J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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V. Die Symphonie der Zeit.

Aufwärts durch die tausendfachen Stufen!
Schiller

Voll Ehrfurcht und Bewunderung stehe ich vor jenen starken und zukunftsfrohen Menschen, die ihr Leben für eine Idee hinopfern, und jenes törichte Geschwätz Lügen strafen, es gäbe keine Helden und Märtyrer des Gedankens mehr. Wenn es von grossem Heroismus und ekstatischer Begeisterung zeugt, sein Leben zu wagen für eine Sehnsucht, die vielleicht gestillt werden könnte, so bewundere ich die kühnen Luftschiffer, die sich den Unberechenbarkeiten der Lüfte aussetzen und sich einem Motor überantworten, der sie in einem seiner launischen und tyrannischen Anfälle besinnungslos zum Tode verurteilt. Die Welt zu erobern bis zu den Sternen hinauf! Tausend Gefahren und Tode nicht scheuen! Nur von einem gewaltigen Machtgelüst und von gierigen, unbestimmten Hoffnungen beseelt, fliegen diese Fürsten der Kühnheit, Verächter des Todes und Meister des praktischen Denkens, obwohl sie genau wissen, dass jeder Schritt vorwärts, jede neue, menschliche Machtentfaltung mit unsäglichen Leiden und mit vielen Lebensopfern bezahlt werden muss. Ist es nicht eine bewunderungswürdige Tat – bewunderungswürdig wie irgendeine grandiose Leistung der Renaissancemenschen – sich mit einem gebrechlichen Fichtengestänge in die Lüfte zu erheben, und sein Leben einem Chaos von Holzrippen und Drahtsehnen anzuvertrauen, um darauf zu fliegen! Zu fliegen, obwohl sich tausend warnende Hände zu den Verwegenen emporrecken, tausend flehentliche Bitten sie zurückrufen möchten von dem pfad- und weglosen Ozean der Luft, und obwohl die Geschichte des menschlichen Fortschrittes ihnen entgegenschreit, dass alle bedeutenden Werke der Kultur Schweiss und Blut gekostet haben. Und doch! Während unser Motor – das Herz! – mit dem Herzen des Flugapparates um die Wette hämmert, während man um das Leben zittert, das hier leicht in die Schanze geschlagen wird, füllt sich der Mund mit lautem Jubel: wir fliegen! Wenn das tiefe Gesumm der Propeller die wachsende Trunkenheit des hölzernen Vogels verrät und seine geheimnisvolle elektrische Seele dem Himmel zustrebt, dann erleben wir ein neues, seltsames und unbeschreibliches Entzücken. Die glänzenden Augen der Aeronautiker, ihre straffen Muskeln, ihre lauernden Sinne, ihr ruhelos arbeitendes Gehirn, kurz ihr ganzes Wesen lechzt danach, die Prophezeiung Leonardo da Vincis, eines der frühesten Aeronauten, wahr zu machen: »Es wird seinen ersten Flug nehmen der grosse Vogel, das Universum mit Verblüffung, alle Schriften mit seinem Ruhme füllen, und ewige Glorie sein dem Neste, wo er geboren ward.«

Brauchen wir noch immer das Kostüm des Vergangenen, um das Heroische und das Schöne der Gegenwart zu bekleiden? Wenn wir starke Menschen schildern wollen, müssen wir dann nach dem Florenz des sechzehnten Jahrhunderts zurück? Und wo es gilt, der Schönheit einen Hymnus zu weihen, müssen wir dann nach Griechenland flüchten? Wagen nicht Tausende alltäglich ihr Leben in einem gefahrvolleren Kriege, als es je ein Krieg zweier Heere sein kann? Hat nicht alles einen Willen, ein Ziel? Tausende Klafter unter dem Boden die versteinerten Wurzeln der Erde blosszulegen, die schwarze Brust aufzureissen, und die Eingeweide der Erde – die Kohle – an den Tag zu bringen, ist das alles ohne Heroismus und alles Mutes bar? Und in den Hochöfen den Hammer schwingen, Eisen schmieden, es zu Stahl verhärten, Schienen und Walzen bauen, und die tausend Dinge der Industrie herstellen, die uns das tägliche Leben so angenehm machen – ist das nur unserer Verachtung wert?

Ihr preist mir Siegfried und Roland und König Artus. Wer ist mir Siegfried? Hekuba! Und Roland? Ein Name; höchstens ein Symbol! Ich suche die Recken meiner Zeit und die Riesen meiner Tage. Mir scheint ein machtvoller Kreuzer, ein modernes Warenhaus, ein Luftschiff ebenso schön und kühn wie ein Florentiner Palast oder ein gotischer Münster oder ein philosophisches System. In unseren Domen spielt die tausendstimmige Orgel der Arbeit ihre kampffrohen Choräle, und unsere Helden und Zauberer, Drachentöter und Himmelstürmer heissen Zeppelin und Wright, Helmholtz und Virchow, Pasteur und Berthelot, Edison und Röntgen, Koch und Ehrlich usw.

Aber die meisten Dichter der Gegenwart finden die Taten solcher Männer nicht würdig der Poesie, und sie meinen, es sei wunderbarer, einen richtigen Märchendrachen zu töten, der eine Jungfrau fressen wollte, als dem viel gefährlicheren Drachen unserer Zeit – dem Bazillus der Seuchen – zu Leibe zu gehen, der schon viele Millionen Menschen gefressen hat. Sie sprechen von der Industrie und der Maschine, von der Wissenschaft und Technik, wie der Bauer vom Gottseibeiuns. Was ist ihr Ziel? Erfolg! Ihr Streben? Geld! Ihr Ideal? Ruhm! Ah! – Mögen sie weiterhin alle Göttinnen der griechischen und nordischen Mythologie vergewaltigen! Was bedeutet das? Der kleine Ehrlich hat in stiller Lebensarbeit mehr für die Menschheit getan, als zehntausend ihrer Dichter. Würden sie die Menschheit vom Krebs befreien, vom Krieg, von der Todesstrafe und von dem vielen anderen Unrecht, das noch in Uebung ist, so würden sie die Götter der kommenden Jahrhunderte sein. Sie klagen darüber, dass der Demokratismus die Individualität töte, die Maschine alle Poesie aus dem Leben hinaushämmere. Und dennoch fahren sie von hier nach Italien lieber mit dem Blitzzug als mit der Postkutsche, und wenn ihnen das Geld ausgegangen ist, bedienen sie sich recht gern des Telegraphen. Dann rückt das Technische in die Sphäre des Poetischen. Der Dichter, der die winkligen Höfe besingt, die dumpfigen Dachkammern und die verfallenen Wendeltreppen, die verwilderten Gärten und die moosbewachsenen Dächer, liebt den Komfort des modernen Hauses, den üppigen Luxus unserer Tage und alle die Behaglichkeiten, die das verachtete, maschinelle Zeitalter geschaffen hat. Ein echter Dichter mag nichts von Technik wissen, doch ihre Vorteile nützt er gern.

Ruskin predigt, man solle die Fabriken niederreissen; Tolstoi negiert alle Kultur und Zivilisation und weist uns auf den primitiven Menschen hin, der sich seine Bedürfnisse selber zu schaffen weiss. Aber wir, die in den Städten leben und das wilde Rauschen und Branden vernehmen; die wir rotierende Blutstropfen sind in den Herzen dieser steinernen Ungetüme, wir können nicht mehr zum Pfluge zurück, wie Tolstoi. Wir können die Entwicklung nicht verneinen, die wir durchlaufen haben; wir denken und fühlen mit der Gegenwart, und wenn wir die grossen Vergangenheitswerte verloren haben, wollen wir sie durch neue zu ersetzen versuchen.

Ist denn der ethische Mystizismus und der alles verneinende Asketismus Tolstois wirklich die höchste Höhe menschlicher Entwicklung, wie manche Dichter meinen? Was zeichnet uns Menschen, die wir nun einmal in einen sterblichen Leib verhaftet sind, von allen anderen Lebewesen aus, wenn nicht die Arbeit an einem Vorwärts und Aufwärts! Auch wir sind im tiefsten Innern von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit aller Kunst, aller Wissenschaft und aller Religion durchdrungen. Aber es ist unmöglich, sein ganzes Leben unter diesem lähmenden Gesichtspunkt zu verbringen und die Welt beständig vom Standpunkt des Sirius aus zu betrachten; sonst müsste man mutig genug sein, die Konsequenzen zu ziehen; müsste sich methodisch zurechtsetzen und, wie die indischen Yoghi und Fakire, über dem Beschauen seines Nabels die ganze Erde vergessen. Unser fieberndes Gehirn fordert Arbeit, und unsere Seele dürstet danach, sich aufzuschwingen; sie will ihre Expansionskräfte entfalten, will das Leben tausendfältig leben und fühlen.

Aber in der Dichtung ist allmählich das Vergangene zum Erhabenen geworden. Das Hellenentum, die Renaissance, die Postkutschenzeit usw., das waren und sind die Kulturen und Epochen, an denen man sich begeistert, während man alles Moderne als eine greuliche Entartungsform flieht.

Ein paar neuere Dichter haben freilich auch das donnernde Getöse der grossen Maschinen, das Pochen des ehernen Herzschlages, die blitzschnelle Rotation der ungeheuren Räder, das Fauchen, Keuchen und Zischen der Dampfkessel, das Stöhnen und Heulen des Pistons, das zornige Schwirren der Treibriemen, kurz den ganzen höllischen Tumult der Dynamos in die poetische Sphäre erhoben; aber diese Whitman, Verhaeren, Joh. V. Jensen haben nur den imposanten Lärm der Technik besungen. Ihnen sind die Maschinen selbst, und nicht etwa das, was sie leisten, ein Symbol der Lyrik unserer Tage und der hämmernde Takt der Motore, dieser energische Gesang einer gebändigten, organisierten Energie, reisst sie zu masslosen Uebertriebenheiten hin.

Wir aber bewundern am Telephon oder Telegraphen nicht das Drahtnetz, das Röhrenlabyrinth, die Taster und Masten; aber dass wir von der Schweiz mittels dieser hässlichen Drähte persönlich nach Norwegen und Rom sprechen können, und dass ein Gedanke blitzartig ganze Erdteile überspringt, und eben in Europa gedacht, ein paar Stunden später in Amerika ausgeführt werden kann, das scheint uns mindestens so bewundernswert, wie selbst die hervorragendste Dichtung oder Malerei irgendeiner Epoche. Der Maschine selbst, diesem lärmenden Eisenriesen, gehört nicht unsere Begeisterung; aber wie sie Holz und Lumpen in Papier verwandelt, aus Rüben Zucker macht, Schiffe treibt, Züge befördert, den Hanf des Feldes zu Hemden verarbeitet, Strümpfe strickt, Kleider webt, Felsen zerklüftet, Bücher druckt, wie sie plättet, kocht, drischt, mahlt, sägt, feilt, beisst, formt, fliegt, rennt, baut, zerschmettert, heilt, – kurzum, wie sie menschliche Ideen in Taten umsetzt, das ist wohl der Achtung aller Dichter und Künstler wert.

Unser Traum ist der grosse Mensch; mag er Künstler sein, Gelehrter, Erfinder oder Entdecker. Wenn in unserer alten Erde das Radium entdeckt wird, ist der Gewinn für uns alle ebenso gross, wie wenn wir eine neue Welt entdeckten.

Unsere Sehnsucht ist die grosse Seele; mag sie ihren Betätigungsdrang äussern, wie sie will. Die Künstler, Gelehrten, Erfinder und Entdecker, sie alle bahnen, jeder auf seine Art, einen Weg zur Grösse und zu veredeltem Menschentum. Wie Pflanzen die Mineralien in Nahrungsstoffe für Tiere verwandeln, so zieht jeder Mensch aus den ihm gegebenen Möglichkeiten die Samen des Wissens, der Künste und der Arbeit, die er unter die Menschheit streut.

Unsere Hoffnung ist der grosse Geist; mag er sich in noch so unerhörten, noch so neuen Formen entfalten. Die Funktionen des Intellekts stehen in engen Wechselwirkungen zueinander; ein Goethe ist undenkbar ohne seine grosse Gelehrsamkeit, ein Edison ohne die Phantasie eines Dichters, ein Poe ohne seine Mathematik. Die Helden des Gedankens und die Helden der Tat, alle arbeiten sie an der Entwicklung der Menschengrösse; alle weisen sie in die Zukunft; alle arbeiten daran, damit wir wachsen. Aber nicht, indem wir immer wieder die Vergangenheit beschwören; denn auch die Gegenwart entbehrt wahrlich nicht der ergreifendsten Schönheit. Eine allzu grosse Pietät hemmt uns nur, die neue Symphonie des Lebens vorurteilslos anzuhören und sie zu geniessen. Aber allzuviel Pietät ist eine Krankheit. Wir Unruhigen, Gehetzten und Fiebernden könnten nie mehr zurück in das etwas schläfrige Dasein der Postkutschen und Postillenzeit. Uns treibt es hinaus und ins Leben hinein. Dorthin, wo die Essen glühen und wo schwielige Fäuste neue Künste aus der Glut hämmern; wo kühne Experimentatoren neue Wunder der Chemie und Physik hervorbringen; wo weise Gelehrte neue Zusammenhänge im Weltall entdekken; wo aus den Werken der Kunst eine grosse Seele spricht; – kurz, überallhin, wo man im Dienste eines erhabenen Gedankens steht und bereit ist, für seine Idee zu sterben. Darum sagen uns die schwächlichen Sehnsüchte nichts mehr, und die Koketterie der Wehmütigen ergreift uns nicht mehr. Wir hören das Herz der Welt in unseren Städten zittern; wir sehen, dass rings Ideen schlummern, die, wie die verwunschene Prinzessin im Märchen, auf die Menschen warten, die sie wecken und der Menschheit zuführen sollen. Denn wenn das Leben überhaupt einen Sinn haben soll, kann es nur der sein: Vorwärts! Gleichviel auf welchem Wege; nur immer vorwärts! Der Künstler allein hat aber nicht das ausschliessliche Pachtrecht darauf, den Fortschritt der Menschheit zu beschleunigen. Unsere Gedichte werden einst ebenso zur Makulatur geworfen, wie unsere Maschinen zum alten Eisen; unsere Gemälde und Plastiken werden ebenso von der Lepra der Zeit zerstört werden, wie die Wunder der Technik; unsere Bauten sind ebensowenig für die Ewigkeit berechnet, wie die Wahrheiten der Wissenschaft. Die einzige Substanz aller Tatsachen, die am Ende übrig bleibt, ist die Idee, und die einzige Kultur, in die alle Entwicklung mündet, ist die Kultur der Seele.


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