Michail Prischwin
Der schwarze Araber und andere Erzählungen
Michail Prischwin

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Die unsichtbare Kirche

I

Das Schilfgras bewegt sich im Walde wie lebendig. Es flüstert im Bach, der sich bald unter Fichten und bald im grauen Erlengebüsch versteckt und bald als grüne Schlange über den Weg läuft.

»Warum fahren wir all den Glaubenslehren nach? Es wäre besser, den vergrabenen Schätzen nachzuspüren«, sagt mein Begleiter.

Er glaubt noch ein wenig an die Geheimnisse der Johannisnacht. Mehr als einmal war er zur Mitternachtsstunde weit in den Wald gegangen, wo das Krähen der Dorfhähne nicht mehr zu hören war. Einen Schatz hat er bisher noch nicht gefunden, hat aber einmal gehört, wie die Bäume miteinander sprachen.

»Auch jetzt«, sagt er mir, »spricht der Bach etwas vor sich hin; doch wer weiß, was er spricht? Auch die Elstern sprechen etwas über uns, wer kann es aber erraten? Doch in der Johannisnacht wird alles klar und verständlich.«

»Es lohnt sich wirklich nicht, den Glaubenslehren nachzufahren«, fängt er nach einer Weile wieder an. »Wir sollten es mit den Schätzen versuchen: Hier in diesen Wäldern hat es einmal Räuber gegeben, die mit ihrem Pfiff jeden Vogel mitten im Fluge aufhalten konnten.«

Von Urenj bis zur Wetluga ziehen sich ununterbrochen Wälder hin. Nur in der Nähe der Dörfer weichen sie auf eine kurze Strecke zurück. Ich empfinde leichte Gewissensbisse, als ob sich jemand irgendwie gegen die Johannisnacht versündigt hätte.

Jenseits der Wetluga, in der Nähe der Wolga, liegen Felder. Die Bäche verstecken sich hier nicht mehr, sie winken mit den nassen Spitzen der Schilfgräser und schlängeln sich durch das Wiesenland wie ein Heer mit grünen Lanzen.

Das Korn blüht. Von einem alten Wegkreuz herab schimmert die Krone einer Gottesmutter. Auf den Steinen am Wege sitzen Pilger; sie wollen zur Unsichtbaren Stadt wallfahren und halten hier kurze Rast.

»Nein«, sage ich zu meinem Begleiter, »auch den Glaubenslehren nachzufahren ist schön.«

»Es kommt ganz auf die Lehren an«, sagt er zustimmend, indem er die Pilger mit den zylinderförmigen Filzhüten auf dem Kopf und den schweren Büchern in der Hand und die Pilgerinnen mit den schwarzen Kopftüchern und Reisetaschen mustert.

Sie sind alle aus dem Dunkel der urenischen Wälder ins Licht der weiten Felder hervorgekrochen und sitzen düster am Wege. Die Männer mit den Brillen auf der Nase und den schweren Büchern in der Hand blicken uns mißtrauisch an.

Ich benehme mich ihnen gegenüber ganz ungezwungen: Ich bleibe stehen, spreche sie an und blicke in die mächtigen Folianten hinein. Der eine hat das Buch ›Nikon vom Schwarzen Berge‹, das eineinhalb Zentner wiegt; der andere das Buch ›Margarit‹, über eine Elle lang; der dritte das ›Buch des Kyrill‹, die Werke Ephraim des Syrers und das ›Buch vom Glauben‹, alles von unheimlichem Gewicht. Das macht ihnen aber alles nichts: Sie schleppen die Last Hunderte von Meilen weit, denn sie hoffen, ihre Gegner in der Juninacht am Lichten See durch den ›Buchstaben‹ besiegen zu können.

Wenn ich es mir so überlege, kommt mir das Ganze seltsam wie in einem Märchen vor, und ich freue mich, daß ich in einem Lande lebe, wo man noch an eine Unsichtbare Stadt und an die Wunderkraft altslawischer Buchstaben glaubt. Ich möchte so gern irgend jemanden von ihnen zu mir in den Wagen nehmen und dann ohne Ende ausfragen ...

Doch niemand will zu mir in den Wagen steigen. Es ist eine große Sünde, zur heiligen Stätte zu Pferde zu kommen. Sie tun noch mehr: In den Reisetaschen liegen außer den Heiligenbildern, Weihrauchgefäßen, Rosenkränzen und Kerzen auch noch schwere Steine.

Die grauen Gestalten ziehen eine nach der anderen aus den Wäldern in die Felder; es ist wie eine Völkerwanderung von Maulwürfen. »Wo gehst du hin, Großmutter? In die Unsichtbare Stadt?«

»Schweig.«

»Und wozu schleppst du den Stein?«

»Schweig.« Es gibt Großmütterchen, von denen man überhaupt keine Antwort erhält. Sie gehen stumm ihre Wege. Wenn man sie anspricht, erschrecken sie und beginnen ein Gebet zu murmeln.

Die Stimmung der Wallfahrer steckt mich an, und auch ich beginne zu glauben: vielleicht gibt es wirklich dort in weiter Ferne eine Stadt.

»Es ist wahr«, versichert mir der Wirt auf der letzten Station vor dem Kirchdorf Wladimirskoje; »es ist wirklich wahr, daß es hier eine Stadt gibt, denn es wird schon seinen Grund haben, warum das Volk hier in solchen Mengen zusammenströmt. Wenn man ordentlich nachgraben wollte, könnte man wohl Reichtümer finden, die für alle ausreichen würden.«

Das Kirchdorf Wladimirskoje liegt, wie man mir sagt, ganz in der Nähe des Lichten Sees. Ich spähe gespannt aus, denn ich will so bald wie möglich die wunderbare Stätte sehen.

Rechts und links vom Wege sehe ich bunte, von gelbem Eisenkraut und lila Glockenblumen überwucherte Feldstreifen, Fichtengruppen, die von den ausgerodeten Kerschenschen Wäldern zurückgeblieben sind, Zäune, Hecken und Bildstöcke. Vom See ist aber nichts zu sehen.

»Dort liegt er, dort«, weist mein Begleiter mit der Hand hin.

Auch dort ist nichts zu sehen. Im freien Felde läuft ein Hund im Kreise umher; er bellt, und aus seinem Maul kommt Dampf.

»Ist er toll?« frage ich.

»Nein, jemand hat ihm was zuleide getan«, antwortet man mir.

Wir kommen in das schmutzige Dorf mit den dunklen Holzhäusern. Nur eine Werst von hier entfernt liegt die Märchenstadt; hier müssen wir aber, bis an die Knie im Straßenschmutz watend, Unterkunft suchen. Hier ist es besetzt, dort ist es besetzt; die Herren Missionare haben alle Stuben im voraus gemietet: Morgen werden sie mit den Sektierern und den Altgläubigen disputieren. Nach längerem Suchen finden wir eine noch freie Stube bei der alten frommen Witwe Tatjanuschka. Ihr Gesicht erinnert an das dunkle Antlitz eines alten byzantinischen Heiligenbildes, das man mit Baumöl eingerieben hat. Sie flüstert leise, scheu, doch freundlich:

»Es ist wirklich schön bei mir: kein Geschrei, kein Lärm, keine Sünde.«

Sie trägt unser Gepäck ins Haus und sagt: »Herr Jesu Christ, es ist schön bei mir, ich prahle nicht!« Sie bereitet den Samowar, bringt mir Wasser und Handtuch und spricht bei jedem Schritt:

»Heilige Jungfrau, Jesu Christ, ich prahle nicht! – Soll ich dir ein Ei kochen?«

»Nein, danke.«

»Vielleicht soll ich dir doch eins kochen?«

»Nein, danke.«

»Wie du willst. Nach der Reise soll man doch etwas essen. Ich will dir gern ein Ei kochen. Die Eier sind gut, ich prahle nicht, mein Lieber, ich prahle nicht ...«

Auf dem weißen Tischtuch singt lustig der Samowar, an der Wand tickt die hölzerne Uhr. Die Alte trinkt ihren Tee aus einer großen Tasse, die wie ein umgekehrter Lampenschirm aussieht. Wir sprechen von der Unsichtbaren Stadt, von den alten Zeiten.

Ich höre so gern den Erzählungen alter Leute zu; in ihren Berichten von der alten Zeit tickt es ruhig und gleichmäßig wie in einem Uhrgehäuse: so war es, und so wird es immer bleiben. Man ruht dabei so gut aus.

Plötzlich geht die Tür auf. Der Dorfpolizist tritt in die Stube.

Er kommt, um sich mir vorzustellen. Nimmt Platz, trinkt Tee, raucht eine Zigarre und qualmt wie ein Schornstein.

Ich habe immer Scheu vor diesen Dorfgouverneuren. Was für Reformen in Rußland auch kommen mögen, immer werde ich die Dorfpolizisten fürchten. Ich beginne ein etwas gezwungenes Gespräch:

»Man sagt, daß es hier bei euch eine Stadt gibt ...«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren, die Stadt Kitesch.«

»Es ist eine wunderbare Stätte«, sucht Tatjanuschka die Unterhaltung zu beleben. »Ich prahle nicht, meine Lieben. Das Volk wird sich versammeln, auch viele Popen werden zusammenkommen, sie werden zu streiten anfangen, das wird eine Lust sein.«

»Ja, und dabei verbrennen sie eine Menge Weihrauch«, bemerkt der Polizist vorwurfsvoll.

»Viel Volk wird zusammenkommen«, fährt die Wirtin fort, »alle Glaubenslehren werden dabeisein: Es gibt solche, die an Gott nicht glauben, und solche, die den Sonntag am Mittwoch feiern.«

»Es ist ein ungebildetes Volk, Euer Wohlgeboren«, bemerkt wieder der Polizist, »ganz ungebildetes, ungehobeltes Volk!«

»Der österreichische Glaube ist so schrecklich; von ihm steht es geschrieben: Er wird vom Westen kommen ...«

»Vom Osten«, verbessert sie der Polizist.

»Nein, Väterchen, vom Westen. Es ist ein schrecklicher Glaube ... Doch der schrecklichste Glaube ist die Politik.«

»Das stimmt. Die Politik ist wirklich am gefährlichsten«, bestätigt der Polizist. Er teilt mir unter der größten Diskretion mit, daß die Obrigkeit für alle Fälle Kosaken vorbereitet habe.

Der Polizist scheint auf etwas zu warten; er ist verlegen, kann sich aber nicht entschließen, auf den Hauptzweck seines Besuches zu kommen, und zieht schließlich etwas mißmutig ab. Tatjanuschka schließt die Tür, schleicht zu mir heran, hält sich den Finger vor den Mund und flüstert mir ins Ohr:.

»Er wollte wohl einen Rubel. Denn er ist ein Hund. Hast du einen Paß? Es ist gut, wenn du einen hast. Mit dem Paß bist du gefeit. Er ist ein wahrer Hund!«

Sie schlägt sich die Hände über dem Kopf zusammen und stöhnt förmlich auf:

»So viel Tee hast du in die Kanne getan! Viel zuviel! Soll ich am Ende noch ein Täßchen trinken?«

Die Alte zerkleinert den Zucker mit einer Zange in winzige Quadrate, schlürft den Tee und spricht:

»Ja, geh zum Lichten See. Das Wasser darin ist heilig. Das Wasser ist mild und weich wie Seide. Wir gebrauchen es alle. Es ist gut, es ist wahrhaft heilig. Die Pilger trinken es und waschen sich darin; es heilt alle Leiden. Sie kommen schweigend zum See, blicken nie zurück, sprechen leise ihre Gebete; geh nur hin, mein Lieber, geh hin.«


Es wird Abend. Doch es ist noch nicht dunkel. Ich habe noch Zeit, ›in die Berge‹ zu gehen und den Lichten See zu sehen. Die Wirtin sagt mir, ich möchte unbedingt die alte Tatjana vom Berge aufsuchen. Sie wohne seit uralten Zeiten in den Bergen am Lichten See, dicht am Moor. Die Alte hätte schon mehr als einmal das Läuten der Kirchenglocken aus der Stadt der ›Gerechten‹ gehört und wisse, wo die Chronik von der Stadt Kitesch versteckt sei.

Ich gehe durch das langgedehnte, schmutzige Dorf. Die Krämer bereiten sich zum Jahrmarkt vor. Es ist ein ziemliches Gedränge. Ein stark angeheiterter Kerl in grauem Anzug packt mich bei der Schulter, drückt mir fest die Hand und stellt sich mir vor: »Ich bin auch Geheimagent.« Aus den Fenstern des Pfarrhauses blicken mich zwei bleiche Popentöchter an; ich muß an zwei schmale Kristallvasen denken. Alles sieht hier ganz anders aus, als ich es mir in den urenischen Wäldern vorgestellt hatte. Doch hinter dem Dorf ist es wirklich schön: da liegen üppige, duftende Wiesen mit Klee, wilden Orchideen, Glockenblumen und anderen intimen, für nur wenige Tage aufblühenden Blumen des Nordens. Ich denke: ›In uralten Zeiten hatte man am Gestade des Lichten Sees den heidnischen Frühlingsgott Jarilo angebetet und ihm zu Ehren Kränze aus eben diesen Blumen geflochten, und jetzt disputieren hier die Leute über Glaubensfragen.‹

Wann war es besser: heute oder damals?

Ich sehe vor mir eine Baumgruppe. Das Laub schimmert feucht, und ich schließe daraus, daß der See nicht mehr weit ist. Vor einer Hecke steht ein hoher Pfosten mit der Inschrift: ›Landgut Sibirskoje. Besitzer Seljenow.‹ Eine Eigentumsmarke auf heiligem Boden. Ich muß an die Hausnummern denken, die an kleinen Hütten, großen Zinshäusern und Palästen vollkommen gleiche Ziffern tragen: 1, 2, 3 ... Überall Zeichen und Ziffern.

Neben dem Pfosten muß ich über die Hecke klettern. Und da blickt mich plötzlich aus dem Wald ein ruhiges, reines Auge an.

Es ist der Lichte See, eine Schale heiligen Wassers in grüner zackiger Umrahmung.

Auf dem nächsten Hügel steht die Kapelle, die Gott übersehen hatte, als er alle anderen Kirchen der Stadt der Gerechten unsichtbar machte. Neben der Kapelle sitzt auf einem Stein eine uralte Frau; selbstverständlich ist es Tatjana vom Berge.

Sie erzählt mir: Einst stand hier ein Eichenwald, von dem heute keine Spur mehr geblieben ist. Fürst Sibirskij, dem der See einst gehörte, ließ den Wald ausroden, die Hügel aufpflügen, Getreide säen und ein Landhaus erbauen. Er hat aber nur kurze Zeit gewirtschaftet. Der Herr strafte ihn, weil er das Wasser aus dem See hatte ablassen wollen. Denn auf dem Seegrunde ist ein Schatz verborgen: ein Faß mit Gold ist an vier Pfosten aufgehängt. Der Fürst wollte sich den Schatz holen und das Wasser aus dem See in das Flüßchen Linda ablassen. Er machte einen Graben und glaubte, daß das Wasser abfließen würde. Doch der See wollte nicht abfließen. Und der Herr strafte den gottlosen Fürsten: er verschwand ohne Spur. Seit jener Zeit sind die Berge mit Fichten und Tannen bewachsen.

»Und die Stadt«, frage ich, »wie ist es mit der Stadt Kitesch?«

»Der Türke ritt vorbei«, erwidert Tatjana vom Berge, »und jeder Schritt, den er machte, war eine Werst lang. Der Herr erbarmte sich der Stadt um der Gerechten willen und verbarg sie vor dem Türken. Darüber berichtet eine Chronik, und sie ist in das Taubenbuch eingenäht. Dieses Buch wiegt eineinhalb Zentner, es ist mit Eisenschrauben verschraubt und zwischen den Städten Nischnij und Kosmodemjansk vergraben. Niemand vom gemeinen Volk hat je das Buch gesehen. Gesehen hat es nur ein gewisser Maxim Iwanowitsch aus dem Dorfe Schadrino. Er hat die Chronik abgeschrieben und stellt nun immer neue Abschriften her, die er zu einem halben Rubel verkauft.«

Tatjana vom Berge ist eine uralte Frau. Sie hat ihr ganzes Leben hier neben dem Moor verbracht, hat Lichter gesehen, Glocken gehört, will aber davon nichts erzählen. Soviel ich sie auch ausfrage, sie will nichts sagen und schweigt. Im Walde begann man irgendein heiliges Lied zu singen. Der See wurde in den Abendstunden blut-rot. Die Lerchen verstummten. Eine einzelne Wachtel ließ sich vernehmen. Jemand trat mit einer brennenden Kerze aus dem Walde zum Wasser. Und im See entstand ein schmaler Lichtstreifen, gleich einer goldenen Kirchturmspitze. Es wurde finster. Ich kehrte ins Dorf zurück, und solange ich durch das Wiesenland ging, blickte mir das helle Auge mit den grünen Wimpern nach.

Am nächsten Morgen, bevor sich noch das Volk zum Gestade des Lichten Sees versammelt hatte, begab ich mich auf die Suche nach der Chronik von der Unsichtbaren Stadt Kitesch. Das Dorf Schadrino, wo der Chronist Maxim Iwanowitsch wohnt, liegt hinter dem Wald, etwa zwei Werst vom See entfernt. Alle, Leute kennen hier den ehrwürdigen Chronisten, und so konnte ich ihn leicht finden. Er kam mir aus seinem niederen Holzhäuschen entgegen, groß gewachsen, mit silberweißem Haar und Bart, mit einer Brille auf der Nase. Er verbeugte sich vor mir und lud mich zu sich ein.

Er ist von Beruf Buchbinder; überall stehen und liegen große Bücher des alten Glaubens herum. Gleich hinter der Tür schnaubt ein Pferd, brüllt eine Kuh und grunzt ein Schwein; doch dies alles läßt den Alten mit den Büchern noch weiser erscheinen. In diesem Lande jenseits der Wolga gibt es anscheinend noch solche alte Männer, wie sie bei Tolstoi vorkommen. Der Buchbinder erinnert mich an den Schuster, bei dem der Engel Gottes in Diensten war.

Die Chronik von der Unsichtbaren Stadt ist ein Büchlein in dunklem Ledereinband mit roten Initialen und großen schwarzen altslawischen Lettern. Sie ist mit Liebe und Glauben geschrieben.

Der fromme Fürst Georgij Wsewolodowitsch, erfahre ich aus der Chronik, hatte vom Großfürsten Michail von Tschernigow den Freibrief erhalten, überall Kirchen und Christenstädte zu erbauen. Der heilige Fürst war viel herumgereist und hatte viel gebaut. Schließlich kam er über einen Fluß namens Usola und dann über einen anderen Fluß namens Sanda und über einen dritten Fluß namens Linda und über einen vierten namens Sanacha und über einen fünften namens Kerschenetz. Und dann kam er zu einem See namens Swetlojar, und er sah, daß dieser Ort gut war. Und er ließ am Ufer des Sees eine Stadt erbauen und nannte sie Kitesch.

... Doch durch Gottes Fügung und unserer Sünden wegen kam nach Rußland der gottlose Tatarenzar Batyj. Und er eroberte die Stadt Kitesch und ermordete den frommen Fürsten Georgij. Und die Stadt verödete. Und sie wurde unsichtbar bis zur Wiederkunft Christi.

... Daran, was wir hier geschrieben – so schließt das Manuskript – und berichtet und überliefert haben, darf nichts geändert werden, noch darf ein Buchstabe oder ein Punkt hinzugefügt oder weggelassen werden. Und wenn jemand etwas ausläßt oder hinzufügt oder verändert, so wird er durch die Fügung der heiligen Väter verflucht werden.

»Auch nur wegen eines Punktes?« frage ich den Chronisten.

Der Alte schweigt, ein innerer Kampf scheint in ihm vorzugehen.

»Die Abschrift ist richtig«, sagt er schließlich, »doch das Ganze ist nicht wahr. Es gibt hier keine Stadt. Die Altgläubigen haben sie erfunden. Da schau her.«

Er reicht mir ein anderes Buch. Es ist der Rechtgläubige Kirchenkalender in einem stumpfen blauen Umschlag. Er weist mit dem Finger auf zwei oder drei gedruckte Zeilen:

»Der heilige, fromme, große Fürst Georgij Wsewolodowitsch, der am Flusse Sitj ermordet wurde ...« 121

»Nun siehst du es selbst«, bemerkt, der Alte traurig, »am Flusse Sitj, und nicht am Lichten See.«

»Vielleicht ist im Kirchenkalender der Fehler und nicht in der Chronik?«

»Nein, im Gedruckten kann es keinen Fehler geben.«

Vor mir liegen zwei Chroniken: die eine ist vom Glauben diktiert und so geschrieben, daß man wegen eines ausgelassenen Punktes in die Hölle geraten kann; die andere kommt aus einer Druckerei. Ich habe die Legende nicht nachgeprüft und weiß nicht, in welcher Chronik die Wahrheit steht; doch es wiederstrebt mir, an die Chronik aus der Druckerei zu glauben.

Vor Jahren hatte Maxim Iwanowitsch noch selbst daran geglaubt, daß die heiligen Bücher von Gott geschrieben werden und vom Himmel herabfallen. Heute glaubt er nicht mehr daran. Früher hatte er unter Altgläubigen gelebt, ihre Bücher eingebunden, die Chronik geschrieben und war oft zum Lichten See gepilgert, um das Glockenläuten aus der Unsichtbaren Stadt zu hören. Später: war er in ein rechtgläubiges Dorf gezogen, wo ihn oft der Missionar besuchte. Einmal ließ er sich von jemandem überreden, ein Glas Tee, dessen Genuß den Altgläubigen verboten ist, zu trinken. Er glaubte, die ganze Welt würde zusammenstürzen. Er trank den Tee aus, und es geschah nichts. Dann trank er noch ein Glas aus, und es geschah wieder nichts. Nun pilgerte er nicht mehr zum Lichten See. Die Glocken waren verstummt.

»Es gibt hier keine Stadt«, sagt mir Maxim Iwanowitsch. »Doch das Büchlein ist noch zu jener Zeit geschrieben ...«

Es gibt hier keine Stadt.. . Doch in den urenischen Wäldern glauben Hunderte und Tausende von Menschen, daß es sie gibt. Ich fühle, wie von einem jeden dieser Wallfahrer ein Strahl des Glaubens ausgeht und wie sich alle diese Strahlen am Ufer des Sees sammeln. Auch ich selbst glaube bereits ein wenig an diese Stadt. Ich glaube an die Stadt Kitesch.

»Das Volk strömt zusammen«, sagt Maxim Iwanowitsch, »es sind wahre Wolken von Menschen! Gegen Abend werden ihrer auf den Bergen so viele sein, wie Raben im Felde kreisen, wie Mücken im Walde schwärmen. Gebe Gott, nur ein schönes Wetter.« Es sieht aus der Ferne so aus, als ob Vögel zusammengeflogen wären und alle Hügel besetzt hätten; weiße, schwarze und rote Vögel. Sie sitzen in langen Reihen und blicken zugleich mit den Tannen und Fichten auf den Lichten See. Vom Dorfe her ist der Jahrmarkt mit den roten Sarafans und den weißen Kopftüchern dicht an den See herangerückt. Gleich daneben steht auf einem hohen Hügel eine rechtgläubige Kapelle. Noch unterwegs hatte mir jemand gesagt: wenn einmal auf allen Hügeln solche Kapellen stehen werden, wird sich auch der Jahrmarkt auf alle Hügel ausdehnen, und die Zukunft des Lichten Sees ist eine große Messe wie die in Nischnij. Man hatte mir auch gesagt: wenn die rechtgläubige Kirche einst siegt und der alte Glaube mit allen seinen Schrecken verschwindet, werden an die Gestade des Lichten Sees die natürliche Lust und Freude der uralten Zeiten wiederkehren. Denn es heißt: die Orthodoxie ist die russische Reformation.

Doch der Anblick der ersten rechtgläubigen Kapelle an dieser Stätte macht mich etwas verlegen. Ich sage mir: ›Wie, schämt sie sich nicht, diese Kapelle, eine Ausnahme zu bilden und sichtbar zwischen den Fichten und Tannen am geheimnisvollen See dazustehen?‹

Ich besteige den von der Orthodoxie eroberten Hügel. Die Leute essen Sonnenblumenkerne, spucken die Schalen auf die heilige Erde aus und rauchen sogar hie und da Zigaretten. Hier gibt es weder Altgläubige mit asketischen Gesichtern noch Heiden mit den zu Ehren des Frühlingsgottes Jarilo geflochtenen Kränzen auf den Köpfen. Die Leute sitzen da, blicken stumpf vor sich hin wie Rinder vor der Krippe, knacken mit den Zähnen Sonnenblumenkerne und spucken auf die heilige Erde. Und auf dem Gipfel des Hügels steht neben der Kirche ein guter Hirte; er streckt seine Hand gegen den Lichten See aus und predigt von einem Bretterpodium herab, daß man sich mit drei und nicht mit zwei Fingern bekreuzigen müsse.

Ein anderer Pope, der etwas beleibt ist und dessen ganze Erscheinung von seinem praktischen Sinn zeugt, predigt nicht vom Hügel herab, sondern unten auf der Wiese zwischen den Fichten und Birken. Um ihn herum hat sich eine Schar echter Altgläubiger in langen schwarzen Kaftans versammelt.

In einem von ihnen erkenne ich einen alten Bekannten aus den urenischen Wäldern. Ich rufe ihn an: »Uljan!«

»Grüß dich Gott!« begrüßt er mich freudig, reicht mir aber nicht die Hand. Wie sehr wir auch, miteinander befreundet sein mögen, wird mir ein Mann von seinem Glauben nie die Hand reichen: zwischen ihm und der Welt der Rechtgläubigen, die sich mit drei Fingern bekreuzigen, sind keinerlei Kompromisse möglich. Dieser Zug gefällt mir: in diesen letzten russischen Rittern, den aussterbenden Waldheiligen, steckt etwas Kindliches und zugleich durchaus Männliches. Ich verstehe vollkommen sein Gebaren, und er fühlt es und ist mir dafür dankbar.

»Wie stehen die Dinge?« frage ich ihn.

»Schlecht... Siehst du?« Er zeigt mit der Hand auf die Kapelle. »Siehst du: sie haben auf der heiligen Stätte einen heidnischen Altar errichtet.«

»Babylon!« raunt es in der Menge.

»Sie spucken auf die heilige Erde«, fährt Uljan fort.

»Greuel und Verwüstung!« tönt es in der Menge.

»Unserer Sünden wegen verwächst der See mit Schilf; siehst du, am anderen Ufer ist er schon ganz grün. Die Verkäufer und Käufer rücken heran.«

»Mit der Geißel soll man sie vertreiben, Uljan, mit der Geißel!«

»Wahrlich, wahrlich, man soll sie mit der Geißel vertreiben. Doch wo soll man die Geißel hernehmen?«

Uljan zeigt mit der Hand auf den nächsten Hügel: dort steht schon ein Schutzmann; auch auf dem anderen Hügel steht einer. Wohin auch der Weise aus dem Wald mit der Hand weist, auf allen Hügeln des Lichten Sees stehen Männer in Uniformmützen.

Und noch schlimmer als das: auf der Straße, die vom Dorfe zum See führt, saust jemand auf zwei funkelnden Stahlrädern daher. Er verschwindet für eine Weile in der Volksmenge bei den Jahrmarktsbuden und zeigt sich gleich wieder dicht am See; er ist ganz schwarz und schrecklich, steuert mit den Händen und dreht mit den Füßen die Räder. Er saust vorbei und verschwindet zwischen zwei heiligen Hügeln.

Nun ist er verschwunden.

»Der Herr leidet es noch!« stöhnten die Alten auf. »Doch der Richter steht schon vor den Toren! Der grausame Tod wetzt die Hippe!«

Der Geistliche hat sich inzwischen mitten in unseren Kreis zwischen den Bäumen häuslich niedergelassen. Er sitzt auf einem Baumstumpf und bereitet sich auf den Glaubensdisput vor.

»Worüber wollt ihr heute disputieren?« wendet er sich freundlich und sogar entgegenkommend an den einen, an den anderen, an den dritten.

»Worüber du willst«, antwortet man ihm.

»Vielleicht darüber, wie man sich bekreuzigen soll?«

»Es ist uns recht.«

»Oder über die wahre Kirche?«

»Auch das ist uns recht.«

Der Geistliche ist sehr besorgt, daß ihm jemand unversehens auf seinen neuen Zylinderhut tritt. Er stellt den Hut bald hierher, bald dorthin. Von allen Seiten umdrängen ihn die Altgläubigen. Er rückt unruhig hin und her und macht seine Vorbereitungen. Schließlich stellt er den Hut vor sich hin und legt seine Taschenuhr auf den Hut. Die Menschen und die Bäume schauen neugierig zu: was wird da kommen?

»Wollen wir festsetzen, daß jeder eine Viertelstunde spricht. Merkt es euch: fünfzehn Minuten für jeden Redner.«

»Es ist recht. Fang nur an.«

Doch der Geistliche ist mit seinen Vorbereitungen noch immer nicht fertig. Es fehlen ihm noch einige Bücher.

»Bring mal schnell den Kyrillus her«, flüstert er seinem Gehilfen zu. »Den Kyrillus...«

Man wartet auf das Buch. Die Uhr tickt träge auf dem Hut. Die Altgläubigen schweigen. Es ist langweilig.

»Und wer sind Sie eigentlich?« wendet sich der Geistliche an mich.

Plötzlich fällt ihm wieder etwas ein:

»Auch den Ephraim brauche ich noch.«

»Können Sie denn nicht mit den Leuten ganz einfach, ohne Bücher sprechen?« frage ich ihn.

»Nein, das geht nicht... Wir müssen wohlgerüstet zu Werke gehen. Wie kann man ohne Ephraim mit den Leuten disputieren? Du, bring mir schnell den Ephraim.«

Wieder tickt die Uhr. Der Geistliche raunt dem alten Uljan etwas ins Ohr.

»Was hat er dir gesagt?« frage ich ihn leise.

»Daß ich nicht fluchen soll.«

»Kann denn der ehrwürdige, ernste Uljan nicht ohne Fluchen auskommen?« »Nein, das kann ich nicht. Denn ich kämpfe für die Wahrheit. Er ist so fürchterlich ...«

Ich sehe mir den Geistlichen genauer an: was ist denn an ihm so fürchterlich? Ein ganz gewöhnlicher Geistlicher.

»Du, Uljan, Sucher der Wahrheit«, beginnt er endlich den Disput, »hast du die wahre Kirche gefunden?«

»Ich habe sie gefunden. Und du?«

»Auch ich habe sie gefunden.«

»Es gibt doch nur. eine wahre Kirche?«

»Es gibt nur eine Mutter, die mich geboren.«

»Also sind alle anderen Kirchen vom Teufel?«

»Ja, vom Teufel.«

»Meinst du deine Kirche?«

»Und du die deinige?«

Beide schweigen. Die Uhr auf dem Hute tickt. Dann fangen sie wieder an. Ich habe den Eindruck, als ob sie nicht eine Einigung in Gott anstrebten, sondern aneinander eine Stelle suchten, wo sie sich am empfindlichsten und schmerzvollsten treffen könnten. Ich muß an Schachturniere und an Hahnenkämpfe denken.

»Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde«, macht der Geistliche seinen entscheidenden Zug, »und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Die Kirche ist eine reine Jungfrau, und Jesus Christus ist ihr Bräutigam; doch ihr Ketzer seid zu einer Witwe, einer Hure gegangen und habt mit ihr alle die Irrlehren gezeugt.«

»Uljan Iwanowitsch«, flüstern die Altgläubigen ihrem Führer zu, »so antworte ihm doch, du bist unser Haupt, wehre dich!«

»Warte nur, ich werde dir schon was sagen!« schreit Uljan dem Geistlichen zu.

»Gut, ich warte«, entgegnet dieser gutmütig.

»Eure Hirten«, beginnt der Altgläubige, die Hand gen Himmel erhebend, »sind reißende Wölfe. Sie haben auf der heiligen Stätte einen heidnischen Altar errichtet. Fliehe die Ketzer Babylons, fliehe sie!«

»Warte nur, warte!«

»Wir fürchten uns nicht, wir schrecken nicht zurück!« ruft mit Uljan die ganze Schar.

Die schlanken Fichten stehen im Kreise und rauschen. Unter ihnen steht ein Kreis alter Männer mit Krücken und Stöcken. Zu ihren Füßen knien im Kreise die ältesten Glaubenseiferer. Und ganz in der Mitte sitzt im grünen Gras ein Mann in schwarzer Soutane und rückt unruhig hin und her. Er schreit:

»Es gibt nur eine wahre Kirche!«

»Warte nur, warte!« antwortet man ihm. »Die Schlüssel der wahren Kirche sind ins Schwarze Meer versunken. Der Weingarten ist verunreinigt. Babylon ist gefallen. Die himmlischen Kreise ziehen sich zusammen.«

»Warte nur, warte!«

»Fliehe die Ketzer Babylons!«

»Warte nur, warte!«

»Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon die Große!«

Die Leute auf dem anderen Hügel haben mich bemerkt und in mir ihren alten Bekannten aus den urenischen Wäldern wiedererkannt. Sie kommen mich holen, zupfen mich am Ärmel und flüstern: »Komm zu uns auf den anderen Berg!« Dort sind alle Sekten des urenischen Landes vertreten. Einmal hatte ich den Leuten in ihren Wäldern aufmerksam zugehört, und schon aus diesem Grunde freuen sie sich alle auf das Wiedersehen mit mir.

Wir steigen zum See hinab. Am Fuße des anderen Hügels, über den die Orthodoxie noch keine Gewalt hat, verkaufen alte Frauen ›Petruskreuze‹ und Rosenkränze; es sind schwarze Schlangen mit bunten Dreiecken an beiden Enden. Ich kaufe mir Rosenkränze aller Art: einfache aus Riemen geflochtene, perlengestickte und goldgestickte; ich befestige sie an allen Knöpfen meines Rockes und lerne, wie man sie handhaben muß. Alle lachen. »Ohne dich«, so sagen sie, »war es hier langweilig; wie du gekommen bist, wurde es gleich lustig.« Sie belehren mich: wenn man die Perlen an den Rosenkränzen so handhabt, wie ich es tue, gerät man in die Hölle; doch wenn man es richtig tut, kommt man in den Himmel. Dabei muß man ununterbrochen flüstern: ›Jesu Christ, Heilige Jungfrau.‹

Ganz mit Rosenkränzen behängt, erklimme ich den steilen Hügel. Hier geht alles ordentlich zu: hier wagt niemand zu rauchen oder auf den heiligen Boden zu spucken. Die Gerechten lauschen dem Worte Gottes. Vom anderen Hügel tönt es nur schwach herüber: »Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon die Große!«

Der Vorleser sitzt auf dem Gipfel des Hügels. Er liest die altslawischen Zeilen, hält ab und zu inne, gibt seine Erläuterungen zum Text und fügt jedesmal belehrend hinzu: »Nun siehst du es selbst!«

»Nun siehst du es selbst«, antwortet ihm die ganze Gemeinde.

Zwei böse Mücken haben sich an der Glatze des Alten festgesaugt, er weiß aber nichts davon. Er ist ganz hingerissen von der Sage, von den unverdeckten Gefäßen.

»Und der Teufel saß stinkend, schmutzig und traurig. ›Warum wäschst du dich nicht?‹ fragte ihn der Engel. ›Wo soll ich mich waschen?‹ antwortete der Teufel. ›Im See geht es nicht, und im Fluß geht es nicht, und im Sumpf geht es nicht, denn überall wachen Engel.‹ Dem Teufel wäre es wohl schlecht ergangen, wenn ihm Satan nicht den Rat gegeben hätte: ›In den Gefäßen, die man ohne Gebet stehengelassen hat, in unverdeckten Gefäßen darfst du dich waschen.‹«

»Nun siehst du es selbst«, sagt der Vorleser auf dem Gipfel. »Nun siehst du es selbst«, tönt es anfangs nur in seiner Nähe. »Nun siehst du es selbst«, läuft es den Berg herab. Und all die würdig in Reihen sitzenden Männer merken es sich für alle Zeiten: man muß jedes Gefäß zudecken und dabei ein Gebet sprechen, sonst kann sich darin der Teufel baden.

Der Berg hört zu. Doch im Walde, abseits von allen anderen, hat sich eine dunkle Gruppe versammelt; dort wird vor einer Ikone, die an einer Fichte aufgehängt ist, Gottesdienst verrichtet. Ganz vorn steht dicht vor dem Baum ein Mädchen; sie ist vom Licht des Lämpchens übergossen und singt. Die ganze Schar singt mit, eintönig und ernst wie in altchristlichen Katakomben. Dann entdecke ich zwischen den Fichten noch ein anderes Lämpchen, ein drittes und ein viertes. Überall wird gebetet; manche beten für sich, andere zu zweit, andere mit ihren Familien. Nachdem sie ihr Gebet verrichtet haben, löschen sie die Kerzen aus und kommen wieder zum Berg, um der Vorlesung weiter zuzuhören,

Der Alte liest ununterbrochen. Aus dem Kaftan, aus dem Filzhut und sogar aus den Bastschuhen holt er immer neue Hefte hervor und liest immer neue Legenden und Gebote. Er lehrt, daß man das Gedächtnis der Eltern ehren müsse, und bestärkt dieses Gebot mit der Legende vom Zwiegespräch Abrahams mit einem Sünder in der Hölle; Abraham hatte einen Steg vom Himmel in die. Hölle herabgelassen, doch als der Sünder in den Himmel steigen wollte, rutschte er aus und fiel wieder in die Hölle hinab. Und das kam daher, weil der Sünder auf Erden das Gedächtnis seiner Eltern nicht geehrt hatte.

»Nun siehst du es«, tönt es auf dem ganzen Berg. Und vom anderen, rechtgläubigen Berge dröhnen dumpf wie ferne Salven die Worte: »Wir fürchten uns nicht, wir schrecken nicht zurück!«

Ein Mann in Bastschuhen und zerlumpter Kleidung setzt sich neben mich, stellt sich als Lehrer vor und erzählt mir seine Lebensgeschichte: er hatte in einer Zeitung jemanden von seinen Vorgesetzten scharf kritisiert und wurde dafür aus dem Amt gejagt; nun hausiert er mit billiger Tolstoiliteratur und Werken über Hygiene. Er liebt diese Glaubensdispute am Lichten See und ist bald auf seiten der Altgläubigen und bald auf seiten der Rechtgläubigen, je nach der Stimmung.

Neben den Lehrer setzt sich noch ein ›Gebildeter‹ mit bleichem Gesicht und schwarzem Spitzbart. Er stellt sich mir als Forschungsreisender vor. Früher war er Landwirt gewesen, später Fabrikarbeiter und Handlungsgehilfe. In allen diesen Berufen hatte er keine Befriedigung gefunden. Und noch schlimmer als das: er wurde von verschiedenen Irrlehren angesteckt und erlernte sogar die englische Sprache. Schließlich wählte er sich den Beruf eines Forschungsreisenden und ist nun seit acht Jahren unterwegs.

Nach ihm kommt ein saubergekleideter alter Mann mit einer Glatze und fragt mich, ob ich in Petersburg nicht zufällig einen Hausmeister Iwan Karpowitsch kenne.

»Nein, ich kenne ihn nicht«, antworte ich ihm.

»Schade«, sagt der Alte, »denn Iwan Karpowitsch ist ein vortrefflicher Mensch.«

Dann setzt er sich neben den Lehrer und Forschungsreisenden. Es kommen noch verschiedene andere Leute und setzen sich im Kreise um uns herum. Wir sitzen im Mittelpunkt, und der Disput muß von uns anfangen.

»Da gibt es zum Beispiel die Träume«, wendet sich der Reisende an die andächtig lauschende Schar. »Soll man an die Träume glauben oder nicht?«

»Es kommt ganz auf den Traum an«, erwidert der alte Mann mit der Glatze. »Wenn es zum Beispiel das Gesicht Daniels ist, so muß man daran glauben.«

»Das ist eben ein Gesicht; ein Traum ist was anderes«, wendet der Lehrer ein. »An ein Gesicht darf man wohl glauben, an einen Traum aber nicht. Ich habe schon seit zwei Jahren keine Träume gehabt.« »Er hat keine Träume!« läuft es den Berg herab. »Und er will noch Lehrer sein!«

Man spricht über die verschiedenen Träume. Welche Bedeutung hat es, wenn eine Henne wie ein Hahn kräht? Oder, wenn man im Traum einen Hund heulen hört?

»Brüder«, schreit der Mann mit der Glatze, »ich sah neulich einen schrecklichen Traum: mitten im Tal, in einer lieblichen Einöde, liegt ein hölzerner Götze...«

»Ein Götze!«

»Mitten in der Einöde liegt ein Götze. Seine Stirn ist kahl.«

»Die Stirn ist kahl!« »Was hat dieser Traum zu bedeuten?«

»Das bedeutet: du hast einen Diener der verruchten Götzen, einen gottlosen Popen gesehen und bist in deinem Glauben wankend geworden.«

»Es stimmt. Ich bin in meinem Glauben etwas gestört. Wir hatten im Dorf einen Popen; der betrank sich, wurde ganz schwarz und starb. Und sein Nachfolger erfror im freien Felde. Ich bin aber in meinem Glauben nicht mehr so stark: habe manche Sünde auf dem Gewissen. Nun denke ich mir, wie ich mir mein Gewissen erleichtern soll. Ob ich mir nicht selbst, ohne einen Geistlichen, eine Kirchenbuße auferlegen kann?«

»Nein, ohne einen Geistlichen geht es nicht«, erwidert der Lehrer, indem er seine Stirne wie eine Ziehharmonika faltet. »Das Priestertum ist ein Sakrament; wie willst du es ohne Sakrament anfangen?«

»In früheren Zeiten haben viele auch ohne Priestertum ihr Seelenheil gefunden.«

»Niemand hat noch ohne Priestertum seine Seele gerettet.«

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr«, braust der Mann mit der Glatze auf. »Tausende haben sie gerettet, Tausende!«

»Du kannst ja gar nicht disputieren«, unterbricht ihn der Lehrer. »Ich kann es nicht, weil ich zu viele Sünden habe. Bist du aber vielleicht ein Heiliger?«

»Hat nicht Christus gesagt: Ihr seid das Salz der Erde?« fragt der Lehrer nach einer Pause.

»Ja, das hat er gesagt.«

»Also bist du ohne Priestertum dasselbe wie ungesalzenes Fleisch.«

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr! Tausende haben ihr Seelenheil gefunden! Wenn ich alle meine Bücher herbringen wollte, so hätte ich dich tausendmal ins Fleisch stechen können. Sie sind aber zu schwer, wiegen über einen Zentner... wie soll ich sie zweihundert Werst weit schleppen? Ohne Bücher will ich aber mit dir gar nicht sprechen.«

»Brüder!« rief plötzlich jemand hinten im Tannendickicht aus. In den trockenen Ästen raschelte es, und ein großer bleicher Mann mit rotem Haar und grünen Augen kam zum Vorschein: ein wahrer Bär oder Einsiedler.

»Brüder!« rief er laut mit begeisterter Stimme, sich an die ganze Schar wendend. »Brüder, hier ist ja eine Untiefe!«

»Eine Untiefe«, lief es den Hügel hinab.

»Sagt mir, Brüder: kommt zuerst Fasten oder Buße?«

»Fasten.«

»Und dann bekennt man seine Sünden?«

»Ja, und die Kirchenbuße kommt zuletzt.«

»Und wenn ich durch Fasten zur Beichte komme und durch die Beichte zur Kirchenbuße? Wenn ich meine Sünden bekenne und mir dann selbst eine Kirchenbuße auferlege? Ich will im Frost barfuß und barhaupt herumgehen, doch ohne Popen leben.«

»Ja, ohne Popen! ohne Popen!« dröhnte der ganze altgläubige Hügel.

Ein unerwarteter Sommerregen ging nieder und verlöschte alle Lichter im Wald. Die Leute auf dem Hügel wurden unruhig.

»Unter die großen Fichten, unter die alten Fichten!« rief man in der Menge. Die Frauen zogen sich die Röcke über den Kopf, die Männer versteckten schnell ihre Bücher in die Säcke. Sie liefen unter die Bäume, und bald stand unter jeder Fichte und Tanne ein großer Pilz mit Menschenaugen.

»Brüder!« schreit der Bär und Einsiedler noch lauter. »Brüder, belehrt mich: regiert jetzt das Tier oder wer anderer?« »Das Tier, das Tier, das Tier!« rufen alle Pilze unter den Bäumen.

»Und tausend Jahre zurück. War es immer das Tier?«

»Das Tier«, antwortet der Wald.

»Und noch weiter zurück?«

»Immer das Tier«, rauscht der Wald.

»Brüder, belehrt mich: als der Satan gebunden wurde, gab es doch nur gottesfürchtige Könige?«

»Ja, alle Könige waren gottesfürchtig.«

»Woher kamen dann die Christenverfolgungen? Die von König Nero und von den anderen?«

»Satan war gebunden, doch seine Diener waren es nicht.«

»Kann es denn sein, daß der Satan gebunden ist und seine Diener los sind?«

»Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres, denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.«

»Ja, Brüder, hier ist eine Untiefe, und diese Untiefe können wir nicht ergründen.«

»Hier ist Weisheit: in der Tiefe ist das Tier, doch dereinst wird das Tier nicht mehr sein, und die den Sieg behalten an dem Tier, werden an dem gläsernen Meer stehen und die Harfe Gottes haben. Und es werden dort Wiesen, grüne Weinberge und Gräten ohne Zahl sein...«

Nein, denke ich mir, es sind keine Pilze mit Menschenaugen, es sind die Gerechten aus der Unsichtbaren Stadt, die aus der Erde hervorlugen.

»Und es wird Zeiten und Wunder geben, und das neue Jerusalem wird herniederfahren aus dem Himmel von Gott, voller Herrlichkeit und geschmückt wie eine Braut...«

»Es sind die Gerechten, die Gerechten, die Gerechten«, flüstern ganz leise die Fichten, Birken und Tannen, und große Regentropfen fallen wie Tränen von ihren Zweigen zu Boden. »Es sind die Gerechten!«

»Dummköpfe!« schreit der Lehrer. »Es gibt keine Zeichen im Himmel. Es sind nur Kometen, flammende Splitter, fliegende Hieroglyphen und sonst nichts. Ihr habt ja keine Ahnung von Geographie.« »Antwortet ihm, weist ihn zurecht!«

Ein Greis, der an einer Fichte gelehnt steht, liest eigensinnig aus einem Buche:

»Die Sonne zieht ihre Kreise über Erde und Himmel...«

»Dummköpfe«, unterbricht ihn der Lehrer, »die Sonne steht, und die Erde dreht sich.«

Und er winkt mir, als einem ihm an Bildung Gleichstehenden, mit den Augen.

»Herr«, bitten mich die Weisen, »gib ihm eine Antwort, erklär ihm doch, daß die Erde steht und die Sonne sich bewegt. Dir wird er es glauben.«

Wie gern möchte ich, daß es wirklich so wäre, daß die Erde stände und die Sonne sich bewegte. Ich will so gern den Greisen zu Hilfe kommen, kann es aber nicht.

»Nein, Großvater, der Lehrer hat recht.«

»Wir haben viel hin und her gedacht«, antworten die Greise im Chor, »wir haben viel hin und her gedacht, es stimmt aber immer nicht: kann es denn sein, daß die Erde sich dreht?«

In welchem Jahrhundert lebe ich eigentlich? – frage ich mich. Soll ich ihnen vielleicht mit den wissenschaftlichen Beweisen kommen? Ich versuche, alles, was ich darüber noch aus dem Gymnasium weiß, in meinem Gedächtnis wachzurufen. Und plötzlich überkommen mich beschämend Zweifel: ich kann es nicht beweisen, ich habe alle Beweise längst vergessen. Warum habe ich übrigens noch nie im Leben diese Beweise gebraucht? Worauf ist mein Stolz begründet? Warum soll ich diesen Waldmenschen Dinge beweisen, die mich nie im Leben interessiert haben? Vielleicht haben sie auch recht, vielleicht ist in ihrer geistigen Auffassung die Sonne tatsächlich eine flache Scheibe, um die die Erde kreist. Ich sollte mich doch zunächst über ihren Glauben orientieren und erfahren, was alle die mächtigen Folianten, in die ich noch nie hineingeschaut habe, bedeuten.

»Wir haben viel hin und her gedacht«, sagen die Alten, »es will aber nicht stimmen. Wie kann die Erde rund sein? Der Fluß Obj ist achthundert Werst lang, der Jenissej vierhundert Werst, und alle fließen in einer Richtung zum Ozean.«

»Wir haben es mit der Vernunft gemessen, es will nicht stimmen.«

»Die Flüsse fließen eben alle in eine Richtung.« »Wenn es noch hieße, daß sie nicht rund, sondern wie ein Trog gewölbt sei.«

Und es kommen immer neue Beweise. Es steht fest: die Erde ist unbeweglich und abschüssig wie ein Dach.

Die Weisen aus dem Wald blicken mich an und warten auf meine Zustimmung. Ich versenke mich im Geiste in das Dunkel des Mittelalters ... Da tauchen aber vor mir die Schatten von Kolumbus, Kopernikus und Galilei auf...

»Nein«, sage ich mit Nachdruck, »nein, die Erde ist rund, und sie dreht sich. Auch der Mond ist rund ...«

»Ja, der Mond«, tönt es in der Menge, »das weiß ja jedes Kind, daß der Mond rund ist.«

»Vom Mond ist gar nicht die Rede.«

»Ebenso ist auch die Erde rund«, unterstützt mich der Lehrer.

»Du lügst«, fallen alle über ihn her, »du lügst, sie ist nicht rund. Das Wasser dient dem Herrn: es erzeugt die Fische; der Wald dient dem Herrn: er erzeugt die Waldbeeren; auch das Tier dient dem Herrn; jede Kreatur dient dem Herrn. Wie ist es aber mit der Erde?«

»Dummköpfe, ihr solltet Geographie lernen. Dann würdet ihr wissen, was die Atmosphäre, was die Luft ist.«

»Du lügst! Es sind tausend Lügen! Ich glaube nicht, daß sie rund ist!« schreit der Mann mit der Glatze.

»Auch ich glaube nicht recht an die Geographie«, bemerkt der Reisende.

»Und ich glaube auch nicht an die Luft«, meint der Einsiedler.


Ich hörte noch lange dem Streit zu: von Sonne und Erde kamen sie wieder auf die Kirche zurück. Immer dasselbe Lied: die Kirche ist der Beginn des Streites und sein Ende. Es sind immer dieselben Kreise.

Unten am Fuß des Hügels erschien ein Greis, ganz weiß gekleidet, mit einem langen Stecken in der Hand, mit bloßen Füßen. Ihm folgten alte und junge Frauen, alle in weißen Kleidern und weißen Kopftüchern aus hausgewebtem Leinen; Sie gingen unseren Hügel hinauf; sie kamen offenbar von weither, hatten sich verspätet und waren vom Regen durchnäßt. Vor unserer Fichte blieben sie stehen und hörten eine Weile zu.

Die Rede war wieder von der Kirche.

»Die Kirche Gottes ist unsichtbar«, sagte plötzlich der weiße Greis.

Alle schwiegen.

»Der Herr hat sie vor den Ungläubigen dieser Welt mit seiner Hand verdeckt. Und bis zur Wiederkunft Christi wird sie unsichtbar bleiben.«

»Wer ist er?«

»Einer von den Bilderstürmern«, antwortete mir jemand.

»Welches ist Ihr Glauben?« wandte ich mich an den Greis.

Er maß mich mit dem durchdringenden Blick seiner schwarzen Augen:

»Bist du Missionar?«

Wie ein Wolf kam er mir vor; ich sagte:

»Nein, ich bin kein Missionar; ich suche den wahren Glauben.«

»Den Glauben? Da ist mein Glaube...«

Und er wendet sich mit dem Gesicht zum Lichten See, bekreuzigt sich und beginnt:

»Ich glaube an den einen Gott den Vater ...«

Der Greis steht auf dem Waldhügel über dem See und liest mit lauter und klarer Stimme sein Glaubensbekenntnis. Die Sonne bricht durch die Wolken. Zwei große Wolken stehen über dem See, und aus ihnen tropfte es wie aus den Zitzen des Guten Tieres.

Der Alte liest sein Glaubensbekenntnis; ich sehe aber im Geiste ein von der Sonne versengtes Getreidefeld, eine kniende Gemeinde und einen Priester mit funkelndem Kreuz. Sie erflehen vom Himmel Regen für die verdurstende Erde. Und während sie beten, läßt jemand eine schwarze Wolke den Himmel heraufziehen, und es beginnt zu tropfen.

»Du hast einen wahrhaft schönen Glauben«, sagte ich dem Greis, als er mit seinem Glaubensbekenntnis fertig war.

»Unser Glaube«, erwiderte er erfreut, »besteht seit Anbeginn der Zeiten; einen besseren Glauben kannst du gar nicht finden, wenn du auch die ganze Welt durchwanderst.«

»Und wo hast du ihn gefunden?«

»Ich habe mich selbst getauft«, antwortete der Greis, »im Fluß habe ich mich getauft.« Was ist das eigentlich für ein Glaube? Ich nehme alles, was ich über die russischen Sekten gelesen habe, in meiner Erinnerung durch, und plötzlich fällt mir eine wunderbare Sekte ein: die Leute sagen sich von allem Irdischen los und glauben sogar, daß die Worte ›mein‹ und ›dein‹ vom Teufel kommen. Jedes Verweilen an einer Stätte, jede Rast halten sie für Sünde. Und sie sind immer unterwegs.

»Es gibt einen Glauben«, sage ich dem Alten, »der noch besser ist als der Ihrige: es ist der Glaube der ›Wanderer‹ oder ›Läufer‹.«

»Du, mein Lieber«, ruft der Greis freudig aus, »wir sind eben die Wanderer Gottes, wir haben weder Heim noch Herd.«

Und er erzählt mir von seinem Glauben: der Antichrist hat sich der ganzen Welt bemächtigt. Und die Kirche Gottes bleibt bis zur Wiederkunft Christi unsichtbar.

»Auch wir glauben an dasselbe«, sage ich dem Alten. »Auch wir glauben, daß die Kirche heutzutage unsichtbar sein muß. Es gibt«, erzähle ich ihm weiter, »einen sehr großen Mann, der auf eurer Seite ist und an die unsichtbare Kirche glaubt. Er ist Graf...«

Ich erzähle ihm den Hauptinhalt dieser Lehre. Der Greis hört mir aufmerksam zu. Das Bewußtsein, daß ich zwischen den beiden weißen Greisen vermittele, regt mich sogar auf.

»Es ist wahr, es ist wahr«, sagt immer der Greis aus dem Wald. »Sag aber, wie betet er denn?«

»Wie er betet? Das weiß ich nicht...«

»Mit drei Fingern oder wie wir?«

»Er betet ganz ohne Finger. Er betet nach seiner Art.«

»Nach seiner Art... Sag ihm, mein Lieber, in meinem Namen, daß er auf Abwegen ist. Ohne dieses Zeichen ...«

Der Alte hebt zwei knochige Finger gen Himmel.

»Sag ihm, daß er ohne dieses Zeichen unmöglich sein Seelenheil finden kann. Wenn die Kirche auch unsichtbar ist, so ist sie doch immerhin eine Kirche. Dort unter dem großen Hügel ist die Kirche zur Verkündigung verborgen; hier, wo wir sitzen – die Kirche zur Kreuzeserhöhung, und dort, etwas weiter – die Kirche zur Maria Himmelfahrt. Ohne dieses Zeichen geht es nicht. Was fällt dir ein! Glaube nicht dem Grafen. Fliehe ihn.«

Der weiße Greis aus dem Walde denkt an den fernen Grafen und flüstert: »Trage, mein Kind, deine ermattete Seele in die Wüste, wende deinen Blick von den Versuchungen dieser Welt und fliehe wie ein wildes Tier. Verkrieche dich in die Höhle, und die Wüste wird dich wie eine Mutter in ihre Arme aufnehmen.«

... Ich verstehe vollkommen den weißen Greis: die Kirchen unter diesen Hügeln sind genau wie die sichtbaren Kirchen. Nur geht dort alles ordentlich nach der Überlieferung zu: altertümliche Ikonen stehen dort seit Anbeginn der Zeiten; die Gläubigen tragen langschößige, schwarze Kaftane und bekreuzigen sich mit zwei Fingern; die Priester erscheinen am Altar von Osten her und lesen die Messe über sieben Hostien. Und von den Türmen tönt wunderbares Geläute.


Jemand streckt seine blaue schwarzgeäderte Hand nach mir aus. Er zieht mich zu sich hin und flüstert:

»Hör nicht auf die Weißen, geh ihnen aus dem Weg. Die Roten sind besser, hör nicht auf die Weißen.«

Er zieht mich mit sich in den Wald. Vor mir steht ein kleingewachsener schwarzer Bauer mit pockennarbigem Gesicht.

»Was willst du von mir?«

»Komm. Ich will dir was sagen.«

Er führt mich noch weiter in den Wald. Da bleibt er stehen und schaut mich stumpf an. Irgendwo in der Nähe plaudern Elstern. Ein Specht hackt mit dem Schnabel einen Baumstamm. Der altgläubige Hügel dröhnt; vom rechtgläubigen Hügel tönt es schwach herüber: Wir fürchten uns nicht, wir schrecken nicht zurück!

»Sein Glaube ist schrecklich«, murmelt der sonderbare Bauer. »Der Weiße kam einmal zu uns ins Dorf und rief: ›Vor den Toren steht der Richter! Ertränkt, Brüder, eure hölzernen Götzen im Fluß. Es gibt heute keine richtigen Ikonen mehr, denn die Farben kommen von den Krallen des Antichrist. Ertränkt sie!‹ Dann kam ein anderer Weißer und begann zu predigen: ›Der Richter steht vor den Toren. Ertränkt, Brüder, alles Kupfer: die Kreuze und alles.‹ Dann kam ein dritter und sprach: ›Zieht euch weiße Kleider an, denn der Abgrund posaunt, und das Licht der Sterne erlischt.‹ Wir zogen uns also weiße Kleider an und gingen in den Wald. So saßen wir da, warteten auf etwas, und uns überkam der Hunger. Ich begann Heidelbeeren zu pflücken. Er schrie mich aber an: ›Rühr sie nicht an, rühr sie nicht an, denn die Wälder sind heute alle mit dem Maß des Antichrist gemessen.‹ Eine alte Frau wurde vor Hunger so schwach, daß sie wie tot dalag. Wir zimmerten ihr aus Fichtenrinde einen Sarg und begannen sie einzuscharren. Da rührte sie plötzlich einen Fuß. ›Es macht nichts‹, rief der Älteste, ›sie wird schon sterben.‹ Und wir verscharrten sie. Er sagte, daß ihre Seele geradewegs in den Himmel gegangen sei. Und alle anderen sagten dasselbe. Da überfiel mich ein Grauen, und ich floh in den Wald... Geh den Weißen aus dem Weg. Hör auch auf die Roten nicht. Hör auf mich. Ich bin größer als alle anderen. Mich hat Satan versucht. Mit großer Kraft hat er mich versucht. Er sagte mir: ›Schau auf den Himmel.‹ Ich schaute nach rechts und sah goldene Kronen. Dann sagte er mir: ›Schau nach links.‹ Ich schaute nach links und sah den Mond in zwei Teile gespalten. So hat er mich versucht. Er hauchte mich an und fragte: ›Ist der Atem gut?‹ – ›Es ist dein schlechter Atem.‹ – ›Und dieser Atem?‹ fragte er mich. ›Das ist ein Atem von Engeln.‹ So hat er mich versucht. Und ich hörte eine Stimme vom Himmel und begriff, daß Gott zu mir ohne Kirche spricht. Du brauchst keine Kirche, hör nicht auf die Roten. Hör nur auf mich. Ich höre oft die Stimme. Auch jetzt höre ich sie.«

»... Wir fürchten uns nicht, wir schrecken nicht zurück...! Sie fiel, sie fiel, Babylon die Große ...«

»Nicht so ... Leg dein Ohr an den Baum. Du hörst nichts. Ich höre aber: die Erde weint. Siehst du. Hör nicht auf die Weißen, hör nicht auf die Roten. Die Erde weint. Jämmerlich weint die Erde...!«


»Nun, hast du mit Prochor Iwanowitsch gesprochen?« fragt man mich auf dem altgläubigen Hügel. »Ein vortrefflicher Mann, er braucht keine Kirche, er spricht mit Gott von Angesicht zu Angesicht; unsereins braucht aber wenigstens eine Kapelle.«

Später kamen zu uns auf den Hügel verschiedene andere Sektierer: Baptisten, Stundisten, Duchoborzen. Es kamen Studenten von der Geistlichen Akademie mit schwarzen Samtmützen und begannen von Bibelkritik zu sprechen. Es kamen Universitätsstudenten mit blauen Mützen und begannen von Politik zu sprechen. Auch der Missionar kam zu uns herüber. Er richtete sich auch hier wie früher ein und legte seine Uhr auf den Zylinderhut, den er vor sich ins Gras setzte. Ich war müde und ging zurück ins Dorf, um etwas auszuruhen.


Bei Tatjanuschka haben sich Gäste versammelt. Sie trinken Tee und sprechen über göttliche Dinge. Ich liege im Nebenzimmer auf der Bank und höre sie flüstern:

»Ein Gerechter kann auch die Glocken läuten hören.«

»Ja, ein Gerechter.«

»Tatjana vom Berge hat sie gehört, sie haben sie gerufen.«

»Ohne Grund werden sie einen nicht rufen.«

»Ohne Grund werden sie einen nicht aufnehmen. Wenn einer Gnade bei den Heiligen gefunden hat, so rufen sie ihn und öffnen vor ihm die Tore; wenn er aber dabei an etwas Irdisches denkt, wird der Ort wieder wüst und leer. Tatjana bereitete sich auf den Weg vor, zog sich einen schwarzen Sarafan an, eine schwarze Jacke und ein schwarzes Kopftuch und nahm von allen Abschied. Wir baten sie aber: wenn die Gerechten dich aufnehmen, so gib uns von dort Kunde. Denn es kommt vor, daß man von dort auch Briefe bekommt.‹«

»Gewiß bekommt man Briefe.«

»Sie nahm also Abschied. Ihre Enkelin Mascha begann zu weinen.«

»Sie ahnte wohl etwas.«

»Sie kam zum See gegen Mitternacht und wartete, bis das Wasser sich kräuselte. Da schöpfte sie einen Eimer voll und ging damit auf den Berg. Und da begann das Läuten!«

»Du lieber Himmel!«

»Und da begann das Läuten! Die Haare standen ihr zu Berge. Bei den Gerechten wurde eben die Frühmesse gelesen. Denn bei ihnen geht es nach der Überlieferung zu.«

»Ja, nach der Überlieferung.«

»So geht Tatjana den Berg hinauf und spricht ein Gebet. Am Hügel steht aber ein uralter Mann mit weißem Bart, dem heiligen Nikolaus ähnlich, und winkt mit der Hand.«

»Und winkt mit der Hand.«

»Und da taten sich die Tore auf. Die Glocken dröhnten. Die Gerechten kamen ihr entgegen und sagten: ›Komm zu uns, komm zu uns, Tatjanuschka!‹«

»Du lieber Himmel!«

»Da fiel ihr aber ihre Enkelin ein, und sie sagte sich: Wenn ich jetzt meine Mascha bei mir haben könnte ...«

»Ja, die Mascha.«

»Und kaum hatte sie sich das gedacht, als alles wieder verschwunden war. Sie sah wieder den See und die Fichten auf dem Hügel.«

»Und die Glocken?«

»Alles war weg. Der Ort war wieder wüst und leer.«

Ich erwachte erst gegen Abend und ging wieder zum Lichten See. Während des Tages hatte es an die fünfmal geregnet, und der Schmutz in der Dorfstraße reichte mir bis ans Knie. Die beiden Popentöchter sahen wieder zum Fenster hinaus, und ich mußte wieder an zwei schmale Kristallvasen denken. Die Wiesen schienen mir nach dem Regen noch schöner; im hohen Gras schrien Wachteln, die Blumen dufteten stärker, und ihr Duft sprach zu mir von einer vergessenen Heimat.

Oben im Wald über dem See dunkelt es bereits. Zwischen den Stämmen sind zahllose Lichter zu sehen. Dicht am Seeufer kniet vor einer Birke ein altes Mütterchen und betet.

Sie kniet vor einer Birke. Was soll das heißen? Ich gehe um den Baum und um die Alte herum, denn ich denke mir, daß irgendwo zwischen den Ästen ein Heiligenbild hängt. Nein, ich kann nichts entdecken. Sie betet einfach zum Baum.

»Mütterchen«, frage ich sie leise, »darf man denn zu einem Baum beten? Ist es eine heilige Birke?«

»Es ist nicht die Birke, mein Lieber«, antwortet das Mütterchen, »es ist nicht die Birke. Hier ist ein Tor. Hier beim größeren Hügel ist die Verkündigung, dort – die Kreuzeserhöhung, und dort, etwas weiter – Mariä Himmelfahrt.«

Sie zündet eine Kerze an und geht um den See herum. Sie läßt die Perlen des Rosenkranzes durch die Finger gleiten und flüstert ein Gebet. Ich gehe ihr nach. Auf dem Wege steht eine Hecke. Wir klettern beide über die Hecke und gehen weiter. Der See hat etwa eine Werst im Umkreis. Wir stoßen wieder auf eine Hecke, die Alte klettert hinüber und fällt; die Kerze gleitet ihr aus der Hand und erlischt. Ich zünde ihr die Kerze wieder an und helfe ihr aufstehen. Ich will mit ihr gern ein Gespräch anknüpfen und frage sie, warum der Lichte See vom Schilf überwachsen wird. Ob nicht unserer Sünden wegen?

Die Alte schweigt. Sie betet noch eifriger den Rosenkranz. Vielleicht hört sie die Glocken läuten, vielleicht rufen sie die Gerechten zu sich.

Sie betet wieder vor der gleichen Birke. Vielleicht werden nun die Tore auf getan, und die Gerechten rufen ihr entgegen: Komm zu uns, komm zu uns!

Mir ist es, als ob ich die Stadt sehe: die Fenster sind mit Brettern vernagelt, keine Seele ist in den Straßen, alles liegt in einem gleichmäßigen blassen Licht. Die Gerechten gehen in ihren schwarzen Kaftane zur Kirche. Sie läuten alle Glocken und rufen: Komm zu uns, frommes Mütterchen. Bei uns ist es schön, bei uns geht alles ordentlich zu, der Gottesdienst währt lange, altertümliche Ikonen stehen seit Urzeiten da.

»Mütterchen, ist denn hier wirklich ein Tor?«

»Ganz nah ist es, mein Lieber, vielleicht nur einige Spannen unter der Erde. Vor alten Zeiten haben hier die Leute gepflügt, und die Pflüge blieben immer an den Kreuzen hängen. Ganz nah ist es, doch unsichtbar.«

Sie betet weiter. Dann beginnt sie mit der Hand unten zwischen den Wurzeln zu scharren.

»Was suchst du da?«

»Hier gibt's eine kleine Spalte in der Erde. Leuchte mir mit der Kerze, dann finde ich sie.«

Wir finden die Spalte.

Die Alte läßt eine Kupfermünze hinuntergleiten; sie versenkt auch ein Hühnerei in den Schoß der Erde. Dann betet sie wieder.

»Nehmt die Gabe der sündigen Frau in Gnaden auf, ihr heiligen Männer!«

Auch ich werfe einige Kupfermünzen für die Gerechten in die Spalte unter der Birke hinein. Jetzt glaube ich selbst an die Unsichtbare Stadt. Es ist zwar nicht dieselbe Stadt wie bei der Alten; sie ist etwas blaß, wie die Spiegelung eines Regenbogens, doch immerhin eine Stadt.

Das Mütterchen ist sehr erfreut, daß ich meine Gabe in die Unsichtbare Stadt hinabgleiten ließ. Sie schenkt mir, die Hälfte ihrer Kerze und sagt: »Opfere eine Kerze, mein Lieber!«

»Wo soll ich sie hinsetzen?«

»Wo du willst. Vor der Verkündigung oder vor der Kreuzeserhöhung oder gar vor Mariä Himmelfahrt. Hier gegenüber ist die Kirche zur Verkündigung ...«

Sie nimmt einen Holzspan, befestigt darauf ihre Wachskerze und läßt ihn so in den See schwimmen. Ich tue dasselbe. Das Licht der Alten schwimmt zur Verkündigung. Auch mein Licht schwimmt dorthin. Es kommen noch andere Leute mit brennenden Kerzen herbei. Die Gerechten der Unsichtbaren Stadt kommen mit ihren Lichtern aus dem Waldesdunkel zum See. Es sind viele Hunderte von Kerzen. Alle gehen stumm um den See herum und beten den Rosenkranz.

Und die brennenden Kerzen schwimmen zur Verkündigung, zur Himmelfahrt und zur Kreuzeserhöhung. Die meisten aber zur Verkündigung.


Nun regnete es zum sechsten oder siebenten Male an diesem Tage. Der Regen löschte alle Lichter im Wald und auf dem See aus. Ich blieb lange unter einer Fichte stehen, bis ich durch und durch naß wurde. Dann lief ich auf den anderen Hügel hinüber, wo man einen Scheiterhaufen angezündet hatte. Der Regen verlöschte auch den Scheiterhaufen. Es wurde stockfinster. Die Leute begannen auseinanderzugehen. Ich trat auf etwas Weiches und Lebendiges. Ich beugte mich und erschrak: auf dem Seeufer lag auf der vom Regen aufgeweichten Erde eine Frau, das Gesicht nach unten gekehrt.

»Rühren Sie sie nicht an, rühren Sie sie nicht an«, sagte mir jemand, »sie hört das Glockengeläute.«

Ich wandte mich um und erschrak wieder: vor mir stand ein Wassergeist: ein Mann ohne Mütze, und das Wasser lief ihm seine , langen Haare herab. »Hochwürden, sind Sie es?«

»Denken Sie sich nur«, sagte mir der Missionar, »die Altgläubigen haben mir meinen Hut stibitzt.«

»Und die Uhr?« fragte ich besorgt.

»Die Uhr ist da. Auch den Hut haben sie eigentlich nicht gestohlen, sondern nur versteckt. Das ist einer von ihren dummen Spaßen.«

Am Morgen vor meiner Abreise ging ich wieder zum Lichten See, um von ihm Abschied zu nehmen. Er lag wieder einsam und leer da. Die Jahrmarktsbuden waren verschwunden. Die Gerechten hatten sich unter die Erde zurückgezogen. Nur zwei Bauersfrauen in Bastschuhen mit Reisetaschen auf dem Rücken standen noch da. Ich ging auf sie zu. Sie weinten, denn sie waren zu spät gekommen.

»Wo wohnen hier die Gerechten?« fragten sie mich.

»Hier unter dem größeren Hügel«, antwortete ich, »ist die Kirche zur Verkündigung.«

»Verkündigung.«

»Unter diesem – Mariä Himmelfahrt.«

»Himmelfahrt.«

»Und unter diesem – Kreuzeserhöhung.«

»Kreuzeserhöhung.«

»Und hier ist ein Tor. ... Hier ...«

Der Morgen war heiter. Das Wasser in der runden heiligen Schale mit der zackigen Umrahmung lag spiegelglatt da. Und als ich mich entfernte und durch das, Wiesenland schritt, blickte mir das ruhige, heitere Auge mit den grünen Wimpern unverwandt nach.


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