J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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XIII. Die Imponderabilien der Ehe.

Eros ist kein Gott, er ist ein Dämon.
Plato

Im Krieg zu zweien, den man die Ehe nennt, gibt es Katastrophen, die sich nur auf der stillen Bühne des Herzens abspielen und die sich nur aus Imponderabilien, aus unwägbaren und aus unaussprechbaren und oft geringfügigen seelischen Vorgängen zusammensetzen; aus offenbaren Nichtigkeiten, den Visionen der Einbildungskraft, aus flüchtigen Stimmungen, die man kaum zu erklären vermöchte, denen man aber die tiefsten Freuden und grössten Schmerzen zu danken hat, kurz – das, was uns gegenüber dem primitiven Menschen jenen höheren inneren Wert verleiht, den wir Seelenadel nennen möchten.

Denken wir nur einmal an die Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander und an die zahllosen Stimmungen, die Mann und Weib aneinander erleben können. Je grösser die Lust und das Bedürfnis sein wird, ineinander aufzugehen, sich restlos zu verstehen, jede leise Regung im Anderen zu empfinden, jede unausgesprochene Verstimmung zu erraten, kurzum ein Wesen zu werden, das auf die gleiche Melodie gestimmt ist, desto strenger werden die ethischen und moralischen Gesetze sein, die sie in stummem Vertrag sich selber auferlegen. In solcher Ehe beginnt der Ehebruch nicht erst dort, wo er für den Gesetzgeber beginnt. Denn man bricht die Ehe meist, nachdem die Ehe uns vorher schon gebrochen. In solcher Ehe wird vielmehr der Unterschied zwischen der ersten scheuen Liebkosung und den letzten Zugeständnissen nicht als so gross empfunden, da beide wissen, dass man sich schon in einem Blicke besitzen kann, in einer flüchtigen Berührung. In solcher Ehe sind Treue und Untreue Ausdrücke, die allzu grob empfunden werden und Treue ist nicht das absolut beste, was man in solcher Ehe einander bieten kann. In solcher Ehe werden natürlich auch die seelischen Reibungen grosser sein. Jeder will und muss sich gewissermassen selber opfern, muss seine Individualität aufgeben, und bei dieser jahrelangen Abschleifung der Wesenheit, kann es unmöglich ohne gegenseitige Verletzungen abgehen. Frauen, die lieben, werden selten begreifen, wie lächerlich manche Dinge sind, die sie tun, und meist sind sie auch gewissen Worten gegenüber kritiklos. Obwohl sie die Gabe besitzen, in wunderbarer Weise alle Schattierungen der Liebe, die unmerkbarsten Schwankungen des Menschenherzens zu fühlen, haben sie nur geringe Ahnung davon, welch unbeschreiblichen Widerwillen ein Wort zur unrechten Zeit auslöst. Sie haben auch ein sehr einseitiges Urteil über geistige Eigenschaften und den inneren Wert eines Menschen. Sie werden in einem Atem entzückt sein von einem geistvollen Manne und von einem Flachkopf, der sich geschickt zu bewegen weiss. Graf Tilly, der Page Marie Antoinettes, der die Frauen kannte, sagt von ihnen, dass der mittelmässige Mann rascher bei ihnen zum Ziele komme, als der ausserordentliche. Kniende Behandlung lässt sie meist kalt, wogegen der Zauber der Frechheit sie besiegt. Stellt man sie hoch, so verwandeln sie sich in Tyrannen, begegnet man ihnen mit Geringschätzung, so unterwerfen sie sich wie Sklavinnen. Einer der Liebhaber Katharinas II. hatte sich eines Abends so weit vergessen, sie zu schlagen. Am folgenden Morgen war das erste, was sie zu ihrer Vertrauten sagte: »Jetzt bin ich seiner Liebe gewiss.«

Für Männer, die höher und feiner entwickelt sind, ist die Liebe, dieser Frühling unseres Blutes, ein sehr kompliziertes Gefühl, das durch ein Nichts variiert werden kann. Der kultivierte Mann grübelt über die Liebe nach. Er analysiert gern, vermöge welcher Kraft ein Gefühl, das ihn so entzückt, ihm zugleich so namenlose Leiden schaffen kann.

Aber das Grübeln über die Liebe ist der Liebe Tod. Grübeln ist eine Krankheit. Es streckt seine giftigen Wurzeln ins Erdreich der Seele, und alles, was da wächst und blüht, welkt und stirbt dahin. Das Grübeln liegt beständig auf der Lauer und peinigt und quält seinen Träger; es verdirbt die Freude am Leben und schneidet jede Zwiesprache entzwei. Unser Lachen erlischt im Weinen und alle Süsse des Daseins ist mit bitteren Gallen gemischt. Alles scheint öde und leer, die Liebe schal, das Glück eine Seifenblase, die Freude ein Grinsen. Man wird kraftlos. Man lebt in Widersprüchen, wie Hamlet, der Ophelia mehr liebt, »als vierzigtausend Brüder mit ihrem ganzen Maass von Liebe sie lieben könnten«, der sich mit ihr lebendig begraben lassen würde, und sie dennoch verspottet, sie bittet, ins Kloster zu gehen, damit sie nicht solche Sünder wie ihn zur Welt bringe. Er gelangt zu eklen Vorstellungen, seine Gedanken umkreisen den Moder des Grabes, bis Horatio ihn warnend daran erinnert: »Die Dinge so betrachten, hiesse sie allzugenau betrachten.

»Allzu genau betrachten« ist die Losung des Grüblers. Mitten in den heissesten Stunden des Glückes beginnt er zu forschen, zu fragen, zu zweifeln und zu misstrauen. Mitten in der gewaltigen Leidenschaft kommen Augenblicke, in denen er sich plötzlich einbildet, nicht mehr zu lieben. Er zieht das Weib in die kranke Sphäre seines Herzens – denn der liebende Mensch will, dass das geliebte Wesen mit ihm und durch ihn leide – und wenn sie ihn nicht verstehen kann, weil sie nicht grübeln mag, wird er erbittert, faucht sie an und schleudert ihr Worte ins Gesicht, die – kaum dem Munde entronnen – ihn tausendmal mehr quälen, als sie. Oder er schweigt und labt sich an dem Gram, der an ihm nagt. Denn in jedem Menschen gibt es ein gewisses Etwas, das das Unglück liebt. Er weiss, dass er einst sehr glücklich war, so sehr, dass er nie glaubte, es könnte je anders sein. Und plötzlich ist das Glück fort. Und je mehr er es ruft, je mehr er es sucht, desto mehr flieht es ihn und er fängt an zu glauben, er sei nie glücklich gewesen, habe geschlafen, sei jetzt erst aufgewacht, um die Nüchternheit und Schalheit aller Dinge und Gefühle zu erkennen. Er beginnt Fragen an das Schicksal zu stellen und erhält keine Antwort. Er denkt zurück ...

Er sieht zum erstenmal sich als ein Besonderes und sein Weib als ein Besonderes, wo sie ehedem eins waren. Sein Herz hat sich getrennt von ihr, und nun kritisiert er sie. Wie kam das alles? Durch ein Nichts, einen Misston, durch ein Missverständnis, das um so wichtiger ist, je weniger es sich darin um etwas Gegenständliches handelt, durch eine Verstimmung, die man gegenseitig verheimlicht hat, durch eine Nuance – denn die Nuance ist alles. Aber die Verstimmung wächst, und ist sie erst zur Erinnerung geworden, ist sie auch unauslöschlich. Wieder eine Verstimmung – und jetzt kommen die bösen Worte, die man nie mehr zurückrufen kann, die sich wie Feuerbrände in die Seele werfen und sie verzehren. Hüben ein scharfes Wort, drüben ein schärferes. Auf den Lippen schwebt ein Lächeln, im Busen kocht die Hölle. Man erkennt, dass Liebe und Ehe fast unvereinbar sind und man versteht, warum die Griechen Venus, die Göttin der Liebe, als eine schöne gutmütige Dame, und Juno, die Göttin der Ehe, als eine schreckliche Zänkerin schilderten und warum beide Göttinnen immer Todfeindinnen waren. Man tröstet sich über die eigene Pein durch die, die man dem Partner bereitet. Die Freude am Hass erwacht. Replik, Duplik, Kampf, in dem die beiden Menschen ihre gegenseitige Urfremdheit erkennen. Bisher sahen sie sich so, wie sie sich in ihren Träumen bildeten; jetzt sehen sie sich, wie sie sind. Sie haben die Schleier zerrissen. Denn wer ahnte nicht hinter einem Schleier ein schöneres Antlitz, als je ein Schleier barg? Sie sehen ineinander Quälgeister, Tyrannen, wilde Tiere. Und wenn sie es müde geworden sind, länger zu hassen, schweigen sie still. Das erste Gewitter ist vorbei; aber es brachte keinen Segen. Man nimmt sich in Zukunft mehr voreinander in acht. Man hütet sich ängstlich, die Empfindlichkeit zu wecken. Man hat erkannt, dass es Dinge gibt, die mit keinem Wort berührt werden dürfen. Man schweigt ...

Was kann Schweigen nicht alles ausdrücken! Einigkeit und Hass, Liebe und Feindschaft, Zustimmung und Verneinung, Urteil über Tod und Leben. Gehen zwei in guten Gedanken nebeneinander her, so fühlen sie eine mystische Harmonie, die wie ein edles Gespräch wirkt; hassen sie sich, so entfernen sich beide in feindlichem Schweigen immer mehr voneinander; unüberbrückbare Klüfte entstehen zwischen ihnen; sie werden trunken vor stiller Wut. Der Hass glimmt in ihnen und wird zum Brand und in jedem Augenblick sind sie bereit, sich aufeinander zu stürzen und sich zu töten.

Von draussen scheint's kommt die Zwietracht herein. Man weiss wirklich nicht, woher sie kommt. Sie kommt herein wie ein Luftzug, kommt so sicher, wie Sonne auf Regen, wie Donner auf Schwüle. Wer hat die Schuld? Man wird vergeblich suchen, es festzustellen. Ein Dritter ist schuld. Wer ist der Dritte? Denn indem man diesen unsichtbaren Dritten »Missverständnis« nennt, hat man ihn nicht erklärt. Wie kann er zwischen zwei Menschen treten, die gesund im Denken sind, die sich lieben und sich immer verstehen? Die nur zusammen gedeihen, und leiden, wenn sie getrennt sind? Dieser Dritte beginnt plötzlich sich zwischen die beiden zu stellen; ihre Selbstsucht gebietet ihnen, Frieden zu halten, denn die Kosten des Krieges müssen sie selber bezahlen. Und dennoch: eine Nuance gab Veranlassung zum Grübeln; ein Wölkchen steigt auf und wächst. Verdienste werden Fehler, Schönheit wird hässlich, Weib wird Schlange und Mann Barbar. Hätten sie sich nie gesehen! Wäre er doch in der tiefsten Hölle!

Das Schweigen, das dann und wann zwischen sie tritt, ist nicht mehr süss, wie einst; es ist schwer geworden. Man hört die bösen Worte, die der andere denkt; ein Nichts, und sie werden ausgesprochen. Und es werden sinnlose Worte, nackte, rohe, gemeine Worte, voll Hass und Gift; es ist das Brüllen des Tieres in uns, das ausbricht, oder auch ein Aufschreien des Menschen, der von seinem eigenen Hass gequält wird. In solchen Augenblicken fällt jede Bildung von einem ab und alle Kultur. Man verliert jede Scham. Es ist Krieg! Man greift zu den schärfsten Waffen. Man tut sich mit Absicht weh. Und niemand kann uns so weh tun, wie der Mensch, den wir am meisten lieben; denn niemand weiss besser, wo wir am verwundbarsten sind. Die erzieherische Arbeit vieler Generationen wird wie ein wertloses Nichts über den Haufen geworfen; dieser stolze Bau wird zertrümmert. Hin ist Achtung, Liebe, Güte, Rücksicht, Klugheit, Verständnis. Die Freundschaft wird verraten und niedergetreten, die Liebe wird geschmäht. Jetzt erblickt man in der Liebe nur eine wesentlich egoistische Regung, die auf Berechnungen des Verstandes, des Gefühls oder der Brutalität beruht. Man empfindet die Liebe als grausame Strafe, als ein unerbittliches Joch, dem man nicht entrinnen kann. In den Augenblicken der Zwietracht gäbe man zwanzig Jahre seines Lebens hin, wenn man frei wäre. Und ist man frei, oh, dann beginnen die Leiden der Sehnsucht mit ihrer unerhörten Folter zu peinigen. Leiden erwachsen den beiden, die die grössten und grausamsten sind, die das Leben kennt. Man hasst sich gegenseitig. Aber was hilft es, dass man den Menschen hasst, der sozusagen in das Blut unserer Adern übergegangen ist? Warum hassen sie sich, da sie sich doch so lieben? Keiner weiss eine Antwort. Es sei denn, man lässt die gelten, dass der Hass eine Wollust ist. So haben ihn Novalis, Stendhal, Balzac, Musset, Schopenhauer, Nietzsche und andere gedeutet. Die einzige und höchste Wollust der Liebe – sagen sie – liege in der Gewissheit, das Böse zu tun. Mann und Weib wüssten von Geburt an, dass im Bösen alle Wollust liege.

Oder vielleicht nimmt man mit der anderen Antwort fürlieb, dass die Liebe ein Wahnsinn ist? Denn es ist Wahnsinn, Schönheit zu sehen, wo keine ist; zu hassen, wo man liebt. Als ob es ein Verbrechen wäre, glücklich zu sein, und als müsste deshalb das Glück, das bei uns weilt, gestraft werden. Darum sind die leichtblütigsten Naturen die glücklichsten, die mitten im Zwist, sich rasch versöhnen, gewissermassen den mystischen Dritten verjagen, ehe er heimisch werden kann; die sich ohne Erklärung gleich wieder um den Hals fallen und gut zueinander sind. Denn Glück und Unglück ist fast noch mehr Sache des Gemütes, als des Schicksals, und Glück und Unglück sind im gleichen Maasse ansteckend. Schliesslich ist das Glück etwas Negatives: es ist das Unglück, das uns erspart bleibt. Und selbst alles Unglück existiert nur im Vergleich; denn jeder Unglückliche wird sicherlich noch einen Unglücklicheren finden, neben dem er ein wahrer Glückspilz ist.

Man sollte lieben, weltvergessen lieben, ohne zu fragen was, ohne zu sehen, wen man liebt; denn sehen heisst begreifen und begreifen heisst fast schon verachten. Nachsicht ist vielleicht nichts, als der höchste Grad der Verachtung. Beginnt man erst zu denken, dann kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Liebe eine Grausamkeit ist, und dass der, der von ihr ergriffen wird, sich in einer Raubtierfalle befindet, die mit Blumen, Versen und schönen Hoffnungen bedeckt ist. Der Liebende wird die Beute. Die Koketterie, die jedem Weibe eignet, die Flucht vor dem Manne, um ihn zur Verfolgung zu reizen, das Spielen mit Ja und Nein, das Zaudern und halbe Gewähren, das Quälen des Verliebten, all das sind die dem Weibe von Natur gegebenen Mittel, um den Mann in den Abgrund zu locken, den manche Verliebte in der Art ihrer überschwänglichen Sprache den »Himmel auf Erden« nennen. Aber dieser Himmel ist wahrlich im gleichen Maasse ein Himmel, wie der wirkliche Himmel, der sich über uns zu wölben scheint, nichts ist als ein unerforschlich weiter Abgrund. Man wird ihn ebensowenig ergründen, wie den Abgrund der Liebe. Die unglückliche Ehe beginnt in dem Augenblick, wo man einsieht, dass man sich in dem Abgrund befindet. Ist es aber nicht grausam, es den Menschen zu erschweren, sich wieder aus dem Abgrund herauszuarbeiten? Oder gar, sie zurückzustossen?

Das bürgerliche Gesetz – jedenfalls das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – spricht sich im Grunde gegen die Ehescheidung aus und muss es natürlicherweise auch. Denn dem Wesen aller Gesetze liegt eine staatserhaltende Tendenz zu Grunde; die Ehescheidung aber gehört zu den Formen, die dieses Prinzip sprengen. Selbstverständlich macht das Gesetz, wenn auch nur ungern, Zugeständnisse und erkennt Ausnahmen an. Und zwar in Fällen, in denen der Handhaber des Gesetzes –der Richter (und also ein Mensch!) – einsieht, dass zwischen manchen Eheleuten die Fortführung des staatserhaltenden Lebensbündnisses eine seelische, wirtschaftliche oder moralische Folter geworden ist oder in denen die Form der Ehe längst gesprengt und aufs Augenfälligste verhöhnt worden ist. Aber auch in solchen Fällen glauben viele Richter – staatserhaltende Männer! Hüter der Moral! – die Trennung aufs Aeusserste erschweren oder über alle Maassen in die Länge ziehen zu sollen, ähnlich dem mittelalterlichen Richter, der dem Angeklagten die Daumschrauben möglichst lange ansetzen liess, bis der Angeklagte alles gestand, was man von ihm hören wollte, wenn man ihn nur von den Daumschrauben befreite. Dass in Ehescheidungsfällen die Massnahme der Prozessverschleppung zu weit grösseren Tragödien führt, als sie je Gutes stiften kann, wird durch die Wirklichkeit viel zu drastisch erwiesen, als dass es erst noch statistischer oder anderer Beweise bedürfte. Es ist kaum anzunehmen, dass die Richter dabei auf jenen aus tiefster Seelenqual geborenen Schrei Strindbergs hören, der in seinem von Gott eingegebenen »Traumspiel« einmal sagt: »Weisst Du was schlimmer als alles ist? Das ist Gatten zu scheiden! Da ist es als schriee es in der Erde und oben im Himmel – schriee Verräterei gegen die Urkraft, die Quelle des Guten, gegen die Liebe ...« Einige Augenblicke später sagt Strindberg allerdings auch: »Es ist schrecklich schwer verheiratet zu sein – es ist schwerer als alles! Man muss ein Engel sein, glaube ich.« »Fast alle Ehen« – heisst es in einer ganz modernen Wendung in Friedrich Schlegels Lucinde – »fast alle Ehen sind nur provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen darin besteht, dass mehrere Personen nur eine werden sollen. Wenn aber der Staat gar die missglückten Eheversuche mit Gewalt zusammenhalten will, so hindert er dadurch die Möglichkeit der Ehe selbst, die durch neue, vielleicht glücklichere Versuche befördert werden könnte.« Denn ebenso wie es die höchste Barbarei ist, einen endgültig zum Tode Verurteilten noch wochenlang am Leben zu lassen, ebenso ist es über alle Maassen schrecklich, zwei Menschen, die weder physisch noch seelisch mehr, zueinander gehören, die nichts verbindet als die gemeinsame Qual, durch das geforderte Manöver der Prozessverschleppung – das sogenannte Aussetzungsverfahren – täglich von neuem, womöglich jahrelang die Tortur des Auseinanderreissens durchmachen zu lassen. Die Paare, die in Ehescheidung liegen, sollen, gleichgültig, ob es sich um differenzierte und komplizierte Menschen handelt oder um Menschen mit geringer Kultur und robuster Natur – »denn vor dem Gesetz sind wir alle gleich« – mürbe gemacht werden, und sie sollen offenbar, wenn sie die Wahl haben zwischen einer Ehescheidung, die sich jahrelang hinzieht, und zwischen der Fortführung ihrer Ehe, die keine Ehe mehr ist, in solcher Scheinehe beharren. Es bedarf nicht der Erörterung, was in Wirklichkeit unmoralischer ist. Solche Erschwerungen können nur entstehen, wo man ganz und gar keinen Sinn hat für das seelische Band, das doch schliesslich in jeder Gemeinschaft das einzige ist, das zusammenhält.

Da schwätzen die Ethiker seit Jahrhunderten von unseren inneren, höheren Gesetzen, aber kein Mensch kümmert sich um sie; die öffentliche Moral und das bürgerliche Gesetz zwingen uns vielmehr, sie zu missachten und zu übertreten. Warum kämpfen wir denn für eine individuelle Behandlung der Kinder in der Wiege und in der Schule, wenn der Gesetzgeber die Individualität der Erwachsenen nicht im geringsten respektiert? Möchten die Gesetzgeber doch einsehen, dass man dort einen Weg bahnen muss, wo das Leben hingeht. Die Gesetze behalten doch nicht recht, sondern die Neigungen; denn wir alle tun am Ende doch, was wir wollen, weil wir nicht anders können.


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