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Wir steuern vom Ssolowezkij-Kloster dem Kontinent zu. Die Klostermöwen folgen noch lange, gleichsam Abschied nehmend, dem Dampfschiff. Dann bleiben sie, eine nach der anderen, zurück, und zugleich verläßt uns auch die schwere, finstere Stimmung. Wir fahren an einer wilden waldbewachsenen Insel vorbei. Jemand sagt mir, daß auf dieser Insel zwei Jäger wohnen.
»Wohnen sie da ganz allein?« frage ich.
»Mutterseelenallein. Es sind zwei Karelen.«
»Wie leben sie da?«
»Nicht schlecht.«
Nun fällt mir plötzlich ein, daß ich ein Gewehr habe und Jäger bin. Im Kloster fühlte ich mich unbehaglich: andere Leute gehen hin, um zu beten, während ich ...
Je weiter ich mich vom Kloster entferne, um so wohler ist es mir; auf dem Meer begegnen uns immer öfter Felsen, die bald kahl und bald bewaldet sind. Es ist das Land Karelien, jenes fabelhafte Kalewala, von dem noch heute karelische Rhapsoden singen. Am Horizont zeigen sich die Berge Lapplands, des finsteren Landes Pohjola, wo die Helden Kalewalas beinahe umgekommen sind.
Die Kolahalbinsel ist der einzige heute noch unerforschte Winkel Europas. Die Lappen sind ein von der ganzen Kulturwelt vergessener und vernachlässigter Volksstamm, von dem noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa Schauermärchen erzählt wurden. Die Wissenschaft mußte erst die allgemein verbreitete Meinung, daß der Körper der Lappen mit dichten stacheligen Haaren bewachsen sei, daß sie alle einäugig seien und mit ihren Rentieren wie die Wolken von Ort zu Ort flögen, widerlegen. Man weiß heute nicht einmal mit Bestimmtheit zu sagen, zu welchem Volksstamm sie gehören. Wahrscheinlich zu den Finnen.
Die mir bevorstehende Reise von Kandalakscha nach Kola ist ziemlich weit: es sind zweihundertunddreißig Werst, die ich teils zu Fuß und teils im Boot zurücklegen muß. Der Weg geht durch Wälder und Bergseen, durch jenen Teil des russischen Lapplandes, der an das nördliche Norwegen grenzt und von den hohen schneebedeckten chibinischen Bergen, die vom skandinavischen Bergrücken abzweigen, durchkreuzt wird. Unterwegs hörte ich, daß es dort fabelhaft viel Wild und Fische gibt und daß die Lappen von der Rentier-, Bären- und Marderjagd leben.
Als ich dies höre, überkommt mich ein wahres Jagdfieber, und noch mehr: ich komme mir wie jener Schuljunge vor, der nach einem unbekannten herrlichen Lande durchgebrannt ist.
Auch Kulturmenschen haben zuweilen einige Tröpfchen wilden Blutes in ihren Adern. In Winternächten, wenn die Menschen noch nichts vom bereits begonnenen Übergang vom Winter zum Frühling wahrnehmen, besuchen uns Gesichte: die Sonne leuchtet auf, und plötzlich liegt vor uns ein Steg aus schimmernden grünen Blättern, der in den Wald führt.
Ein grüner Waldsaum; üppiges Gras; riesenhafte, in den Himmel wachsende Bäume; nie gesehene Blumen; kluge und gutmütige Tiere und Vögel. Ein namenloses Land! Ich bin schon einmal da gewesen... alles ist mir bekannt... alles ist vergessen...
Das Gesicht verschwindet, und der gewöhnliche vernünftige Wintermorgen tritt wieder in seine Rechte. Und doch ist es heute anders als sonst. Was mag das sein? Ach ja! Bald kommt ja der Frühling, die Wolken strahlen ganz eigen.
Auch bei Kulturmenschen gären zuweilen Tröpfchen wilden Blutes in den Adern; auch bei Gefangenen, auch bei Kindern.
Ein namenloses Land! Dahin wollten wir, kleine Wilde, einst durchbrennen. Bald nannten wir es Asien, bald Amerika, bald Afrika. Es hatte aber keine Grenzen. Es begann gleich am Wald, den wir aus unserem Schulzimmer sehen konnten. Wir sind auch wirklich durchgebrannt. Nach langen Irrfahrten wurden wir schließlich doch eingefangen und eingesperrt. Man bestrafte uns, lachte uns aus und suchte uns zu überzeugen, daß es ein solches Land nicht gäbe. Doch hier, vor diesen Felswänden mit den uralten Fichten, an der Grenze des wilden Lapplandes sehe ich mit Bitternis, daß die Erwachsenen unrecht hatten.
Das Land, das die Kinder suchen, existiert tatsächlich; nur hat es weder Namen noch Grenzen.
Es ist immer so, besonders aber auf einer Reise: wenn man seinen Willen und seine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Ziel richtet, findet man auch sofort Helfer.
Vor der Grenze Lapplands bemühe ich mich, alles, was ich über dieses Land gehört habe, in meinem Gedächtnis wachzurufen. Auch sind mir einige hier ansässige Leute behilflich: ein Pope, der zwanzig Jahre unter den Lappen verbrachte, ein Kaufmann, der bei ihnen die Pelze aufkauft, ein Pomore und ein herumziehender, welterfahrener Armenier. Sie teilen mir alles mit, was sie selbst wissen. Ich frage sie über alles, was mir gerade in den Sinn kommt. Mir fällt der komische langwierige Streit unter den Gelehrten ein: ob die Lappen schwarzhaarig oder blond sind? Ein Reisender sieht zufällig einen braunen Lappen und behauptet, daß alle Lappen braun seien; ein anderer sieht einen blonden Lappen und hält alle Lappen für blond.
Warum befragt man nicht die Leute, die ständig in den Grenzgebieten wohnen? Ich will einmal diese Methode versuchen.
»Sind sie schwarz oder blond?« frage ich den Kaufmann. Er lacht. Eine sonderbare Frage! Sein ganzes Leben lang hatte er mit Lappen zu tun, weiß aber nicht zu sagen, wie sie sind.
»Sie sind eben verschieden«, antwortet er schließlich, »wie wir. Auch ihre Gesichtszüge sind den unsrigen ähnlich. Die Samojeden sind ganz anders: bei ihnen stehen die Augen weit auseinander. Nicht umsonst spricht man von Samojedenschnauzen. Die Lappen haben aber spitze Gesichter.«
Er erzählt noch, daß ihre Frauen klein von Wuchs seien. Er beschreibt auch ihre Lebensweise:
»Auch ein Leben! Ihre Verhältnisse sind klein, alles dreht sich um das Rentier, den Hund und den Fischfang. So ein Lappe baut sich ein Zelt, macht Feuer und hängt einen Kessel darüber – das ist sein ganzes Leben.«
»Es kann doch nicht sein«, wende ich mich lachend an den Pomoren, »daß sich das ganze Leben dieser Menschen nur um das Essen und die Rentiere dreht. Sie lieben wohl auch, haben Frau und Kinder, singen ihre Lieder ...«
Der Pomore unterbricht mich:
»Was haben denn die Lappen für Lieder? Was sie gerade arbeiten, worauf sie gerade fahren, das wird auch besungen. Haben sie mit einem Rentier zu tun, so handelt das Lied vom Rentier; ist es die Braut, so handelt es von der Braut und ihren Kleidern. Wenn sie fahren, so singen sie: ,Wir fahren, wir fahren.«
Nun beginne ich den Popen auszufragen.
»Die Lappen«, sagt er mir, »sind wirklich nette Menschen. Wenn man sie besucht, wissen sie gar nicht, was sie dem Gast nicht alles für Ehre erweisen sollen. Sie hängen sehr an ihrer Familie und den Kindern. Kinder sind ihre größte Freude. Sie sind wirklich nett. Doch scheu und furchtsam. Nie sehen sie einem gerade in die Augen. Beim geringsten Geräusch spitzen sie gleich die Ohren. Die Gegend ist auch wirklich unheimlich: so öde und einsam.«
Lappland liegt jenseits des Polarkreises; die Sonne geht dort im Sommer nie unter und im Winter nie auf; durch die Finsternis zuckt ab und zu ein Nordlicht. Vielleicht sind die Lappen daher so schreckhaft? Ich habe bisher noch keine sonnige Nacht erlebt; doch üben auf mich schon die ›weißen‹ Nächte am Weißen Meer eine seltsame Wirkung aus: bald bin ich unnatürlich erregt, bald unnatürlich müde. Ich sehe, daß hier alles ein anderes Leben lebt. Das Grün der Pflanzen kommt mir ungewöhnlich gespannt vor: sie haben ja nie Ruhe, denn das Licht hämmert gegen die grünen Blätter Tag und Nacht. Wahrscheinlich ist es auch bei Menschen und Tieren ähnlich. Ich frage den Popen, wie er es empfindet.
»Ich fühle mich dabei nicht schlecht«, sagt er mir. »Alles ist Gewohnheit. Wir merken es gar nicht mehr ...«
»Und Sie?« frage ich den Kaufmann.
»Auch ich merke es nicht... Ich habe neulich gehört, daß ein Bauunternehmer sich hierher Arbeiter aus dem Süden kommen ließ und eine Arbeitszeit von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ausmachte.«
Alle lachen: der Kaufmann, der Pope, der Pomore und der Armenier.
»Glauben Sie doch nicht an die Mitternachtssonne«, sagt mir der herumziehende Armenier. »Eine solche Sonne gibt es gar nicht.« »Wieso?«
»Es ist keine Mitternachtssonne, sondern eine ganz gewöhnliche Sonne, wie bei uns in Kaukasien.«
Ich bin jenseits des Polarkreises. Vom ›Kreuzberg‹ aus soll man die Mitternachtssonne sehen können; ich darf hier aber keine Zeit verlieren: am nächsten Morgen gehe ich nach Lappland und muß den größten Teil der zweihundertdreißig Werst langen Strecke von Kandalakscha bis Kola zu Fuß zurücklegen.
Es ist so sonderbar: ich bin in Lappland, und doch gibt es in diesem russisch-karelischen Dorfe keinen einzigen Nomaden. An der Grenze zweier Volksstämme gibt es sonst immer Übergangstypen. Hier gibt es aber nur Russen und Karelen. Um so geheimnisvoller erscheint mir die bevorstehende Reise durch die Gebirge Lapplands. In Kandalakscha gibt es keinen einzigen Lappen und kein einziges Rentier. Ich stehe gleichsam vor der Tür zu einem Panorama. Im Rücken habe ich noch die Straße; doch gleich werde ich mir eine Eintrittskarte lösen, vors Guckloch treten und eine ganz neue, von der unsrigen verschiedene Welt erblicken.
Der Pomore hilft mir beim Stopfen der Patronen für die Jagd auf Rebhühner und Auerhähne. Einige Patronen laden wir mit Kugeln für den Fall, daß ich einem Bären oder einem wilden Rentier begegne.
Aus der Tiefe Lapplands, aus dem großen Bergsee Imandra fließt nach Kandalakscha der reißende Strom Niwa; er ist eher ein Wasserfall, doch dreißig Werst lang. Ein Fußpfad führt am Ufer der Niwa durch den Wald. Die neue Fahrstraße liegt etwas abseits. Eine Strecke lang gehe ich mit meinem Führer auf dieser zweiten Straße. Dann zweige ich zum Ufer der Niwa ab, um mich nach Federwild umzusehen. Ich trenne mich von meinem Begleiter; der schweigsame, fremde Wald umringt mich von allen Seiten. Was ich auch für einen Begleiter habe, jedenfalls höre ich ihn sprechen, lachen, ächzen. Nun ist er aber fort, und an seiner Statt spricht zu mir dieser einsame, öde Ort. Ich höre keinen Laut, keinen Vogel, nicht das leiseste Rauschen in den Zweigen, und selbst meine eigenen Schritte sind auf dem weichen Moos unhörbar, und doch spricht jemand zu mir. Es ist die Stimme der Wüste ...
Ich spüre Freude und Leid. Freude – weil ich von dieser Stille eine lichte, reine Wahrheit erwarte. Und Leid – weil aus der fernen Vergangenheit immer wieder kleinliche graue Gedanken, wie kleine Tiere mit langen Schwänzen, hervorkriechen.
Die Natur des hohen Nordens regt so sehr auf und bedrückt so schwer das Herz, weil hier das hohe Alter, das beinahe schon der Tod ist, dicht neben der grünenden Jugend steht und mit ihr tuschelt. Und das eine flieht das andere nicht.
In solcherlei Gedanken versunken, schreite ich vorwärts. Und plötzlich höre ich lautes Dröhnen wie von einem Eisenbahnzug; ich erwarte bereits den Pfiff der Lokomotive. Es ist aber nur die Niwa. Ich sehe sie plötzlich vor mir im Rahmen der Bäume, vor einem Hintergrunde alter hoher Hügel. Sie erscheint mir wie ein wildes seltsames Kind, das sich mit Absicht die Hände verbrennt, die Adern öffnet und von hohen Balkons springt. ›Was soll man nur mit diesem Bengel anfangen!‹ fragen sich die runden Kahlköpfe am Ufer. Graue Gedanken – graue Bergnebel kriechen langsam von Kopf zu Kopf.
Ich gehe längs der Niwa durch den Wald. Zuweilen blicke ich zurück: ich errate immer die Punkte, von denen sich eine Aussicht auf die Reihen rauchender Hügel und auf das lange Gefälle des Stromes, der unzählige weiße Schaumschiffchen ins Weiße Meer fortträgt, bietet.
Hier gibt es keine Mücken. Man erzählte mir so viel von ihnen, und doch sehe ich keine einzige. Ich kann ruhig beobachten, wie die Tannen und Fichten am Fuß der Hügel sich verabreden, hinaufzulaufen, und wie sie in die Höhe klettern. Es hat den Anschein, daß sie jeden Augenblick den Berg stürmen werden. Doch dicht vor dem Gipfel werden sie plötzlich schwach und klein und gehen alle ohne Ausnahme zugrunde.
Zuweilen fliegt dicht vor mir ein Rebhuhn auf. Es ist ein ganz gewöhnliches Rebhuhn, und auch sein Schrei klingt ganz gewöhnlich. Doch hier in der Stille des fremden Waldes, beim nervösen Gemurmel des Wasserfalles, höre ich in der Stimme des Vogels bald wildes Lachen, bald eine Warnung vor dem erbarmungslosen Schicksal. Ich schieße auf den gelbweißen Fleck wie auf eine Zauberin im Märchen; ich töte oft.
Ich gehe immer weiter und weiter. Die Stille des Waldes, das Rasen der Niwa, die ewige Erwartung, daß irgendwo ein Vogel auffliegt – sind eigens für mich geschaffen. Wenn ich diese Vögel sehe, muß ich an lappländische Zauberer denken. Eine Saite in meinem Innern ist gespannt, sie tönt immer höher und höher; schließlich kann ihr Ton überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden: mein Körper und meine Beine bewegen sich wahrscheinlich auf der Erde, doch ich selbst fliege irgendwo. Ich spüre jedes Atom meines Wesens, doch ich weiß selbst nicht – wo. Wenn man doch dieses über den ganzen Wald verteilte und zerstreute Wesen des Menschen sammeln, wahrnehmen, beschreiben könnte! Es ist aber unmöglich.
Plötzlich fliegt dicht vor mir mit lautem Krachen ein Auerhahn auf und gleich darauf ein zweiter.
Dieser Vogel erschien mir immer rätselhaft und unerreichbar. Ich erinnere mich an eine Nacht im Walde, die ich in Erwartung dieses Königs der nordischen Wälder zubrachte. In Erwartung der Balz wachten die Sümpfe und Fichten, und plötzlich erschien unten im Sumpf auf einem kleinen verkümmerten Bäumchen der große Vogel mit dem prächtigen Federschmuck; er schien für die finstere Nacht gegen die aufgehende Sonne zu kämpfen. Ich kam ganz nahe an ihn heran; das kalte Wasser reichte mir beinahe an die Brust. Etwas störte ihn aber, und der Vogel flog fort. Seit jener Zeit habe ich keinen Auerhahn mehr gesehen; er blieb mir aber in Erinnerung als ein geheimnisvoller Genius der Nacht. Jetzt fliegen vor mir im hellsten Sonnenlicht zwei von diesen riesengroßen Vögeln auf. Erst als sie bei einer Windung des Stromes hinter einer großen Fichte verschwinden, komme ich zur Besinnung. Sie lassen sich wohl dort im hohen Grase nieder, und wenn sie sich etwas beruhigt haben, gehen sie zum Fluß und trinken.
In diesem Augenblick vollzieht sich in mir jene geheimnisvolle Wandlung, die mich plötzlich um mehrere Jahrtausende zurückversetzt. Diese Umwandlung vollzieht sich im Nu. Man weiß nie, wann der Augenblick eintritt. Er ist wie ein rauschender Strom grüner Lichtstrahlen, wie ein Sturzbach ungeahnter heilender Kräfte. Mögen nur der Kulturmenschen über uns Jäger lachen; mögen sie unsere Jagd für einen harmlosen Zeitvertreib halten. Für mich ist sie aber ebenso geheimnisvoll wie die schöpferische Begeisterung eines Künstlers. Es ist eine Übersiedlung ins Innere der Natur, ins Innere jener Welt, über die der Kulturmensch Tränen vergießt. Dasselbe muß wohl auch das aus einem Käfig entsprungene Tier empfinden. Es läuft zum Wald, bleibt für einen Augenblick am Waldessaum sinnend stehen und verschwindet im Dickicht.
Ich bin ein Tier und habe alle Gewohnheiten eines Tieres. Ich bin gelenkig, springe von Erdhügel zu Erdhügel, blicke gespannt auf das trockene Reisig zu meinen Füßen. Jetzt, wenn ich daran denke, spüre ich im Munde den Geschmack von Tannennadeln, den Geruch von Fichtenrinde; in den Ellenbogen habe ich ein eigentümliches unbehagliches Gefühl. Wieso kommt es? Nun, weil ich ein Tier bin. Die Fichten sind plötzlich verschwunden, ich gehe nicht mehr, sondern krieche auf allen vieren über stechende und spitze Hindernisse hinweg zu einem bestimmten Baum. Wenn ich ihn erreiche, spanne ich den Hahn der Büchse, lege an und hebe langsam den Kopf.
Es gibt keinen Fluß, keine Vögel, keinen Wald; dafür genießen meine Augen eine ungeahnte Ruhe. Ich denke nicht mehr an die Vögel. Ich säge nicht mehr: »Dies ist der Bergsee Imandra.« Nein, ich trinke mir diese ewige Ruhe. Vielleicht rauscht auch irgendwo die Niwa. Ich höre sie aber nicht.
Imandra ist eine junge ruhige Mutter. Vielleicht wurde auch ich einst auf diesem ruhigen, einsamen, von kaum sichtbaren schwarz- und weißgesprenkelten Bergen eingefaßten See geboren. Ich weiß, daß dieser See hoch über der Erde liegt, daß die Sonne jetzt nicht mehr den Himmel verläßt, daß hier alles lauter und durchsichtig ist; denn alles liegt hoch über der Erde, beinahe im Himmel.
Es gibt gar keine Vögel. Die lappländischen Zauberer hatten sie mir anfangs nur so vorgegaukelt, um das finstere Pohjola von seiner schönsten Seite zu zeigen.
Vom Ufer steigt eine dünne Rauchsäule in die Höhe; auf dem Sande hocken einige unbewegliche Gestalten. Selbstverständlich sind es Menschen; Tiere können doch kein Feuer machen. Es sind Menschen, und sie werden nicht ins Wasser fliehen, wenn ich auf sie zugehe. Ich nähere mich ihnen, meine Schritte sind auf dem weichen Moos unhörbar. Jetzt sehe ich es ganz deutlich: über dem Feuer hängt ein kleiner Kessel, mehrere Männer und Frauen sitzen im Kreise umher. Es ist klar, daß es Menschen und wahrscheinlich Lappen sind; diese durchsichtige Luft, diese tiefe Stille kommen mir so ungewohnt vor, und es scheint mir, daß, wenn ich unerwartet und laut aufschreie, diese Menschen sofort verschwinden oder ins Wasser springen werden.
»Guten Tag!«
Alle wenden gleichzeitig die Köpfe nach mir um, wie eine Viehherde im Wald, wenn sich ihr ein fremder Hund, der einem Wolf ähnlich sieht, nähert.
Ich betrachte mir die Leute: ein kleiner kahlköpfiger Greis, eine alte Frau mit langem spitzem Gesicht, eine Frau mit einem Kind, ein junges Mädchen, das mit einem krummen finnischen Messer einen Fisch ausnimmt, und zwei Männer, die ganz wie russische Pomoren aussehen.
»Guten Tag!«
Sie erwidern meinen Gruß im reinsten Russisch.
»Seid ihr denn Russen?«
»Nein, wir sind Lappen.«
»Kann ich bei euch Fische bekommen?«
»Wir wollen welche fangen.«
Der Greis erhebt sich. Er ist ein Zwerg mit langem Rumpf und kurzen krummen Beinen. Auch die anderen Männer stehen auf; sie sind etwas größer, doch haben alle krumme Beine.
Sie gehen Fische fangen, ich gehe mit.
Ein so durchsichtiges Wasser habe ich noch nie gesehen. Es scheint ganz leicht, beinahe unwägbar. Ich versuche es: es ist eiskalt. Man sagt mir, daß die Imandra sich erst vor vierzehn Tagen vom Eis befreit habe. Das Wasser ist auch darum so kalt, weil von den Bergen – dem Tschuna links und den kaum sichtbaren chibinischen Bergen rechts – während des ganzen Sommers Schneewasser herabfließt.
Unser Boot gleitet über das durchsichtige Wasser, durch die, durchsichtige Luft. Die Lappen schweigen. Ich muß sie doch in ein Gespräch ziehen:
»Ein schöner Tag!«
»Ja, der Heilige Geist hat viele schöne Tage.«
Sie schweigen wieder. Der Tag ist schön, doch so sonderbar. So ein Tag wird wohl gleich nach der Sintflut, als die Wasser zu fallen anfingen, gewesen sein. Die ganze sündige Erde dort unten steht unter Wasser; nur diese schwarz- und weißgesprenkelten Bergspitzen ragen hervor. Alles hat sich beruhigt, denn alles ist tot. Durch die Todesruhe schießen Strahlen der ewigen Sonne. Unsere Arche gleitet durch die Stille. Wasser, Himmel, Berggipfel. Jetzt wäre es gut, die Taube fliegen zu lassen! Vielleicht wird sie einen grünen Zweig bringen. Nein, es ist noch zu früh: alles liegt noch in der Tiefe des durchsichtigen Wassers.
Ich werfe ins Wasser eine kleine Silbermünze. Sie verwandelt sich in ein grünleuchtendes Blättchen und flattert hin und her. In der Tiefe leuchtet sie in smaragdgrünem Licht und verschwindet nicht; sie blickt wie ein grünes Auge aus den versunkenen Wäldern und Gärten zu uns, ins Land der nie untergehenden Sonne herauf.
Wie schön wäre es doch, in einer finstern, sternenlosen Nacht in diese Tiefe, in das üppige Gras zwischen den Apfelbäumen hinabzusteigen ...
»Póutsch, póutsch!« sagt plötzlich der Greis dem Rudernden.
»Was heißt es?«
»Es heißt: fahr schneller.«
Gleich darauf sagt er:
»Sjog, sjog!«
Das heißt: fahr langsamer.
Wir sind bei der Legangel angekommen. Es ist ein langer, mit zahlreichen Angelhaken versehener Strick, der auf dem Seegrunde liegt. Während der eine rudert, zieht der andere den Strick mit den Haken aus dem Wasser und kommandiert bald »Póutsch, póutsch!« und bald »Sjog, sjog!«
In diesem Bergsee jenseits des Polarkreises muß es doch ganz außergewöhnliche Fische geben. Wie fast alle Jäger liebe ich den Angelsport nicht, doch ich warte mit Spannung auf das Resultat, Eine Zeitlang kommen nur leere Haken zum Vorschein. Endlich leuchtet etwas in der Tiefe so grün wie meine Münze; bald ist es unglaublich groß und breit, bald schmal wie ein Band.
»Póutsch, póutsch!« rufe ich freudig erregt.
Alle lachen. Es ist gar kein Fisch, sondern der Köder.
»Sjog, sjog!« sage ich ganz niedergeschlagen.
Alle lachen wieder. Jetzt verstehe ich, um was es sich hier handelt, übernehme das Kommando und rufe bald »Póutsch, póutsch« und bald »Sjog, sjog«.
Die Lappen freuen sich wie die Kinder: das ewige Schweigen auf dem öden See ist wohl auch ihnen auf die Dauer unerträglich.
Endlich ziehen wir mehrere große silberne Fische heraus.
Goljez – ist eine Art Forelle der Polargewässer.
Kumscha – gleicht ganz dem Lachssalm.
Palia ...
Es sind lauter seltene, teuere Fische.
»Und wie heißt dieser? Ist es ein Ssig?«
Der Alte schweigt und zieht die Stirne kraus. Er scheint erschrocken und blickt uns stumm an.
»Póutsch, póutsch«, sage ich. Dies Mittel versagt aber jetzt. Der erschrockene Alte reißt sich einen Knopf vom Kleide, befestigt ihn an dem Ssig, wirft diesen wieder ins Wasser und murmelt etwas vor sich hin.
Was soll das bedeuten?
Doch der Lappe schweigt. Der dunkle Rücken des Fisches verschwindet schnell im Wasser, den Knopf sehe ich aber noch lange als einen leuchtenden, smaragdgrünen Schmetterling.
Was soll das bedeuten? Ich bin ja in Pohjola, im Lande der Zauberer und Zwerge. Nun geht es los!
Erst als zwei – drei Dutzend kostbare Forellen und Kumschas gefangen sind, sind unsere guten Beziehungen wiederhergestellt. Nachdem wir die ganze Legangel untersucht haben, rudern wir wieder ans Ufer, wo noch immer der Rauch aufsteigt.
Wir landen. Es sind die gleichen Menschen in den gleichen unbeweglichen Stellungen; auch der Kessel hängt noch immer über dem Feuer. Was haben sie nur während dieser zwei Stunden getrieben? Ich sehe, daß der Fisch, den vorhin das Mädchen ausnahm, verschwunden ist. Folglich haben sie während der ganzen Zeit den Fisch gegessen. Nachdem sie sich gesättigt haben, blicken sie wieder stumm auf den leeren Imandrasee.
»Póutsch, póutsch!« begrüße ich sie.
Alle lachen. Wie leicht ist es doch, in Lappland geistreich zu sein!
Nun kochen sie die Forellen. Das ist also das Leben am Kessel! Das ist also jenes frische Leben, nach dem wir in der Kinderzeit strebten! Jetzt erscheint es mir aber noch schöner, denn ich merke und überlege mir alles. Wie schön ist es doch, am Imandrasee zu sitzen und auf die Forellensuppe zu warten!
Ich hole aus der Reisetasche meinen eigenen Kochtopf heraus. Es ist ein ganz gewöhnlicher blauer Emailletopf. Doch der Effekt!
Alle stehen auf, umringen meinen Topf und beginnen rasch in ihrer Sprache zu sprechen. Während das Mädchen mit dem krummen Messer für mich einen Fisch zurichtet, setzen sich wieder alle ums Feuer. Mein Topf wandert von Hand zu Hand als ein wunderbarer, noch nie gesehener Gegenstand. Ich habe aber in der Tasche auch noch einen Bleistift in einer Metallhülse, ein Reisetintenfaß, ein Messer und englische Köderfische aus Zinn, mit denen man alle Arten Fische fangen kann. Auch diese Gegenstände wandern von Hand zu Hand. Wenn jemand einen Gegenstand zu lange in der Hand behält, sage ich »Póutsch!« Dann lachen alle, und der Gegenstand vollendet rasch die Runde um das Feuer. Es ist eine Art Gesellschaftsspiel in Lappland, am Gestade der Imandra.
Wenn man Pfeffer und Lorbeerblätter nicht vergißt, schmeckt diese lappländische Forellensuppe hervorragend gut. Während ich esse, macht mich die junge Hausfrau auf besonders schöne gelbe und rosa Fischstücke im Kessel auf merksam und bewirtet mich:
»Nimm, nimm, iß!«
Ich schenke ihr dafür ein Lorbeerblatt. Sie beriecht und beleckt das Blatt und reicht es den andern. Alle staunen und scheinen höchst befriedigt. Ich liege aber im Sande am Feuer und verzehre mit Wohlbehagen den ausgezeichneten Fisch.
Der Weg über Lappland von Kandalakscha nach Kola ist auch heute noch derselbe wie in den Zeiten der Nowgoroder Kolonisation. Die Kaufherren der alten Hansastadt Nowgorod gingen einst bei ihren Expeditionen an die Küste des Weißen Meeres genau denselben Weg, den auch heute noch die Arbeiter der Fischereigesellschaften gehen.
An verschiedenen Punkten der Straße stehen einfache Hütten; es sind Poststationen; in der Nähe einer jeden Station wohnt eine Gruppe Lappen, die sich teils mit Jagd auf wilde Rentiere in den chibinischen Bergen, teils mit Fischfang und Rentierzucht beschäftigen.
Um das Leben der Leute einigermaßen kennenzulernen, muß ich von der Tradition des Reiseführers abweichen; ich muß mir selbst Hindernisse, die von den Führern gar nicht vorgesehen sind, schaffen und sie dann zu überwinden suchen. Dies ist meine ständige Reiseregel.
Wie verbringe ich die Zeit nach eigenem Geschmack? frage ich mich. Soll ich diese Straßen entlangziehen, um Land und Leute kennenzulernen ...? Soll ich in die chibinischen Berge zu den Rentierzüchtern gehen und eine Zeitlang unter ihnen in einem Zelte leben ...?
Ich berate mich mit dem alten Lappen Wassilij; wir beschließen wirklich, in die chibinischen Berge zu gehen, sein Sohn rät aber davon ab. Die Lappen seien mit ihnen Rentieren weggezogen, und so würden wir nur Zeit verlieren. Allmählich entsteht ein neuer Plan. Wir werden auf der Imandra bis zur Rentierinsel fahren, wo der zweite Sohn Wassilijs seine Rentiere hütet; wir werden uns dort eine Zeitlang aufhalten und dann in die chibinischen Berge auf die Jagd gehen.
Wir haben günstigen Wind. Warum soll denn die ganze Familie mitfahren? Jeder überflüssige Begleiter kostet ja Geld. Ich bitte den Alten, zu Hause zu bleiben. Er bettelt, mitfahren zu dürfen,
»Geld brauchst du gar nicht mitzunehmen«, sagt er mir. »Es ist aber lustiger, in Gesellschaft zu reisen.«
Wie sonderbar es klingt. Ich bin ja schon soviel herumgereist, habe aber noch nie dergleichen gehört ... Ich sehe mir aber den Alten genauer an, suche irgendwelche Hintergedanken zu erraten ... Nein, er hat gar keine Hintergedanken ... Er blickt so träumerisch und leichtsinnig, als ob er gar kein Greis wäre.
Wir fahren also alle zusammen. Zwei rudern. Der Wind hilft etwas mit. Das Boot schwankt ganz leise. Vor mir sitzen auf der Bank die Frauen; die Alte und ihre Tochter. Ihre Gesichter sind gar nicht russisch. Wenn man ethnographische Fragen so einfach behandeln dürfte, würde ich sagen, daß die Alte eine Jüdin und ihre Tochter eine Japanerin sei: sie ist klein und gelb und hat schiefstehende Schlitzaugen. Der Blick der schwarzen Augen ist starr und rätselhaft; sie blinzeln gleichsam mit großer Mühe, blicken starr, bis sie ermüden, und blinzeln wieder. Sie trägt auf dem Kopf einen roten lappländischen ›Schamschir‹, der dem Helm der Pallas Athene gleicht. Wir fahren der Sonne entgegen; wenn das Boot schwankt, sehe ich an Stelle des sonderbaren glänzenden Kopfputzes die Sonnenscheibe. Das Mädchen ist eine echte Tochter Pohjolas; um ihretwillen kamen einst die Helden Kalewalas hierhergezogen.
Es ist mir ungemütlich, wenn mir jemand immer in die Augen sieht und dabei kein Wort spricht. Ich sehe auf dem Kopfputz des Mädchens einige echte Perlen. Wie kommen die her? Ich sehe sie mir genauer an und berühre sie mit dem Finger.
»Perlen! Wo habt ihr die Perlen her?«
»Sie hat sie im Bach gefunden«, antwortet für sie der Vater. »Wir haben Perlen, die hundert Rubel das Stück wert sind.«
»Zahlt euch jemand so viel dafür?«
»Nein, man sagt aber, daß sie so viel kosten.«
»Es sind wunderschöne Perlen«, sage ich der Tochter Pohjolas. »Wie gewinnt ihr sie?«
Statt zu antworten, holt sie aus der Tasche ein zusammengefaltetes schmutziges Papier und reicht es mir.
Ich entfalte das Papier und finde darin einige größere Perlen. Ich nehme sie in die Hand, bade sie in der Imandra, reiße aus meinem Notizbuch ein sauberes Blatt heraus, wickele darin die Perlen ein und gebe sie dem Mädchen wieder.
»Ich danke, die Perlen sind wirklich schön.«
»Nein, nein ... Sie gehören dir.«
»Wie?!«
Ich blicke verstohlen auf die Alte: sie nickt würdevoll und zustimmend mit dem Kopfe. Auch Wassilij bestätigt die Schenkung. Ich nehme das Geschenk an und reiche dem Mädchen etwas später – Service pour Service – einen ausgezeichneten englischen Köderfisch. Das Mädchen strahlt, die Alte nickt wieder, Wassilij nickt, die Imandra lacht. Wir werfen von jeder Seite des Bootes einen Köderfisch aus – ich links und die Tochter Pohjolas rechts. Man sagt, daß hier eine fischreiche Stelle sei, und wir warten gespannt auf den Fang.
Bald zeigt sich das bewaldete Ufer. Die Lappen haben jede Scheu vor mir abgelegt und plaudern ununterbrochen in ihrer Sprache. Ab und zu unterbreche ich sie mit der Frage, wovon sie eben sprechen. Sie sprechen bald von einem runden Hügel am Ufer, bald von einer mit Schnee gefüllten Mulde in den Bergen, bald von einer trockenen Fichte, bald von einem großen Stein. Hier wurde einmal ein wildes Rentier erlegt, dort hängte man sein Fleisch zum Trocknen auf, dort wieder wurde eine verlorengegangene Rentierkuh mit ihren Kälbern aufgefunden. Es ist genau so, wie wenn wir auf der Straße mit einem Bekannten von den Häusern, Restaurants und den Menschen, denen wir sonderbarerweise immer an der gleichen Stelle begegnen, sprechen. Sie kennen hier jeden Stein, und alles hat für sie seine Bedeutung; ich kann mir aber nur die majestätischen Konturen der Berge, die endlose Mauer der Wälder und den unendlichen Spiegel des Sees merken.
Ich habe auch keine Zeit, auf die Einzelheiten zu achten. Meine Aufmerksamkeit ist von allen Seiten gefesselt. Ich muß auf die Angelschnur aufpassen, um beim geringsten Stoß sofort das Boot anzuhalten; sonst kann der Fisch das Senkblei abreißen. Ich muß photographieren, die Lappen nach den Benennungen der verschiedensten Dinge fragen und mir alles aufschreiben; ich muß auch mein Gewehr bereithalten: man kann nie wissen, was nicht alles plötzlich aus dem Wald, aus dem Wasser kommen kann.
Die Lappen sind plötzlich sehr aufgeregt: sie sprechen im Flüsterton und ergreifen ihre Gewehre. Sie zeigen mir eine mit Schnee bedeckte Stelle in der Ferne, dicht am Wasser.
Ein wildes Rentier!
Ich ziehe schnell die Angelschnur ein, sehe gespannt in die Ferne und merke, daß der weiße Fleck sich bewegt. Etwas später unterscheide ich ganz deutlich: es ist ein weißes Rentier mit schwach entwickeltem Geweih. Wassilij zielt lange auf das Tier und läßt plötzlich das Gewehr sinken. Er ist im Zweifel, ob es doch nicht ein zahmes Rentier sei. Er gesteht mir, daß es oben in den Bergen gar nichts ausmachen würde; dort dürfe man auch ein zahmes Rentier erschießen; hier sei es aber ganz unmöglich: der Besitzer würde das Rentier sofort an der Marke im Ohr erkennen. Wir kommen immer näher heran; das Rentier flieht nicht, sondern kommt ganz ans Ufer. Als wir uns ihm noch mehr genähert haben, lachen alle plötzlich auf: sie erkennen ihr eigenes Rentier. Wir haben den Tartarin von Tarascon übertroffen. Es ist eines von jenen Rentieren, die Wassilij auf der Tundra grasen läßt, weil es auf der Insel zuwenig Moosflechte gibt. Ich stelle meine Kamera ein und photographiere das weiße Rentier am Ufer der Imandra zwischen Tannen und Fichten.
Als die Aufnahme gemacht ist, bitte ich die Lappen, mich ans Ufer zu rudern; das Rentier kehrt mir aber plötzlich seinen kurzen Schwanz zu, fährt mit den Ästen seines Geweihs durch die Äste der lappländischen Tannen, rennt über das federnde weiche Moos und verschwindet im Wald. Etwas später sehen wir es als einen kaum wahrnehmbaren Punkt auf einem kahlen Felsen hoch über dem Wald.
»Die Mücken setzen ihm zu!« erklärt mir Wassilij. »Es hat eben etwas Wasser getrunken und rennt wieder in seine Tundra zurück.«
Wir befinden uns in der Nähe der Weißen Bucht.
Von hier aus sollen mich andere Lappen weitergeleiten. Wir halten uns aber an unsern Plan und fahren etwas weiter bis zur Rentierinsel. Hier werfe ich wieder die Angelschnur aus, denn Wassilij behauptet, daß ich hier unbedingt eine Kamscha fangen werde.
Der glänzende Zinnfisch ist im durchsichtigen Imandrawasser weit sichtbar. Ich werfe von der Angelschnur nur etwa achtzig Meter aus; der Rest bleibt auf der Rolle, die ich am Ruderhaken befestige. Schon nach einer Minute spüre ich einen starken Stoß und lasse die Schnur aus der Hand; der Rest der Schnur läuft schnell von der Rolle ab.
Ich kann mir nicht denken, daß ein Fisch mit solcher Kraft ziehen könnte, und rufe den Lappen:
»Haltet das Boot! Die Schnur ist irgendwo hängengeblieben und wird gleich reißen!«
»Es ist ein Fisch«, antworten sie mir. »Zieh ihn heraus!«
Ich ziehe, spüre aber keinen Widerstand: der Haken war wohl an einem Stein hängengeblieben und hatte sich wieder gelöst.
Ich sage es den Lappen. Auch sie zweifeln. Sie warten aber noch immer mit dem Rudern und schauen gleich mir ins Wasser.
Plötzlich zeigt sich etwa zehn Schritt vor dem Boot ein mächtiger Fischschwanz; ich bin so überrascht, daß er mir mindestens so groß wie ein Walfischschwanz vorkommt. Der Fisch leistet Widerstand und verschwindet wieder mit der Schnur im Wasser. Auf der Imandra ziehen große Kreise. »Eine Kumscha! Eine Kumscha!« rufen mir die Lappen zu. »Zieh sie heraus!«
Wie im Anfang meiner Reise beim Anblick eines Auerhahns, versinkt mein ›Ich‹ wieder in die Tiefe der Natur, zieht vielleicht in jenes Land, das wir aus den Träumen unserer Kindheit kennen.
Der Fisch macht mir eine geschlagene Stunde zu schaffen. Ich muß mit ihm förmlich kämpfen. Die Stunde kommt mir wie eine Sekunde und die Sekunde – wie ein Jahrtausend vor. Endlich ziehe ich ihn dicht ans Boot heran und sehe seinen schwarzen Rücken. Wie bekomme ich ihn nun ins Boot? Während ich es mir überlege, zieht die Lappländerin ein Messer aus dem Gürtel, stößt es dem Fisch in den Rücken und zieht die riesengroße silberne Kumscha mit beiden Händen ins Boot.
Der Anblick von Blutstropfen auf einem von mir getöteten Geschöpf verdirbt mir oft die Laune. Diesmal sehe ich aber das Blut gar nicht; ich besitze den Fisch, und dies macht mich glücklich.
Ich will natürlich sofort den Wert meines Besitzes feststellen: wieviel er wiegt und wie er schmeckt. Ich behaupte, daß er vierzig Pfund wiegt, die Lappen schätzen ihn aber auf nur zwanzig Pfund. Ich widerspreche. Schließlich stimmen sie mir lachend zu.
»Was ist besser«, fragte ich sie, »eine Kumscha oder ein Salm?«
»Es gibt eben verschiedene Kumschas und verschiedene Salme. Der Salm ist doch besser: er ist eben der Salm. Eine Kumscha oder ein Ssig – so solltest du fragen ...«
Jetzt fällt mir der Fisch ein, den der Alte ganz im Anfang gefangen und dann mit dem angebundenen Knopf wieder ins Wasser geworfen hatte. Was es wohl für ein Fisch war?
»Es war ein Ssig«, antwortet der Alte und wird sofort wieder finster. »Einen Ssig darf man nicht mit dem Haken fangen, man fängt ihn nur mit Netzen. Mein Vater fing auch einmal so einen Ssig und ertrank im See ... Bald nach ihm auch die Mutter ...«
»Ist sie auch ertrunken?«
»Nein, sie ist eines göttlichen Todes gestorben. Zwei Seelen hat der Fisch gebracht, so sehr liebt ihn Gott. Ohne Eltern hatte ich es so schwer.«
Ich will ihn noch fragen, was der Knopf bedeutete, wage es aber nicht. Es wird wohl ein Geschenk für den Wassergott gewesen sein.
»Gibt es einen Wassergott?« frage ich auf Umwegen.
»Den Wassergott! Gewiß ... Wir beten ja: Gott der Erde und des Himmels ...«
»Auch des Wassers?« frage ich erstaunt.
»Nein, in den Gebeten wird er nicht genannt. Wenn es aber einen Gott der Erde und einen Gott des Himmels gibt, so muß es auch einen Wassergott geben.«
Ich frage Wassilij, wie er es mit dem Glauben hält. Er ist überzeugter Christ. Seitdem der heilige Triphon Lappland besucht hatte, sind alle Lappen Christen. Der Heilige wurde von ihnen anfangs schlecht behandelt; sie haben ihn sogar an den Haaren herumgezerrt. Später demütigten sie sich und hörten auf seine Worte. Gott strafte aber die Lappen für den Heiligen, und sie wurden alle kahlköpfig. Wassilij zieht zum Beweis die Mütze und zeigt mir seine Glatze.
Wassilij erzählt, daß es auch noch heute irgendwo Lappen geben soll, die nicht an Christus, sondern an die Gottheit ›Tschudj‹ glauben. Es gibt einen hohen Berg, von dem sie Rentiere als Opfer für die Gottheit hinabwerfen. Auf einem anderen Berge wohnt ein ›Noja‹ (Zauberer), zu dem man Rentiere bringt. Dort schlachtet man sie mit hölzernen Messern und hängt die Felle auf Stangen auf. Wenn der Wind die Felle streift, bewegen sich die Beine; wenn sie Moos oder Sand berühren, scheinen sie zu gehen ... Wassilij behauptet, daß er schon öfter auf solche Rentiere gestoßen sei. Sie sähen ganz wie lebendige aus ... Der Anblick sei unheimlich. Noch unheimlicher sei es aber, wenn im Winter plötzlich am Himmel ein helles Feuer erstrahle, die Abgründe der Erde sich öffnen und den offenen Gräbern die Tschudj entsteige ...
Wassilij erzählt mir noch viel Grausiges und Interessantes von der Tschudj ...
Er erzählt mir auch das Märchen von einem Lappen, der in den Himmel kommen wollte. Er legte auf einen Haufen Hobelspäne eine Bastmatte, setzte sich selbst darauf und zündete die Späne an. Die Matte flog hinauf, und der Lappe kam in den Himmel.
Während ich der Erzählung von den Erlebnissen des Lappen im Himmel lausche, fange ich an, diesen Wassilij zu verstehen; ich verstehe, warum seine Augen trotz seines Greisenalters so leichtsinnig blicken.
Am Ufer der Rentierinsel scheuchten wir einen Auerhahn auf. Mir gelang es, ihn zu erlegen. Schneller ans Ufer gehen, ihn im Grase finden, die Beute in den Händen fühlen!
Als ich aufs Ufer steige, empfängt mich eine Wolke von Mücken und Stechfliegen. Ich laufe, was ich laufen kann, um den Vogel schneller zu finden und ins Boot zurückzukehren. Ich stolpere aber über trockene Äste, Steine und Erdhügel. Die Mücken fallen über mich wie ein Bienenschwarm her. Ich fürchte, daß sie mich tatsächlich auffressen können, daß die Lage ernst sei. Ich falle, stehe auf und renne – o Schande! – ohne den Vogel zum Boot. Einer der Lappen holt den Auerhahn.
Wir umbiegen die Insel und nähern uns endlich der Stelle, wo das lappländische Gezelt stehen soll. Ich sehe tatsächlich zwei Zelte: das eine ist ein kleiner schwarzer Kegel, etwa zwei Meter hoch, das andere bedeutend größer.
»Das eine«, erklärt Wassilij, »ist für die Menschen, das andere für die Rentiere. Das größere ist für die Rentiere, denn das Rentier ist ja auch größer als der Mensch.«
Die Mücken verfolgen uns jetzt auch auf dem Wasser; es scheint, daß alle Mücken von der ganzen Insel über uns hergefallen seien. Die Plage ist unerträglich, ich schlage ununterbrochen mit den Händen herum und töte Hunderte auf meinem Gesicht. Ich wage nicht, das Moskitonetz, das in meiner Reisetasche ganz zuunterst liegt, hervorzuholen: ich müßte es ja erst suchen und aufspannen, und in dieser Zeit würden mich die Mücken sowieso auffressen.
Die Lappen mit den blutig gebissenen Gesichtern und Händen lassen aber die Plage ruhig über sich ergehen; sie sagen, daß Gott für jede Mücke, die man vor dem Eliastag (20. Juli) tötet, ein Sieb voll neuer Mücken beschert, und für jede Mücke, die man nach diesem Tage tötet, ein Sieb voll verschwinden läßt.
Ich springe aus dem Boot und renne, was ich rennen kann, zum Zelt; ich mache die Eingangstür auf und sehe im Halbdunkel statt Menschen Rentiere. Ich bin ins Rentierzelt geraten. Die Tiere fürchten mich nicht. Ich betrachte sie. Das krumme Geäst der Geweihe ist mir wohl verständlich. In Lappland gibt es ja so viele krumme Linien: krumme nach unten verlaufende Tannenäste, krumme Fichten, krumme Birken, krumme Beine der Lappen, Schuhe mit nach oben gekrümmten Spitzen. Ich sehe weiße und graue Rentiere und auch ganz kleine Kälbchen. Im ganzen ist es eine Gesellschaft von etwa dreißig Stück ...
Das Menschenzelt ist eine kleine Pyramide, kaum größer als ich, aus Brettern gezimmert und mit Rentierfellen bespannt. Ich öffne die Tür und krieche hinein. Die Tür fällt durch ihr eigenes Gewicht hinter mir wieder zu.
Während ich bei den Rentieren war, hatten sich schon alle Lappen im Zelt versammelt; neben meinen Reisebegleitern sehe ich noch einen jungen Lappen und eine Frau. Im Zelte scheinen sie alle gleich; alle sitzen auf Rentierfellen um das Feuer, über dem ein kleiner schwarzer Kessel hängt. Man bietet mir Platz auf einem Rentierfell an. Ich setze mich und schweige wie sie. Ich erhole mich am rauchenden Feuer von den Mückenstichen. Dann beginne ich mich im Zelte umzusehen.
Es ist darin gar nicht so schlecht, wie man es beschreibt. Die Luft ist gut, die Lüftung vorzüglich. Unangenehm ist nur das Bewußtsein, daß man nicht aufstehen kann und immer sitzen muß.
Ein Platz am Feuer ist mit Tannenzweigen bedeckt und abgezäunt; verschiedene Wirtschaftsgeräte liegen darauf. Es ist jener heilige Platz, den eine Frau nicht überschreiten darf.
Die Alte beginnt, nachdem sie etwas ausgeruht, den Auerhahn zu rupfen; die anderen sehen zu. Ich leite das Gespräch mit einer Frage über die krummen Schuhe Wassilijs ein. Ich erkundige mich nach den Benennungen der verschiedenen Kleidungsstücke und Geräte und schreibe mir alles auf. Mit Rentieren fahren sie, Rentiere essen sie, auf Rentierfellen schlafen sie und in Rentierfelle kleiden sie sich. Es sind nomadisierende Lappen. »Warum nennt man euch Nomaden?« frage ich sie.
»Man nennt uns so«, erklärt man mir, »weil der eine in den Bergen, der andere am Jagilschen Wald, ein dritter am Eisernen Hügel wohnt. Im Frühjahr fängt der Lappe in den Flüssen Salme; am Eliastag zieht er zu den Seen; Mitte September wieder zu den Flüssen. Gegen Weihnachten geht er in die Dörfer. Wir heißen Nomaden, weil sich unser Leben nach den Fischen und Rentieren richtet. In der heißen Zeit flieht das Rentier vor den Mücken zum Ozean, und der Lappe zieht mit ihm. So hat uns Gott angewiesen, denn er regiert die Welt. Er ist der Schöpfer!«
Ich erfahre, daß hier in der Nähe der Imandra keine richtigen Rentierzüchter wohnen; man läßt hier die Rentiere frei in die Berge ziehen und befaßt sieh mehr mit Jagd auf wilde Rentiere und mit Fischfang.
Während die Hausfrau den Auerhahn zurichtet, erzählt man mir von dieser Rentierjagd, die wohl übrigens bald gänzlich verschwinden wird.
Der Lappe zieht in die Berge mit einem Hund und einem zahmen männlichen Rentier, einem Irwas. Während der Brunftzeit leben die wilden Rentiere ein ganz eigenes Leben; der Irwas wird zu einem gefährlichen Tier, sein Hals schwillt an und wird fast ebenso dick wie der Rumpf. Ein kräftiger alter Irwas sammelt um sich ein ganzes Rudel von Kühen; er bewacht sie und läßt niemand heran. Im Walde lauern auf ihn aber andere Männchen. Wenn der Alte etwas erschöpft ist, beginnt ein jüngeres Männchen mit ihm zu kämpfen. Um diese Zeit begibt sich der Lappe auf die Jagd. Der Hund führt ihn auf die Herde zu. Der zahme Irwas tritt dem wilden in den Weg. Der Lappe hält sich hinter seinem Rentier versteckt, nähert sich so dem wilden, tötet es und schießt dann auf das führerlose Rudel. Das Fleisch wird zum Beizen in den See geworfen, der Lappe geht aber weiter und sucht neue Rudel. Im Herbst fährt er auf seinem Schlitten wieder in die Berge und holt sich das Rentierfleisch aus dem Wasser.
Bis der Auerhahn und die Fischsuppe gar werden, erzählt mir Wassili) verschiedenes über das Leben der Lappen. Die anderen hören aufmerksam zu und fügen ab und zu ihre Bemerkungen ein. Die Frauen schweigen bescheiden und würdevoll, ganz wie bei Homer. Sie sind alle beschäftigt: die eine überwacht den Auerhahn und die Fischsuppe, die andere näht mit Rentiersehnen statt Faden Schuhe (Kanjgas), die dritte sieht nach dem Feuer.
Das Leben der Jäger ist schnell beschrieben. Nun blicken alle auf mich: wie mag wohl mein Leben sein? Doch niemand wagt mich danach zu fragen. Sie haben ihre Jagd, ihre Rentiere und Wälder. Und was habe ich?
»Gibt es in den anderen Reichen auch Wälder?« fragt mich jemand von der anderen Seite des Kreises. – »Ja.«
»Was du nicht sagst!«
Die nächste Frage: Ob es auch Berge gibt? Und dann wieder: »Was du nicht sagst!« Die Rede kommt wie in einem richtigen Salon allmählich auf Politik. Sie wissen von der Reichsduma und haben sogar einen Abgeordneten gewählt, doch keinen Lappen, sondern einen Russen. Ich bin empört: Russen, die das Lappenvolk seit jeher unbarmherzig ausbeuten und mit Alkohol vergiften, sind ihre Vertreter in der Duma! Ich erkundige mich genauer und erfahre, daß jemand schon vorher beschlossen hatte, wen sie wählen sollten.
»Habt ihr dabei getrunken?« frage ich. »Hat man euch mit Branntwein traktiert?«
»Gewiß haben wir getrunken, ganz vorzüglich hat man uns traktiert«, antwortet Wassilij mit seinem leichtsinnigen Gesichtsausdruck.
»Hätte man mich gewählt«, fährt er fort, »so würde ich dem Zaren ins Ohr flüstern, wie die Lappen leben.«
»Was würdest du ihm denn sagen?« Ich muß an jenen Kleinrussen denken, der sich den Zaren stets mit einem Stück Speck in der Hand vorstellte.
»Nun, daß wir hier im See viele Ssige haben; man sollte sie auf Staatskosten räuchern und nach Petersburg schicken. Ja, ich wüßte schon, was ich ihm sagen würde.«
Was könnte man ihnen geben? – frage ich mich, indem ich mich an die Stelle des Kaisers versetze, dem der Lappe etwas in Ohr flüstert. – Die Predigt des Christentums? – Sie ist längst ausgenützt... Die Lappen sind heute sämtlich Christen. Der heilige Triphon war ja als Bekehrer der Lappen berühmt. Das von Triphon begründete Kloster sammelte große Reichtümer, verarmte und bereicherte sich wieder. Doch die Lappen bleiben ebenso arm, wie sie es als Heiden waren; wurden sogar noch ärmer, noch unglücklicher, denn die russischen und finnischen Ausbeuter können zu den Christen viel leichter vordringen als zu den Heiden. Soll man sie an die Zivilisation ausliefern ...? Eine Eisenbahn bauen und unter ihnen Bildung verbreiten? Es wäre doch schade, kein wildes Volk mehr im Staate zu haben. Vielleicht braucht der Staat so ein wildes Nomadenvolk als Korrektur für die seelenlose Zivilisation, um im Notfall seine Hilfe anzurufen.
Mir fällt das großartige Projekt einer Verbindung des Stillen Ozeans mit dem Nördlichen Eismeer, zwischen den Häfen Port Arthur und Alexandrowsk ein; die projektierte Eisenbahn sollte gerade diese Gegend passieren. Sie ist aber nicht für die Lappen. Was geht sie die Eisenbahn an?
»Gewiß brauchen wir die Bahn«, sagt mir Wassilij. »Die Lappen werden dann ihre Ssige direkt nach Petersburg bringen können.«
Wassilij lacht und freut sich wie ein Kind über diese imaginäre Möglichkeit; auch die andern lachen, sogar die Frauen; auch ich bin als Staatsbürger höchst befriedigt: zwei Fliegen auf einen Schlag! Nun fehlt ihnen noch die Bildung. Sie wird wohl auch einmal von irgendwoher zu ihnen kommen. »Wenn der Lappe etwas lernt«, wendet jemand ein, »wird er doch wie die anderen.«
»Wie wer?«
Man erzählt mir eine Legende von einem gebildeten Lappen. Ein Lappe zog einmal mit seinen Rentieren nach Archangelsk und verlor dort seinen Jungen. Er verkaufte die Rentiere und kehrte ohne Sohn in seine heimatliche Tundra zurück. Der kleine Lappe wurde indes von Russen gefunden, erzogen und kam in die Schule. Später wurde er Arzt, und es heißt, daß er ein ausgezeichneter Arzt sei.
»Er war ein Lappe«, schließt die Erzählung, »und ist nun Doktor.«
Auch ich werde von der Stimmung der Lappen angesteckt. Unter dieser hölzernen Glocke mit dem Luftloch in der Decke erscheint mir unsere Kulturwelt plötzlich so unendlich schön, weit und großartig wie der Himmel.
Ich bin aber zweifellos ein Teilchen von jener Welt!
Ich will diesen unglücklichen Leuten am Feuer irgend etwas Schönes erzählen. Was soll ich ihnen aber sagen?
Was ist denn das Schönste von allem, was wir haben? Doch zweifellos die sternenklare Sommernacht.
»Bei uns«, sage ich, »tritt jetzt, wenn der Tag zu Ende geht, eine finstere Nacht ein. Auch im Winter haben wir Tage und Nächte.«
Ich sehe auf die Uhr und sage noch: »Wenn das Wetter schön ist, leuchten bei uns jetzt Mond und Sterne.«
Meine Worte machen großen Eindruck. Auch die Frauen zeigen Interesse; eine von ihnen, die kein Russisch versteht, läßt sich meine Worte übersetzen. Ich bin der Mittelpunkt des Salons. Alle mustern mich lange und aufmerksam. Es ist wie jener Augenblick der Annäherung zwischen Gast und Familie des Gastgebers im Provinzverkehr, wenn auch die Damen am Gespräch teilzunehmen anfangen und sogar die Kinder zu sprechen wagen. Die würdige Hausfrau selbst beginnt das Gespräch:
»Ja.«
»Oho!« sagt sie ungläubig.
Ich bestätige meine Aussage und beschreibe das Äußere meiner Kinder.
»Was du nicht sagst!« sagt die Alte erstaunt und übersetzt meine Worte ihrer Nachbarin, die kein Russisch versteht. Jetzt sprechen sie plötzlich alle Lappländisch. Mir scheint, sie staunen, daß ein so ungewöhnlicher Mensch sich auf dieselbe Weise wie sie und wie die Tiere fortpflanzen kann.
»Was ist denn dabei Besonderes?« unterbreche ich endlich das mir unverständliche Gespräch. »Es kommt wohl hier auch vor, daß Russen Lappländerinnen heiraten.«
»Nein! Nein!« tönt es wie aus einem Munde. »Welcher Russe wird eine Lappländerin zur Frau nehmen! Sie ist ja für ihn nur eine Lappländerin!«
Dies widerspricht allem, was ich über diese Frage gehört habe. Ich habe übrigens auch einen Brief in der Tasche, den mir der Pope, der zwanzig Jahre unter Lappen lebte, an seinen Sohn, der mit einer Lappländerin verheiratet ist, mitgegeben hat. Der Brief trägt sogar die Adresse: »An den erblichen Ehrenbürger K.«
»Nun, wie ist es denn mit diesem?« Ich nenne den Namen.
»Er ist ja ein Lappe und kein Russe«, antwortet man mir.
»Ein Ehrenbürger, Sohn eines Geistlichen ...«
»Das ist ganz gleich. Er ist ein Lappe: er fängt Fische, hält sich Rentiere. Er ist ein Lappe.«
Jetzt verstehe ich es: das Übernatürliche meiner Persönlichkeit beruht weder auf meinem Äußern noch auf meiner Kleidung und Bildung, sondern ausschließlich auf meiner Tätigkeit, die der ihrigen entgegengesetzt ist. Dies wird mir begreiflicher, als ich höre, daß ein gewisser Schiffskapitän a. D. und ein kleiner Telegraphenbeamter als ebenso übernatürliche Geschöpfe gelten. Diese beiden sind Prätendenten auf die Hand der Warwara Kobylina. Von dieser reichen Partie habe ich schon am Weißen Meer gehört. Sie ist die Tochter eines sehr reichen Lappen. Die Leute wohnen in der Tundra und besitzen eine große Rentierherde. Der Vater wollte seine Tochter an einen Lappen verheiraten, denn er braucht Hilfe, um eine so große Herde zu verwalten. Er kam einmal mit seiner Tochter nach Archangelsk, um Rentiere zu verkaufen. Da verliebte sich die einzige Tochter des Lappen in zwei Russen zugleich: in den Kapitän und den Telegraphenbeamten. Es gab noch andere Kandidaten – tausend Rentiere haben ja einen Wert von zehntausend Rubeln –, sie verliebte sich aber nur in diese zwei. Der Vater hatte große Mühe, sie aus Archangelsk heimzubringen. Jetzt verzehrt sie sich vor Sehnsucht, weint Tage und Nächte und ist mehr tot als lebendig.
»Geht es denn, daß eine Lappländerin einen Russen heiratet?« fragte man, als die Geschichte zu Ende erzählt war. Alle fanden, daß es nicht ginge.
Der Bericht über diesen Roman in der Tundra weckt in mir und in den Frauen großes Interesse. Ich fühle mich so wohl, als ob ich nicht bei Lappen, sondern in einer fremden großen Stadt, bei der einzigen mir bekannten lieben Familie zu Besuch wäre.
Die Hausfrau hatte den Auerhahn ganz vergessen. Er meldet sich aber selbst: sein Bein hebt plötzlich den Topfkessel und wirft ihn ins Feuer; das Wasser läuft über und zischt. Der Auerhahn ist gar. Jetzt fällt mir ein, daß ich in meiner Reisetasche Branntwein habe, den ich eigens für die Lappen, die große Liebhaber von Spirituosen sind, mitgenommen habe.
»Trinkt ihr Branntwein?«
»Nein.«
Mit den Augen betteln sie aber. Ich schenke ein Gläschen voll ein und reiche es, wie man mich lehrte, zuerst der Hausfrau. Aus Anstand schwankt sie noch einen Augenblick, dann nimmt sie das Glas, sagt: »Nun, ich wünsche Gesundheit!« und trinkt es sehr feierlich aus. Nach ihr trinken alle Männer und Frauen, und alle sagen mir ebenso feierlich: »Nun, ich wünsche Gesundheit!« Die Reihe kommt an die junge Lappländerin, die wie eine Japanerin aussieht. Ich sehe, daß sie den Branntwein mit Widerwillen hinunterwürgt. Das Glas macht noch eine Runde um das Feuer und kommt wieder zur Japanerin. Sie fleht mich mit den Augen, auch die Mutter fleht. Ich frage:
»Sie will wohl nicht?«
»Nein, sie muß!« antwortet die Alte. »Sie muß trinken: was ein Gast anbietet, darf man nicht zurückweisen.«
»Eine sonderbare Sitte! Ich habe es nicht gewußt. Verzeih!«
»Vielleicht wollt ihr auch nicht?« frage ich die Mutter.
»Nein, wir trinken gern«, antwortet sie und trinkt, mir wieder Wohlergehen wünschend, für die Tochter und für sich. Etwas später, als wir alle mit dem Auerhahn beschäftigt sind, ist die Hausfrau plötzlich wie verändert: ihr strenges, versteinertes Gesicht belebt sich, die Augen leuchten, sie spitzt die Lippen.
»Au – ua – ui – kytj! Ua – ui – ua – kytj!«
Ich begreife: das ist lappländischer Gesang! Und ich hatte die Leute im Boot vergebens gebeten, mir etwas vorzusingen. Es klingt aber gar nicht wie ein Lied: die Laute scheinen aus dem Teekessel zu kommen und mit dem Rauch durch das Luftloch hinauszufliegen.
»Ua – ui ...«
Das Lied schließt mit dem unerwarteten Ausruf: »Kaschkarary.«
Was könnte es bedeuten?
Wassilij übersetzt mir:
»Iwan Iwanowitsch fährt an der Ketzerin vorbei ...«
»Gibt es denn auch bei euch einen Iwan Iwanowitsch?« unterbreche ich ihn, an der Richtigkeit der Übersetzung zweifelnd.
»Überall gibt es einen Iwan Iwanowitsch«, erwidert Wassilij, »Jewwan – Jewwan – ylt – heißt Iwan Iwanowitsch.«
Er fährt fort: »Iwan Iwanowitsch fährt an der Ketzerin vorbei, an der schrecklichen Ketzerin vorbei nach Kandalakscha und hofft, sie werde nicht herausspringen. Iwan Iwanowitsch schwimmt; er steuert mit den Füßen und rudert mit den Händen; er bringt seiner Liebsten Strümpfe, weiße Strümpfe und gestickte Fausthandschuhe. Die Ketzerin springt aber doch heraus und schreit ihn an: Iwan Iwanowitsch, Iwan Iwanowitsch, Kasch – kisch – karary!«
»Was geschah mit Iwan Iwanowitsch?«
»Nichts. Hier endet das Lied.«
Als das Konzert zu Ende ist, säubert man die Bretter von den Speiseresten und holt schmierige Karten. Ein jeder bekommt fünf Karten.
»Ist das nicht das Schafskopfspiel?«
»Ja, Schafskopf.«
»Dann spiele ich mit!«
Auch ich bekomme fünf Karten. Ich spiele zerstreut und bleibe Schafskopf.
Einen solchen Effekt, einen solchen Heiterkeitserfolg habe ich seit langem nicht erlebt. Wassilij lacht, die Frauen lachen, alle Lappen lachen, die Alte kann vor Lachen gar nicht ausgeben. Kaum blickt sie mich an, als sie sich schon wieder in Krämpfen windet.
Welch ein Glück ist es, in Lappland Schafskopf zu sein! Sonst ist es wenig angenehm, aber hier... Ich versuche, das Spiel noch einmal zu verlieren, es will mir aber, sosehr ich mich auch bemühe, nicht gelingen: immer ist jemand noch dümmer als ich.
Beim Kartenspiel, vergesse ich ganz, was mich in Lappland am meisten interessiert: die Mitternachtssonne. Durch einige Regentropfen, die von oben hereinfliegen, werde ich daran erinnert.
»Es regnet!« sage ich. »Ich bekomme die Mitternachtssonne wieder nicht zu sehen!«
»Es regnet! Es regnet!« rufen die Lappen. »Nun heißt es schnell eine Kuwaksa bauen.«
Die Kuwaksa ist ein besonderes Zelt, das rasch aus einem Segel hergestellt werden kann. Wassilij hatte mir schon längst davon erzählt und versprochen, daß ich auf der Insel besser schlafen werde als zu Hause: er wisse ein Mittel, um jede Mücke von meiner Kuwaksa fernzuhalten.
In einigen Minuten Ist das Zelt fertig; es ist ganz klein und nur für eine Person bestimmt. Ich lege mich auf warme Rentierfelle und bedecke mich mit einem Laken und einem Fell. Es ist so wohlig und warm. Ich atme so leicht. Ich denke über alle meine Eindrücke nach und suche die inneren Zusammenhänge zwischen ihnen zu ergründen. Ein sonderbarer Geruch, der bald an Räucherkerzen, bald an Ofendunst und bald an glimmende Watte erinnert, bringt meine Gedanken durcheinander. Was könnte es sein? Der Dunst wird immer stärker, und meine Augen tränen vor Rauch. Ich springe auf, sehe mich um und entdecke in einem Winkel des Zeltes einen rauchenden schwarzen Topf. Darin glimmen einige Stücke faules Holz oder trockene Schwämme, und der ätzende Rauch füllt das ganze Zelt. Jetzt verstehe ich: es ist die mir von Wassilij zugedachte Überraschung; er hat mir ja versprochen, daß mich keine Mücke anrühren wird. Ich kann mich nicht entschließen, den Topf hinauszustellen, denn Wassilij würde sich dadurch gekränkt fühlen. Ich stecke den Kopf aus dem Zelt. Draußen regnet es ja; woher sollten jetzt Mücken kommen? Es regnet. Die Rentiere gehen eines nach dem anderen aus ihrem Zelt in den Wald.
Sie füllen das ganze Dreieck zwischen ihrem Zelt, dem der Lappen und meiner Kuwaksa. Sie versuchen Gras zu rupfen, finden aber keines und begeben sich alle in den Wald. Nun stelle ich den rauchenden Topf doch hinaus und richte mich wieder im Zelte ein. Ich höre, wie die Regentropfen auf meine Kuwaksa trommeln und wie die Lappen in ihrem Zelt jeden Augenblick in schallendes Gelächter ausbrechen. Sie spielen noch immer Schafskopf.
Unter den hier ansässigen Russen herrscht die Ansicht, daß dieses Volk im Aussterben begriffen sei. Die Gelehrten streiten darüber. Wenn ich dieses kindliche Lachen höre, muß auch ich glauben, daß die Lappen degenerieren und aussterben müssen. So lachen keine erwachsenen Menschen; können aber Kinder kämpfen? Noch einige Jahre – und es gibt hier keinen einzigen Lappen mehr.
Ich habe einmal gelesen, daß die Lappen spurlos von der Erde verschwinden müssen, daß kein Dichter ihr armseliges Leben besingen wird, daß ›der letzte Mohikaner‹ in Lappland unmöglich sei. Um so sonderbarer klingt das unschuldige kindliche Lachen dieser vergessenen Menschen am Rande der Welt. Der Staat muß unbedingt für die Erhaltung des Nomadenvolkes sorgen. Wenn die Menschen in den Städten einmal das Lachen verlernen, werden sie es von den Nomaden wieder lernen.
»Steht auf!« wecke ich die Lappen. »Steht auf!«
Sie schlafen aber wie tot, alle in einem Zelt.
»Steht doch auf!«
Unter den herabhängenden breiten Tatzen der nächsten Tanne lugt, der Kahlkopf eines Zwerges hervor.
»Wassilij, bist du es? Wie kommst du her?«
Der Alte schlief die ganze Nacht im Freien. Unter den Tannenästen ist es trocken wie in einem Zelt. Die lappländischen Tannen haben oft die Form eines Zeltes. Sie lassen ihre Äste so herabhängen, um sich besser vor den eisigen Ozeanwinden zu schützen.
Es dauert recht lange, bis sie Feuer machen, Tee aufwärmen, eine Fischsuppe kochen, frühstücken und sich zum Aufbruch rüsten; es wird Tag, Mücken beginnen uns zu stechen, die Rentiere kommen aus dem Walde zurück, die Sonne brennt. Der Tag ist hier aber anders als anderswo: die Sonne weckt in der Natur keinerlei Laute, ihr Licht ist übertrieben grell und scharf, doch kalt; auch das Grün ist zu leuchtend und unnatürlich. Der Tag macht keinen echten Eindruck, es ist wie eine Spiegelung in Kristall. Die schwarzen Berge schauen wie versteinerte Tiere. An der Imandra gibt es überhaupt viele Tiere aus Stein. Hier lugt aus dem Wasser ein Seehund oder ein Walroß hervor, dort liegt vor unserem Boote ein mächtiger schwarzer Walfisch.
»Wolsa-Kedet!« sagt der Lappe, auf den Walfisch zeigend und aufhorchend.
Alle Lappen ziehen die Ruder ein und spitzen die Ohren. Ich höre Tropfen von den Rudern ins Wasser fallen und ein eigentümliches Rauschen am Stein, der einem Walfisch gleicht. Die leise Brandung treibt weißen Schaum über den glatten Rücken des Walfisches und erzeugt dieses ungleichmäßige Rauschen. Der nasse Stein glänzt in der Sonne.
»Wolsa-Kedet rauscht!« sagt Wassilij.
Diese Langsamkeit der Lappen macht mich nervös; ich will schneller weiterfahren. Ich bin ganz in der Macht jener Triebkraft, die mich immer vorwärtsjagt. Die Gleichgültigkeit der Lappen dieser mich beherrschenden Triebkraft gegenüber macht mich nervös.
»Was ist denn dabei?« sage ich zu Wassilij. »Das Wasser rauscht, was ist denn dabei?«
»Nichts ... Es rauscht. Das kommt oft vor einem Wetter ...«
Ich sehe, daß er mir etwas erzählen will.
»Wolsa-Kedet bedeutet Walfisch-Stein. Die Väter sagen, er sei ein Zauberer ...«
Er erzählt mir die Legende:
»An der Imandra trafen sich zwei Zauberer und begannen zu streiten. Der eine sagte: ›Kannst du dich in ein Tier verwandeln?‹ Der andere darauf: ›Nein, ich kann aber wie ein Walfisch untertauchen und im Walde verschwinden, und du wirst mich nicht sehen.‹ Er wandte sich um und sprang ins Wasser. Als er schon nahe am Ufer war, zeigte er den Rücken. Der Zauberer am Ufer merkte das, schrie auf und jener wurde zu Stein.«
Das ist die Legende vom Walfisch.
»Und dieses Walroß?« frage ich.
»Nein, es ist ein Stein.«
»Und der Vogel da?«
»Auch ein Stein. Bei der Bucht vor Kola gibt es versteinerte Menschen. Eine Zauberin schleppte über den Ozean eine Insel, um mit ihr die Bucht zu versperren. Jemand sah es aber vom Ufer und schrie auf. Die Insel blieb stehen, die Zauberin wurde zu Stein, und auch alle Menschen auf der Insel wurden zu Stein ...«
Wir nähern uns den Bergen, Mir scheint, daß, wenn jetzt jemand ordentlich aufschreien wollte, wir wie Berge versteinern würden. Ich stoße auch wirklich einen Schrei aus. Die Lappen ziehen die Ruder ein und lauschen dem Echo: sie sind alle wie versteinert.
Soll ich mir einen Scherz erlauben? Im Boote liegt mir zu Füßen ein großer Ankerstein mit einem Strick. Ich hebe ihn plötzlich auf und werfe ihn dicht neben dem Lappenmädchen in die Imandra. Bum!
Was sich im nächsten Augenblick abspielte, war mir nicht ganz klar. Ich sah das Mädchen plötzlich mit gezücktem Messer neben mir stehen, die anderen hielten sie fest. Im Wasser schwammen die Ruder.
Die Lappländerin hatte vor Schreck mit einem Ruder nach mir geworfen, mich aber nicht getroffen; darauf wollte sie mich erstechen, man hielt sie aber noch rechtzeitig zurück. Jetzt hatte sie einen hysterischen Anfall.
»Man darf unsere Weiber nicht erschrecken«, sagt mir Wassilij vorwurfsvoll. »Unsere Weiber sind schreckhaft, man soll mit ihnen nicht scherzen. Wie leicht könnte ein Unglück geschehen.«
Das Mädchen kommt etwas später zur Besinnung; die Lappen lachen, als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre. Man berichtet mir wie eine lustige Anekdote folgenden Fall:
»Ein russischer Soldat kam einmal in ein Lappenzelt. Vor dem Feuer saß die Hausfrau mit ihrem Kind im Arm. Der Soldat setzte sich heran und begann ins Feuer zu schauen. Er wollte mit der Frau scherzen: er zeigte mit dem Finger auf das Feuer und schrie laut: ›Das Rebhuhn!‹ Die Lappländerin warf ihr Kind ins Feuer und stürzte sich mit einem Messer auf den Soldaten. Während er mit ihr kämpfte und sie zu entwaffnen suchte, war das Kind gänzlich verbrannt.«
Es gab noch einen anderen Fall, erzählt die Alte... Und noch einen Fall... In der Lowosjerschen Siedlung ereignete sich folgendes... In der Kildinschen Siedlung aber... Man berichtet mir über eine Menge ähnlicher Fälle, und immer heißt es: »Unsere Weiber sind leicht zu erschrecken.«
»Woher kommt das?« frage ich. »Gott weiß, woher.«
Nach allen diesen Erzählungen überkommt mich das Verlangen, noch mehr zu lärmen und zu schreien. Mir scheint, daß, wenn ich noch einmal aufschreie, alle diese versteinerten Tiere, Fische und Vögel erschrecken und erwachen werden und sich dann etwas abspielt, was ich mir im Augenblick nicht recht vorstellen kann, was mir aber schon jetzt Angst macht.
»In den Bergen gibt es Seen«, erzählt Wassilij, »wo der Lappe es nie wagt, ein Wort auszusprechen oder mit einem Ruder zu klopfen. Hier in der Nähe liegt auch so ein See – der Wardsee.«
Er zeigt auf die finstere Schlucht Im-Jegor. Diese Schlucht bildet den Eingang zu der gigantischen Feste der chibinischen Berge. Morgen wollen wir dort hinziehen, um wilde Rentiere zu jagen. Heute wollen wir noch die Weiße Bucht besuchen. Dort wohnen die Lappen in Holzbaracken, dort wohnt auch ein Telegraphenbeamter, bei dem man Butter und Brot bekommen kann.
Am Fuße der finsteren chibinischen Berge, die an Dantes Hölle gemahnen, wohnt ein kleiner Beamter. Er ist wie eine winzige Schraube in einer Riesenuhr: so klein ist er, und so groß sind die Berge.
Das Schicksal hat ihn in dieses öde Land verbannt; er fügte sich dem Schicksal und blieb hier wohnen. Er steht in irgendeiner Beziehung zum großartigen Projekt der Verbindung des Nördlichen Eismeeres mit dem Stillen Ozean. Dieser Plan ist oben längst zusammengefallen. Unten besteht er aber aus Trägheit noch immer, und die winzige Schraube sitzt noch immer an ihrem Platz.
Bei meinen Reisen gehe ich immer den Beamten und ortsansässigen Russen aus dem Wege. Sie sind alle am Leben des Landes irgendwie persönlich interessiert und betrachten es aus ihren winzigen Guckfensterchen bald beleidigt und erbost, bald selbstzufrieden und eingebildet. Sie sind davon überzeugt, daß wir Abseitsstehenden nichts sehen und daß man, um etwas zu sehen, sich gleich ihnen für Jahrzehnte einspannen muß.
Die Reisenden halten die Lappen für gutmütige und zutrauliche Kinder, die ortsansässigen Russen aber für hinterlistig und schlecht. Woher dieser Widerspruch? Wäre ich ein Gelehrter, so müßte ich beide Ansichten in den Kreis meiner Betrachtungen ziehen. Ich bin aber kein Gelehrter, verfolge keinerlei spezielle Ziele und setze die Unverfälschtheit meiner Stimmungen über alles.
Ich muß den Beamten aufsuchen, um mir Mehl und Butter zu verschaffen. Ich habe Angst vor dieser Bekanntschaft, denn ich fürchte einen Eingriff in meine eigenen unabhängigen Ansichten, die ich mir im unmittelbaren Umgang mit der Natur und den Lappen gemacht habe. Ich wache eifersüchtig über die Eindrücke, die ich bei dieser schönen, lange ersehnten Reise gewonnen habe, und will sie mir nicht rauben lassen.
Ich spreche mit dem Beamten anfangs über Butter und Brot, dann über Kartoffeln, die er bauen will. Schließlich kommt die Rede ganz von selbst auf die Lappen.
»Sie sind wilde, stumpfsinnige, grausame und schlechte Menschen«, sagt er mir, »sie degenerieren und werden bald aussterben.«
»Das ist noch durchaus nicht bewiesen«, versuche ich einzuwenden. »Sie sterben vielleicht noch lange nicht aus.«
»Nein, sie sterben aus«, sagt er, »sie degenerieren.«
Ich darf nicht widersprechen: er weiß es ja besser.
Er schimpft noch lange auf die Lappen und beklagt sich, wie schwer es hier ein Kulturmensch im Winter habe, wenn die Sonne gar nicht aufgeht. Es sei so finster, vom Boden ziehe es... Es sei unheimlich...
Mir ist es plötzlich so, als ob ich noch gar nicht gereist wäre. Ich sitze irgendwo mit einem wildfremden Menschen und schimpfe mit ihm aus lauter Langweile auf die Lappen. Ich habe sogar das dunkle Gefühl, daß ich im Unrecht bin: dieses Schräubchen ist ja hier gegen seinen Willen festgespannt. Ich bin aber frei. Ich trete hinaus. Mich empfängt der in der Sonne flammende Spiegel des ruhigen Bergsees.
Ich will erst eine Stunde schlafen und dann sehen, was sich alles in dieser geheimnisvollen sonnigen Nacht abspielt.
Das Stationshaus ist ganz nach dem Vorbilde einer lappländischen Hütte gebaut. Es gibt hier Fenster, Bänke und einen Herd. Die Lappen haben sich alle im Stationshause versammelt und sitzen in Erwartung auf den Bänken. Die Stube ist voller Rauch, der die Mücken töten soll. Ich lege mich auf eine Bank und will gern allein bleiben. Doch alle zehn Lappen rühren sich nicht; sie starren mich an, sprechen kein Wort und scheinen auf etwas zu warten. Ich bringe es nicht übers Herz, sie hinauszuweisen, und lege mich hin in der Hoffnung, daß sie mich verstehen und sich von selbst entfernen werden. Sie verstehen mich aber nicht, bleiben sitzen und starren mich unverwandt an. Ich will ihnen etwas sagen, sie anschreien, kann es aber nicht; ich liege und schaue sie an, und sie schauen mich an. Meine Reise bricht plötzlich ab.
Wie bin ich eigentlich nach Lappland geraten und wozu? Diese Menschen sind ja ebenso roh und gewöhnlich wie unsere Bauern. Die unsrigen haben Kühe und diese – Rentiere. Sie sind ja gar keine Jäger! Bei uns ist jetzt Nacht. Wie schön ist doch die Nacht! Ich bin zu Hause: um mich herum ist es dunkel, vollkommen dunkel. Etwas zwingt mich, die Augen zu öffnen. – Nein, ich öffne sie nicht, ich öffne sie nicht! – Ich will sie auch gar nicht öffnen, ich will nur ein klein wenig ein Lid heben und schauen, wie schön unsere Nacht ist! – Ich öffne die Augen. Ganz Imandra steht in Feuer. Die Sonne! Die Nacht, von der ich träumte, entschwindet wie ein großer schwarzer Vogel mit flammendem Gefieder über dem See nach Süden.
Die Lappen sind inzwischen fortgegangen. Der Rauch hat sich zerstreut. Auf der Fensterbank liegen tote Mücken.
Es ist erst zehn Uhr abends. Die Berge schlafen alle unter weißen Decken. Die Imandra träumt in rotem Licht; es naht die Zeit der Zauberträume im Lande der Mitternachtssonne. Was mögen diese Berge jetzt träumen? Sie sehen gewiß dasselbe, was ich sehe – und alles ist ein Traum.
Auf dem See liegt ein Nachen, im Nachen steht ein Mensch. Er scheint auf etwas zu warten. Er ist hier der erste. Die Bäume und Berge treten allmählich zum See heran. Aus dem Walde kommen Tiere, aus dem Wasser – Fische. Der Mond lehnt an einer Birke. Die Sonne steht unbeweglich vor dem Fenster.
Es klirren die Saiten einer ›Kantele‹. Der Mensch im Nachen singt.
Er singt von den Taten vergangener Zeiten, er singt vom Ursprung aller Dinge. Ich erwache... Die Sonne stellt nicht mehr vor dem Fenster: so hoch ist sie inzwischen gestiegen. Wieder habe ich die Mitternachtssonne verpaßt. Wassilij sitzt vor dem Herd und gießt in einer hölzernen Form Bleikugeln für die Rentierjagd. Heute werden wir jagen und die nächste Nacht in den Bergen verbringen.
In den Bergen gibt es einen See, vor dem die Lappen abergläubische Scheu haben. Dieser See ist von allen Seiten von Bergen eingeschlossen und daher fast immer ruhig und spiegelglatt. Hoch über dem Wasser liegt eine Höhle, in der böse Geister wohnen. Im See gibt es eine Unmenge Fische, doch niemand wagt es, hier zu fischen. Man darf es nicht, denn beim geringsten Geräusch eines Ruders fliegen die bösen Geister aus der Höhle. Ein junger Gelehrter von der finnländischen wissenschaftlichen Expedition versammelte einmal viele Lappen am Seeufer und begann aus einer Flinte in die Höhle zu feuern. Aus der Höhle flogen große Schwärme schwarzer und weißer Vögel auf; sonst geschah aber nichts.
Von nun an fürchten die Lappen nicht mehr, auf diesem See zu lärmen und zu fischen.
Schön wäre es, zu dieser Höhle emporzuklettern und von dort aus auf die Mitternachtssonne zu schauen. Der See liegt aber zu weit abseits, und die Höhle soll ganz unzugänglich sein. Wassilij sagt, ich solle mich mit der Schlucht Im-Jegor begnügen, die nicht weniger düster als der See, doch zugänglicher sei. In dieser Schlucht werden wir übernachten, von dort aus in die Tiefe der chibinischen Berge eindringen und schließlich längs des Golzflusses an die Imandra zurückkehren.
Während wir Patronen stopfen, Lebensmittel einpacken und sonstige Reisevorbereitungen machen, erwartet die Imandra wieder den Abend und die sonnige Nacht.
Wird denn wieder etwas dazwischenkommen und mich hindern, die Mitternachtssonne zu sehen – Regen, Nebel, oder wir kommen nicht rechtzeitig aus dem Wald in die Berge? Um aus der Schlucht hinauszukommen, müssen wir zwei Stunden mit einem Boot fahren und dann drei Stunden steigen. Jetzt ist es schon sechs Uhr.
»Schneller, schneller!« treibe ich Wassilij an.
Unser Boot gleitet auf dem spiegelglatten Wasser. Kein Laut stört die Stille, ich sehe sogar keine Möwen. Die Schlucht ist schon aus der Ferne zu sehen; sie spaltet die schwarze steinerne Masse mitten entzwei. Vom See aus erscheint sie gar nicht so düster, wie man sie mir schilderte: sie ist einfach ein Tor, eine Eintrittspforte in diese schwarze Feste. Viel geheimnisvoller und düsterer ist der Wald am Fuße der Berge. Die Berge sind tot, der Wald ist aber lebendig und tot zugleich.
Wir landen und treten in den Wald: Grabesstille! Hier fehlt jene grüne Waldseele, nach der sich der Vagabund sehnt; hier gibt es keine Vögel, kein Gras, keine Sonnenflecke, keine Lichtungen. Wir treten auf weichgepolsterte Steine; ich muß an mit Moos überwucherte Grabplatten denken.
Nur zwei Lappen – Wassili] und sein Sohn – geleiten mich in die Berge. Die andern bleiben am Ufer der Imandra zurück. Sie setzen sich ums Feuer und beginnen Karten zu spielen. Morgen werden sie uns an der Mündung des Golzflusses erwarten.
Ich nehme mir mein Moskitonetz vors Gesicht; der Wald erscheint dadurch noch finsterer. Wir steigen von Grabplatte zu Grabplatte den stillen Friedhof des Nordens empor. Das Lachen der kartenspielenden Lappen verhallt in der Ferne. Darf man denn hier lachen? Es ist ein seltsames, unheimliches Lachen.
Wir dringen in die Tiefe des Waldes ein. Unsere Flinten sind mit Kugeln und Schrot geladen. Wir können hier jeden Augenblick einem Bären, einem wilden Rentier oder einem Vielfraß begegnen; auf Auerhähne werden wir ganz bestimmt stoßen, und zwar sofort. Ich denke aber gar nicht daran, meine Flinte bereitzuhalten. Ich wiederhole vor mich hin die Verse:
Es war inmitten unsres Wegs im Leben –
Ich wandelte dahin durch finstre Bäume ...
Es ist der Eintritt zur Danteschen Hölle. Ich weiß nicht, in welchem Kreise wir uns augenblicklich befinden.
Die Mücken singen jetzt nicht mehr ihr gewöhnliches Jammerlied, sondern heulen wie Legionen böser Geister. Mein kleiner Virgil mit den krummen Beinen und krummen Schuhen geht nicht, sondern hüpft. Die Mücken haben ihm den Hals blutig gestochen. Wir rennen, von den Dämonen der Danteschen Hölle verfolgt.
Im Dickicht gibt es ab und zu Lichtungen: da rieseln Bäche und stehen Gruppen von Obstbäumen. Erst wenn man ganz nahe herantritt, begreift man, wie es sich damit verhält: die Birken haben hier die Form von Apfelbäumen.
An einem solchen Bach entdecken wir einen Pfad, der an jene Fußpfade gemahnt, die bei uns von Pilgern und anderen Fußgängern am Rande der Felder eingetreten werden. Es ist aber eine Rentierfährte. Wir verfolgen diese Fährte in der Hoffnung, auf ein von Mücken gehetztes Rentier zu stoßen. Ich denke aber gar nicht an die Jagd; ich halte hartnäckig an der Ansicht fest, daß dieser Pfad von Pilgern eingetreten ist und daß es dort oben ein Kloster geben muß. Die Jagd will mir gar nicht in den Sinn. Plötzlich erscheint auf unserer Fährte ein Rebhuhn: es läuft nicht von uns fort, sondern auf uns zu. Wie sonderbar und ungewohnt mir auch das Gebaren des Vogels erscheint, unterliege ich sofort jener atavistischen Macht, die auf der Jagd den Kulturmenschen im Nu in einen Wilden verwandelt, und richte meine Flinte auf das uns entgegenlaufende Rebhuhn.
Wassilij hält mich zurück: »Der Vogel hat Kinder. Du sollst nicht schießen, du mußt Mitleid haben.«
Das Rebhuhn läuft auf uns zu, schreit und schlägt mit den Flügeln gegen die Erde. Auf seinen Ruf erscheint noch ein zweites Rebhuhn. Die beiden Vögel halten Rat. Das eine läuft geradewegs ins Waldesdickicht, das andere hüpft auf der Fährte vor uns her, blickt auf uns zurück und will offenbar, daß wir ihm folgen. Wenn wir stehenbleiben, bleibt es auch stehen. Wenn wir gehen, rollt es vor uns her. So führt es uns auf eine Waldwiese, wo die Birken wieder wie Äpfelbäume aussehen; es bleibt stehen, mustert uns, nickt uns zu und verschwindet im Gras. Der Vogel hat uns betrogen: er hat uns auf diese verzauberte Wiese mit Gras und Äpfelbäumen geführt und ist nun selbst verschwunden.
»Da ist es, schau nur hin! Da schleicht es!« bemerkt lachend Wassilij.
Ich kann tatsächlich sehen, wie auf der Spur des zurücklaufenden Vogels die Grashalme schwanken.
»Es läuft zurück zu seinen Kindern. Man darf nicht schießen. Es ist eine Sünde.«
Wäre nicht dieser Lappe da, so hätte ich sicher das Rebhuhn erschossen, ohne an seine Kinder zu denken. Denn die Wildschutzgesetze gelten nur dort, wo das Wild, ausstirbt; sie sind ja durchaus nicht vom Mitleid mit den Vögeln diktiert. Wenn ich einen Vogel töte, spüre ich nie Mitleid. Doch wenn ich es mir überlege... Ich überlege es mir aber nie. Kann man denn dabei überhaupt denken? Es ist ja Mord. Ist es denn nicht ganz gleich, ob ich einen einzigen Vogel töte oder eine ganze Familie, einen Vogel oder mehrere? Wenn man denkt, darf man nicht jagen. Die Jagd ist ein Vergessen, eine Rückkehr zu seinem ursprünglichen ›Ich‹, wo das goldene Zeitalter beginnt, in jenes herrliche Land, wohin wir als Kinder durchbrennen wollten, wo man ohne Überlegung tötet und keine Sünde empfindet. Woher hat nur dieser Wilde das Gefühl der Sünde? Hat es ihm, ein Apostel, wie der heilige Triphon, eingeflößt, oder ist dieses Mitleid mit den wehrlosen Vögeln dem Wilden von Anbeginn eigen? So seltsam ist es: der Jägerinstinkt beginnt bei mir mit einer reinen und poetischen Freude an der Sonne, am Laub, an den Menschen, welche Vögeln und Rentieren gleichen, und endet, wenn ich mich ihm ganz hingebe, unbedingt mit einem kleinen Mord, mit Blutstropfen eines unschuldigen Opfers. Woher kommen aber diese Instinkte?, Doch nicht aus der Natur, der sogar die Lappen entfremdet sind?
Während die Mücken um mich herum heulen, denke ich über meinen unwandelbaren, seelenreinigenden Jägerinstinkt nach; auf die Rentierfährte laufen ab und zu Vögel heraus, manchmal mit großen Familien. Einmal fliegt sogar ein zerzaustes Auerhuhn aus einem Tannenzelte hervor, setzt sich etwa zehn Schritte vor uns hin und betrachtet uns neugierig, wie eine große Henne.
»Töte es doch, töte!« sagt Wassilij, auf den Vogel zeigend. »Es ist Sünde, es hat ja Kinder...« »Wenn es auch Sünde ist... Es tut nichts... Eine Sünde kann auch ohne Folgen bleiben: hin ist hin.«
Der Wald wird immer lichter, die Bäume werden kleiner. Wir betreten einen neuen Kreis der Danteschen Hölle.
Wir lassen hinter uns den Wald – die Taibola, und treten in die Tundra. Man gebraucht dieses Wort gewöhnlich im samojedischen Sinne zur Bezeichnung eines großen, bis in den Grund gefrorenen Sumpfes. Beiden Lappen bezeichnet es aber einen vollständig trockenen, mit Rentiermoos, bewachsenen Platz.
Hier wollen wir ausruhen, Feuer machen und wenigstens eine Zeitlang die heulenden Mücken los sein. Nach einer Minute lodert schon das Feuer, die Mücken verschwinden, und ich nehme mein Moskitonetz vom Gesicht. Auf einmal sehe ich alles so hell, als ob die Sonne aus den Wolken hervorgetreten wäre. Unten liegt die Imandra mit ihren zahlreichen Inseln; im Hintergrunde ragt das Gebirge Tschuna-Tundra mit weißen Schneestreifen, die wie Rippen aussehen. Ringsherum ist Wald, wir stehen aber auf der Tundra, die, von grün-gelbem Rentiermoos bewachsen, wie eine von Mondlicht übergossene Wiese aussieht.
Das Rentiermoos ist eine durch und durch trockene Pflanze. Es braucht zehn Jahre, um einige Zentimeter Felsgestein zu überwuchern. Auch diese winzige Birke ist zwanzig oder dreißig Jahre alt. Da kriecht irgendein grauer Käfer; auch er ist wohl ohne Blut und Saft und wird nie größer. Und alles ist so still, so stumm. Es ist ein langsames, kaum glimmendes Leben. Hier müßte unbedingt ein Kloster stehen, hier müßten Mönche wohnen. Dieses trockene Leben kann selbst den strengsten Asketen nicht stören. Und wenn er hier diesen Gott weiß wie hergeratenen Schmetterling sieht, kann er noch höher steigen. Etwas höher gibt es nichts als nackte schwarze Felsen. Niemand kann sie überschreiten. Hier wohnt irgendwo der Tod; solange hier die nicht untergehende Sonne scheint, lauert er irgendwo im Schatten der Felsen; wenn aber die Winternacht beginnt, tritt er hervor und steht drohend im Spiel des Nordlichtes.
Der heilige Triphon lebte auf einem dieser Berge, in der Nähe des Ozeans. Er nannte die Berge ›Rippen des Nordens‹.
Nachdem wir am Feuer ausgeruht haben, steigen wir die nackten Felsen hinauf. Die Schlucht Im-Jegor erscheint uns nicht mehr als eine durch die Bergmasse gehende Spalte. Sie ist ein enges schwarzes Riesentor. Wenn wir eintreten, werden wir gewiß eines der Danteschen Tiere erblicken.
Schon sind wir in der Schlucht. Den Danteschen Panther finden wir hier nicht, dafür springt plötzlich aus dem Schnee – es gibt hier viel Schnee und Geröll – ein Rentier auf und läuft durch die ganze Schlucht ins Innere der chibinischen Berge. Wir wagen nicht zu schießen, denn durch die Erschütterung könnte eine der schlanken Felssäulen einstürzen.
Wir gehen auf festem altem Schnee durch die Schlucht und hoffen, das Rentier noch auf der andern Seite zu treffen. Als wir aus der Schlucht herauskommen, sehen wir aber nichts als ein grenzenloses Reich von Felsen, einen stummen steinernen Ozean.
Es ist zehn Uhr abends.
Wir haben unten Moos gesammelt und Feuer gemacht, denn hier, in der Nähe des Schnees, ist es ziemlich kalt. So werden wir die Nacht verbringen – hier gibt es keine einzige Mücke – und morgen früh weiterwandern. Der Himmel ist wolkenlos. Endlich werde ich die Mitternachtssonne sehen! Die Sonne steht noch hoch, und doch fühle ich im Glanze der Imandra und in den Schatten der Berge etwas Abendliches.
Bei uns im Süden sind jetzt die Baumstämme in den letzten Sonnenstrahlen wie in Blut getaucht; Menschen, die jetzt im Walde sind, beeilen sich, ins Feld hinauszutreten, und die auf dem Felde sind, wollen schneller den Wald erreichen. Bei uns steht jetzt für eine Weile die Zeit still, die Nachtigallen verstummen eine nach der anderen, und die Drossel beschließt mit ihrem letzten Lied den Abend... Noch einige Minuten – und über den Teichen schwirren Fledermäuse, und es beginnt ein eigenes nächtliches Leben...
Und hier...? Ich werde warten.
Die Lappen kümmern sich gar nicht um die Sonne. Sie trinken Tee und sind sehr vergnügt, denn ich habe ihnen ein ganzes Paket Tee geschenkt.
»Geht die Sonne bei euch unter?« frage ich sie, damit sie mit mir an die Mitternachtssonne denken.
»Sie geht unter. Dort, hinter jenem Hügel!«
Sie zeigen mit der Hand auf den Berg Tschuna-Tundra. Sie haben bisher unten am Fuße des Berges gewohnt, der die Mitternachtssonne verdeckte. Jetzt, in der Mückenzeit, gehen sie nicht auf Rentierjagd und sehen nicht die Mitternachtssonne. In der Sonne zuckte etwas. Der erste Strahl war wohl erloschen. Mir war es, als ob hinter der Schlucht in den Bergen jemand laut aufgeschrien und dann wie ein Kind zu weinen begonnen hätte.
Was war das?
Die Lappen sagen: wenn ein Mädchen in der Wüste ein Kind zur Welt bringt, so muß das Kind ewig weinen und die Wanderer um die Taufe anflehen.
Vielleicht weint jetzt so ein Kind?
Vielleicht ist es eine ihrer Gottheiten? Die Lappen haben einen weinenden Gott. Der böse Geist hat einmal ein Mädchen in der Wüste überfallen und vergewaltigt, und sie gebar einen Gott, der ewig weint. Vielleicht weint der Gott der Wüste?
»Was ist es? Hört ihr?«
»Ein Vogel.«
Im roten Schein der erlöschenden Sonne schrie wohl ein Schneehuhn.
Es ist nach elf. Ein Strahl erlöscht nach dem andern. Die Lappen haben ihren Tee ausgetrunken und wollen schlafen. Auch mir fallen die Lider zu. Ich muß unbedingt einschlafen, sonst wird etwas Außergewöhnliches geschehen. Man kann doch nicht außerhalb der Zeit stehen! Ich kann mich unmöglich besinnen, welches Datum heute ist.
»Der wievielte ist heute?«
»Ich weiß nicht.«
»Welchen Monat haben wir?«
»Ich weiß nicht.«
»Jahr?«
Sie lächeln gleichsam schuldbewußt. Sie wissen es nicht. Die Welt steht still.
Die Sonne ist fast gänzlich erloschen. Ich kann sie anschauen, ohne daß mir dabei die Augen schmerzen. Eine große rote tote Scheibe. Zuweilen rührt sich noch ein lebendiger aufrührerischer Strahl, zuckt wie im Todeskampf und erlischt. Auf den schwarzen Felsen sehe ich überall tote rote Kreise.
Die Lappen betrachten den roten Widerschein auf einem Flintenlauf und sprechen in ihrer Sprache. Sie scheinen zu streiten.
»Wovon sprecht ihr? Von der Sonne oder von der Flinte?«
»Von der Sonne. Wir sagen, daß sie heuer etwas leichter untergeht; vielleicht bleibt sie doch noch am Himmel.«
»Und wie war es im vorigen Jahr?«
»Da ging sie ganz unter. Dort, hinter jenem Hügel.«
Der vernünftige Teil meines Wesens ist eingeschlafen, und nur jener Teil, der frei durch den Weltenraum schweben und ins Ursein versinken kann, wacht noch.
Den riesengroßen schwarzen Vogel, der jetzt an der roten Scheibe vorbeifliegt, habe ich schon einmal gesehen. Er hat große häutige Flügel wie eine Fledermaus und mächtige Fänge. Ihm folgt ein zweiter Vogel, ein unendlicher Schwarm. Unzählige schwarze Punkte schweben vorbei. Es sind ja gar keine Vögel: es ist die Zeit, die dort unten über der sündigen Erde, über Menschen, die von schwülen Wäldern umgeben sind, vorbeischwebt. Oder sind es Menschen, die durch lange Jahre eine unendliche Straße entlanglaufen? Sie laufen an zwei straff gespannten Fäden entlang, immer weiter und weiter. Ich verfolge sie mit den Blicken und sehe, daß ein böser, krummbeiniger Zwerg die beiden Fäden fortreißen will. Der Anblick ist unheimlich. Was wird geschehen? Die Menschen können nicht ohne diese Fäden leben. Erst reißt der eine Faden, dann der andere... Alles vermischt sich und gerät durcheinander... Blut, Blut, Blut...
Es ist kein Traum: es ist die Irrfahrt des befreiten Geistes im blutroten Schein der Mitternachtssonne. Auch die Lappen schlafen nicht, auch ihre Seelen irren irgendwo.
»Schlaft ihr nicht?«
»Nein.«
»Was waren es für Vögel, die eben an der Sonne vorbeizogen? Habt ihr sie gesehen?«
»Es sind Wildgänse, die zum Ozean fliegen.« Die Sonne ist längst erloschen; ich habe längst jede Vorstellung von der Zeit verloren. Überall – auf dem See, den Bergen, dem Flintenlauf fließt rotes Blut. Schwarze Steine und rotes Blut.
Wenn doch ein Riese aufstünde und diese Wildnis irgendwie anders beleuchten wollte. Wir sitzen, schwache, winzige Klümpchen, am Fuße der Felsen. Wir sind ohnmächtig. Wir können vom Gipfel dieses Sonnenberges alles sehen, können aber nichts unternehmen...
Die ganze Natur sehnt sich nach diesem Riesenmenschen.
Ich kann alle diese Irrfahrten des Geistes im Lichte der stehengebliebenen Sonne gar nicht verfolgen, kann sie nicht beschreiben. Wir sind schwache Menschen, wir warten und flehen, daß ein Sonnenstrahl aufflamme und diesen unheimlichen Augenblicken ein Ende mache.
Ich sehe den ersten Strahl.
»Seht ihr ihn?« frage ich die Lappen.
»Nein.«
»Jetzt hat es wieder aufgeblitzt, seht ihr ihn?«
»Nein.«
»Seht doch auf die Berge. Seht ihr nicht, daß sie heller werden?«
»Ja, die Berge werden heller. Da kommt ja schon die Sonne!«
»Wollen wir jetzt etwas schlafen. Nicht wahr?«
»Ja, ja! Man muß schlafen. Hier ist es schön, hier gibt es keine Mücken. Wir wollen ausschlafen, und wenn die Sonne wieder auf ihrem Platz steht, werden wir aufbrechen.«
Auf der Strecke zwischen Imandra und Kola gibt es noch eine ganze Reihe länglicher Seen und Flüsse. Streckenweise gehen wir durch die Taibola und fahren dann wieder mit Booten. Je mehr wir uns dem Ozean nähern, um so milder wird infolge der warmen Meeresströmungen das Klima. Ich merke es an den Vögeln. Im Innern Lapplands brüteten sie noch; hier stoße ich aber jeden Augenblick auf ausgewachsene Junge. Es ist auch möglich, daß ich mich irre: vielleicht habe ich früher die Jungen einfach übersehen, denn ich war zu sehr von der Jagdleidenschaft beherrscht. Jeden Augenblick stoßen wir hier auf ganze Familien von Auerhähnen und Rebhühnern; wir schießen aber nicht und ernähren uns von Fischen. Es vergeht ein Tag, eine Nacht, noch ein Tag und noch eine Nacht; die Sonne weicht nicht vom Himmel, es ist ewiger Tag. Je mehr wir uns dem Eismeer nähern, um so höher bleibt die Sonne über dem Horizont stehen, um so heller leuchtet sie zur Mitternacht. Am Ozean ist sie nachts beinahe die gleiche wie am Tage; wenn ich erwache, weiß ich nie, ob es Tag oder Nacht ist. Die Vögel fliegen, die Falter flattern, ein Rebhuhn wittert einen Fuchs und wird unruhig. Ist nun Tag oder Nacht? Ich vergesse das Datum, die Zeit verschwindet...
Zuweilen: überkommt mich wie eine große Freude das Bewußtsein, daß man auch ohne die Vergangenheit leben und etwas Großes anfangen kann. Man kann aber nichts anfangen: die Wüste schweigt, und das tote Auge steht ewig am Horizont und wacht, daß hier kein Toter auferstehe.