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Bei der Station ›Rechte Wolga‹ hielt unser Zug vor einer großen, wie es hieß, nicht ganz zuverlässigen Brücke.
»Werden wir heil hinüberkommen?« fragte ich meine Begleiter.
»Gott ist gnädig!« antworteten diese.
Der Zug setzte sich in Bewegung und brachte uns zur ›Linken Wolga‹.
Bald darauf begann der Ural. Die Nadelwälder rauchten. Es war sehr feucht, ich blieb aber auf der Plattform, um den Grenzpfahl mit der Inschrift ›Europa und Asien‹ nicht zu verpassen.
»Gleich kommt er!« sagte ein Junge und bot mir Postkarten mit Uralansichten an.
Ich wählte mir eine Karte mit dem weißen Pfahl und der Inschrift ›Europa‹.
»Der Pfahl!« schrie der Postkartenjunge.
So kamen wir aus Europa nach Asien.
Hier gab es die gleichen Tannen und die gleichen mit Gestrüpp wie mit Borsten bewachsenen alten Hügel und Berge. Mir kam es aber vor, als ob hier auf den Birken mehr gelbes Laub zu sehen wäre; auf der Grenzlinie zwischen Europa und Asien, zwischen Sommer und Herbst, erschienen die Birken wie leicht ergraute, aber noch junge schöne Frauen. Ich dachte: diese uralten, verwitterten Hügel des Ural waren vielleicht vor Zeiten ebenso hoch und blühend wie die Gipfel der Alpen. Auch die Berge altern. Vor Zeiten flog an ihnen so ein weißer Pfahl mit einer schwarzen Inschrift vorbei, und sie senkten sich. In Asien empfingen uns die tannenbewachsenen Hügel wie in uralte Pelze gehüllte Großmütter.
Europa ist jung. Asien ist uralt. Gleich hinter dem Ural beginnt der sibirische Urwald, die Taiga. Ein Schwarm aufgescheuchter Auerhähne suchte den Zug zu überholen. Doch er ließ sich nicht überholen und fauchte sie wütend an. Die Vögel beschäftigten mich so sehr, daß ich gar nicht merkte, wie ein zerlumptes Mädchen in den Wagen kam und auf der Bank an meiner Seite einschlief.
»Was haben Sie hier für Lumpen?« fragte der Schaffner.
Das Mädchen erwachte. Sie hatte blaue und rote Flecken auf den Wangen.
»Wohin? Woher?« fragte man das Mädchen.
Sie antwortete: »Ich weiß nicht.«
»Eine Landstreicherin!« sagten die Schaffner und jagten sie auf der nächsten Station aus dem Zug.
Sie schleppte sich zu Fuß weiter.
»Sie ist selbst schuld. Jetzt hat sie es besser«, sagten die Mitreisenden.
»Was sie für ein ungewöhnliches Gedächtnis haben!« sprach man von den Landstreichern im allgemeinen.
»Wenn man einem ein Hemd schenkt, so kommt er noch nach zehn Jahren und bedankt sich; er wird es nie vergessen«, berichtete einer.
»Es kommt auch anders vor«, entgegnete man ihm, »der eine bedankt sich, und der andere schimpft noch hinterdrein.«
Gegen Abend hatte sich der Zug aus der Taiga herausgearbeitet, doch noch nicht ganz: in der Steppe standen noch überall Baumgruppen umher; sie sahen wie Inseln aus. Eine Vagabundenseele aus der Taiga könnte auch hier noch Zuflucht finden und von sumpfigen Moosgründen, entwurzelten Bäumen und Tannenpfoten träumen.
Später zog sich die Taiga ins eigentliche Sibirien zurück, und wir fuhren mit einem Dampfboot den Irtysch in der Richtung zum Altaj hinauf. Der Irtysch ist ein schmutziggelber Steppenfluß. Das Gestrüpp am Ufer verdeckt seine wahre Breite. Aus dem Wasser tauchen überall die langen Hälse von Wildgänsen und die weißen Brüste von Schwänen hervor. Auf einer sandigen Landzunge sitzt ein etwas buckeliger Adler, ein General der Steppe; rings um ihn schwimmen seine Enkelkinder: Enten, Möwen, Schwalben und noch zahllose andere kleine Wasservögel. Im Gesträuch am Ufer steht der uralte Einsiedler, das Kamel, und spiegelt sich mit seinen beiden Höckern im Wasser. Wir begrüßen es, indem wir unsere Mützen ziehen, doch es wendet sich von uns ab und der sandigen Landzunge, wo sein Altersgenosse, der buckelige Adler, sitzt, zu. Wenn man einem Kamel begegnet, so kann man auch irgendwo in der Nähe ehrwürdige Männer in weiten Kaftanen auf kleinen Pferden, Frauen und Kinder, alle zu Pferde, eine ganze Zentaurenfamilie entdecken. Ich sah einen Knaben, der auf einem Hammel ritt, und ein Mädchen, das sich bemühte, eine Ziege an den Hörnern irgendwohin fortzuschleppen. Hie und da lugten Spitzen von Nomadenzelten hervor. Unsere Reise ging jetzt durch ein Land, wo die Leute heute noch wie Abraham leben.
Ich kam gar nicht bis zum Altaj. Das Dampfboot fuhr, die Wasservögel aufscheuchend, ohne mich weiter.
Ich stehe auf einem Floß und halte mein scheckiges Pferdchen mit der Blesse am Zaume fest. Das Floß setzt uns auf die andere Seite des Irtysch, wo die Steppe beginnt, über. Auf dem Floß drängen sich Kamele, Schafe, Pferde und Menschen. Die Kirgisen schlagen die Tiere mit Reitpeitschen, und diese geben es ihnen mit den Schweifen zurück. Auf dem anderen Ufer empfangen uns neue Herden, die über uns herfallen und uns ertränken wollen. Wir wehren uns mit unseren Peitschen und suchen den Tieren mit wilden Schreien Angst einzujagen.
»Hü! Hü!« bitte ich meinen Schecken, vom Floß aufs Ufer zu springen.
Er versteht mich aber nicht.
»Tschu!« ruft ihm aus einem Wagen ein Kirgise zu.
Der Scheck springt hinüber, und so gelangen wir auf das andere, Ufer des Irtysch. Das gelbe Antlitz der Steppe blickt uns mit dem hellen, doch leblosen Auge eines Salzsees an. Hoch im Himmel schwebt ein Königsadler; er sieht wohl noch einen anderen ähnlichen See mit flachen Ufern und unheimlichen violetten Rändern.
Die ganze Steppe ist mit solchen hellen, doch gedankenlosen Augen besät. Die Erde ist alt. Man ist einen oder zwei Tage unterwegs, vergißt das Datum, zieht die Uhr nicht mehr auf; man ist im richtigen Asien, wo die Zeit stille steht.
Ich habe mir eine Moskauer Zeitung aufgehoben, und ich rechne nach ihr die Zeit vom Tag meiner Abreise aus Moskau, dem 27. Juli. Am zweiten Tag war die Zeitung dort, wo ich anlangte, neu: am 28. wurde diese Nummer von allen als die neueste gekauft. Nach zwei Tagen, nach drei Tagen, nach acht, nach vierzehn Tagen war die Nummer noch immer neu, und alle lasen mit Vergnügen meine aus Moskau mitgebrachte Zeitung. Die Zeit ging zurück und blieb in der mittelasiatischen Steppe endgültig stehen. Hier steht die Wiege des Menschengeschlechts und die historische Pforte der Völker.
Der Wind vernichtet Berge und Hügel,
Das Wort vernichtet das Geschlecht Adams.
(Ein Steppenspruch)
Ob das Gerücht in der Steppe selbst geboren wird oder ob es von auswärts kommt – ist ganz gleich: es fliegt von Reiter zu Reiter, von Gezelt zu Gezelt.
Es kommt vor, daß ein Reiter auf dem Sattel einnickt, die Zügel hängen läßt und so Gefahr läuft, das Gerücht zu verpassen.
Doch nein! Sein Pferd bemerkt irgendwo in der Ferne einen anderen, vor Müdigkeit schlafenden Reiter, geht selbst auf ihn zu und bleibt stehen.
»Chabar bar!« (Gibt es Neuigkeiten?)
»Bar!« (Es gibt!)
Die Pferde ruhen aus, die Reiter plaudern eine Weile, nehmen eine Prise und ziehen wieder ihre Wege. Diese Begegnung wird von der Fata Morgana wie von einem Hohlspiegel aufgenommen und weitergetragen. Erst an der Grenze der Steppe, wo die große Wüste beginnt, verwelkt das Gerücht wie ein Büschel Reihergras ohne Wasser.
Es heißt, daß die Erde dort ohne Gras und ohne Gerüchte graurot daliege und daß es dort so still sei, daß die Gestirne sich nicht scheuen, auf die Erde herabzusteigen.
Gute Freunde gaben mir den Rat, mich während der Reise für einen Araber auszugeben; er kommt aus Mekka, wohin er aber reist, weiß niemand. Man sagte mir, daß ich so besser vorwärtskomme; wenn mich jemand unterwegs mit seinem Geschwätz aufzuhalten versucht, so heißt es einfach: der Araber versteht weder Russisch noch Kirgisisch. Ich ließ selbst dieses Gerücht los, und bald lief es schon das Lange Ohr entlang:
»Auf einem Schecken mit einer Blesse reitet ein schwarzer Araber aus Mekka und schweigt.«
Das Gerücht lief durch die Steppe wie ein Sturmwind, bis es die große Wüste, die ewige Stille, die graurote Erde und die niederen Sterne erreichte.
Man sagt aber, daß ein gesatteltes Pferd auch dorthin vordringen kann. Dort fliegen unbeschlagene wilde Pferde lautlos von Oase zu Oase wie eine gelbe Wolke. Wenn das gesattelte Pferd sie erblickt, wirft es noch einen schielenden Blick auf seinen schlafenden Herrn, schlägt aus und – ade!
»Chabar bar?« fragen die wilden Pferde.
»Bar!« antwortet das beschlagene.
Und dann berichtet es in seiner Sprache vom schwarzen Araber und dem scheckigen Pferd.
Das Pferd erzählt es in seiner Sprache, und ich in meiner.
Der Aufseher über den Salzsee – es gibt auch ein solches Amt! – ließ aus seinem Häuschen das Gerücht laufen:
»Der aus Mekka reisende Araber braucht einen Russisch sprechenden Kirgisen, ein paar Pferde und einen Wagen.«
Bald darauf klopfte jemand an mein Fenster und fragte:
»Ist der Araber hier?«
»Hier ist er«, sagte ich und blickte zum Fenster hinaus.
Am Ufer des Salzsees stand ein Wagen mit zwei wohlgenährten Pferden, vor dem Fenster aber ein Kirgise in einem weiten Kaftan mit einer Reitpeitsche in der Hand.
»Was willst du? Wer hat dir von mir erzählt?« fragte ich ihn.
»Das Lange Ohr, mein Lieber«, antwortete der Kirgise und lachte.
Im kleinen, saftigroten Ringe seiner Lippen blitzten die zuckerweißen Zähne auf; das Gesicht, gelb wie eine reife Melone, wurde rund; die winzigen Äuglein verschwanden in den engen Schlitzen.
Aus irgendeinem Grunde mußten wir beide lachen.
Er hatte alles in musterhafter Ordnung: den Wagen, die Pferde, Stricke und Decken. Alles war ausgezeichnet. »Meine Pferde sind nicht zu dick und nicht zu trocken. Das eine ist ein Rappe, das andere ein Rehhaar. Meine Worte sind rein!« sagte mir Isak, mein zukünftiger Dolmetscher, Reisegenosse und Freund,
»Rein, rein«, sprach ich ihm nach.
»Du mußt mir, mein Lieber, glauben«, bat er mich. »Ein anderer wird prahlen und sagen: ›Soundso ist mein Pferd!‹ Ich habe aber nicht diese Gewohnheit.«
Wir wurden bald einig.
Wir begannen zu packen und uns auf die lange Reise, die auf Nomadenwegen Hunderte von Werst abseits von der Poststraße gehen sollte, vorzubereiten.
»Wird man uns nicht unterwegs umbringen?« fragte ich.
»Warum sollen sie uns umbringen, mein Lieber?« antwortete Isak.
»Wenn wir ihre Kamele nicht anrühren, wenn wir ihre Pferde nicht anrühren, was kümmern sie sich dann um uns?!«
Nachdem wir unseren Zwieback und andere notwendige Sachen eingepackt hatten, banden wir alles, auch die Filzdecken und Säcke, mit Stricken fest und setzten uns in den Wagen. Karat und Kulat laufen in gemächlichem Trab; mein Scheck trabt an einer Leine hinterher. Am Horizonte tauchen einige Reiter auf. Das Lange Ohr horcht auf.
»Chabar bar?« fragen die einen.
»Bar!« antworten die anderen. »Der Araber sitzt im Wagen, und der Scheck mit der Blesse trabt hinterher.«
Die Sonne hatte diese alte, nachts vor Alter frostige Erde etwas erwärmt, und nun flogen nach allen Richtungen Luftspiegelungen. Die Telegraphenstangen der Poststraße entfernten sich von uns, schwankend, wie eine Karawane von Kamelen. Dafür reckten die Wildgänse am Ufer des Salzsees ihre langen Hälse, und ihre Köpfe schimmerten in der Sonne wie Porzellanisolatoren.
Die Nomadenstraße, auf der wir fahren, schlängelt sich zweispurig durch die Steppe. Beide Radspuren sind mit grünem Gras bewachsen und sehen vorn und hinten vollkommen gleich aus: zwei Schlangen winden sich durch ein trockenes gelbes Meer. Der See, einer von den vielen trügerischen Steppenseen, glänzt wie ein echter See. Vom Wasserspiegel fliegt ein Vogel auf, zwei große Flügel schwingend.
Und plötzlich ist alles wie weggeblasen. Der See, der Vogel und das Kamel sind im Nu verschwunden.
Ein Hund läuft uns entgegen, seine Ohren baumeln wie zwei Lappen.
»Ka!« ruft ihm Isak in seiner Sprache zu.
Der Hund winselt vor Freude und läuft auf uns zu. Wir halten an. Es ist ein gelber Windhund der Steppe, fein und elastisch wie eine Uhrfeder. Er mustert uns zweifelnd: sind wir es, oder sind wir es nicht? Dieser zweifelnde Blick ist bei einem Tiere ganz unheimlich.
»Ka!« rufe ich ihm zu.
Nein, wir sind es nicht! Der Hund rennt winselnd fort. Seine Kräfte sind aber zu Ende, und der Weg, der sich wie zwei Schlangen durch die Steppe windet, ist unendlich.
Der Hund setzt sich auf den trockenen Boden und heult.
»Ka, ka!« rufen wir zum letztenmal und fahren los.
Der Hund läuft wieder auf uns zu; er ist uns ergeben und bleibt für immer bei uns. Er scheint auch zufrieden zu sein und steht wohl auf dem Standpunkt, daß ihm nichts passiert sei: ist es denn ihm nicht ganz gleich, welchem Herrn er dient? Die Steppe ist vorn und hinten und überall dieselbe. Die große Steppensonne scheint überall gleich; sie wird für keinen Augenblick verdunkelt und verweilt nie hinter Bäumen.
Sonnenlicht und Stille... Der Hund läuft uns gehorsam nach. Doch sein Heulen blieb in der Wüste zurück und auch der zweifelnde Blick. Das Lange Ohr hörte das Heulen, und die Luftspiegelungen merkten sich den Blick des Hundes, der seinen Herrn verlor.
Es ist leer!
Für wen leuchtet diese so reiche und offene Sonne in der Steppe?
Der Schatten einer einsamen Wolke irrt von Schädel zu Schädel, von Gerippe zu Gerippe und gibt Antwort auf die Frage, für wen diese Sonne in der Wüste leuchtet; sie haben auch einmal gelebt und geheult, und diese strahlende Stille mit den Luftspiegelungen kam der Steppe recht teuer zu stehen. Gegen Mittag wird die Sonne in der Steppe weiß. Wir halten bei einem Brunnen und tränken die Pferde. Isak breitet seinen Kaftan auf dem Boden aus und betet. Karat, Kulat und der Scheck warten, daß Isak sein Gebet beende; sie haben ihre Köpfe zusammengesteckt und blicken in die Öffnung des Brunnens: wollen sie das Wasser erreichen, oder sehen sie in diesem Wasser, das mehr wie Kaffee aussieht, einen ertrunkenen Steppenhasen oder eine Ratte?
»Allah, Allah!« flüstert Isak, sich vom Boden erhebend, wieder hinfallend und sich wieder erhebend.
Bald verschwindet sein gelbes Gesicht im trockenen Reihergras, bald erscheint es wieder auf dem blauen Himmel. Er fällt viele Male auf den Boden nieder, glättet sich mit beiden Handflächen den Bart, hebt seine etwas schiefstehenden Schlitzaugen gen Himmel und erstirbt in Andacht. Ein Falke scheut sogar nicht, dicht vor Isaks Kaftan einen Vogel zu überfallen; er verfehlt ihn aber, fliegt wieder auf und verschwindet in der Ferne. Isak scheint es gar nicht bemerkt zu haben; er steht noch immer mit andächtig gefalteten Händen auf dem Kaftan, seine Augen verfolgen aber ohne jede Andacht den Vogel.
Am blauen Horizonte taucht plötzlich ein großer weißer Turban auf.
»Allah, Allah!« betet Isak in schnellerem Tempo.
»Ist es ein Mollah?« frage ich ihn, als er seinen Kaftan wieder auf den Wagen legt.
»Ein Sarte auf einem Kamel«, antwortet Isak.
Und wieder ist alles wie weggeblasen: es ist weder ein Mollah noch ein Sarte; eine Frau mit einem weißen Kopftuch reitet auf uns zu.
Sie hat ihren Jungen verloren.
Ob wir nicht ihren Jungen gesehen haben? – fragt uns die Frau.
»Wir haben niemanden gesehen«, antwortet Isak, »aber ein Hund ist uns zugelaufen.«
Ob es nicht ihr Hund sei?
»Nein!« erwidert die Frau. Sie richtet an Isak und an mich noch einige Fragen, sieht sich unsere Pferde an und sprengt davon.
»Sie fragte noch«, berichtete mir Isak, »ob wir nicht einen Araber auf einem Schecken gesehen hätten und ob er nicht ihren Jungen geraubt hätte.« Isak hatte darauf geantwortet:
»Der Araber sitzt hier im Wagen und raucht, und sein Scheck steht am Brunnen.«
Da fragte die Frau trotz ihres großen Kummers:
»Wohin reist der Araber und woher?«
Isak erklärte ihr:
»Der Araber kommt aus Mekka und schweigt; nicht er hat den Jungen geraubt, sondern wohl ein unfruchtbares Weib mit gelben Haaren.«
Statt einer Antwort gab die Reiterin ihrem Pferd die Peitsche und ritt davon.
Auch mich überkam der Wunsch, auf meinen Schecken zu steigen und Luftspiegelungen hervorzurufen wie jene Frau.
Nun bin ich also ein Steppenreiter. Auf dem Kopfe trage ich eine Lammfellmütze, oben mit grünem Samt verbrämt. Meine Füße stecken in weichen Schuhen aus Bockleder, und darüber trage ich noch schwere Stiefel, die zur Hälfte aus Filz und zur Hälfte aus Leder bestehen. Die Schöße des Halbrocks habe ich mir um die Beine gewickelt und an den Sattel gedrückt. Der schwarze, sehr weite Kaftan bedeckt den Halbrock, den Sattel und das halbe Pferd. In der rechten Hand halte ich die Reitpeitsche und in der linken die Zügel. Ich stecke ganz in dieser weiten Kleidung und sitze auf einem kleinen scheckigen Pferde mit einer Blesse. Dem Aussehen nach ein Kirgise, den Gerüchten nach ein Araber, reite ich durch die Steppe und verbreite Luftspiegelungen.
Am Horizonte tauchen wieder einige Reiter des Langen Ohres auf. Zwei Reiter wollen meinen Weg durchkreuzen. Ich werde ihnen aber einen Streich spielen. Ich brauche nur den Schecken mit meinen schweren Stiefeln in die Flanken zu stoßen, und sofort wenden sich die Ränder meiner Pelzmütze nach hinten um, wie die Ohren bei einem Windhunde. Der Wind pfeift. Das Rößlein kocht. Die Steppe wird lebendig. Sie ist gar nicht tot, nein, sie lebt in ihrer ganzen Ausdehnung, sie erhebt sich und spricht mit dem Reiter.
»Berge, Dschigit!« (Komm her, Reiter!) ruft man mir nach.
Ich blicke zurück. Beide Reiter stehen auf dem Wege weit hinter mir; einer von ihnen hat einen Stock mit einer Schlinge, mit dem man Pferde einfängt. Von der anderen Seite nähert sich ihnen Isak.
»Chabar bar?« fragen die Reiter. »Bar!« antwortet Isak.
Er erzählt ihnen etwas in seiner Sprache, indem er mit dem Finger auf mich zeigt. Sie sehen also jetzt keine Luftspiegelung, sondern einen wirklichen Araber, sie hören mit ihren eigenen Ohren den Bericht über den Araber und ergötzen sich daran.
»J-o-o!« ruft der eine aus.
»Eh!« stimmt der andere zu.
Man hört nichts als »o« und »eh«.
Ja, sie hätten es beinahe vergessen. Gewiß! Sie haben eine Kamelstute verloren. Ob wir nicht ihre Kamelstute gesehen hätten?
»Nein! Wir haben kein Kamel gesehen. Ein Hund ist uns zugelaufen. Wir sahen eine Frau, die ihren Jungen verloren hat. Aber ein Kamel haben wir nicht gesehen.«
Die Reiter entfernen sich aber höchst befriedigt; sie haben doch einen leibhaftigen Araber gesehen. Wenn sie nach zehn, auch nach zwanzig Jahren in diese Gegend, die ›Zerbrochenes Rad‹ heißt, kommen, werden sie sich noch an diesen Araber mit allen Einzelheiten erinnern: daß seine Pelzmütze grün und sein Halbrock grau war, daß er am Kaftan einen roten Gürtel trug und daß sein Scheck eine Blesse hatte.
Ich wollte mein Pferd schonen und setzte mich wieder zu Isak in den Wagen. Wir fahren wieder gemächlich auf der Nomadenstraße und betrachten Luftspiegelungen.
Im Laufe dieses Tages hätten wir noch einige Begegnungen. An der Stelle, die ›Verschütteter Brunnen‹ heißt, hielten uns wieder zwei Reiter an; sie unterhielten sich lange mit Isak.
»Wovon haben sie gesprochen?« fragte ich Isak.
»Immer von der gleichen Kamelstute«, antwortete er.
Gegen Abend sahen wir auf der Steppe einen leeren unbespannten Wagen; wir dachten uns: ,Diesen Wagen hat die Frau zurückgelassen, die ihren Jungen sucht. Alle Reiter, die wir bis zum Abend sahen, fragten uns nach der Frau, die ihren Jungen verloren, und erzählten uns, daß ein Wolf der Kamelstute das Füllen geraubt hätte.
Als die Sonne bereits den Rand der Steppe berührte, flogen in einiger Entfernung drei Wildgänse auf; folglich war ein See in der Nähe. Gerade als Isak unbedingt seine Abendwaschung vornehmen mußte, erreichten wir einen großen Süßwassersee, der zur Hälfte mit Schilf bewachsen war.
Die Muselmänner behaupten, daß die Sonne sich gegen Abend schäme: sie erröte, weil man sie vor Zeiten als eine Gottheit angebetet hätte. Isak betet nicht zur Sonne, was doch so natürlich wäre, sondern zur unsichtbaren Kaaba.
»Allah! Allah!« ruft er, immer wieder auf den Kaftan fallend.
Auch die beiden Reiter, die uns zuletzt von der Kamelstute und ihrem Füllen berichteten, steigen von ihren Pferden. Dort, wo sie sich befinden, gibt es kein Wasser; sie werden sich aber, statt mit Wasser zu waschen, mit Erde abreiben. Ihre Kaftane heben sich schwarz vom roten Himmel ab; bald ragen sie mit gen Himmel erhobenen Armen, bald verschwinden sie gleichsam in der Erde.
»Allah! Allah!«
Die ganze Steppe breitet zu dieser Stunde ihre Kaftane aus und flüstert »Allah!« Alle Gesichter sind von der sinkenden Sonne rot übergössen, und nur die in der Steppe verstreuten, Tempeln gleichenden Grabhügel bleiben schwarz.
Während Isak sein Gebet verrichtet, will ich zum See gehen. Das Ufer ist beinahe eine ganze Werst weit mit Schilf bewachsen. Ich gehe einen kaum sichtbaren Fußpfad durch das Schilf, das mir alles verdeckt. In diesem Dickicht brüten Wildgänse, übernachten Trappen, lagern Wölfe, die irgendwo einem Hammel den Fettschwanz abgerissen haben und ihn nun verdauen. Tiger kommen nur weiter im Süden vor, doch ist es im Halbdunkel dieses trockenen Waldes immerhin unheimlich genug.
Der Fußpfad führt mich von Isak weg, dann auch vom See weg, macht wieder eine Biegung, bringt mich zu einer Wassergrube und führt weiter, ich weiß nicht wohin. Der Pfad ist blind.
Irgendwo zwitschert ein mir unbekannter Vogel.
›Was mag das für ein Vogel sein?‹ frage ich mich. ›Ich habe noch nie im Leben eine solche Stimme gehört. Ich muß unbedingt diesen Vogel sehen.‹ Ich gehe also den blinden Pfad weiter. Rechts und links höre ich im trockenen Schilf unheimliche Geräusche, in der Ferne aber die bald ersterbende und bald lockende Stimme des Vogels. Ich gehe schneller, ich fliehe das Dunkel, verliere den Pfad, breche das Schilf, falle und sehe endlich das rote Licht der sinkenden Sonne und das dünne schwarze Netz der letzten Schilfgräser.
Hinter dem Schilfe gibt es aber gar keinen Vogel. Zwischen mir und der roten Sonnenscheibe ragt die schwarze Kuppel eines Grabhügels, mächtig wie ein Tempel. Beim Hügel weidet eine Herde von Hammeln, ihre Fettschwänze schimmern rötlich in der Sonne; im Hintergrunde reitet ein alter Hirte auf einem Stier; er zwitschert wie ein Vogel und schreit:
»Tschu!«
»Berge!« rufe ich den Alten zu mir heran; ich will, daß er von seinem Stiere herab Umschau nach Isak hält.
Der Alte und der Stier haben mich gehört.
»Tschu!« schreit der Alte seinen Hammeln zu.
Die ganze Herde macht kehrt und kommt auf mich zu. Der Herde folgt der Alte auf seinem Stier.
»Sind deine Arme und Beine gesund?« begrüße ich den Alten kirgisisch.
»Amamba«, antwortet er mir.
»Ist das Vieh gesund?«
»Aman.« »Und wie geht es deinen Armen und Beinen und deinem Vieh?« fragt mich der Alte.
»Amamba, aman«, antworte ich ihm.
Das ist alles, was ich ihm sagen kann. Ich zeige stumm auf das Schilf und will, daß er nach Isak ausspäht.
Ich streichele den gutmütigen Stier zwischen den Hörnern und sage immerfort: »Dschjaksy, dschjaksy!«
Der Alte blickt von seinem Stier nach allen Seiten, entdeckt Isak und lächelt; er hat mich also verstanden.
Ich streichele auch den guten Alten und sage:
»Dschjaksy, dschjaksy, aksakal!« (Guter, guter Alter.)
Der gute Alte steigt vom Stier.
Nun besteige ich den Stier, um den sich inzwischen zahllose Hammel mit krummen Nasen und hängenden Unterlippen, bärtige Böcke mit langen Hörnern, Schafe, Ziegen und Lämmer geschart haben. Ich schreie zu Isak, der weit hinter dem Schilfe steht, so laut, wie man nur in der Steppe zu schreien pflegt. Isak hat sein Gebet längst beendet und fährt weiter, mich nicht aus den Augen lassend. Er bedeutet mir mit der Hand, ich möchte zu ihm kommen.
Ich pfeife den Hammeln.
»Tschu!« schreie ich dem Stier. »Berge!« rufe ich dem Alten.
Die Fettschwänze zittern wie Gummikissen; die Bockshörner bewegen sich dazwischen wie lebendige Heugabeln; ein bärtiger Bock eröffnet den Zug, der alte Kirgise beschließt ihn, und so schreiten wir Isak entgegen.
Ganz in der Nähe liegt das Gehöft des Alten; wir können es gut sehen: es besteht aus einigen schmutzigen Zelten. Der Besitzer bietet uns Nachtquartier an und will uns zu Ehren ein Lamm schlachten. Wir lehnen ab: der Alte ist arm, sein Gezelt ist schmutzig, am See ist es viel schöner, und das Wetter ist herrlich. Der Alte sprach sehr viel mit Isak, half uns, trockenen Mist, der uns als Brennmaterial dienen sollte, einsammeln und war uns für die einigen Stücke Zucker und Zwieback, die wir ihm schenkten, sehr dankbar.
»Was hat er dir erzählt?« fragte ich später Isak.
»Er sprach immer vom gleichen Araber, von der Frau, die ihren Jungen verloren hat, und von der Kamelstute.«
Die Tochter dieses Alten hat nachts nach ihrem Jungen in der Wiege sehen wollen und ihn nicht vorgefunden; sie stürzte sofort aus dem Zelt und konnte noch sehen, wie der Araber mit ihrem Jungen im Arm auf einem Schecken in die Steppe davonsprengte. Um die gleiche Zeit hat auch die Kamelstute ihr Füllen vermißt; sie brüllte und rannte in die Steppe. Die Mutter des Kindes und die Söhne des Alten ritten sofort aus, um die Kamelin zu fangen und den Jungen zu suchen. So blieb der alte Besitzer des Gezeltes allein bei seinen Hammeln zurück.
Isak erzählte dem armen Alten alles, was er vom Araber wußte, und suchte ihn zu überzeugen, daß der Junge von keinem Araber, sondern von einem unfruchtbaren Weibe mit gelben Haaren und das Kamelfüllen von einem Wolf geraubt worden sei. Isak behauptete, daß der Alte es ihm schließlich geglaubt hätte. Er hätte ihm gesagt:
»Jo-o, Chudai (O Herr)! Früher pflegten die unfruchtbaren Weiber viele Meilen weit zum heiligen Berge Aulje-Tau zu pilgern, und der große Chudai erhörte ihre Gebete und schenkte ihnen Kinder; heutzutage rauben sie aber Kinder bei armen Leuten. Jo-o, Chudai!«
Der Alte verließ uns kopfschüttelnd und murmelnd:
»Ja, diese unfruchtbaren Weiber!«
Ich habe einen Vogel, der in einem Augenblick
das Paradies und in einem Atemzug
den Siebenten Himmel erreicht.
(Ein Steppenrätsel)
Wie und wann der erste Stern erschienen war, wußten wir nicht zu sagen. Während wir mit dem Alten sprachen, ging die Sonne unter, und zwei Böcke kämpften miteinander im Abendrot. Der Alte trieb seine Herde zu den Zelten, und wir schlugen unser Nachtquartier in der Steppe auf. Wir tränkten die Pferde und banden ihnen Hafersäcke vor. Während wir uns mit den Pferden abgaben, kamen viele Spatzen herbeigeflogen; die einen saßen ruhig auf der Rücklehne des Wagens und ließen sich von den letzten Sonnenstrahlen bescheinen, die anderen liefen im Wagen auf und ab und plauderten von den letzten Tagesereignissen der Steppe. Dann holten wir aus dem Wagen Filzdecken, Zwieback, Tee, Zucker und Fleisch und legten alles auf die Erde. Wir hoben beide Deichselstangen in die Höhe, verbanden sie mit einem Riemen und ließen von dessen Mitte unseren mit Seewasser gefüllten Teekessel an einem zweiten Riemen bis zum Böden herabhängen. Isak legte nun um den Kessel sorgfältig, beinahe liebevoll, trockenen Pferdemist und setzte ihn in Brand. Vom leisen Abendwind angeblasen, der unter dem Wagen hervorkam, brannte unter dem Kessel eine blaßblaue Flamme.
In dieser Zeit machten sich bei den Zelten die Überreste der Familie des Alten mit den Herden zu schaffen. Was sie eigentlich trieben, konnten, wir nicht sehen; wahrscheinlich molken sie die Ziegen, Stuten und Kamelinnen. Jemand sang ein Lied, das so einfach und eintönig klang wie das Klirren eines Eimers. Bei den Tönen dieses Liedes legte sich das Vieh allmählich nieder. Als das ganze Vieh lag, auch die zwei Kamele niederknieten und das Lied verklungen war, bemerkte ich den ersten Stern. Man hatte ihn gleichsam an einem silbernen Faden zu uns herabgesenkt; so groß und nahe kam er mir vor.
»Tscholpan!« sagte Isak. »Es ist der Stern der Hirten: er geht auf, wenn die Herden von der Weide zurückkehren, und verschwindet, wenn die Herden morgens auf die Weide ziehen. Es ist unser bester Stern.«
Der Stern stand wohl schon früher am Himmel, wir haben ihn aber erst eben bemerkt. Wenn man erst einen Stern am Himmel sieht, so kann man leicht auch einen zweiten entdecken, und wenn man genauer hinsieht, auch einen dritten und einen vierten. Nach einer Weile sah ich schon die Zauberbilder aller Gestirne.
Plötzlich veränderte sich das ganze Bild. Das Wasser im Kessel begann zu kochen, lief über und zischte im brennenden Mist. Isak fuhr auf und nahm den Kessel vom Feuer. Aus dem Innern des kleinen aus Mistkugeln aufgebauten Turmes schlug an der Stelle, wo der Kessel gestanden hatte, eine unruhige rote Flamme hervor. Und der Himmel, der ganze Himmel, mit allen seinen großen, einsamen, nahen Sternen, verschwand vor dieser irdischen Flamme.
Isak schenkte dem keine Beachtung; er brühte den Tee auf und befestigte am Riemen einen anderen Kessel, in dem er das Fleisch zum Kochen aufsetzte. Sobald der Kessel die unruhige Flamme verdeckte, erschien über uns wieder der Himmel.
Der Tee ist fertig. Wir sitzen beide am Feuer mit untergeschlagenen Füßen und trinken Tee aus kleinen chinesischen Tassen ohne Untertassen; wir halten sie am unteren Rande mit den Fingern und beißen nach jedem Schluck ein Körnchen Zucker ab. Wir unterhalten uns ganz gemütlich von den Gestirnen.
»Was kann ich von diesem Stern sagen?« fragt Isak, indem er mit seinem Stück Zucker auf den Himmel zeigt.«
»Von welchem?« frage ich. »Von diesem?« und zeige mit meinem Stück Zucker auf den Polarstern.
Isak grunzt bejahend und nickt.
Was ich Isak vom Polarstern zu erzählen weiß? Ja, daß er eben unbeweglich ist.
»Wir halten ihn auch für unbeweglich.«
»Bei euch ist ja, alles genau wie bei uns!« sage ich erstaunt.
»Dies alles ist am Himmel seit undenklichen Zeiten zu sehen«, bemerkt Isak. »Es ist bei uns und bei euch und überall gleich. Bei uns heißt er ›Eiserner Pfahl‹.«
»Und was kann ich von den beiden Sternen, dem hellen und dem trüben, in der Nähe des Eisernen Pfahles sagen?« fragt Isak weiter.
»Es sind zwei Sterne im Schwänze des Kleinen Bären, ich weiß von ihnen nichts zu sagen.«
»Es sind zwei Pferde, ein weißes und ein graues«, erklärt mir Isak. »Sie sind beide am Eisernen Pfahl festgebunden und gehen um ihn herum, wie Karat und Kulat um den Wagen. Und diese sieben großen Sterne«, sagt er, auf den Großen Bären zeigend, »sind sieben Diebe, die das weiße und das graue Pferd stehlen wollen. Diese lassen sich aber nicht fangen und gehen immerfort um den Eisernen Pfahl herum. Wenn die sieben Diebe das weiße und das graue Pferd einholen, wird das Ende der Welt eintreten. Dies alles ist am Himmel seit undenklichen Zeiten zu sehen. Alle Sterne haben irgendeine Bedeutung.«
»Und dieser Sternenhaufen?« frage ich, auf die Plejaden zeigend.
»Dieser Haufen ist eine vom Wolfe aufgescheuchte Schafherde. Du weißt doch, wie sich die Schafe vor einem Wolfe zusammenscharen?«
»Gibt es denn am Himmel auch einen Wolf?«
»Da ist ja der Wolf, mein Lieber!«
Er zeigt mir mit seinem Stück Zucker den Wolf.
»Am Himmel ist ja alles wie auf der Erde!« sage ich erstaunt.
»Wie in der Steppe«, erwidert Isak. »Da ist auch die Mutter, die ihren Jungen sucht.«
»Gibt es vielleicht auch einen Araber?«
»Eh!«
»Auch ein Langes Ohr?«
»Eh!«
Er schweigt. Wir schweigen. Über uns flimmern, gleichsam atmend, die Sterne; sie haben uns wohl bemerkt, sie lächeln uns zu und flüstern. Von Stern zu Stern, die ganze Milchstraße entlang zieht eine große stille Freude. Ein Stern fragt den andern, wie die Reiter in der Steppe:
»Chabar bar?«
»Bar! Der Araber trinkt unter den Sternen Tee.«
Isak zündet sich am brennenden Mist ein trockenes Schilfrohr an. Er leuchtet damit in den Kessel hinein, um festzustellen, ob das Fleisch schon gar sei. Er schneidet sich ein Stück ab und probiert.
Er nimmt den Kessel vom Feuer, Wieder lodert eine Flamme empor. Der Himmel mit allen seinen Sternen ist wieder verschwunden. Die irdische Flamme beleuchtet unseren Wagen und etwas trockenes Gras im Umkreis.
Wir breiten einen schmutzigen Lappen statt eines Tischtuches aus und essen auf Kirgisenart mit den Händen; die Knochen werfen wir unserem Hunde zu. Der sitzt irgendwo im Schatten des Wagens und nagt. Karat und Kulat rascheln im Grase. Über uns schreit ein großer Vogel. Er stößt einen Schrei aus, verschwindet für eine ganze Weile und schreit wieder. Dieser Vogel heißt Jusak; er ist ein Bräutigam, der seine Braut verloren hat.
In der Dunkelheit leuchtet plötzlich etwas wie ein glimmendes Streichholz auf. Die Pferde schnauben. Ein Wolf!
Wir schießen auf das Licht, rote Feuergarben fliegen in die Finsternis. Auf unsere Schüsse erhebt sich im Gezelt Hundegebell und großer Lärm.
»Wo sind die Pferde?«
»Hier!«
Wir löschen den brennenden Pferdemist mit dem Rest des Tees. Der Himmel erscheint wieder und bleibt die ganze Nacht. Am Rande der Steppe zeigt sich der Mond wie der Nimbus eines Heiligen. Vor seinem Licht verschwinden die Plejaden, die erschrockene Schafherde, der Wolf, die Mutter, die ihren Jungen verloren hat, und die Hälfte der Vogelstraße. Nur die ganz großen Sterne bleiben zurück.
Wir legen uns auf Filzdecken rechts und links vom Wagen. Unter dem Kissen habe ich meine Lammfellmütze, an den Füßen die Reitstiefel, an der Seite die Flinte, über mir eine zweite warme Filzdecke. Auf Isaks Seite weiden Karat und Kulat, auf meiner Seite der Scheck. Beim geringsten Geräusch muß ich die Filzdecke von mir werfen und den Wolf mit einem Schuß verscheuchen.
Jetzt sehe ich deutlich den Vogel Jusak, den seine Braut beweinenden Bräutigam, seine großen Kreise unter den Sternen ziehen. Bald schreit er direkt über unseren Köpfen, bald entfernt er sich unhörbar, um sich uns dann wieder zu nähern. Er sucht, lockt, schreit und beschreibt dabei immer den gleichen Kreis. So hoffnungslos und traurig seufzt dieser Vogel, hoch über der leeren Erde, doch tief unter den Sternen seine Kreise ziehend.
Karat nähert sich dem Wagen und kratzt sich an ihm den Rücken.
»Tschu, Karat!« schreit ihn Isak an.
Das Pferd kommt auf meine Seite zum Schecken herüber. Jetzt weiden auf meiner Seite zwei Pferde. Am Himmel steigen vier von den sieben Dieben langsam herab; sie wollen in dieser Nacht die beiden Pferde am Eisernen Pfahl, das weiße und das graue, hinterrücks überfallen.
›Warum sind hier die Sterne so groß und so nahe?‹ denke ich, mich in die Filzdecke hüllend. Ich glaube, es kommt daher, daß die Erde unter mir so trocken und so alt ist. Je älter die Erde ist, um so näher scheinen die Sterne. Was könnten sie hier auch fürchten?
»Tschu, Kulat!«
Ich schlage die Decke zurück. Das dritte Pferd kommt auf meine Seite; der Scheck ist inzwischen weit fortgegangen; ich kann ihn im Reihergras, in dem der Reif unzähligen Sternen gleich schimmert, kaum sehen.
Ist der Scheck nicht zu weit weggegangen? Soll ich aufstehen? Es ist zu kalt. Isak schläft.
Ich setze die Lammfellmütze auf, will aufstehen, doch ich hülle mich statt dessen wieder in die Filzdecke, erwärme mich mit meinem Atem und frage mich wieder: ›Ist der Scheck nicht zu weit durch diese Sterne gegangen?‹ Gleich kommt eine gelbe Wolke wilder Pferde, und dann – ade, mein Scheck!
Ich will aufstehen, doch ich kann es nicht.
Der Scheck nähert sich inzwischen der Grenze der Steppe, wo die große Wüste beginnt. Die Erde ist dort graurot. Die Sterne sind ganz herabgestiegen und liegen auf der Erde. Eine gelbe Wolke wilder Pferde rast vorbei. Sie haben den Schecken bemerkt, bleiben stehen, wiehern und rufen: Die Sterne zittern, steigen in die Höhe und lassen sich wieder herabsinken, wie die von einem Boot auf gescheuchten Lichtfunken im Wasser. Der Scheck hat seinen schlanken Hals gekrümmt und schielt mit einem Auge auf seinen beim Wagen liegenden Herrn.
»Ob er schläft? Ja, er schläft!«
Seine Hufeisen blitzen hoch auf.
Wilde Pferde laufen von Oase zu Oase. Wenn zwei sich begegnen, bleiben sie stehen.
»Chabar bar?« fragen die Alten.
»Bar!« antworten die Jungen. »Am Rande der Steppe, ganz nahe der Wüste, schläft der schwarze Araber, sein Scheck mit der Blesse ist aber hier.«
»Dort auf der gewöhnlichen Erde ist er, der Scheck mit der Blesse«, korrigieren die Alten, »hier sei aber Sein Name von nun an in alle Ewigkeit: das braungescheckte Roß mit dem weißen Stern.«
Ramasan, der neunte Monat des Mondjahres, ging zu Ende. An einem heiteren Morgen erschienen vor uns die Steppenberge; sie waren wie große blaue Zelte riesiger Nomaden. Die Steppe wurde wellig, der Weg holprig, und der Wassereimer, der hinten am Wagen hing, klirrte unaufhörlich.
»Hier liegt das Rückgrat der Erde, es ist das Land Arkà«, sagt Isak.
Es ist ein gesegnetes Land! Das Hammelfleisch ist hier fett, und der Kumys berauschend wie Wein; es ist das beste Hirtenland der Welt.
Am Fuße des Berges stehen sieben Zelte; sie sehen aus wie sieben schlafende weiße Vögel, die die Kopfe ins Gefieder gesteckt haben. An einem gemauerten Brunnen sitzt ein Mädchen und schert Schafe.
»Wird uns Dschanas empfangen?« fragen wir sie, wie die Heiden im Lande Kanaan Abraham gefragt haben.
»Er wird euch empfangen ...«
Da kommt der Greis schon selbst aus dem Zelte mit seinen beiden Söhnen. Alle drei tragen Kleider aus dem Felle junger Pferde. Der Alte drückt die Hände ans Herz.
Die Arme sind gesund. Die Beine sind gesund. Die Schafe sind gesund, die Kamele, die Pferde – alles ist gesund bei ihnen und bei uns. Gott sei Dank. Aman!
Die Söhne lüften die Filztür des Zeltes. Der Vater bittet uns unter vielen Verbeugungen, einzutreten. Ein Mädchen mit klirrenden Gehängen läuft zum Brunnen, um die Schafe zu scheren.
Das Innere des Zeltes gleicht dem Innern eines Luftballons; oben gibt es ein Loch, das man auf- und zumachen kann.
Oben ist ein rundes Stück Himmel zu sehen, unten auf der Erde drei schwarzgebrannte Steine mit einem Haken darüber; es ist der Herd. Vor dem Herde, der Eingangstüre, die nach Kaaba zeigt, gegenüber ist der Platz für den Gast vorbereitet; da liegt ein Teppich, und gleich neben dem Teppich wächst Reihergras. Die Wände sind mit Teppichen geschmückt.
Der Hausherr reicht dem Gast Wasser zur Handwaschung. Die Söhne halten ein Handtuch bereit. Der eine blickt den Gast mit durchdringenden frechen Augen an; beim anderen fallen die gelben bloßen Füße auf, die ihm, ich weiß nicht warum, ein gutmütiges Aussehen verleihen, und die wirren Haare. Ich muß an die Bibel denken: Kain war ein Ackersmann und Abel ein Schäfer.
In der Steppe scheint noch die Sonne, und sie blendet meine Augen, sooft die Filztür zurückgeschlagen wird; ich sehe dann noch lange Zeit strahlende violette Abhänge und flammende Pferdeherden an mir vorbeischweben. Alle Verwandten des Hausherrn kommen einer nach dem anderen ins Zelt; sie sehen sich alle auffallend ähnlich. Einer nach dem anderen treten sie ein und lassen sich stumm mit untergeschlagenen Beinen vor dem Herde nieder; mir ist es, als ob jemand aus einem großen alten Buche vorlese: Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob ...
Wenn man genauer hinsieht, sind sie doch nicht alle gleich: der eine ist dick und hat einen kleinen Seehundskopf, beim anderen hängen um die Lippen schwarze Rattenschwänze, beim dritten sind diese Rattenschwänze abgenagt, der vierte ist kleiner als die anderen und hat ein kupferrotes Gesicht.
Sie sitzen alle in einer Reihe vom Bett bis zum Kummet, das an der Wand hängt, schweigen und kauen.
Seit vier Wochen irre ich auf den Nomadenstraßen, und mit mir zieht mein Doppelgänger, der schwarze Araber. Das Lange Ohr hat die Kunde von ihm über die ganze Steppe verbreitet. Er kommt aus Mekka, wohin er aber reist, weiß niemand. Endlich haben sie ihn doch erwischt.
»Wohin reist der Araber?«
Von allen Seiten bohren sich scharfe Steppenaugen in mich. In einem halbgeöffneten Munde schimmert ein weißer, spitzer Zahn, der bereit ist, den Araber aufzubeißen, um nachzuforschen, was in ihm eigentlich steckt. Einer ist ganze nahe an mich herangerückt und starrt mich gespannt an, bis er sich schließlich ermüdet auf ein Kissen fallen läßt und einschläft. Gleich darauf rückt ein anderer heran ...
Ich habe die Luftspiegelungen satt ... »Ich bin gar kein Araber!«
»Jo – o!« ruft der Dicke mit dem Seehundskopf.
» Jo! Allah! Er ist kein Araber!« rufen die anderen.
Alle sperren vor Erstaunen die Mäuler auf.
»Wer ist er dann? Was will er hier?«
»Er will nichts«, erklärt Isak. »Er ist ein Gelehrter und will nichts von der Steppe haben: weder Hartes noch Weiches, weder Bitteres noch Salziges.«
»Jo, Chudai! Ist es vielleicht ein Geist der Vorfahren, ein Aurach?«
»Nein, er ißt Zwieback, trinkt Tee, fragt nach dem Grase, den Hammeln, Sternen und Liedern; er jagt, kocht, ißt nach Kirgisenart mit den Händen, betet nie ...«
»Ein Schaitan!« flüstert der Dicke mit den Rattenschwänzen.
»Er ist auch kein Schaitan«, sucht sie Isak zu überzeugen. »Die Schaitans sind böse, er ist aber ein Gelehrter aus Petersburg und ein guter Mensch ...«
»Hat er vielleicht einen weichen Finger an der rechten Hand?« fragt der Dicke mit den abgenagten Rattenschwänzen.
»Es ist Chydyr, der Heilige, der als Bettler herumirrt; im Daumen der rechten Hand hat er keine Knochen.«
Sie untersuchen meine Hand, betasten den Daumen – der Daumen ist hart. Der Gast ist also kein Araber, kein Aurach, kein Schaitan, kein Heiliger.
Isak erklärt ihnen zwei Stunden lang den Sachverhalt; die Gesichter röten sich, die Augen brennen, doch das Geheimnis des schwarzen Arabers ist noch immer nicht gelöst. Alle schnalzen mit den Zungen.
»Dschok! Nein, es ist unverständlich.«
Immer neue und neue Menschen kommen ins Zelt. Sie setzen sich an den Herd, schauen, fragen, schnalzen mit den Zungen und sagen:
»Dschok! Nein, es ist unverständlich.«
Die Filzwand des Zeltes schwankt ganz leise: jemand bohrt von außen ein Loch hinein, und bald darauf funkelt in der Öffnung ein schwarzes Schlitzauge. Wenn ich hinschaue, verschwindet es, und wenn ich mich abwende, erscheint es wieder. Als es sich satt gesehen, verschwindet es, und die Öffnung erstrahlt wie ein Stern. Dieses Auge sieht jetzt wohl auf viele andere ebenso schwarze Schlitzaugen. Draußen haben sich alle Frauen versammelt; sie tuscheln, und der Araber verwandelt sich wie ein Werwolf aus einem winzigen Dschini in einen riesengroßen Albasty. Wer weiß? Vielleicht wird das Geheimnis des schwarzen Arabers die Umarmungen eines im nahen Gesträuche lagernden Liebespaares lösen und die reinen Gedanken eines unfruchtbaren Weibes, das bereit ist, zum heiligen Berge zu pilgern, trüben?
Alles fand aber eine höchst einfache Lösung.
Jemand fragte:
»Hat der Gast einen Vater?«
Alle freuten sich über diese so einfache Frage und rückten näher.
»Er hat einen Vater.«
»Und eine Mutter?«
»Er hat auch eine Mutter, Brüder, Schwestern, einen Großvater und eine Großmutter; alles wie bei euch in der Steppe und wie in den heiligen Büchern: Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob.«
»Sind sie alle am Leben?«
»Alle sind am Leben und wohnen in Petersburg.«
»Jo!« freut sich der Alte, der wie Abraham aussieht. »Wie viele Häuser gibt es in Petersburg?«
»Tausende!«
»Oh!« kam es freudig aus jedem offenen Munde.
»Gibt es in Petersburg Hammel?« fragte Abraham.
»Ja, es gibt welche, doch haben sie dort keine Fettschwänze.«
»Was denn?«
»Schwänzchen, wie die Ziegen.«
Wie ein Funken flog das Lächeln von den Lippen meines Dolmetschers in die Tiefe der offenen Münder mit den spitzen weißen Zähnen. Die Pulvervorräte in den weiten Kaftanen kamen zur Explosion, Unser Luftballon drohte zu platzen. So lacht man in der Steppe.
Der Schlafende sprang von seinem Kissen auf, rieb sich die Augen und fragte, was geschehen sei.
Man antwortet ihm:
»In Petersburg haben die Hammel keine Fettschwänze, sondern kleine Schwänzchen.«
Er fällt wieder auf das Kissen, wie vom Schlag getroffen. Der Kleine mit dem kupferroten Gesicht, der Dicke mit dem Rattenschwänzchen, der andere Dicke, der mit dem Seehundskopf, der mit dem geteilten Bart, Abraham und selbst Isak fallen auf den Rücken, erheben sich wieder, schauen auf den Gast, legen sich wieder hin und lassen ihre Bäuche unter den Kaftanen erzittern. Wer es noch kann, rückt näher heran und streichelt den gutmütigen Araber, der früher so geheimnisvoll und schrecklich schien.
Hinter der dünnen Wand klirren in Frauenzöpfen Münzen. Die Liebespaare im Gesträuch haben nichts mehr zu fürchten. Die Seelen der unfruchtbaren Weiber in den heiligen Bergen bleiben ungetrübt. Dieser schwarze Araber ist gar nicht schrecklich; es ist, als ob er hier immer seit vielen Tausenden von Jahren gelebt hätte.
Ein alter Ziegenbock steckte seinen bärtigen Kopf in die schmale Zeltöffnung.
»Wünscht der Gast einen Bock oder einen Hammel?« fragt der Hausherr.
»Der Gast wünscht einen Hammel«, antwortet Isak.
»Einen alten oder einen jungen?«
»Der Gast wünscht einen jungen.«
Der Alte bittet um Entschuldigung: im Sommer hätte es zuwenig geregnet und die jungen Hammel seien zu trocken; er wird aber versuchen, einen herauszufinden.
Man stellt auf die drei Steine des Herdes einen großen schwarzen eisernen Kessel, gießt in ihn mehrere Eimer Wasser, häuft darunter Pferdemist und macht Feuer. Man rüstet sich zum Festmahl.
Ein Hirte mit schwarzen bloßen Füßen, der die ganze Zeit über auf dem Bette lag, singt ein Lied von einem krummnasigen Hammel, von einem Gast, von einem Tal, auf dem fünf Pappeln standen, von denen vier eintrockneten und eine zurückblieb.
Der Hausherr kommt mit einem Hammel zurück und bittet die Gäste, den Segen zu sprechen.
Isak glättet sich mit beiden Händen den Bart, macht ein, andächtiges Gesicht, flüstert etwas, und der Hammel ist gesegnet.
Der Hirtenjunge auf dem Bette singt noch immer das Lied vom krummnasigen Hammel; er schlenkert mit den Beinen, klimpert auf einer Maultrommel und dichtet mühelos immer neue Verse hinzu.
Der Kleine mit dem kupferrotem Gesicht wetzt das Messer, Ein altes Weib legt neue Haufen Pferdemist ins Feuer. Unten leuchtet zwischen den Steinen ein helles Feuer, oben ist der heitere Abendhimmel zu sehen.
Der Hammel wurde gefesselt. Seinen Kopf ließ man in eine Kupferschüssel herabhängen: Blut ist Leben, und kein Tropfen davon darf auf die Erde fallen. Das Blut floß in die Schüssel, als ob man den Hahn eines Samowars aufgedreht hätte. Der Himmel in der runden Öffnung wurde immer dunkler. Der Junge auf dem Bette sang sein Lied. Vor der offenen Tür stand der bärtige Ziegenbock, vom Schein des Herdfeuers übergossen. Am Himmel erschienen die ersten Sterne.
Der Dicke mit dem Seehundskopf schnitt aus der Brust des Hammels ein viereckiges Stück, um es mit dem Fell im Feuer zu rösten. Während er aber den Spieß vorbereitete, begann das Fleisch, in dem sich wohl noch die Sehnen zusammenzogen, etwas zu zucken.
Isak machte seinen Nachbar darauf aufmerksam; dieser zeigte es wieder seinem Nachbar, und bald flüsterten alle: »Das Fleisch bewegt sich.« Man begann zu streiten: »Ob man solches Fleisch essen dürfe?« Man gedächte eines ähnlichen Falles, wo sich das Fleisch eines von einem Wolf entrissenen und später geschlachteten Lammes gleichfalls bewegte, Dann hatte der Mollah den Genuß des Fleisches erlaubt; folglich durfte man auch jetzt das Fleisch genießen. Der Dicke steckte das Fleisch am Spieß ins Fetter und sagte:
»Jetzt wird es nicht mehr springen.«
Der Kupferrote schnitt dem Hammel den Kopf ab und reichte ihn der alten Frau. Diese steckte den Kopf an einem langen Spieß ins Feuer, um das Fell abzusengen. Als der Kopf ganz schwarz geworden war, begoß man ihn mit Wasser; die Frau rieb die Knochen im Wasserstrahl ab, ihre Finger knirschten, und der Kopf wurde allmählich weiß und blank.
Der Kupferrote zerschnitt den Hammel und nahm ihn ans. Die Hunde witterten Fleisch und steckten die Köpfe ins Zelt. Man gab ihnen die Schüssel mit Blut.
In der Türe erschienen mehrere Frauenhände; man gab ihnen die Eingeweide. Eine Hand bekam die Lunge.
Endlich warf man den roten Rumpf und den weißen Kopf in den schwarzen Kessel. Blut, Feuer und Wasser vermengten sich, Dampf und Rauch stiegen in die Höhe und verdeckten die ruhigen Sterne.
Als der Hammel gar war, stellte man vor den Teppich einen niederen runden Tisch, und alle rückten näher heran. Man holte den Kopf aus dem Kessel und gab das beste Stück – das Ohr – dem Gast. Man brach den Schädel auf, tat das Hirn in eine besondere Schale, gab Schnittlauch dazu, goß Brühe ans dem Kessel darüber und begann zu essen. Ein jeder holte sich seine Portion mit der Hand aus der Schale und verspeiste sie mit großem Appetit; die fettigen Hände rieb man an den Sätteln, Zaumzeug und Peitschen ab. Als man mit dem Hirn fertig war, nahm man den Hammel vor.
Auf der Schüssel lag ein großer Berg von Fleisch. Die beiden mit den Rattenschwänzen auf der Lippe zerteilten es und sonderten das Fleisch von den Knochen.
Die anderen nahmen die Stücke mit den Händen, tauchten sie in Salzwasser und verschlangen sie, ohne zu kauen. Sie hatten es sehr eilig. Die Zähne funkelten. Die Knochen wurden weiß. Der Berg schmolz zusammen. Die Hunde steckten wieder die Köpfe ins Zelt.
Im Freien leuchtete aber mit den letzten Kräften der abnehmende neunte Mond des Mondjahres. In der Steppe schimmerte Reif. Die Schafe scharten sich vor Kälte zusammen, schmiegten sich mit den Köpfen und Rücken aneinander und rückten als feste Masse zu den finsteren Zelten der Menschen heran. In irgendeiner Schlucht brannten wohl bereits die roten Augen von Wölfen, und auf den Hügeln schimmerten ihre silbergrauen Rücken. Doch die guten Hirten bewachen ihre Schafe; eine Braut singt, um nicht einzuschlafen, die ganze Nacht hindurch.
Oben rollen durchsichtige Mondlichtwellen. Im roten Schein eines Herdfeuers verspeisen die Hirten ein Schäfchen. Das Fleisch haben sie schon längst verzehrt; nun bearbeiten sie die weißen Knochen, zermalmen sie und holen das Mark heraus. Die letzten Reste und Abfälle, alles, was in der Eile aufs schmutzige Tischtuch gefallen war, sammelt der Hausherr mit den Händen auf und gibt es den ganz Armen. Nichts geht verloren: selbst die abgenagten und zermalmten Knochen werden in das schmutzige Tischtuch gewickelt, und eine Frau trägt sie fort, um sie noch einer letzten gründlichen Bearbeitung zu unterziehen. Nachdem die letzten Reste verzehrt sind, gehen alle in ihre Zelte.
Wir Gäste richten uns unser Nachtlager im Zelte ein und löschen die letzte Feuerglut zwischen den schwarzgebrannten Steinen. Durch das Loch in der Decke des Zeltes strömt Mondlicht herein; einige noch liegengebliebene Knochen und der Schädel neben dem Kessel schimmern weiß. Wir legen uns auf der gleichen Stelle nieder, wo wir erst eben gegessen haben. Isak zieht am Strick. Die obere Öffnung schließt sich, und unser einem Luftballon gleichendes Zelt scheint weit über die Steppe davonzufliegen. Die Braut singt noch lange Zeit bei den schlafenden Herden und schläft schließlich ein; die Wölfe kommen aber aus ihren Felsspalten ins Tal, schleichen immer näher, ihre wie Silber schimmernden Rücken und brennenden Augen hinter den Hügeln verbergend. Sie kommen hüpfend bis ans Gesträuch, das dicht vor den Zelten liegt.
Das ganze Tal wurde plötzlich wie mit einem langen straffgespannten Seil entzweigeschnitten: so schrien die Leute im Gezelt auf. Doch durch das Bellen der Hunde, den Lärm und das Geschrei der Menschen hindurch hörte man noch das leise jämmerliche Winseln des vom Wolf geraubten Lammes in der Ferne verhallen.
Dieses verhallende Winseln war kein Traum. Isak schlug die Tür auf und sah hinaus. Über die Gipfel der fernen Hügel fliegt ein silbernes Pünktchen, der Wolf; ihm folgen auf den Fersen mehrere schwarze Punkte: es sind die Hunde. Alle Leute sind auf den Beinen
Der Kupferrote sitzt mit einer Flinte in der Hand auf seinem Pferd. Man zeigt ihm mit der Hand die Richtung. Er nickt und verspricht dem Hausherrn, an den Wölfen Rache zu nehmen.
»Wieviel haben die Wölfe geraubt?« frage ich Isak,
»Drei«, antwortet er im Einschlafen, »drei junge haben sie geraubt, und bei sechs alten die Fettschwänze abgerissen.«
Das Mädchen wird von den Weibern ordentlich ausgezankt. Als sich alle wieder hingelegt haben, erklingt wieder ihr Lied über den schlafenden Herden. Ihr Lied klingt wie das Rieseln einer Bergquelle, die im Mondlicht von Fels zu Fels plätschert. Die Herden kauen und atmen, und es klingt, als ob Tausende von Menschen mit den Füßen im Sande schlürften. Jetzt wird kein Wolf mehr kommen. Doch wer weiß? Vielleicht kommt noch in dieser Nacht ein neuer Gast, und die Hirten werden für ihn wieder ein Lamm aus der Herde schleppen und es im roten Feuerschein abschlachten. Und so wird die Gottheit, die die Herden beschirmt, ein neues Opfer bekommen.
Ruhig schlafen die Herden vor den Zelten der Menschen. Die grünen, durchsichtigen Lichtwellen des neunten Mondes rollen, ohne die Sterne zu verdecken, zu den Tönen des Liedes, das die Braut bei den Herden singt, den Himmel entlang.
So war es von Anbeginn im Tal der Bunten Schlange.
Als wir am nächsten Morgen erwachten, saß der Kupferrote bereits vor dem Herdfeuer und erzählte von seiner schrecklichen Rache. Er hat sechs Wölfe getötet und einen in einer Höhle lebendig gefangen.
Den gefangenen Wolf hat er gefesselt, ihm das Fell abgezogen und ihn schließlich ohne Fell laufen lassen.
»Ist der geschundene Wolf auch wirklich fortgelaufen?« fragte ich erstaunt.
»Ja«, erwiderte ruhig der Kupferrote: »Ein geschundener Wolf kann aber nicht weit laufen.«
Er berichtete uns von seiner nächtlichen Jagd.
Er entdeckte beim Mondlicht in den Bergen sieben frische Spuren. Er stieg vom Pferd und verfolgte die Spuren. In der Nähe des Berges, wo man Königsadler fängt, bemerkte er einen Wolf, der sich bald versteckte und sich bald wieder zeigte. Dieser Wolf stand Wache, die anderen sechs satten Wölfe schliefen. Der Jäger bestieg den Berg von der anderen Seite, versteckte sich hinter einem Stein und sah hinab. Ein großer Wolf schlief wie tot. Er schoß, der Wolf bewegte den Schwanz und blieb liegen. Drei andere Wölfe erhoben sich und gingen auf die Seite. Er pfiff, und sie blieben stehen. Der eine setzte sich und begann zu heulen, der zweite heulte, der dritte heulte; die drei anderen Wölfe hörten es, kamen zum Toten und begannen gleichfalls zu heulen. Auch der Jäger stimmte in dieses Geheul ein. Er heulte und schoß, sich hinter den Steinen verbergend und ab und zu den Platz wechselnd; er heulte und schoß. Der letzte Wolf, den er nur leicht verletzte, fiel in eine Felsspalte. Dort fing ihn der Jäger, zog ihm das Fell ab und ließ ihn so laufen. Der schwarze geschundene Wolf lief im Mondschein noch etwa drei Werst weit.
So nahm der Kupferrote im Tal der Bunten Schlange Rache an den Wölfen.
»Jo – jo!« riefen alle voller Bewunderung.
»Dschjaksy, Mergen!« (Gut, Schütze!) rief man ihm zu,
Beim Gedanken an den im Mondschein laufenden geschundenen Wolf brachen sie in schallendes Gelächter aus.
Isak zog am Strick. Das obere Loch öffnete sich, ein Sonnenstrahl drang herein und beleuchtete das Innere des Zeltes.
Wir rüsteten uns zur Abreise; auch die Kirgisen trugen ihre Zelte ab, um ihren Lagerplatz zu verändern. Während wir packten, wurden alle Zelte abgetragen. Wir fuhren weiter in die Gegend, wo sie im Sommer gelegen hatten, und sie kehrten ins Winterquartier zurück. An der Stelle des letzten Lagers blieben nur einige schwarzgebrannte Steine und weiße Schädel zurück.
Die Nomaden waren in die Winterquartiere gezogen, die Brunnen waren ausgetrocknet, doch wir zogen weiter auf die Sommerweideplätze, zum Vater vieler Hirten, dem weisesten Bai Kuldscha, den man den Zaren der Steppe heißt.
Bald lag vor unseren Blicken ein Süßwassersee. Dann zeigte sich ein Tal voll brauner Pferde. Hier begannen die Zelte der Verwandten Kuldschas, seiner Pferdehirten und Steppendiebe, Barantatschi, durch die er die Bösen einzuschüchtern pflegt. Der weiseste Richter der Hirten konnte stets einen Ungehorsamen bestrafen, indem er seine Herden forttreiben ließ.
Das Lange Ohr hatte schon längst die Kunde vom sonderbaren Reiter auf dem Schecken hergebracht, der den Zaren der Steppe besuchen wollte. Der Herr über achttausend Steppenpferde sandte sechzehn junge Reiter auf den schönsten Trabern aller Farben aus, um dem ausländischen Gast und seinen Begleitern entgegenzureiten. An der Spitze ritten der Dichter, der Sänger, der Musiker und der Lehrer; ihnen folgten die jungen Burschen in Mützen aus Fuchsfell und aus Lammfell, auf silberverzierten Sätteln.
Sie geleiteten uns zum Gehöft Kuldschas, das aus vielen, wie Möwen weißen Zelten bestand. Der älteste Askakal mit schneeweißem Haar kam uns entgegen, drückte die Rechte ans Herz und lüftete die Filztür des Hauptzeltes.
Das Zelt war geräumig wie ein Saal. Die kostbaren Teppiche und Kaftane waren bereits in eisenbeschlagene Koffer verpackt: alles war für den Umzug vom Sommerweideplatz ins Winterquartier gerüstet. Kuldscha verbrachte hier seine letzten Tage und vertrieb sich die Zeit mit Adler- und Falkenjagd.
Als wir eintraten, saß er auf einem Teppich der Tür gegenüber und schrieb etwas, den Schaft seines Stiefels als Pult benützend. Ein goldgesticktes Samtkäppchen verdeckte nur wenig das runde Melonengesicht des Vaters der Hirten. Die kleinen, anscheinend verschlafenen, doch höchst scharfsichtigen Augen verschwanden beinahe auf der großen, gelben Fläche; ein weiter Kaftan bedeckte das Behältnis vieler Eimer Kumys: so hatte die Steppe ihren Zaren geformt.
Hinter seinem Rücken thronte unbeweglich wie eine chinesische Göttin seine ältere Frau, die Baibitscha. Zu ihrer linken Hand stand eine Schüssel mit zwei großen Stücken Butter, zur rechten saßen drei bronzene Knaben, die Söhne Kuldschas; ganz vorn stand aber der Stolz der älteren Frau des Steppenzaren – eine Singersche Nähmaschine.
Wir traten ein und drückten die Hände ans Herz. Auch Kuldscha drückte seine Hand an sein Zarenherz und fragte uns nach dem Befinden unserer Arme und Beine. Wir antworteten mit der gleichen Frage. Nachdem wir Platz genommen, fragten wir ihn:
»Hat der Vater der Hirten schon etwas von uns, die wir seit einem Monat durch die Steppe zu ihm reisen, gehört?«
»Eh!« bejahte Kuldscha und nickte.
»Vom Langen Ohr?« fragten wir.
»Das Wort wird in der Steppe vom Langen Ohr weitergetragen«, antwortete der Zar der Steppe. »Das Wort ist ein großes Ding, doch zuweilen gereicht es dem Geschlecht Adams zum Verderben. Jetzt hat es uns zum Beispiel die Kunde von einem guten Gaste gebracht, und wir freuen uns: kaum ist so ein guter Gast mit guten Wünschen angelangt, als schon irgendein Schaf in meinen Herden Zwillinge wirft. Zuweilen bringt aber das Lange Ohr auch die Kunde von einem bösen Gast: dann schleppt der Wolf das letzte Schaf fort.«
»Eh!« stimmten ihm der Dichter, der Sänger, der Musiker und der Lehrer zu.
»Was hat die Gäste in unser Land geführt?« fragte Kuldscha.
»Wir wollten ein Land sehen«, antworteten wir, »wo die Leute noch heute so leben, wie in der Tiefe der Vergangenheit alle Menschen gelebt haben.«
»Die Vertiefungen und die Gräben eines Landes«, sagte der Zar der Hirten, »bestehen nur für den, der noch wenig sah und wenig weiß; in der Tat ist aber an ihnen nichts Besonderes. Doch in diesem Falle hat der Gast recht: das Rückgrat der Erde, das Land Arkà ist in der Tat das beste aller Länder. Der Gast hat sich nicht geirrt. Der Gast kann hier manches sehen.«
Der Zar der Steppe winkte dem Dichter. Dieser schlug die Tür auf, und wir traten hinaus, um uns das glückliche Hirtenland Arkà anzusehen.
Es dunkelte. Die Herden sammelten sich – es ist die beste Stunde in der Steppe. In der Ferne rast ein verwildertes Pferd, das man einfangen will, von Hügel zu Hügel. Die Kamelstuten schreiten würdevoll einher, sich nach ihren Füllen umsehend. Die Böcke kommen zuerst, die Hammel zuletzt. Von allen Seiten strömen die Pferdeherden herbei. Gegen Abend lebt die Steppe ihr Liebesleben: alles sammelt sich.
»Das sind meine Pferdeherden«, sagte der Hausherr und zeigte in die eine Richtung, dann in die zweite, in die dritte und in die vierte.
Von keinerlei Gräben oder Mauern eingefaßt, zogen sich in alle Himmelsrichtungen die Besitzungen des Stammvaters: im Tal standen die weißen Zelte seines Onkels, seines Bruders und noch eines anderen Bruders. Hinter dem Hügel wohnte sein Schwager. Hinter dem Berge wohnte ein anderer Schwager, und zahllose arme Leute nisteten neben den reichen. In dieser Stunde sammelten sich auch dort die Herden. Das ganze Leben der Steppe kam zusammen.
Den Herden entgegen traten aus den Zelten Frauen mit weißen Kopftüchern, mit Eimern in der Hand.
»Dies ist das Zelt meiner Mutter«, sagte der Hausherr, auf ein großes weißes Zelt zeigend, »dies ist das Zelt meiner älteren Frau, dies – der jüngeren Frau, dies – der Frau, die ich von meinem verstorbenen Bruder geerbt habe.«
Die Zelte standen im Kreise und schienen zu warten, daß der Raum zwischen ihnen sich mit Herden fülle.
Die einen Lämmer und Zicklein wurden losgebunden, die anderen angebunden. Die Lämmer, die während des ganzen Tages von ihren Müttern getrennt waren, begrüßten sie freudig und streckten ihre Schnauzen nach den Eutern aus. Die Jungen der Melkziegen und der Melkschafe wurden Kopf an Kopf an einen langen Strick gebunden. Die Frauen begaben sich mit Melkeimern zu den Herden. Die Männer molken die Stuten, indem sie ihre Hinterbeine vorsichtig mit den Händen festhielten. Ein Mädchen kämpfte mit einer Ziege; ein Junge ritt auf zwei Hammeln; auf einem Pferde ritten drei kleine Bronzegötter. Überall floß Milch. Es roch nach scharfem Schafkäse. Die Schreie der Lämmer und Zicken übertönten alle Stimmen.
Der Zar der Steppe freute sich, dem Gast seinen ganzen Reichtum zeigen zu können. Er begab sich selbst zu den Herden, wo die Frauen die Ziegen und die Hirten die Stuten und die Kamelinnen molken, die sie mit Hilfe der Füllen anschwindelten. Als er die Mitte des Kreises, erreichte, setzte er sich rittlings auf einen großen Hammel und begann ihm an der Stirne ein Zeichen auszuzupfen.
In den benachbarten Gezelten witterte man den Gast und das ihm zu Ehren gerüstete Mahl. Zuerst kamen zwei Mollahs mit weißen Turbanen; sie setzten sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Erde und ließen den Hausherrn, der, von den roten schrägen Strahlen der untergehenden Sonne übergossen, auf dem Hammel saß, nicht aus den Augen. Dann kam Kuldschas Onkel, der Bij (Volksrichter), eine riesengroße Fleischmasse, die vor Fett ganz schief im Sattel saß. Mit ihm kam sein Sohn Auspan mit einem Jagdfalken und einem Uhu auf der Hand; ein schöner Jüngling mit Adlernase, der selbst einem Königsadler glich. Es kam der ältere Onkel Kuldschas auf einem weißen kabardinischen Pferd mit drei Begleitern auf schwarzen Pferden. Aus dem Tal der Bunten Schlange kam Dschanas, der dem Erzvater Abraham ähnlich sah, mit seinen Söhnen, die Kain und Abel glichen. Mit ihnen kamen der Dickbäuchige mit dem Seehundskopf, der andere Dickbäuchige mit den Rattenschwänzen und der dritte Dickbäuchige mit den abgenagten Rattenschwänzen. Im Sattel leicht vornübergebeugt, zu zweit, zu dritt, zu viert in einer Reihe kamen von allen Seiten der Steppe auf schwarzen, weißen, getigerten, isabellfarbenen, braunen, gelblichen und noch vielen anderen Pferden Reiter in weiten Kaftanen, schlanke Bergbewohner und dickbäuchige Bewohner der Täler. Aus den nächsten Gezelten kamen zu Fuß alte Männer, die sich im Kreise vor den Zelten Kuldschas niederließen. In der Ferne wurden bereits Pferde geschlachtet, in den Zelten rauchten die Herdfeuer, und man hörte die Knechte den Kumys schlagen.
Der schöne Auspan schenkte dem Kuldscha den Uhu, den er soeben auf der Jagd gefangen. Die Schönen des Dorfes pflegen mit den kostbaren Federn des Uhus ihre roten Käppchen zu schmücken; den gerupften Vogel töten sie aber nicht, sondern lassen ihn laufen. Zuweilen rennt so ein Vogel, ein Opfer der Eitelkeit, nackt durch die Steppe, unheimlicher anzusehen als das schwarze, im Winde rollende Büschelkraut.
Kuldscha dankte Auspan für den Vogel und ließ diesen ins Zelt seiner jüngeren Frau bringen. Die Sonne war untergegangen, die ersten Sterne standen bereits am Himmel. Der Hausherr zeigte auf das Zelt seiner älteren Frau und sagte:
»Es ist Zeit, den Mund zu öffnen!«
Zuerst neigten sich vor der Tür die weißen Turbane der beiden Mollahs, ihnen folgten die grüne Lammfellmütze, die große Fuchsfellmütze des Volksrichters und die übrigen. Zuletzt kamen der Dichter, der Sänger, der Musiker und der Lehrer.
Die beiden Mollahs setzten sich der Tür, die nach Kaaba zeigte, gegenüber; rechts von ihnen bis zum schlafenden Adler nahmen alle anderen Gäste im Halbkreis Platz. Der Hausherr, seine Frau und seine Kinder saßen zur linken Hand. Als alle Platz genommen hatten, hörte man, wie die Diener mit großem Eifer den Kumys in den Schläuchen schlugen. Auf den niederen Tisch stellte man eine Zuckerdose, und um sie herum ordnete man Haufen von kleinen Brotkugeln (Baursaks), weißen und roten Lebkuchen und Moskauer Karamels; auch zwei große Stücke Butter wurden aufgetischt. In den riesengroßen schwarzen Kessel tat man den roten Rumpf des geschlachteten Pferdes.
Oben sah man noch den rötlichen Himmel, und daher wagte niemand von den Rechtgläubigen, einen der Leckerbissen zu sich zu nehmen oder die Schale mit Kumys mit den Lippen zu berühren: denn während der großen Urasa (Fasten) des Ramasan darf der Muselmann nur nachts Speise zu sich nehmen.
Für seine andersgläubigen Gäste zeigte aber der Hausherr auf die Butter.
Wie soll man sie aber ohne Messer und Gabel essen? Vielleicht gelingt es mit Hilfe einer Brotkugel?
Es gelang mir aber nicht: die trockene Kugel fiel auseinander. Kuldscha lächelte, nahm ein Stück Butter in die Hand, zeigte seine weißen Zähne und sagte:
»Beißt zu!«
Allmählich wurde es dunkel. Der Hausherr nahm eine große Schüssel mit Kumys auf die Knie, rührte mit einem geschnitzten Holzlöffel um und schenkte, den Gästen ein.
Die Münder öffneten sich, und die heilkräftige Flüssigkeit floß in Strömen, unter den Kaftanen Behagen und Seligkeit verbreitend.
»Was können die gelehrten Gäste den Hirten Neues von anderen Ländern, die sie gesehen, berichten?« fragte der Volksrichter.
»Neulich sahen wir«, antworteten wir, »ein Land, wo im Sommer die Sonne nie untergeht und es keine Nächte gibt.«
»Wie fasten denn dort die Muselmänner?« fragte streng einer der beiden Mollahs. »Der Gast hat sich geirrt, ein solches Land gibt es nicht.«
Viele lachten über den Gast, der den Hirten dergleichen Fabeln auftischte. Der Hausherr trat für den Gast ein und sagte:
»Es gibt ein solches Land!«
Der Mollah sprang auf. Viele vergaßen, den Kumys und sprangen gleichfalls von ihren Plätzen. Es entstand ein Streit, und das letzte Wort, das wir in diesem Lärm hörten und verstanden, war das Wort »Scheregat«.
Als sich der Lärm gelegt hatte, erklärte uns der Lehrer, worüber sich die Muselmänner so aufgeregt hatten.
Kuldscha hatte etwas von der Geographie gehört, er glaubte an sie und behauptete, unter Hinweis auf die weltliche Wissenschaft: »Es gibt ein Land der nie untergehenden Sonne.« Der Mollah wandte dagegen immer wieder ein: »Ein solches Land kann es nicht geben, denn dort könnten Muselmänner nicht fasten.« Kuldscha wiederholte so oft das Wort »Geographie«, bis der Mollah schließlich auf das Scheregat hinwies, das sich doch unmöglich irren könne. Darauf sagte der erzürnte Steppenzar: »Das Scheregat ist im Unrecht!«
Bei diesen Worten sprangen alle auf und schrien so lange, bis der andere weiße Mollah beide Teile mit der einfachen Erklärung aussöhnte: »Es gibt ein Land der nie untergehenden Sonne, doch es gibt dort keine Muselmänner.«
Alle beruhigten sich und ließen sich vom Steppenzaren Kumys in ihre Schalen einschenken.
Die berauschende saure Stutenmilch strömte und erhitzte die Herzen. Sie würde noch lange fließen, wenn Auspan nicht plötzlich aufgesprungen und mit der Flinte in der Hand aus dem Zelte gestürzt wäre.
Alle hörten Pferdegetrabe und dachten sich: eine erschrockene Pferdeherde flieht vor einem Wolf.
Man hörte aber keinen Schuß. Auspan kam mit einem neuen Gast zurück. Es war ein reitender Bote vom Langen Ohr. Er war im Sattel eingeschlafen, während es dunkelte. Als er erwachte, sah er weder die Straße noch Berge oder Zelte, sondern nichts als Sterne und die Augen von Wölfen. Der Reiter folgte den Sternen und kam so zu Kuldschas Zelten.
»Amamba, amamba!« sagte immer der Verirrte, sich die Hände am Feuer wärmend.
»Aman!« sagte man ihm. Man fragte ihn: »Gibt es Neuigkeiten, chabar bar?«
»Bar!« erwiderte der Verirrte. »Im Tal der Verlorenen Axt wurde ein verlobtes Mädchen, Nur-Dschemelja mit Namen, geraubt. Der Bräutigam forderte die Rückzahlung des Brautgeldes. Der Brautvater schlug es ihm ab. Der Bräutigam raubte ihm dann einige Pferde. Jetzt sitzt er an einem Bach und verzehrt eines der gestohlenen Pferde.«
»Wer hat die Braut geraubt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Gast, »die Steppe ist weit!«
»Die Steppe ist weit«, wiederholte der Steppenzar und fragte: »Gibt es sonst etwas Neues?«
»Ich sah eine weiße Dohle«, erwiderte der Gast.
»Eine weiße? Mollah, gibt es weiße Dohlen?«
»Es gibt welche«, antwortete der Mollah.
»Jo!« staunten alle.
»Noch sah der Reiter des Langen Ohres vor Sonnenuntergang eine gelbhaarige und gelbäugige Albasty vorbeireiten.«
»Das ist möglich!« sagten die Zecher.
»Noch sah er nach Sonnenuntergang einen Ziegenbock eine Lunge davontragen.«
»Auch das kommt vor!« sagten die Männer in den weiten Kaftanen.
»Noch sah er beim Anbruch der Nacht einen schwarzen Hasen.«
»Einen schwarzen! Mollah, gibt es schwarze Hasen?«
»Jo!« staunte der Mollah, schnalzte mit der Zunge und sagte nichts.
»Man sagt auch, daß die Menschen jetzt anfangen, wie Vögel zu fliegen.«
»Jo-o!«
»Man sagt auch, daß die Menschen jenen Punkt der Erde, über dem der unbewegliche Stern Temir-Kasyk steht, erreicht haben und daß dort eine ewige Finsternis ist.«
»Mollah, gibt es ein solches Land?«
»Ja, es gibt das«, antwortete der Mollah, »die Muselmänner können dort gut und lange fasten.«
»Was gibt es sonst Neues in der Steppe?« fragten die Zecher den Gast.
»Was es noch Neues gibt?« erwiderte der Gast. »Seit zwei Monaten läuft von Reiter zu Reiter und von Gezelt zu Gezelt das Gerücht, daß durch die Steppe ein schwarzer Araber reitet, der sich bald als Heiliger und bald als Teufel verstellt und nichts von der Steppe nimmt, weder Hartes noch Weiches, weder Bitteres noch Salziges.«
»Er ist hier!« sägten die Zecher dem Gast, der vor Schreck weit den Mund aufriß.
Nein, sagte ich mir, hier gibt es keinen schwarzen Araber mehr. Am Herdfeuer sitzt ein gewöhnlicher Kirgise in einem weiten Kaftan, mit einer grünverbrämten Lammfellmütze auf dem Kopf; alle kennen ihn, und er ist so wie alle. Der andere reitet aber noch immer in die wirkliche Wüste zu den niederen Sternen, wo die wilden Pferde von Oase zu Oase laufen. Jener andere ist der echte Araber.
Der Zar der Steppe zecht die ganze Nacht hindurch im Zelte seiner älteren Frau. Achttausend ewig Kauende trennen dieses Zelt vom Zelte der jüngeren Frau. Am Himmel steht das letzte Viertel des neunten Mondes. Morgen werden die letzten Zelte vom Sommerweideplatz abgetragen werden. Schnee wird die Steppe verwehen, und nichts wird zurückbleiben.
Die jüngere Frau, Tochter eines edlen Chadscha, sitzt vor ihrem Herdfeuer, färbt sich nach Mädchenart die Fingernägel rot und flicht ihre Haare wie ein Mädchen in zwölf Zöpfe. Sie rupft den lebendigen Uhu und schmückt ihr rotes Käppchen mit den kostbaren Federn des weisen Vogels. Und ihre Zöpfe fallen wie zwölf schwarze Schlangen unter den Federn hervor auf den braunen Hals.
Alle achttausend Stück Vieh schlafen. Selbst der älteste Ziegenbock, Serke, hat die Knie gebeugt. Ein junges Schaf steht auf, kratzt sich mit der Pfote und legt sich wieder hin.
Die als Mädchen verkleidete Frau schleicht, die klingenden Gehänge mit der Hand festhaltend, ins Gesträuch und flüstert:
»Bist du es, mein kleiner Kupferkrug?«
»Ich bin es, du meine Holzschale mit den feinen Lippen«, antwortet der Kupferkrug. »Ich bin es. Ist deine Zunge gesund?«
»Die Zunge ist gesund, doch das Herz tut mir weh!«
»Tut das Herz dir weh, so iß einen Apfel vom Markte.«
Schwarze Schlangen fallen auf das gelbe Gesicht. Gelber Mond. Gelber Apfel. Gelbe Wangen des Geliebten. »Gelb, gelb, sehr gelb sah ich dich nachts im Traume.«
»Auch ich sah dich gelb, doch dein Haar ist schwärzer als die Tinte des Mollah.«
»Auch dein Haar, Geliebter!«
»Deine Augen sind dunkler als ein verkohlter Holzstumpf!«
»Auch deine Augen!«
»Deine Wangen sind röter als das Blut eines geschlachteten Hammels. Deine Brüste sind wie frische Butter. Deine Augen sind wie die Sichel des neuen Mondes.«
»Schwöre mir«, bittet sie, »wende dich dem Monde zu und biege den Nagel deines Daumens zurück.«
Er wendet sich zum Monde.
In der Ferne aber reitet der schwarze Araber auf seinem Schecken in die Wüste.
Am nächsten Morgen kam ein junger getigerter Ziegenbock zu den Gästen ins Zelt und weckte sie, indem er ihnen das Gesicht leckte. Der Steppenzar hatte bereits Befehl zum Aufbruch gegeben.
Die Kamele lagen vor den Zelten. Die Frauen nahmen die Filze von den Zeltstangen und legten sie den Kamelen um die Höcker. Die Männer rissen die krummen Stangen aus dem Boden und legten sie gleichfalls auf die Höcker. So verschwanden die weißen Zelte eines nach dem anderen wie ein Traum; die Zelte des Steppenzaren, seiner Mutter, seiner älteren Frau und manche andere. Als man das Zelt der jüngeren Frau abtrug, sprang ein nackter, vollkommen gerupfter Uhu heraus und lief in die Steppe.
Die Karawane zog in der gleichen Richtung.
Es läuft der gerupfte Uhu. Es rollt das schwarze Büschelkraut. Alte Störche führen Regimenter junger Störche nach dem Süden. Die Kamele schreiten auf der Nomadenstraße vorwärts, und ihre breiten harten Sohlen treten in alte Spuren.
Karawanen ziehen vorüber. Steppenreiter begegnen einander und ziehen ihre Wege. Suchen sie einen Brunnen mit lebendigem Wasser? Fragen sie, wo das Gelobte Land liegt? Die kalten Hügel blicken einander wie ihre Spiegelbilder an. Eine Karawane hat sich auf dieser gelben Erde verirrt. Die Kamele sind erschöpft und können nicht weiter. Sie wenden ihre Vogelköpfe nach allen Seiten. Sie wollen die Gegend erkennen und können es nicht. Sie wollen sich an etwas erinnern und können es nicht.
Sie haben aber nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken. Die ersten Schneeflocken fallen bereits vom Himmel.
Sie beugen ermattet die Knie und lagern sich neben einem ausgetrockneten Brunnen. Die langen Hälse strecken sich nach den Steinen aus, die leeren Höcker hängen herab.
Keine Rebekka kommt aus weißem Zelt, sie zu tränken: es ist nicht das Gelobte Land, das Land Kanaan liegt anderswo.
Doch in der großen Wüste, wo die Erde ohne Menschen und ohne Gras graurot daliegt, bringen wilde Pferde von Oase zu Oase die Kunde vom schwarzen Araber. Jenseits der Wüste fließen sieben Honigflüsse; dort gibt es keinen Winter, dort wird der schwarze Araber ewig wohnen.