf dem Platz der graue Bart Timofejs sichtbar wird, deckt die Näherin Poljuscha, die in einem Holzhäuschen mit buntschillernden Fensterscheiben wohnt, ihre Nähmaschine mit dem nußbaumpolierten Schutzkasten zu und beginnt sich anzukleiden und, vor allen Dingen, zu pudern.

Pawlik besucht Poljuscha schon seit vielen Jahren; er hat ins Sofa ein tiefes Loch gedrückt und alle Wände schwarz geraucht; sie empfängt ihn aber noch immer in Gala: sie zieht jedesmal ihr grünes, mit Spitzen garniertes Kleid an und pudert sich das Gesicht. Poljuscha hält von jeher auf Eleganz. In ihrem Hause ist alles schmuck und blank: Zitronenbäume, die sie selbst aus Kernen gezogen hat; reichen bis an die Decke; auf den Fensterbänken stehen Geranien, im Winkel hängt eine Ikone mit strengem Antlitz, an den Wänden – Bildnisse von Zaren und hervorragenden Bürgern. Pawlik findet bei ihr immer sichere Zuflucht.

Wenn der Wagen vor dem Hause stehenbleibt, sucht Pawlik auf dem Wagen den fettesten Brachsen aus.

»Ist er dir nicht zu mager?« fragt er Poljuscha.

»Er ist fett, gut und fett, Pawlik«, antwortet Poljuscha.

Im Wagen liegen noch eine Menge Brachsen, Zander, Auerhähne und anderes Wild. Dies alles ist für andere bestimmt. Pawlik wird die Geschenke hinter Poljuschas Rücken in andere Häuser tragen.

»Ist er dir nicht zu mager?« wird Pawlik manche andere Poljuscha fragen.

»Er ist fett, gut und fett, Pawlik«, wird ihm jede Poljuscha antworten.

Pawlik wurde in diesen grünen Straßen von vielen, sehr vielen Frauen geliebt, und alle waren ebenso stark gepudert wie Poljuscha. Vor gebildeten Damen empfand Pawlik eine gewisse Scheu. In ihrer Gesellschaft wurde er immer rot und wußte nie, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Poljuscha verzieh ihrem Pawlik alles.

»Pawlik ist gekommen! Pawlik ist gekommen!« läuft das Gerücht durch die grünen Straßen.

Überall herrscht Freude, als ob die Sonne hinter Wolken zum Vorschein gekommen wäre. Alle hängen an Pawlik mit zärtlicher Liebe. Er weiß es selbst; zuweilen, wenn er etwas angeheitert auf dem Sofa liegt, fragt er gerührt seine Poljuscha:

»Sag mir mal, Poljuscha, warum fürchten alle Menschen etwas und sprechen immer von ihren Feinden? Ich fürchte aber nichts, und niemand tut mir etwas. Ist es nicht sonderbar?«

»Du bist ein Kind, Pawlik«, antwortet Poljuscha, »du lebst wie ein Vöglein im Walde, und darum lieben dich alle so sehr.«

Von solchen Worten getröstet, schläft Pawlik so süß ein, daß er gar nicht merkt, wie die Fliegen seine Glatze benagen und wie unter seinem dicken Körper die Sprungfedern des Sofas ächzen. Er schläft so süß, daß ihm das Wasser im Munde zusammenläuft und bei den Mundwinkeln herausfließt.

Die Kaufherren in den eisernen Läden wundern sich sehr über den Herrn von Krutojar. Sie sitzen in ihren langschößigen Röcken gleich schwarzen Küchenschaben vor ihren Läden und mustern mit wissenden Augen jeden Passanten. Sie kennen jedermann bis ins tiefste Innere seiner Seele, sie wissen von jedermann, wie, wo, wovon und wozu er lebt, was er in der Vergangenheit verloren hat und worauf er in der Zukunft baut. Doch von Pawlik, dem letzten Sprossen des Geschlechts der Wjerchne-Brodskijs, wissen die Kaufherren nichts zu sagen: er sät nicht und erntet nicht und ist doch heil, und alle lächeln ihm zu.

»Was für Geschäfte hat er eigentlich?« erkundigen sich die Kaufherren bei den Bauern aus Wjerchne-Brod.

»Der Herr hat keinerlei Geschäfte«, antworten die Bauern.

»Wie lebt er denn?« – »Er lebt mit seinen Mädeln und Hunden.«

»Und die Wirtschaft?«

»Die Wirtschaft ist längst beim Teufel.«

Die eisernen Kaufherren lächeln und betrachten Pawlik als einen harmlosen und uneigennützigen Narren. Um so höher wird Pawlik Wjerchne-Brodskij im Klub geschätzt. Sooft er dort abends einkehrt und zu erzählen beginnt, lassen die Spieler ihre Karten liegen, und aus dem Billardzimmer kommen die Leute mit den Queues in der Hand herbei.

»Die Geschichte vom Enterich und der Ente!« verlangen alle.

»Tschwjak, tschwjak«, beginnt Pawlik als Enterich, etwas grob wie ein ungehobelter Bauer.

»Ach, ach!« imitiert der Bezirksrichter die vornehme Entendame.

Mitten im Winter erleben die Leute plötzlich einen Frühlingstag am Fluß. Sie begleiten mit den Blicken vorbeischwimmende Eisschollen. Sie hören Tropfen von den Eiszapfen am Ufer ins Wasser fallen. Pawlik schwimmt keck zum Bezirksrichter heran, packt ihn beim Schopf, würgt ihn, läßt ihn unter den Tisch untertauchen, treibt ihn ans Ufer und dreht, von seiner Leidenschaft hingerissen, den Steiß wie ein Enterich. Und so geht es den ganzen Abend lang. Pawlik kann jeden Vogel und jedes Tier imitieren, und der ganze Frühling ist in seiner Darstellung so täuschend wahr, daß die Klubkatze aufs Dach klettert und die ganze Winternacht hindurch miaut.

»Es war echt, so echt!« berichten die Klubmitglieder zu Hause ihren Frauen.

»Und der feine Geschmack!« sagen die Damen.

Pawlik kann mitten im Winter einen Frühlingstag machen. Wie sollte man ihn dafür nicht lieben? Es gibt aber auch solche Leute wie den Lehrer für Literaturgeschichte an der Realschule: dieser Mann, der wohl der gescheiteste Mensch in Bjeswjersk ist, freut sich gar nicht über Pawliks Frühling. Hager wie eine Hopfenstange, mit Ziegenbart, roten Augen, trocken, spitzig und händelsüchtig, betrachtet er Pawlik als eine Art Insekt.

»Dem sollte ich eigentlich einmal eine herunterhauen!« sagte sich Pawlik, sooft er den Lehrer sah. Er wagte es aber nie zu tun, konnte sich überhaupt nicht rühren, als ob man ihn an allen Gliedern gefesselt hätte. So war es immer: sooft der Lehrer in den Klub kam, mußten die Leute ohne Frühling nach Hause gehen und brauchten zu Hause ihre Frauen nicht zu wecken.

Als einmal so ein Frühling den Höhepunkt erreicht hatte, kam der Lehrer in den Saal und setzte sich, von niemandem bemerkt, in eine Ecke. Pawlik stellte gerade einen eifersüchtigen Gänserich dar, die anderen waren die Gänse; sie reckten die Hälse und schnatterten. Noch nie hatte Pawlik größeren Erfolg gehabt, noch nie war sein Frühling so echt gewesen. Da hörte er plötzlich mitten im Lärm ein schreckliches Wort: das unheimliche Wort ›Philister‹

Der Frühling brach plötzlich ab, wie es auch beim echten Frühling vorkommt: der grüne Teppich wird weiß, die Bäume grau, die aus den Nestern vertriebenen Vögel steigen einige Äste tiefer herab, suchen sich unter den Zweigen zu verstecken...

Pawlik war wie versteinert: in der Ecke saß vor einer Flasche Bier der Lehrer und sah ihn mit seinen roten Augen an; die dünnen Lippen lächelten, der Ziegenbart zitterte.

»Philister«, flüsterten die schiefen Lippen.

Der Mann mit dem Ziegenbart hatte ein schreckliches Wort gesprochen; vielleicht nur vor sich hin, in Gedanken, ohne Absicht, gehört zu werden. Pawlik bezog es aber auf sich. Von nun an verfolgte ihn das unangenehme Wort überall. So kam es ihm oft auf der Jagd, nach einigen Fehlschüssen, wenn er sich im Wald auch ohnehin nicht recht behaglich fühlte, in den Sinn. Auch bei der Birkhahnbalz, wenn im Dunkeln nur die weißen Schwanzfedern sichtbar waren, wenn der erhitzte Jäger in Schweiß gebadet in seinem Zelt saß und die Büchse auf den weißen Fleck richtete, wenn jeder ändere Gedanke zerschmolz wie Stearin auf einer heißen Herdplatte, hörte Pawlik oft das böse Flüstern und sah die schiefen Lippen. Er schoß jedesmal fehl und sagte sich:

›Ich bin ein Philister!‹

Nach solchem Mißgeschick wurde der Wald für ihn gleichsam leer, er mußte an die Schreckbilder seiner Kindheit denken, und jedesmal kam ihm das Tier mit der Kalbsschnauze in den Sinn. Nach einem guten Schuß vergaß er es aber gleich wieder; der Wald war wieder voller Töne, und alles erschien ihm wie ein Traum. Es kam ihm seltsamerweise nie in den Sinn, irgendeinen der gebildeten Bürger nach der Bedeutung des unverständlichen Wortes zu fragen.

»Was heißt eigentlich Philister?« fragte er schließlich den Lehrer für Schönschreiben.

»Ein Dummkopf«, antwortete der Lehrer.

Am späten Abend jenes Tages fragte Poljuscha ihren Pawlik, warum er so finster sei. Pawlik erzählte ihr, daß man ihn – dir nichts, mir nichts – einen Dummkopf genannt habe. »Du bist gar nicht dumm, Pawlik«, sagte Poljuscha, »doch du strahlst immer: du glaubst, daß alle so sind wie du. Sie sind aber alle hinterlistige Schlangen und nicht wert, daß du vor ihnen deine Seele ausschüttest.«

In dieser Nacht schwor Pawlik, sich zu bessern; am nächsten Morgen hatte er aber alles, was er am Abend gedacht, wieder vergessen. Der Lehrer für Literaturgeschichte besuchte übrigens nie mehr den Klub, alles kam wieder in Ordnung, und das üble Wort wurde vergessen.

Pawlik kam nur selten in die Stadt. Er erschien mit strahlendem Gesicht, schenkte seinen Freundinnen fette Brachsen, machte im Klub seinen Frühling, verschwand plötzlich und spurlos, und kein Mensch dachte mehr an ihn. Nur sooft irgendein Tourist in die Stadt kam und man erzählte ihm, daß das Wort Bjeswjersk nicht vom Unglauben, sondern von einem Tier von Krutojar abstamme, gedachte man auch Pawliks.

»Bje Swjer – es war ein Tier«, sagte man dem Touristen.

Der Tourist dankte, notierte es sich in sein Notizbuch, besichtigte die alten Kirchen und fuhr davon.

Die Stadt Bjeswjersk versank aber mit ihren Kirchen wieder in tiefen Schlaf. Ringsumher rauschen die Wälder, und unten am Fluß versieht der Mönch in Erfüllung eines Gelübdes ewig sein Amt auf der Fähre.

II

Die Kirche ist gar nicht zu sehen – so dicht sind die Wälder um den See von Krutojar! Nur oben auf dem Gipfel des Hügels gibt es eine kahle Stelle, und da steht in einem alten Garten das halb verfaulte Herrenhaus mit den drei hölzernen Säulen. Hier ist der Stammsitz der Wjerchne-Brodskijs. Die Aussicht aus den Fenstern auf den ganzen See, auf die hinter dem See liegenden Felder von Wjerchne-Brod, und das an den Wald stoßende Dorf ist wunderschön. Die Kirche und der Glockenturm sind von einer Fichte verdeckt. Pawlik hat aber sehr selten Zeit, zum Fenster hinauszuschauen; meistens ist er im Wald oder auf dem See oder unten in Timofejs Hütte, wo der Fußpfad zur Finsteren Paraskewa vorbeigeht.

Der bärtige Timofej gleicht einem alten Birkhahn. Er hat nur eine Tochter, ein etwas blödes, ruhiges Kind, das ihm keinerlei Sorgen macht. Timofej würde Tag und Nacht mit Pawlik jagen, wenn er nicht seine böse Alte hätte. Bei Timofej kehren oft Pilger ein. Sie sprechen mit der Alten von göttlichen Dingen, doch die Alte hört nie auf, auf den Waldhüter zu schimpfen. Nach einem solchen Auftritt lohnt es sich nicht mehr, in den Wald zu gehen. Weibergekeife hat bekanntlich schlimme Folgen: man trifft hinterher nichts. Daher schmiegt sich Timofej in der Nacht vor der Jagd immer an seine Alte heran; er tut freundlich und liebevoll und wartet, bis sie endlich einschläft. Schnarcht die Alte, so rückt er etwas weg und horcht noch eine Weile. Wenn sie auch dann, nicht aufwacht – husch aus dem Bett und aus dem Haus. Wenn er auf diese Weise glücklich dem Gekeife entronnen ist, gelingt es ihm zuweilen, selbst im Winter bei Schneesturm, wenn es noch ganz finster ist, einen von Schnee halbverwehten Auerhahn zu entdecken. Der alte Vogel schläft in den Zweigen, Schneeflocken bleiben ihm auf den Wangen und den roten Augen kleben, und so wächst dem Auerhahn, ein weißer Bart. Auch Timofejs Bart wird von Schnee weiß, und so stehen sie sich beide gegenüber: Timofej gleicht dem Auerhahn, und der Auerhahn gleicht Timofej. Wenn der Jäger dabei kaltes Blut bewährt, bringt er aus dem Wald trotz des Schneesturmes einen Auerhahn heim. So kann es einem gehen, wenn es ihm gelingt, ohne Weibergekeife in den Wald zu ziehen!

»Was sagst du zu meinem Hahn?« fragt der Jäger beim Essen seine Alte.

»Er ist süß, sehr süß, Timofejuschko«, erwidert die Alte.

Am Abend muß Timofej seinem Herrn ausführlich erzählen, wann und wo er den Auerhahn geschossen hat, und Pawlik durchkostet dieses Abenteuer in Gedanken hundertmal. Und in solchen Gesprächen verfliegt ein langer Winterabend wie ein Augenblick. Eine solche Macht hat die Jagd!

Pawlik und Timofej leben wie zwei Busenfreunde. Im Frühjahr wie im Sommer, im Herbst wie im Winter – immer sind sie auf der Jagd. Nur einen Monat im Jahr – wenn das Federwild brütet und Schonzeit ist – hat Pawlik Zeit zum Nachdenken.

In solchen Tagen irrt Pawlik im Garten umher und macht Entdeckungen: hier ist plötzlich ein neuer Strauch Johannisbeeren aufgetaucht, dort eine Himbeerstaude, dort ein Apfelbaum und daneben eine schlanke Ulme. Pawlik merkt gar nicht, daß der neue Apfelbaum ein Wildling ist und den guten alten, noch aus Großmutters Zeit stammenden Baum zu ersticken droht. Pawlik liebt an allem nur das Gute zu sehen; dem Schlechten schenkt er gar keine Beachtung. Auf dem Viehhof ist aber ein wahres Wunder geschehen: seine Hunde hatten ein fremdes Schaf und ein fremdes Kuhkalb zerbissen, und er mußte sie den Bauern abkaufen; das Schaf und das Kalb warfen Junge und aus diesen entstand allmählich die ganze Herde von Krutojar. Heute ist der ganze Hof voll Getier; niemand beaufsichtigt es, es lebt und vermehrt sich in voller Freiheit.

»Der Glückspilz!« sagen die anderen Gutsbesitzer. »Heutzutage verkrachen oft die besten Landwirte, er kann aber in den Tag hinein leben, denn die Hunde sorgen bei ihm für die Viehzucht.«

Selbstverständlich gab es auf dem glückseligen Hügel von Krutojar auch weniger glückliche Tage. An manchen regnerischen Herbsttagen hörte Pawlik im Traum leise Schritte, jemand kam vom See her an sein Fenster immer näher und näher heran ... Der Messinghaken am Schrank erschien ihm im Traum als glänzende, drohende Axt. Er wollte aufspringen und die Axt herunterstoßen, damit sie wieder als Haken erscheine; doch es war ihm zu kalt, um aufzustehen, und über dem See stand unheimlich der tote Mond. Jemand drohte ihm aber und hieß ihn aufstehen und den Haken abhängen. Pawlik wollte es aus Trotz nicht tun.

»Du willst nicht?«

»Nein, ich will nicht«, antwortet Pawlik im Schlafe.

»Dann paß auf!«

Und sofort erhebt sich aus dem See allerlei schwarzer Teufelsspuk.

Pawlik erwacht und hört Schellengeläute.

»Nicht umsonst hatte ich den Traum!« sagt sich der Herr von Krutojar.

Mit Schellen pflegt nur der Kreisrichter zu fahren. Der Kreisrichter ist schrecklich; er kommt entweder, um zu pfänden oder um die rückständigen Steuern einzutreiben. Mit einem Wort, sein Besuch bedeutet nichts Gutes!

Vor diesem Besuch gibt es nur eine Rettung: sich verstecken. Alles ist schon für diesen Fall vorbereitet. Pawliks Bett ist aus einem Schrank umgebaut, dessen Tür nicht wie bei allen Schränken auf seitlich angebrachten Angeln hängt, sondern nach unten aufgeklappt wird; auf dieser heruntergeklappten Schranktür schläft er. Wenn er das Schellengeläute hört, verkriecht er sich sofort in den Schrank und klappt die Tür, an der zu diesem Zweck ein Riemen angebracht ist, hoch. Es ist ein außerordentlich bequemes Möbelstück.

»Schtyk, Schtyk!« ruft Pawlik aus dem Schrank.

»Ich weiß schon!« erwidert der Diener.

»Der Herr ist auf der Jagd!« ruft Schtyk dem Kreisrichter entgegen.

Der ungebetene Gast kommt aber doch ins Zimmer und setzt sich in den Sessel vor den schmutzigen Küchentisch. Schtyk bringt ihm die Schnapsflasche, ein Glas und einen Teller mit einem abgenagten Hammelknochen. Der dicke Kreisrichter trinkt ein Gläschen, beißt etwas vom Knochen ab und blickt sich im Zimmer um. Im Haus ist alles beim alten: über dem Küchentisch hängt eine teure Lampe mit dicken Messingamoretten; in einer Ecke liegt Pferdegeschirr, daneben ein Haufen von Nußschalen, den der Richter schon seit vielen Jahren kennt, und überall, selbst in der Stuhllehne stecken Zigarettenstummel, die vom Alter braun geworden sind. Ein Schrank, so plump wie ein Bauernofen, nimmt das halbe Zimmer ein.

»Schtyk«, sagt der Kreisrichter, »du bist ein Taugenichts, warum kehrst du nie den Boden?«

»Ich mag nicht arbeiten«, antwortet Schtyk jedesmal, »ich mag lieber faulenzen, wie der Herr.«

Der Kreisrichter lacht und schenkt sich ein zweites Glas ein. Schtyk erzählt ihm indessen, daß er kein einfacher Mensch, sondern von adeliger, doch diskreter Herkunft sei. Dann hebt er sein Hemd hoch und zeigt fünf blaue Flecke, wo ihn einst ein Schrotschuß des Vizegouverneurs getroffen hat. Ja, selbst mit dem Vizegouverneur hat er gejagt!

Pawlik sitzt indessen finster in seinem Schrank. In der Schranktür gibt es eine Spalte, durch die ein Lichtschein hereinfällt und auf der Rückwand einen schwarzen Schatten malt. Pawlik studiert vor Langeweile seinen Schatten und erkennt darin die adeligen Züge.

»Ist es denn wirklich mein Schatten?« fragt sich Pawlik, seine Adlernase betrachtend, und denkt an den Urgroßvater, den Nachkommen der edlen schwedischen Ritter. »So weit ist es mit mir gekommen!« Er hört den Regen in den Dachrinnen rieseln und glaubt, wie vorhin im Traum, leise, immer näherkommende Tritte zu hören. Um die Langeweile zu vertreiben, lenkt er seine Gedanken auf die Jagd, stellt sich vor, daß er Patronen stopfe, und flüstert vor sich hin:

»Nummer drei ist für den Hasen, Nummer sechs für die Waldschnepfe; ich will auch für jeden Fall Nummer null vorbereiten: man kann ja auch auf einen Auerhahn stoßen.«

Der Kreisrichter trinkt und ißt und schläft schließlich im alten Großvatersessel ein. Vor den Fenstern hängt ein grauer Regenschleier; die Fliegen kleben träge an den Wänden, die Jagdhunde schlafen wie tot, und der Schatten des edlen Vorfahren tritt an der Schwankwand immer deutlicher hervor.

»Nein«, flüstert der Urenkel, »jener war wie eine eherne Säule, und was sind wir ...?«

Er möchte gern in die Vergangenheit schauen und erfahren, warum alles einen so gewaltigen Anlauf genommen und dann so kläglich geendet hat. Er kann sich nur auf die Worte besinnen, die sein Urgroßvater, der Nachkomme der Ritter, einmal gesagt haben soll: »Ich dachte mir: ich und sie; es kam aber anders: sie und ich; dann soll es lieber einfach heißen: nur ich.«

»Nummer drei für den Hasen, und noch für den Hasen, und noch ... Es gibt ja so viele Hasen«, flüstert Pawlik im Schrank und stopft im Geiste immer neue Patronen.

Der Regen rieselt immer weiter, das Haus verfault, der gelbe Kreis auf der Decke wird immer größer. Das alte Haus nimmt die Nässe wie ein Schwamm auf, und alle Wände, Kammern und Rattenlöcher riechen feucht und dumpf; von unten kommt der schlechte Geruch aus dem Dienerzimmer herauf. Der Regenschleier vor dem Fenster wird gelb vor Lehm.

Pawlik glaubt schließlich, daß auch er selbst aus Lehm sei und daß der Regen auch ihn allmählich wegspülen werde. Der Herbstregen will nicht aufhören, und jeder Maulwurf verkriecht sich tiefer in sein Loch.

»Der Teufel hat ihn schon geholt, kommen Sie heraus, gnädiger Herr!« ruft ihm endlich Schtyk zu.

Die Schellen verklingen in der Ferne.

»Gnädiger Herr, die Wildgänse sind da«, meldet der alte, bärtige Timofej. Diese Worte vertreiben im Nu die schlechte Laune und die Langeweile. Pawlik springt frisch wie eine junge Gurke aus dem Schrank und fragt außer sich vor Freude:

»Du, Timofej, sag mir doch, was für ein Ding ist doch die Jagd?«

»Die Jagd«, erwidert Timofej tiefsinnig, »die Jagd ist eben die Jagd und sonst nichts.«

Pawlik stimmt ihm zu. Eines merkte aber niemand von den Jägern: nämlich daß die Jagd alle Standesunterschiede verwischte und den Gutsherrn, den Bauern und den Vagabunden gleichmachte. Auch ein guter, kluger Hund kann vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft sein. Pawlik fehlte aber eben solch ein guter, kluger Hühnerhund. Alle die Mißgeburten von Hunden, die er hatte, störten ihn nur auf der Jagd. Es kam vor, daß Pawlik sich so einen Hund mit der Leine am Gürtel festband und sich von ihm vor das Wild führen ließ. Ein Auerhahn fliegt auf. Der Hund stürzt ihm nach. Pawlik folgt dem Hund und fällt auf die Nase. Das Wild ist fort, die Knie sind zerschunden, und der Gewehrlauf ist mit Erde verstopft. Pawlik ist außer sich, legt an, paff – und der Hund ist tot.

»Drei Kopeken hat es mich gekostet: so viel ist der Schuß wert, so viel war auch der Hund wert«, sagt Pawlik hernach.

»Der Hund war ja gar nicht so schlecht«, wendet Timofej betrübt ein. »Die Ohren waren schön und lang ...«

»Der Schwanz aber wie ein Schürhaken«, entgegnet Pawlik.

»Er stand auch so schön auf dem Anstand«, jammert Timofej.

»Doch nicht still genug«, sagt Pawlik. »Um den Hund ist nicht schade: drei Kopeken war er wert und mehr nicht.«

III

Nach Bjeswjersk kam eben jener Vizegouverneur, der einst Pawliks Diener fünf Schrotkörner in den Leib gejagt hatte. Mit dem Gouverneur kam auch Lady, die Tochter des allen Jägern wohlbekannten Jack. Die Lady des Gouverneurs hatte ein rotes Fell, einen üppigen Schwanz, auf der Stirne einen Stern, auf der Brust eine Brosche, die Ohren wie zwei Seidentücher, in jeder Augenbraue drei silberweiße Härchen und eine Nase, die immer zitterte, als ob es in ganz Rußland schlecht röche. Diesmal war Lady trächtig, ihre Zitzen waren angeschwollen und hingen herab. Wenn sie auf den Straßen von Bjeswjersk einem ungeschlachten Bauern begegnete, hob sie die Augen, bewegte die Brauen mit den silbernen Härchen und schien zu sagen:

›Sie können mich natürlich mit dem Stiefel in die Flanke stoßen; ich bitte Sie aber im Namen meiner zukünftigen Kinder: rühren Sie mich nicht an!‹

»Es ist ein stummes Tier und versteht doch alles«, murmelte der Bauer, über diesen Blick erstaunt, und ging auf die Seite.

Sooft Herr Wjerchne-Brodskij Lady begegnete, ging er ihr nicht nur aus dem Weg, sondern lüftete seinen Hut und blickte ihr lange nach.

»Ein vornehmer Hund«, sprach er entzückt, »wenn ich nur ein Junges von ihr haben könnte...«

Es schien ihm, daß, wenn er einen solchen Hund hätte, sein ganzes Leben sich anders gestalten würde.

»Edle Rasse!« sagte er.

»Goldene Medaille!« erwiderte Timofej.

Pawlik wagte nicht, den Vizegouverneur um ein Junges zu bitten. Es war bekannt, daß der Vizegouverneur, wie viele Jäger, alle Nachkommen der wunderbaren Hündin ertränken oder in die Erde einscharren ließ. Er tat es aus Eifersucht, damit es in der ganzen Welt keinen zweiten Hund wie die Lady gäbe.

»Der Hund muß jeden Augenblick werfen«, sagte Timofej. »Soll ich einmal versuchen, ein Junges zu stehlen?«

»Versuch es!« ermunterte ihn Pawlik.

Von diesem Tag an saß Timofej ständig unter der Brücke im Graben, wo man Pferde schindet, Ratten ertränkt und junge Hunde und Katzen verscharrt. Lange lauerte Timofej, bis er einmal ein jämmerliches Heulen hörte...

Kurz vorher hatte Lady im Pferdestall unter der Krippe geworfen. Sie versammelte alle neun Jungen unter sich und lag ermüdet und schweratmend da. Plötzlich ging die Stalltür auf, und ein Mann mit einem Eimer kam in den Stall.

›Ich vertraue Ihnen, Sie sind edel, Sie werden meinen Kindern nichts zuleide tun‹, schien die Engländerin mit den Augen zu sagen.

Der Bauer sah ihr in die Augen und legte vorsichtig ein Junges nach dem anderen in den Eimer. ›Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen vertraue‹, sagten die Augen. Der Bauer ging mit dem Eimer fort.

Lady sah sich um: ihre Milch tropfte auf das Stroh, die Kinder waren fort. Lady fiel es gar nicht ein, den Mann mit dem Eimer irgendwie zu verdächtigen; sie ging sofort in die Ecke, wo sie geworfen hatte. Sie beschnüffelte lange den Mist, scharrte ihn mit den Pfoten auf, ermüdete, verkroch sich wieder unter die Krippe und schlief ein. Die Milch lief noch immer aus den Zitzen, blähte sie auf, und der ganze Leib tat ihr weh. Dann sprang Lady auf, begriff alles und heulte. Timofej hörte sie heulen und machte sich gleich auf die Suche.

Irgendwo im Graben winselte etwas. Timofej entdeckte ein rotes, blindes Köpfchen, das aus der Erde hervorlugte; er grub das Hündchen aus, versteckte es an der Brust und lief, was er laufen konnte, zu Poljuscha.

»Ist's ein Männchen oder ein Weibchen?« fragte Pawlik.

»Ein Weibchen«, erwiderte Timofej.

Poljuscha steckte dem Hund die längst vorbereitete Milchflasche vor die Nase. Der Blinde sog gierig und zitternd.

»Er saugt gut!« sagte Timofej entzückt.

Bald darauf setzte der Mönch auf der Fähre Pawlik und Timofej über den Fluß herüber, und kein Mensch in der Welt erfuhr etwas von der Sache. Auch der Vizegouverneur reiste ab, in der tiefen Überzeugung, daß es auf der ganzen Welt nur eine Lady, die Tochter des großen Jack, gäbe.

Genauso wie eine vom Wind fortgetragene leichte Samenkrone der Birke, kam auch der Same des berühmten Jack in die Tiefe der Wälder von Bjeswjersk, an die Gestade des Sees Krutojar. Dort wuchs, der ganzen Jägerwelt unbekannt, eine zweite Lady heran. Sie glich ganz der Mutter; das Fell war lang und rot, auf der Stirn hatte sie einen Stern, auf der Brust eine Brosche, die Ohren waren wie zwei Seidentücher, in den Brauen schimmerten silberne Härchen, und die Nase zitterte beständig, als ob es in Pawliks Hause immer schlecht röche. Zwei Monate lang wurde sie mit der Flasche ernährt, den ganzen Sommer liebevoll wie ein Kind behandelt, und so wuchs sie wunderbar auf. Als der Winter kam, blickte sie schon mit klugen, alles verstehenden Augen in die Welt und auf die am Küchentisch plaudernden Jäger; es fehlte ihr nichts als die Sprache. Der kluge Blick brachte Pawlik aus der Fassung. Er konnte sich oft gar nicht beherrschen, sprang vom Sofa und lief tänzelnd und meckernd durchs ganze Haus.

»Ein prächtiger Hund!« lächelte Timofej, plötzlich auf der Bildfläche erscheinend.

Lady sprang ihrem Herrn nach, erreichte ihn und hüpfte wie verrückt. Pawlik fing den Hund in seine Arme auf, trug ihn aufs Sofa und tätschelte ihn wie ein Kind.

»Wenn man so einen Hund hat«, belehrte ihn Timofej, »muß man sich anständig aufführen.«

In den Zeiten der Leibeigenschaft war Timofej Jagdgehilfe gewesen, und darum hielt er sich für einen Sachverständigen.

»Danken Sie Gott, daß es eine Hündin ist«, sagte er zu Wjerchne-Brodskij an manchem Winterabend. »Denn die Hündinnen sind immer verständiger und flinker.«

Pawlik glaubte an Timofejs Weisheit und hörte ihm andächtig zu.

»So hat es Gott gewollt«, belehrte Timofej, »und darauf beruht die ganze Welt. Auch bei uns Menschen ist es genauso: wenn die Jungen erst anfangen, in die Welt zu schauen, ist so ein Mädel längst fertig: es kann schon seine jüngeren Geschwister versorgen und auch einen Kochtopf in den Ofen setzen.«

»Doch in den späteren Jahren?« wandte Wjerchne-Brodskij ein, »kann man uns denn in den späteren Jahren mit den Weibern vergleichen?«

»Bei uns ist es allerdings anders«, entgegnete Timofej, »doch die Hündinnen sind auch im Alter verständiger.«

Nach einem so tiefsinnigen Ausspruch pflegte sich Timofej eine neue Tasse Tee einzuschenken.

»Bei starkem Tau sollst du den Hund nicht hinauslassen«, lehrte er weiter, »denn das kann ihm schaden. Du sollst nicht zu früh und nicht zu spät am Morgen aus dem Hause gehen. Dann suchst du ein Birkhahnnest. In der ersten Zeit darfst du dich auf den Hund nicht verlassen; sollst ihn nicht von der Leine lassen und mußt selbst das Nest suchen. Wenn du eins gefunden hast, kannst du von Glück sprechen. Setz dich dann unter einen Strauch und warte. Halte den Atem an und sei auf der Hut. Zuerst pfeift ein Junges im Nest, die Henne gluckst, und dann gehen sie aufeinander zu ... das Gras bewegt sich, und du kannst ihre Köpfe und Federn erkennen. Das ist so lustig, daß du selbst wie ein Hund zu wittern anfängst.«

Wenn Timofej so erzählte, war es Pawlik, als ob er im Zimmer den Geruch des Wildes witterte. Er hörte andächtig zu, betrachtete Ladys Nase und zuckte mit den Nüstern.

»Gibt es Menschen«, fragte er Timofej, »die wie ein Hund das Wild wittern können?«

»Nein«, antwortete der Alte, »das ist dem Menschen nicht gegeben. Ihnen«, er zeigte auf Lady, »ihnen hat Gott die Natur eines Fuchses gegeben; dem Menschen hat er aber keine Witterung gegeben; denn wenn auch der Mensch solche Witterung hätte, wie würde es dann auf der Welt zugehen?«

»Dafür ist niemand dem Menschen an Verstand gleich.«

»Ja, Verstand ist ihm eben gegeben!« stimmte Timofej zu. »Doch die Witterung ist ihm nicht gegeben. Dem Menschen und dem Wolf ist sie nicht gegeben, und das ist gerecht.«

Pawlik lachte und malte sich aus, wie es wäre, wenn der Wolf eine Schafherde aus der Ferne wittern könnte und der Pferdedieb durch seinen Geruch wüßte, wo sich gerade ein unbeaufsichtigtes Pferd befindet.

»Nein, das ist ihm nicht gegeben«, wiederholte Timofej.

Pawlik lag auf dem Sofa und philosophierte vor sich hin: Wie wunderbar ist doch alles in der Welt eingerichtet, so gescheit und so gerecht. Warum ist übrigens die Erde rund?

»Warum ist die Erde rund?« wandte er sich an Timofej.

»Wegen der Wildschweine«, erwiderte der Waldhüter. »Das Wildschwein kann sich nämlich auf runder Fläche besser bewegen als auf einer Ebene.« Im Anschluß daran erzählte er, wie einst in diese Gegend Wildschweine gekommen waren.

»Woher waren sie denn eigentlich gekommen?« fragte Pawlik.

»Aus der Gegend von Kiew«, erklärte der alte Jäger.

»Und wie kamen Wildschweine nach Kiew?« Pawlik bemühte sich, seine ganzen geographischen Kenntnisse im Gedächtnisse wachzurufen, konnte sich aber auf nichts mehr besinnen. Er ließ aus eigener Machtvollkommenheit asiatische Steppen mit Salzseen, wo es im dichten Schilf von Wildschweinen wimmelte, dicht an die Stadt Kiew heranrücken.

»Auch Adler kommen zuweilen her«, berichtete Timofej. »Der selige Herr hat mal selbst hier einen Adler erschossen. Die Fänge hat er ihm abgehackt und nach Petersburg geschickt.«

»Wie sehen denn die Fänge eines Adlers aus?« erkundigte sich Pawlik. »Wie Bärentatzen«, erwiderte Timofej, ohne mit der Wimper zu zucken.

Auch Lady hörte diesem Geschwätz zu; vielleicht sah sie in ihrem Geiste Wildschweine über die runde Erde ziehen und Adler mit Bärentatzen vorbeifliegen.

So verging der Winter. Alle Eiszapfen fielen eines Tages wie auf Kommando herab und zerschellten. Das Eis im See setzte sich. Die Hechte erwachten. Am See und im Wald regte sich das Federwild. Alte Männer und Frauen pilgerten zur Finsteren Paraskewa und entzündeten das Lämpchen in der Kapelle.

Als Lady zum ersten Male in den Garten hinaustrat, war es ihr zumute wie einer Nonne, die zum ersten Male das Kloster verläßt. An den noch nackten Ästen hingen warme laue Tropfen. Der ganze Garten prangte in solchem Perlenschmuck. Die Tropfen funkelten in der Sonne, flossen zusammen und fielen in das vorjährige Laub. Der junge Hund überlegte sich, welchem Tropfen er nachspringen, welchen Tropfen er zuerst erhaschen solle. Der erste Schmetterling flatterte vorbei. Lady entschloß sich, dem Schmetterling nachzulaufen, blieb aber plötzlich stehen: ein Spatz saß in der Sonne, bewegte die Flügel und sah sie an. Sie schlich heran und blieb starr wie eine Bank vor ihm stehen.

»Wie delikat sie es macht!« sagte Pawlik.

»Goldene Medaille!« bemerkte Timofej.

»Und wie gescheit!« lobte der Herr.

»Vornehme Abstammung!« erklärte der Waldhüter.

Bald bedeckten sich die Wälder mit jungem Laub. Die jungen Blättchen setzten sich auf die alten Äste wie eine Schar winziger smaragdgrüner Vögel. Das Gras schoß durch die Schicht faulen Laubes hindurch, reckte sich hinauf, und bald floß das Grün der Zweige mit dem Grün der Erde zusammen. Im Frühjahr, wenn das Federvieh brütet, geht man nicht auf die Jagd. Wenn man Glück hat, kann man aber irgendwo an einem einsamen Ort auf einen alten Auerhahn stoßen. Pawlik wollte gar nicht jagen; er wollte nur den neuen Hund ausprobieren, um sein endgültiges Urteil über ihn zu fällen, um ihn für sein ganzes Leben liebzugewinnen und allen Leuten sagen zu dürfen, daß es in der ganzen Welt keinen besseren Hund gäbe als die Lady von Krutojar.

Lange irrten beide Jäger umher; ihre ganze Jagdlust war beinahe verpufft, und es war ihnen, als ob der Wald leer geworden wäre und alle Vögel ausgestorben wären; ja, sie waren beinahe beim Standpunkt angelangt, daß die ganze Jagd dieser Anstrengungen nicht wert sei. Auf Schritt und Tritt gab es Sträucher und von Farnkraut verdeckte Baumstümpfe. Hie und da waren auf ausgerodeten Stellen winzige Bäumchen aus Samen aufgegangen, und ihnen konnte man ansehen, daß das Leben im Walde gar nicht so leicht ist: der eine Baum hat nur an einer Seite Zweige; der andere hat einen vollkommen nackten Stamm und trägt nur oben am Wipfel eine grüne Krone; der dritte ist ganz verbogen; alle Bäume sind verkrüppelt, sie verzehren sich vor Sehnsucht nach Sonnenlicht und lechzen nach etwas Laub, um ihre Nacktheit zu verdecken. Die Jäger stießen auf Baumstümpfe, die im Farnkraut versteckt waren, schlugen sich die Knie wund, zerkratzten sich die Hände und vergingen vor Durst.

Manches Haarbüschel von Timofejs Bart blieb im Gestrüpp hängen, und Timofej hatte nur den einen Wunsch: möglichst bald zur Grünen Lache zu gelangen, um sich satt zu trinken. Pawlik sah sogar gar nicht auf seine Lady, sondern dachte aus irgendeinem Grunde an seine verstorbene Großmutter. Die Jäger waren entsetzlich müde. Schließlich erreichten sie, auf allen vieren kriechend, die Grüne Lache. Das Wasser in der Lache war schwarz, hie und da in allen Farben des Regenbogens schillernd und von Drehkäfern und anderem Getier bevölkert. Timofej tat, was er immer in solchen Fällen zu tun pflegte: er breitete seinen großen Bart auf der Wasseroberfläche aus und sog durch ihn wie durch einen Filter das Wasser ein. Pawlik gebrauchte das andere Ende von Timofejs Bart auf dieselbe Weise. Lady sprang indessen lustig herum. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen; sie spitzte ihr linkes Ohr, stülpte es um und erstarrte. Als es Pawlik sah, zupfte er Timofej am Bart und zeigte stumm auf Lady. Timofej hob seinen Kopf, und aus seinem Bart begann es zu tropfen. Pawlik erschrak selbst vor diesem Geräusch und zischte Timofej wütend an:

»Winde ihn aus!«

Timofej drehte seinen Bart zu einem Strick zusammen, und beide Jäger schlichen lautlos der Hündin nach.

Der Wald war voller Leben. Der Tau funkelte noch auf Gräsern und Laub, und alles, was mit ihm in Berührung kam, wurde sofort silbern. Lady strahlte, blickte erwartungsvoll zurück, und als sie den angehaltenen Atem und das leise Rascheln hinter sich im Grase hörte, begann sie die Jäger zu führen.

Im grünen Farnkraut gab es viele schwarze Baumstümpfe; dazwischen wuchsen wilde Stiefmütterchen. Wolfsbeeren, Immergrün und Zittergras; doch das alles interessierte Lady nicht im geringsten. Erst vor der Waldwiese blieb sie stehen; ihren Augen konnte man die Frage ablesen: ›Ist es vielleicht hier?‹ Auch die Jäger blieben stehen und fragten sich: ›Ist es vielleicht hier?‹ Lady duckte sich und durchquerte vorsichtig schleichend die Wiese. Pawlik und Timofej legten sich platt auf den Bauch und schlichen ihr nach, und alle grünen Farnkräuter, alle Stiefmütterchen, Wolfsbeeren und Zittergräser machten dasselbe. Alle sahen auf den einen Strauch am anderen Rande der Wiese. Pawlik glaubte schon den Auerhahn zu riechen; er merkte aber noch rechtzeitig, daß es nur der Geruch des Schmieröls an seiner Büchse war. Timofej trat unversehens auf einen trockenen Zweig, und das gab ein leises Knistern. Lady blickte zurück. Pawlik warf Timofej einen wilden, haßerfüllten Blick zu. Vor dem Strauch, auf den alle Blicke gerichtet waren, machte Lady einen kleinen Schritt, dann noch einen zweiten und blieb mitten im dritten Schritt mit erhobener Pfote stehen. Darauf begann sie ihre Nase langsam hin und her zu wenden, das umgestülpte Ohr glitt langsam herab, und als es ganz herabgeglitten war und wie ein Lappen hing, erstarrte Lady vollständig zu Stein; ihre Augen waren unbeweglich und wahnsinnig.

Der ganze Strauch war mit winzigen rosa Blüten bedeckt, und in ihm summte es wie in einem Bienenkorb: Schmetterlinge flatterten, Bienen schossen hin und her, und Hummeln sangen im Baß. Auf dem Strauche wurde ein großes Fest gefeiert, und niemand von den Feiernden hörte die Menschenherzen pochen, und niemand ahnte, daß unter dem Strauche ein schreckliches Ungeheuer lauerte.

Wie eine dunkle Wolke flog aus dem Strauch ein Auerhahn auf; der ganze Wald ächzte auf und erdröhnte vor Flügelschlägen.

In einem solchen Augenblick bleibt in der Jägerbrust das Herz stehen. Fremde Stimmen flüstern dem Jäger ins Ohr: ›Laß ihn nur fliegen, er entgeht dir nicht!‹ Und das Weitere spielt sich schon ganz automatisch ab.

Der Wald war voller Leben! Unter jedem Strauch saß ein Auerhahn. Und so wird es immer sein, denn die Jäger hatten nun den Schlüssel zu allen Sträuchern, Gräben, Gruben, Schluchten und Tümpeln gefunden.

Es verging geraume Zeit, im Walde herrschte aber noch immer der silberne Morgen. Timofej breitete wieder seinen Bart auf der Grünen Lache aus. Am anderen Ende des Bartes trank der glückliche Jäger. Der Hund ging ins Wasser, und als er wieder herauskam, war er ganz silbern. Nicht weit von der Grünen Lache ging eben eine Bärenmutter mit ihrem Jungen über einen Bach. Die Alte war schon herüber, doch das plumpe Bärenjunge rutschte aus, fiel ins Wasser, sprang ganz silbern heraus und humpelte der Mutter nach. Das junge Elentier im Dickicht spitzte seine rosigen Ohren und stand gleichfalls silbern da. Die Wiese am Fluß duftete wie eine Honigwabe.

»Unbezahlbar ist der Hund!« rief Pawlik aus.

»Eine goldene Medaille verdient er!« sagte Timofej.

IV

Bei Timofejs blöder Tochter hatten die Ratten das Hemd etwas oberhalb des Herzens durchgenagt.

»Das bedeutet nichts Gutes!« meinte die Alte.

Sie hatte sich auch nicht getäuscht: bald darauf fand man das Mädchen im Walde tot, geschändet und an einen Baum gebunden.

Auch bei Pawlik Wjerchne-Brodskij wimmelte es plötzlich von Ratten. Was er auch dagegen unternahm – er vernagelte alle Löcher in den Wänden und Dielen, streute Gift aus und stellte überall Rattenfallen auf –, die Ratten vermehrten sich zusehends.

»Dagegen ist nichts zu machen«, sagte die Alte, »die Ratten drängen den gnädigen Herrn aus seinem eigenen Haus heraus.«

In dieser schlimmen Zeit fuhr Pawlik wieder einmal nach Bjeswersk und nahm seine Lady mit. Der Mönch setzte ihn wie immer auf der Fähre über den Fluß. Und als er schon den Tjapkin-Berg hinauffuhr, vernahm er plötzlich oben im Himmel ein eigentümliches Rauschen und Dröhnen. Schon in seiner Kindheit hatte er manchmal solche Visionen gehabt; sooft er dieses Rauschen hörte, bekreuzigte er sich und flüsterte: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!« Diesmal blickte er aber nur erstaunt hinauf; am Himmel balgten sich einige Dohlen mit einem Falken, sonst war aber nichts Besonderes los.

»Es hat nichts zu bedeuten«, sagte sich Pawlik und streckte seine Hand aus, um Lady zu streicheln. Die Hand traf aber nur den leeren Raum. Er blickte zurück. Auf dem blauen Fluß lenkte der Mönch seine Fähre. Lady war nicht zu sehen. Er blickte nach vorn, wo die schwarzen Klöppel der Kirchenglocken bimmelten und der Markt tobte; auch hier war Lady nicht zu sehen. Der zärtlich geliebte Hund war verschwunden.

»Timofej«, sagte Pawlik verzagend, »die Lady ist verschwunden.«

Auch Timofej blickte zurück, auf den Fluß mit dem Mönch und der Fähre, und nach vorn auf die Glockentürme und den Markt und selbst auf den Himmel, wo sich die Dohlen mit dem Falken balgten – Lady war nirgends zu sehen.

»Verschwunden ist sie!« bestätigte Timofej.

Auf dem Markt von Bjeswjersk geht es immer sehr lebhaft zu. Aus den Wäldern und Sümpfen, von den Bergen und Tälern, aus Wjerchne-Brod, von der Finsteren Paraskewa und selbst aus solchen Gegenden, wo noch kein Mensch je gewesen ist, strömen die Christenmenschen herbei. Der Marktplatz wimmelt von Menschen wie das Weiße Meer von Heringen; wenn man irgendwo einen Besen ins Gedränge hineinsteckt, fällt er nicht um, sondern bleibt stecken.

»Onkel, hast du nicht einen roten Hund mit langen Ohren gesehen?« fragte Pawlik einen Bauern.

Der Bauer musterte Pawlik bedächtig vom Kopf bis zu den Füßen und fragte seinerseits: »Und wer bist du, Onkel?«

Plötzlich begannen alle Glocken zu dröhnen, denn die Messe war gerade zu Ende; aus den Kirchen strömte neues Volk herbei und schwemmte den Bauern und Pawlik nach verschiedenen Richtungen fort.

»Ein neuer Planet von König Mahomet!« rief ein Mann, der mit Traumbüchern und ähnlichem Zeug hausierte.

»Hast du nicht einen roten Hund gesehen?« fragte Pawlik den Mann.

»Da ist er eben vorbeigelaufen!« sagte der Mann und zeigte in eine Richtung, wo ein junges Schwein quietschte.

»Ein neuer Planet von König Mahomet«, hörte Pawlik den Mann rufen. »Das Buch ist billig, man spürt es kaum, und doch gibt es Antwort auf jeden Traum.«

Das Schwein quietschte, als ob man es an den Beinen aufgehängt hätte: ein Schutzmann wollte es dem Viehhändler wegnehmen und zog es an den Vorderbeinen zu sich, während der Viehhändler es an den Ohren zurückhielt.

Ich will doch den Schutzmann fragen, sagte sich Pawlik.

»Gewiß habe ich ihn gesehen«, antwortete ihm der Schutzmann, »ein roter Hund ist hier tatsächlich vorbeigelaufen.«

»Vielleicht war er gar nicht rot?«

»Auch das ist möglich!«

»Wir haben ihn gesehen«, sagten einige Bauern.

»Ich sah ihn eben vor einer Glastür stehen«, sagte ein Greis, der von einem Wagen herab Flachs verkaufte.

»Vor den Fleischläden sah ich ihn stehen«, sagte ein Bauer mit schwefelgelben Gesicht.

»Vor dem Laden des Kaufmanns Pylnij nagt er eben an einem Paar Kuhhörner«, sagte der Viehhändler.

»Ein roter?«

»Nein, ein schwarzer!«

»Schwarz wie Kohle!«

»Ein Ohr weiß, das andere schwarz!«

»Mit einer Beule auf der Stirn!«

Die Bauern machten sich über ihn offenbar lustig.

»Herr, hör nicht auf sie«, sprach der alte Flachshändler auf Pawlik ein. »Hör, was ich dir sage: ich sah deinen roten Hund vor einer Glastür stehen.«

Pawlik arbeitete sich mit großer Mühe aus dem Gedränge des Marktes heraus und stand plötzlich vor einem großen weißen Gebäude mit vergitterten Fenstern. Vor der Einfahrt fütterte ein Greis, dessen Bart auffallend dünn, gleichsam ausgefranst war, sein Pferd mit einem Stück Brotrinde.

»Seit vierzehn Tagen hat der Gaul nichts gefressen, und Gott hat ihn doch am Leben erhalten«, erzählte der Greis einem anderen Greis in Bastschuhen. »Er saß eben im Arrest.«

»Und du?«

»Auch ich saß da.«

Das weiße Haus ist sicher die Polizei! – sagte sich Pawlik. Er trat ein. Der Pristaw saß vor seinem Schreibtisch und kugelte sich vor Lachen. Er war schon ganz blau geworden. Die Schreiber kicherten devot.

»So ein Lachkrampf hat mich überkommen, Sie müssen schon entschuldigen«, sagte der Pristaw zu Pawlik.

»Ein Hund ist mir abhanden gekommen, ein roter Hund mit langen Ohren«, berichtete Pawlik.

»Haben Sie schon beim Schinder nachgefragt?«

»Gibt es denn hier in der Stadt einen Schinder?« fragte Pawlik verwundert.

»Selbstverständlich! Wenn es keinen Schinder gäbe, würden einen die vielen Hunde gar nicht leben lassen!«

»Was macht er denn mit den Hunden?«

»Er verarbeitet sie zu Füchsen. Er macht es sehr geschickt. Im vergangenen Jahr hat er siebenhundert Felle verarbeitet. Einen roten Hund wird er sich natürlich nicht entgehen lassen. Der Ihrige ist doch rot?«

»Wie ein Fuchs.«

»Nun, dann hat ihn selbstverständlich der Schinder.«

Die Schreiber kicherten wieder.

»Sie müssen mich schon entschuldigen!« sagte der Pristaw. Pawlik war aber bereits zur Tür hinaus.

Alles drehte sich vor seinen Augen, und als er schließlich seine Sinne sammelte und sich umsah, erschien ihm die Straße so lang, als ob er sie durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtete. Am äußersten Ende dieser langen Straße glaubte er den Schinder neben dem enthäuteten Kadaver seiner Lady zu sehen. Er ging hin und überzeugte sich, daß es nicht die Lady war, sondern eine frischgeschlachtete Kuh, die vor dem Fleischladen des Kaufherrn Pylnij hing. Vor dem Laden lagen zwei blutige Kuhhörner. Pylnij, ein alter Bekannter Pawliks, saß zwischen den ausgenommenen Kühen und Rindern und trank Tee.

»Trinken Sie ein Gläschen mit?« begrüßte er Pawlik.

»Ich habe meinen Hund verloren. Der Schinder hat ihn abgefangen.«

»War er rot?«

»Ja, wie ein Fuchs.«

Pylnij heftete seine; Blick auf den Klotz, auf dem er sein Geflügel zu schlachten pflegte, und wurde nachdenklich. Er war ein guter Mensch und überlegte sich die Sache lange und gründlich. Schließlich lenkte er seinen Blick vom Klotz auf Pawlik und sagte:

»Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Ihr Hund war ja ganz außergewöhnlich, und es wäre schade um ihn. Laufen Sie rasch hin, vielleicht ist es noch nicht zu spät. Der Schinder wohnt im weißen Haus hinter dem Fluß.«

Ich komme noch zurecht! – frohlockte Pawlik im Gehen; es war aber nicht die berauschende Freude des Jägers, sondern ein ganz eigentümliches, stechendes, unsicheres Gefühl. – Siebenhundert Hunde hat er schon geschunden, doch bei diesem einen wird es ihm nicht gelingen: ich komme noch zurecht!

Pawlik blickte auf und sah vor sich das weiße Haus. Über der Toreinfahrt prangte die goldene Inschrift: ›Haus des Ehrenbürgers Wolkow.‹

Wolkow ist der Schinder?! erstaunte Pawlik.

Wolkow war Kirchenältester, Fabrikant und Erzeuger der berühmten Bjeswjersker Fruchtpaste; er war ebenso wie Pylnij ein alter Bekannter Pawliks.

»Ist er denn auch zugleich Schinder?« erkundigte er sich bei einem Krämer, der vor einem Laden stand.

»Gewiß. Mit diesem Geschäft hat er sich ja auch das schöne Haus verdient.« –

»Ich habe einen roten Hund verloren.«

»Selbstverständlich hat er ihn!« Der Krämer riet Pawlik, er möchte zuerst durch das Schlüsselloch im Tor hineinschauen, ob nicht im Hof ein frisches Fell zum Trocknen aufgehängt sei; so könne er Wolkow auf frischer Tat ertappen.

Pawlik blickte durchs Schlüsselloch. Er sah einen großen gepflasterten Hof, der von allen Seiten von Schuppen umgeben war. Von einem Ende zum anderen waren Stricke gespannt, und an ihnen hingen Hundefelle. Der Hausherr selbst ging in seinem langen Kaftan zwischen den Fellen auf und ab und beklopfte sie mit einem Stäbchen. Die fertigen Häute gaben einen trockenen Ton, und die noch feuchten hingen wie Lappen herab. Wolkow nahm die fertigen Häute vom Strick und schichtete sie neben einem der Schuppen auf. Mit solchen Dingen befaßt er sich also! – sagte sich Pawlik. Sonderbar, daß ich es nicht früher gewußt habe.

Im Hause wurde ein Fenster aufgemacht. Pawlik stieß das Tor auf und trat in den Hof.

»Mir ist ein roter Hund abhanden gekommen. Haben sie ihn nicht ... in Behandlung?«

»Nein, einen roten habe ich heute noch nicht gehabt«, entgegnete Wolkow mit Würde. »Einen schwarzen habe ich soeben bekommen.«

So einer ist er also! – sagte sich Pawlik. – Er verheimlicht es nicht einmal. Wieso habe ich früher nichts davon gewußt?

»Warum tun Sie es eigentlich?« fragte er den Hausbesitzer.

»Warum ich es tue? Das ist ja mein Geschäft. Glauben Sie vielleicht, daß man heutzutage von der Fruchtpaste allein leben kann? Das eine ist ebenso ein Geschäft wie das andere. Hundefelle werden sogar sehr viel gebraucht: teils zu Pelzwaren und teils zu Glacéhandschuhen.«

»Macht man denn das alles aus Hunden?«

»Woraus denn sonst!« antwortete Wolkow lächelnd. »Es ist sogar von großem Nutzen für die Allgemeinheit: die vielen Hunde müssen unbedingt vertilgt werden; doch kommt es natürlich ganz auf den Hund an. Der Ihrige war zum Beispiel ein außergewöhnlicher Hund.«

»Sie haben ihm also nicht das Fell über die Ohren gezogen?«

»Was fällt Ihnen ein! Ich bin doch kein Schinder!«

»Und wie war es mit dem Schwarzen, von dem Sie eben sprachen?«

»Den Schwarzen hat mir Petjka Rotnyj hergebracht; er ist es, der die Hunde schindet; laufen Sie schnell zu ihm hin, vielleicht kommen Sie noch zurecht.«

Pawlik lief, so schnell er konnte, zurück in die Stadt.

Wie ein Jäger, der nach langem Umherirren im Wald endlich die letzte und untrügliche Spur entdeckt hat und diese Spur mit dem Gefühl absoluter Sicherheit verfolgt – ebenso verfolgte jetzt Pawlik Petjkas Spur.

»Wer ist Petjka Rotnyj, und wo wohnt er?« fragte Pawlik die vom Markt heimkehrenden Bauern.

»Wir sind nicht von hier«, antworteten die Bauern.

Als Pawlik die Bauern sah, kam ihm noch folgende Frage in den Sinn: – Und wenn einer von ihnen den Hund herangelockt und auf seinem Wagen zu sich ins Dorf entführt hat? Nein, das ist doch nicht gut möglich: der Bauer wird nie einen Hund zu sich locken, denn er ist viel eher geneigt, einen Hund anzuschreien und zu schlagen. Nein, es muß doch Petjka Rotnyj gewesen sein, er allein trägt die Verantwortung! –

»Wer ist Petjka Rotnyj, und wo wohnt er?« erkundigte sich Pawlik bei jedem Vorbeigehenden.

»Er ist ein Mensch wie wir alle«, antworteten die Vorbeigehenden, »einen bestimmten Wohnsitz hat er aber nicht; außerdem trägt er eine Joppe mit verschiedenfarbigen Ärmeln und hat hervorstehende Zähne.«

»Von mir aus kann er auch hervorstehende Zähne haben«, drang Pawlik auf sie weiter ein, »doch wo schindet er die Hunde?«

»Unter der Brücke«, antwortete man ihm.

Pawlik ging zur Brücke. Von außen betrachtet, war es die malerischste Stelle in ganz Bjeswjersk. Die sehr primitive, von heimischen Ingenieuren erbaute Holzbrücke wölbte sich in anmutigem Bogen über den Fluß und verband zwei Hügel, auf denen die schönsten Gotteshäuser der Stadt lagen; es war, als ob sich von jedem Hügel zum anderen eine Hand entgegenstreckte und die beiden Hände sich in der Mitte begegneten.

Von dieser Brücke herab pflegte Pawlik auf das Gestrüpp der Weiden herabzublicken, die sich über den Fluß beugten, und mit kleinen Steinen auf die vielen Krähennester, zu werfen. Diesmal verzichtete er auf diesen Zeitvertreib und begab sich unter die Brücke, um im Weidengestrüpp den Petjka Rotnyj zu suchen. An ebendieser Stelle hatte Timofej einst die neugeborene und bereits verscharrte Lady aufgefunden. Bei jedem Schritt stieß er hier auf Hundegerippe. Hier zerhackten Raben einen Pferdekadaver, dort bestatteten Aaskäfer eine tote Katze und machten sich Tauben, sanft girrend, an einem vom Habicht erschlagenen Vogel zu schaffen.

»Das sind alles Petjkas Streiche!« flüsterte Pawlik vor sich hin.

»Du bist wohl verrückt, Pawlik!« hörte er plötzlich eine Stimme von oben.

Oben auf der Brücke stand Poljuscha und gackerte wie eine Henne.

»Ich suche den Petjka Rotnyj«, antwortete Pawlik. »Der Mörder hat mir meinen Hund gestohlen. Bring mir schnell mein Gewehr, denn ich will Petjka Rotnyj erschießen!«

Als Poljuscha das hörte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und lief unter die Brücke.

»Komm doch mit, komm doch mit!« Poljuscha sprach auf ihn ein, wie eine treubesorgte Gattin, die ihren betrunkenen Mann nach Hause bringen will. »Darf man sich denn wegen eines Hundes so grämen? Und warum ist Petjka Rotnyj ein Mörder? Jedermann hat doch seinen Beruf. Ein jeder will essen. Die Hunde haben sich hier letztens so furchtbar vermehrt, daß man gar nicht genug kochendes Wasser bereithalten kann, um sie zu begießen. Es gibt auch eine gesetzliche Vorschrift, daß man die Hunde vertilgen soll. – Haben Sie nicht Petjka Rotnyj gesehen?« fragte sie einen Passanten, als sie glücklich oben waren.

»Er ist in der Badestube! Er ist jetzt dort als Aufseher angestellt.«

»Nun siehst du«, sagte Poljuscha zu Pawlik, »du sprichst immer von einem Mörder. Würde man einem Mörder eine solche Stelle geben? Vielleicht schindet er auch keine Hunde mehr!«

»Doch, er befaßt sich noch immer damit«, sagte der Passant.

Oben dicht am Abhang des Hügels stand eine Backsteinmauer mit zwei Öffnungen; aus der oberen Öffnung kamen dichte Dampfwolken heraus, die untere Öffnung war aber das Fenster der Aufseherwohnung. Poljuscha klopfte an und fragte:

»Ist Petjka Rotnyj zu Hause?«

»Nein, Petjka ist nicht zu Hause«, antwortete man ihr, »er sitzt im Wirtshaus und ißt Kuchen.«

»Wieso Kuchen?« rief Pawlik so erstaunt aus, als ob man ihn eben aus dem Schlaf geschüttelt hätte.

»Ja, du sprichst immer von einem Mörder«, sagte Poljuscha, »er ist aber ganz anders geartet: wenn er sich etwas Geld verdient hat, geht er ins Wirtshaus, kauft Kuchen und bewirtet jeden, der gerade in der Gaststube sitzt. Er nimmt nie einen Tropfen Schnaps zu sich, und du sprichst von einem Mörder! Er ist ein guter, gottesfürchtiger Mensch. Er hat jemanden auf dem Friedhof liegen und schmückt das Grab immer mit frischen Blumen; im Winter hat er sogar einen Fußweg zum Grab angelegt und täglich mit Sand bestreut.«

Mit solchen Reden suchte Poljuscha ihren Pawlik zu beschwichtigen. Endlich standen sie vor dem Wirtshaus, und in einem der Fenster zeigte sich ein weißes, lächelndes Gesicht mit hervorstehenden Zähnen.

»Ja, ich habe schon davon gehört«, sagte Petjka Rotnyj sehr freundlich. »Einen Roten habe ich heute noch nicht gehabt; einen Schwarzen habe ich bereits abgeliefert.«

»War es einer mit einer Beule auf der Stirn und mit verschiedenfarbigen Ohren?« fragte ein Schutzmann.

Petjka schüttelte verneinend den Kopf und steckte sich eine Schokoladenschaumrolle in den Mund.

»Ein Zigeuner hat die rote Hündin gestohlen«, mischte sich der Viehhändler ins Gespräch.

»Alles ist möglich«, bemerkte der Schutzmann, »einem Zigeuner ist eben alles zuzutrauen.«

»Es war kein Zigeuner«, unterbrach ihn der Schweinezüchter, »sondern ein Serbe.«

»Auch das ist möglich«, sagte der Schutzmann. »Wenn es aber ein Serbe war, ist die Sache aussichtslos.«

»Herr, hör nicht auf sie, hör auf mich«, wiederholte der alte Mann vom Flachswagen herab, »ich sah deinen roten Hund vor einer Glastür stehen.«

»Ja, hör nur auf den alten Mann«, spottete Petjka Rotnyj, die Zähne fletschend. »So ein alter Mann weiß alles, auch was unter der Erde liegt.«

Endlich gelang es Poljuscha, Pawlik heimzuführen.

»So hör doch auf, Pawlik, denk nicht mehr daran«, tröstete sie ihn unterwegs. »Dein Hund ist unversehrt, am Abend wird er von selbst heimkommen, du wirst es sehen. Du weißt ja: jetzt ist die Zeit der Hundehochzeiten, da ist eben auch deine Lady mitgelaufen.«

Lady kam aber auch abends nicht heim.

Die Glastür, von der der Flachshändler gesprochen hatte, ging Pawlik nicht aus dem Sinn.

Nachts hatte er schwere Träume. Er träumte von dieser Glastür, er wollte auf sie zugehen und konnte sie unmöglich erreichen.

V

In der Nähe der Unfruchtbaren Wiese schlängelt sich eine staubige Straße mit Abdrücken von Pferdehufen, Tierpfoten und bloßen Menschenfüßen durch die Landschaft. Sechs Hasen liefen einer hinter dem anderen über den Weg und versteckten sich im Gebüsch. Die Amsel sang ihr Abendlied. Die Schnepfe begann zu blöken. Der Kuhhirt blies seine Flöte. Die Hasen liefen wieder über den Weg, alle sechs, einer nach dem anderen, und rannten den Hügel zum Eichenhain hinauf. Vor der ersten Eiche angelangt, setzte sich der erste Hase auf die Hinterpfoten und machte plötzlich erschrocken kehrt. Auch, der zweite Hase erreichte die Eiche, setzte sich gleichfalls auf die Hinterpfoten und machte kehrt. Dasselbe machten alle sechs Hasen; nun saßen sie im Gebüsch, spitzten die Ohren und starrten mit ihren runden Augen auf die Straße.

Am Horizont, wo das Ende des fernen Waldes wie ein schwarzes Schiff in den Himmel ragte, zeigte sich auf der Landstraße eine Staubwolke; sie kam immer näher und wurde immer größer. Aus der Staubwolke kam ein Heulen und Winseln. Pawlik, der unter der Eiche schlief, erwachte. Auch der Kuhhirt mit seiner Herde kam aus dem Walde zum Vorschein.

Vorn lief eine rote Hündin; dicht hinter ihr schnaubte eine schwarze Schnauze mit heraushängender Zunge; dann kam noch eine Schnauze, eine dritte, eine vierte: zahllose Schnauzen und Zungen wurden in der Staubwolke sichtbar. Es war eine lustige Hundehochzeit. Pawlik sah genauer hin, steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff. Die ganze Hochzeit bog von der Landstraße ab und rannte den Hügel zum Eichenhain hinauf.

Lady erkannte ihren Herrn, sprang ihm zuerst winselnd an die Brust, sprang dann etwas höher und fuhr ihm schließlich mit ihrer kalten Schnauze mitten ins Gesicht. Die Hochzeitsgesellschaft geriet in Unordnung und scharte sich um den Baum. Die Hunde, die erst eben bereit waren, auf den ersten Wink ihrer rothaarigen Anführerin jeden in Stücke zu reißen, saßen jetzt friedlich im Kreis mit heraushängenden Zungen und keuchten. Pawlik war ganz von Tieren umringt; sie blickten ihn mit sanften Sklavenaugen an, als ob sie ihn als den Ältesten und Stärksten unter ihnen anerkennten. Lady schmiegte sich an Pawliks Füße und flehte ihn um Gnade für ihr gehorsames Gefolge an. Pawlik versuchte auf die Hunde mit Steinen und Ästen zu werfen, sie nahmen aber die Schläge demütig hin und rührten sich nicht vom Ort. Schließlich stand Pawlik auf, nahm sein Gewehr und schlug den Weg nach Wjerchne-Brod ein. Zuerst folgte ihm ein schwarzer Schäferhund, dann kam ein weißer Schäferhund, und alle Hunde folgten in strenger Reihenfolge, nach Größe und Körperkraft geordnet, und zwar so, daß die größten und stärksten den Vortritt hatten. Es waren weiße, schwarze, graue, tabakbraune, getigerte, gelbgescheckte, rotgescheckte und weißgescheckte Hunde, von jeder Rasse, jedem Alter und jeder Größe; Hunde mit hängenden Ohren und spitzen Ohren, mit Hängebäuchen, mit langen Schwänzen und ganz ohne Schwänze, mit spitzen Nasen und ganz ohne Nasen; so zogen sie in gleichem Schritt und Tritt, ohne zurückzubleiben, hinter Pawlik her. Einige von ihnen kannte er schon von früher: die beiden atlasschwarzen mit weißen Nasen gehörten dem Viehhändler; der rotgescheckte mit dem kranken Bein – dem Küster; der heisere alte Köter mit der ergrauten Schnauze – dem Popen. Ganz zuletzt kam ein winziges Schaferhündchen mit einem Altweibergesicht; es war kaum halb so groß wie Ladys Bein. Den Zug beschloß ein erstauntes, blödes Kalb, das ab und zu stehenblieb, mit den Hinterbeinen ausschlug und dann wieder im Galopp die Hochzeitsgesellschaft einholte.

Pawlik wollte nicht mit diesem Gefolge durch die Dorfstraße gehen und zog es vor, den Weg durch die Hinterhöfe zu nehmen. Er kletterte über den ersten Zaun; der schwarze Schäferhund machte dasselbe, diesem folgten der weiße und die ganze Gesellschaft. Und als Pawlik das Dorf hinter sich hatte und zurückblickte, sah er die ganze zurückgelegte Strecke voller Hunde; nur das letzte Schäferhündchen hatte nicht über den Zaun klettern können; auch das Kalb war zurückgeblieben und brüllte, den Kopf auf den Zaun gelegt.

Der Fußpfad führte am See vorbei zum Fuß des Hügels von Krutojar. Pawlik ging über die Steinstufen, die seine Vorfahren einst gelegt hatten, den Hügel hinauf und klopfte an die Gartenpforte. Schtyk öffnete ihm.

»Ich habe sie gefunden!« sagte ihm Pawlik.

»Dieses Gesindel!« brummte Schtyk, indem er die Pforte gerade vor der Nase des ältesten Schäferhundes ins Schloß warf. Pawlik ging durch den blühenden Garten in sein Haus. Hier war noch alles beim alten, und er sah lauter vertraute Gegenstände: die Lampe mit den rundlichen Amoretten, den Küchentisch mit der an die Tischplatte angeschraubten Patronenstopfmaschine, den bewußten Schrank mit der Klapptür und das Pferdegeschirr in der Ecke. Es roch unerträglich dumpf. Als Pawlik ins Zimmer trat, stoben Ratten, so groß wie Katzen, nach allen Richtungen auseinander.

Pawlik öffnete die Fenster. Ins Zimmer zog aus dem Garten Fliederduft. In diesem Jahre war der Frühling besonders schön ausgefallen. Einen ganzen Monat früher als sonst war der See aufgetaut, hatten sich die Gräser den Weg durch das vorjährige Laub gebahnt, hatten die jungen Blätter wie eine Schar smaragdgrüner Vögel alle Zweige besetzt; von Baum zu Baum hingen schon grüne Hängebrücken; der Faulbaum, der Flieder und die Apfelbäume blühten bereits, und der Garten war vollständig geschmückt und zum Empfang der Zugvögel bereit. Alles war, wie gesagt, einen Monat früher als sonst fertig. Doch die Vögel in den fernen Ländern wußten nichts von diesem Umstand und warteten auf den gewöhnlichen Termin. So geschah es in diesem Jahr, daß der mit Laub und Blumen geschmückte Garten ohne Nachtigallenschlag dastand, daß im grünen Licht der Lindenbäume keine einzige Golddrossel badete und in den blühenden Schlehdornbüschen kein einziges rotes, gelbes oder himbeerfarbenes Vogelköpfchen zu sehen war. Der Garten stand, im vollen Schmuck prangend, doch stumm am Abhang über dem See.

Pawlik öffnete die Fenster und ging, ohne erst Licht zu machen, zu seinem Bett. Die Schranktür war heruntergeklappt, Matratze und Kissen lagen noch so, wie er sie am Morgen verlassen hatte; am Boden neben dem Schrank lag ein Strohsack bequem. Im Einschlafen legte er, wie er es immer zu tun pflegte, seine Hand auf Ladys Kopf; er hatte aber dabei das eigentümliche Gefühl, daß etwas nicht ganz in Ordnung und anders als sonst sei. Lange lag er mit offenen Augen da und starrte auf den Messinghaken, der oben am Schrank angebracht war. Der Haken war zuerst dunkel und hing mit dem Kopf nach unten; dann wurde er glänzend und stand plötzlich wie eine drohende Axt mit dem Kopf nach oben.

Der Mond geht auf – dachte Pawlik im Einschlafen. – Eigentlich sollte ich aufstehen und den Haken umlegen, denn er geniert mich! – Er konnte sich aber nicht entschließen, aufzustehen, lag unbeweglich da, starrte auf den Haken, atmete den Duft des Flieders ein und dachte angestrengt nach, woran ihn dieser Geruch eigentlich erinnerte: es war etwas längst Vergessenes, etwas Unergründetes und Unverstandenes. Durch den angenehmen Duft hindurch witterte er etwas Finsteres und Schreckliches. – Alles kommt vom Haken, ich muß doch wirklich aufstehen und ihn umlegen! –

Plötzlich hörte er etwas wie ein lautes Krachen; aus dem See erhob sich ein Brüllen und Dröhnen.

Pawlik erwachte.

Der Mond stand groß und rot mitten im Fenster, und unmittelbar unter seiner Scheibe saßen zwei Hunde mit brennenden Augen und heraushängenden schwarzen Zungen. Auch am anderen Fenster, am dritten und am vierten Fenster – vor jedem Fenster standen Hunde, die Vorderpfoten auf die Fensterbank gelegt, und schauten keuchend ins Zimmer.

Pawlik holte aus der Ecke ein paar Zügel und begann die Hunde zu hauen. Die Hunde prallten winselnd zurück und verschwanden in den Fliederbüschen.

Der Mond stand rot über dem See. Ein Frosch trällerte das Lied von der ewigen Ruhe. Ein großer Käfer flog vorbei und erfüllte den ganzen Garten mit seinem Summen.

Pawlik legt sich auf die Fensterbank. Er sieht sich halb im Traum, den Fußpfad zur Finsteren Paraskewa hinabgehen. Aus dem See steigt ein schwarzes Wasserhuhn mit grünen Beinen und blickt ihn furchtlos an. Auch der See ist ganz anders als sonst: so hell und so durchsichtig, daß man genau sehen kann, wo der Hecht schläft, wo sich der Barsch versteckt hält, wie ganz unten am Seegrund zwei alte, graue Brachsen vorbeischwimmen und ein Wels leise die Lippen bewegt. Und oben im Garten steht auf dem mit gelbem Sand bestreuten Platz seine kleine, längst verstorbene Schwester und wartet auf ihn, um mit ihm zu spielen: mit Feuer und Wasser und anderen Dingen, die den Kindern verboten sind. Auf dem ältesten Baum, dem Stammvater des ganzen Gartens, sitzen aber plötzlich Vögel jeder Art, sie singen, zwitschern und pfeifen.

Ein Käfer flog dicht vor der Mondscheibe vorbei und weckte mit seinem Summen Pawlik. In der Ferne ertönte ein Glockenschlag.

›Es ist die Messe der Toten!‹ ging es Pawlik durch den Kopf.

Wieder tönte ein Glockenschlag und noch ein Glockenschlag. Und dann war es, als ob die Sterne auf die irdischen Glockenschläge antworteten. Eine Nachtigall begann zu schlagen, eine zweite Nachtigall antwortete ihr, und bald begann ein Zwiegespräch des Gartens mit dem Wald über den See herüber.

»Die Nachtigallen sind da!« rief Pawlik erfreut aus, »nun beginnt erst der richtige Frühling!«

Plötzlich sprang Lady über ihn hinüber und verschwand im Garten. Pawlik rief sie zurück. Als Antwort auf seinen Ruf blitzten im nächsten Fliederbusch zwei kleine Monde auf. Er sah genauer hin und erblickte eine ganze Menge solcher kleiner grüner Monde. Oben in den Baumkronen schlugen noch immer die Nachtigallen, der Fliederduft benahm den Atem, und unter den Büschen funkelten die grünen Lichter wie Blendlaternen von Verschwörern. Aus den vom Mondlicht übergossenen Fliederbüschen kam ein schweres Keuchen.

Pawlik nahm die Zügel und ging langsam die Stufen zur Terrasse herab; vor dem Fliedergebüsch blieb er stehen. Vor ihm stand, die ganze Breite des Gartens einnehmend, eine Mauer von Tieren; hinter dieser Mauer war eine zweite Mauer und hinter der zweiten Mauer eine dritte. Und so ging es bis zur Schlehdornhecke. Und auch hinter der Hecke Standen die Tiere auf dem Abhang des Hügels bis zum Seeufer. Im roten Mondlicht wimmelte es von schwarzen Rücken.

Die Nachtigallen schmetterten. Der Flieder duftete betäubend. Große schwarze Käfer durchquerten die Mondscheibe.

Pawlik machte einen Schritt zurück, und die Tiere gingen Kopf an Kopf, Rücken an Rücken und Schwanz an Schwanz einen Schritt vor.

Pawlik rief wieder seine Lady.

Und auf seinen Ruf trat aus dem blauen Schatten ins helle Mondlicht ein roter Hund hervor ... Vor ihm stand nicht die rote Lady von Krutojar mit den silbernen Härchen in den Augenbrauen, sondern ein ganz fremder Hund.

Pawlik murmelte etwas Unverständliches und holte mit den Zügeln zu einem Schlage aus. Die rote Hündin fletschte die Zähne und knurrte. Und das ganze unübersehbare Hundeheer rückte mit Gebrüll gegen die mondbeschienene Terrasse vor und stürzte sich über Pawlik.

Ein schmaler Fußpfad schlängelt sich am Seeufer und führt zur Kapelle der Finsteren Paraskewa. Im Frühjahr, wenn das Wasser fällt, begeben sich die ersten Wallfahrer zur Kapelle und entzünden das Lämpchen vor dem Heiligenbilde. Und das Lämpchen brennt im finsteren Wald den ganzen Sommer lang bis in den Spätherbst hinein. Den ganzen Sommer strömen Christenmenschen herbei; sie küssen das dunkle Antlitz der Heiligen und baden in der heiligen Quelle. Doch im Herbst, wenn der Wald wieder nackt dasteht, verlöschen die Winde das Lämpchen; die Tiere verkriechen sich in ihre Löcher, und alle die alten Männlein und Weiblein, die zur Kapelle wallfahrten, sind auf einmal verschwunden. Und der Wind heult im nackten Wald bei der erloschenen Lampe.

An langen Herbstabenden erzählen sich die Wallfahrer unter ihren Strohdächern Legenden vom Tier von Krutojar.

Das Tier kommt nur in der finsteren Mitternachtsstunde aus dem See. Niemand hat je das Tier gesehen, aber alle wissen, daß es eine Kalbsschnauze hat. Niemand hat je das Tier gehört, aber allen ist es bekannt, daß es mit schwarzer Stimme schreit. Und wer diese Stimme hört, der ist verloren.

Und wenn irgendwo in dieser Gegend, von Krutojar bis Bjeswjersk und noch weiter, selbst in solchen Gebieten, wo noch niemand gewesen ist, ein Unglück passiert, so schieben es die Leute auf das Tier. Auch als Pawlik, dem letzten Sprossen des Geschlechts der Wjerchne-Brodskijs, das Unglück zugestoßen war, hieß es gleich:

»Er hat die Stimme des Tieres gehört!«

Ende


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