J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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IV. Die Notwendigkeit des Luxus.

Die Königin Elisabeth war hocherfreut und überrascht, als sie 1560 das erste Paar seidener Strümpfe als Neujahrsgeschenk erhielt: heutzutage hat jeder Handlungsdiener dergleichen. Vor fünfzig Jahren trugen die Damen eben solche kattunene Kleider, wie heutzutage die Mägde.
Schopenhauer

Kurt und Alfred hatten ein Gespräch über Zivilisation und Kultur geführt und ihre Plauderei drohte schliesslich in einen hitzigen Wortstreit auszuarten. Kurt lenkte ab und kam auf den Luxus zu sprechen, den er nur als eine Begleiterscheinung der Kultur gelten lassen wollte, deren man ohne Einbusse entraten konnte. »Nach meiner Meinung hat der Kulturmensch dem Luxus eine übertrieben hohe Bedeutung beigelegt,« sagte er. »Nein, eine viel zu geringe,« widersprach Alfred, »denn die verschiedenartige Entfaltung des sogenannten Luxus ist ein guter Gradmesser für den jeweiligen Kulturzustand. Und streng genommen, gibt es überhaupt gar keinen Luxus.«

Kurt: Das sind Meinungen, und Meinungen sind ein Tauschhandel mit Worten, bei dem im seltensten Falle ein positiver Gewinn erzielt wird.

Alfred: Wenn du sagst, der Luxus sei überflüssig, so ist das ein Verkennen des Wesens dessen, was man unter Luxus versteht. Denn Luxus treiben heisst: sich nach Maassgabe der Mittel, über die man jeweils verfügt, alle Annehmlichkeiten verschaffen, die die Zivilisation uns bereitet hat. »Ueberflüssigen« Luxus kann sich niemand gestatten, denn was dem Armen in der Lebensführung des Reichen als »überflüssig« erscheint, ist für den Reichen Lebensbedingung. Luxus und Ueberfluss gibt es nur im Hinblick auf Dinge, die ich mir selber nicht gestatten kann. Alles, was ich nicht besitze, erscheint mir bei dem, der es sein Eigen nennt, Luxus. Weil ich arm bin, erscheint mir die Lebensführung meines Freundes L ... luxuriös; aber L ... wird dir beweisen, dass er im Verhältnis zu seinem Freunde Th ... sehr bescheiden lebt, der seine Autos und seine Pferde, seine Kokotten und seine Lakaien, seine Villen und seine Weinkeller, seine Launen und seine Freunde hat – denn auch Freunde kosten Geld und sind ein Luxus.

Kurt: Wenn das eine Anspielung sein soll –

Alfred: Beileibe nicht! Ich führe nur Tatsachen an und zeige dir, wie dehnbar der Begriff des Luxus ist. Du möchtest dich an die einfachsten Beispiele halten und etwa sagen: Fünfzig Schlösser zu besitzen, sei Luxus; die Hälfte wäre genug; schon der zehnte Teil wäre genug.

Kurt: Ich halte es sogar für Luxus, fünf Schlösser zu besitzen.

Alfred: Nein und ja. Es kommt natürlich –

Kurt: – auf die Verhältnisse an?

Alfred: Nein, auf das Verhältnis, das man zur Welt hat. Die Frau eines Bourgeois kommt beispielsweise mit sechs Kleidern im Jahre aus; eine Dame von Welt kaum mit dreissig; nicht weil sie sie wirklich nötig hat, sondern weil ihre Stellung sie dazu zwingt; weil die Welt es von ihr fordert. Kein König wird zu einer Mahlzeit mehr als drei Pfund Fleisch verzehren, aber er muss zwanzig Pfund auftragen lassen. Wenn ein Sultan sich einen Harem von tausend Frauen hält, heisst das nicht, dass er alle tausend Frauen besitzt.

Kurt: Ich verstehe. –

Alfred: Und was ist denn überhaupt überflüssig? Kunst? Jeder Schmock wird dich eines Besseren belehren. Theater? Sophokles, Aristophanes, Shakespeare, Molière und noch ein paar ausserordentliche Genies, die die Menschheit besitzt, haben ihr Leben dem Theater gewidmet. Selbst die Bälle sind nicht überflüssig. Sie schaffen eine sexuelle Spannung; diese Spannung führt zu Ehen oder sie regen doch mindestens den Fortpflanzungstrieb an. Badereisen etwa? Ich mache eine Karlsbader Kur durch, nehme zwanzig Pfund ab, die ich den Winter darauf wieder zunehme und den folgenden Sommer wieder abnehme. Das scheint überflüssig.

Kurt: Dieser Kreislauf lässt sich leicht begründen.

Alfred: Begründen lässt sich alles; es dreht sich hier um die Frage, was überflüssig ist, da wir das Ueberflüssige als das eigentliche Wesen des Luxus erkannt haben. Viele emanzipierte Blaustrümpfe wollen zum Beispiel keine Kinder kriegen; folglich ist der Eierstock, den ihnen die Natur mitgegeben hat, für sie überflüssig. Nach der Meinung der meisten Aerzte, deren Wissen ich nicht unbedingt für allumfassend halte, ist der Blinddarm ebenfalls überflüssig. Wenn ich weiss, dass mich absolut gar nichts vor dem Tode retten kann, ist schliesslich das ganze Leben überflüssig; aber ich zeuge Kinder, die wiederum gar nichts vor dem Tode retten kann.

Kurt: Das ist ein Naturgesetz.

Alfred: Selbstverständlich; aber ein »überflüssiges«. Oder kennst du den Grund, warum es so ist?

Kurt: So betrachtet, wäre das ganze Universum überflüssig.

Alfred: Tatsächlich ist es so. Am Anfang schuf Gott zwar Himmel und Erde, aber es wird nicht gesagt, wozu er sie schuf. Langweilte er sich allein und wollte er ein Spielzeug haben? Es gibt Philosophen, die zu dieser Annahme neigen. Andere meinen, er wollte Macht haben und dazu brauchte er notwendig Kreaturen, die ihn anbeteten. Aber sind das Gründe, um derentwillen Gott eine Welt macht? Kein klardenkender Kopf vermag für die Schöpfung einen plausiblen Grund anzugeben. Jedenfalls wird nichts davon gesagt, dass Gott die Schöpfung für notwendig hielt. Kein Naturforscher wird finden, dass das Universum notwendig war. Im Gegenteil, wenn du zu den letzten Fragen hinabsteigst, wirst du finden, dass die ganze Welt höchst überflüssig ist, denn eines Tages wird sie, so gewiss wie da droben der tote Mond schwimmt, ebenfalls als ein leuchtender Riesensarkophag im All kreisen. Das ist der Standpunkt der Yoghi und der buddhistischen Priester, denen im Nabelbeschauen die ganze Welt versinkt. Wenn der Moses des Michelangelo, Beethovens Symphonien und Goethes »Faust« nach zehntausend Jahren tot und vergessen sind, wenn die gesamte Wissenschaft von heute durch die neuen Resultate von morgen abgetan ist, kurz, wenn die ganze Weltgeschichte eines Tages ihre Rolle ausgespielt hat, ist es dann nicht sehr gleichgültig, ob ich mich während meines Lebens mit »höheren Dingen« beschäftigt habe, oder mit Kegelschieben? Gott – wenn er existiert – kümmert sich wenig um unser Tun; es kann für ihn keine andere Bedeutung haben, als das Gekrabbel der Ameisen. Er schaut dem Jahrmarkt, den er sich zur Unterhaltung hervorgezaubert hat, eine Weile zu und wirft eines Tages die Puppen in den Orkus!

Kurt: Du bist ein Zyniker.

Alfred: Ein Mensch, der ohne Metaphern die Wahrheit sagt, ist also ein Zyniker. Die Gelehrten drücken sich anders aus; ich weiss es. Aber es kommt mir nicht auf den Wortlaut an, sondern auf den Beweis, dass vom Standpunkt des Endes aller Dinge, das Universum durchaus überflüssig ist. Vollends unser Erdball, der eines Tages ein toter Gesteinshaufen sein wird, gemäss dem Gesetze, dass alles, was entsteht, zugrunde gehen muss; dass alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben muss.

Kurt: Aber das Universum ist da.

Alfred: Das kann nur heissen, dass man sich, weil es nun einmal da ist, mit ihm abfinden muss; ebenso wie mit den Krankheiten, Flöhen, Erdbeben und so weiter. Dann kommen wir darauf hinaus, dass allem Ueberflüssigen also doch eine Art Notwendigkeit innewohnt. Nichts ist überflüssig; sogar die Verbrechen sind notwendig.

Kurt: Im Sinne der Utilitarier. Weil es ohne Verbrechen keine Richter gäbe, keine Staatsanwälte, Verteidiger, Schutzleute, Schreiber, Gefängniswärter.

Alfred: Das ist das Wenigste. Denn die Verbrecher sind ja auch erst eine Folge der Eigentumsidee.

Kurt: Sie sind die lebendig gewordene Empörung gegen die ungerechte Verteilung der Güter.

Alfred: Es gibt keine ungerechte Verteilung. Es gibt nur Kraft und Schwäche, Klugheit und Dummheit, Sieger und Besiegte. Die ganze Welt beruht auf Raub und Diebstahl. Und das Erhaltungsprinzip in der Natur basiert auf dem teuflischen Gesetz, dass einer den anderen fressen muss. Um diese unästhetische, aber nichtsdestoweniger seit Urbeginn des Daseins fortbestehende Angelegenheit zu beschönigen, hat man die Religion erfunden, die Moral, die Zivilisation und die Kultur, mehr oder minder grosse Lügen, die eine mehr oder minder grosse Suggestion ausüben. Und denjenigen, der sich um diese ganze Seelenästhetik und Gefühlsphilosophie nicht kümmert und der durch seine Handlungen beständig an die primitive Form des Problems erinnert: dass einer den anderen fressen muss, hat der Trust der Moralisten »Verbrecher« genannt. Hätte man das nicht im Namen der Religion, der Moral, der Kultur und so weiter getan, sondern im Namen des berechtigten Egoismus, so wäre man weniger unehrlich gewesen. Aber Ehrlichkeit ist ein Luxus, den sich die Wenigsten gestatten können. Denken wir eine Minute lang – länger wäre es unerträglich –, wir würden unseren Luxus, unsere Kultur und unsere Zivilisation aufgeben, lebten wie die Einsiedler, ässen Wurzeln und wohnten in Erdhöhlen. Wären wir in tausend Jahren – in tausend? – nicht wieder auf der Stufe der primitiven Wilden? Oder denke, wir lebten wie die Elenden. Aber unsere Geliebte möchte gern ein besseres Kleid und zum Brote Kaviar und anstatt der Strohmatte ein Bett. Wir beginnen also, es zu erringen. Wir kämpfen, lügen, arbeiten, – kurz, wir werden eines Tages ihre Wünsche erfüllen. Und bald darauf geht es unserem Nachbar mit seiner neidisch gewordenen Geliebten ebenso.

Kurt: Wo soll das hinaus?

Alfred: Luxus ist der verkörperte Gewinn des Lebenskampfes geworden. Wenn du das Leben genau betrachtest, wirst du finden, dass der Luxus stärker ist als alle Tugend und dass er die Gewissensbisse rasch verscheucht. In einer wilden Zeit kämpfte man um Zivilisations- und Kulturwerte. Heute kämpft man um den Luxus, um das Wohlleben.

Kurt: Ein schönes Ideal!

Alfred: So gut wie jedes andere, denn ein Ideal will ja auch gar nicht seine Verwirklichung. Die Idee des Christentums ist beispielsweise auch ein Ideal; das heisst unter einer Million Christen jagen nicht drei diesem Ideal nach.

Kurt: Die Idee des Christentums beruht auf inneren Werten; aber der Luxus bleibt doch immer etwas Aeusserliches.

Alfred: Im Gegenteil! Alles ist Luxus, was über das rein tierische Bedürfnis hinausgeht. Da aber selbst die Tiere eine jeweils verschiedene Lebensweise führen, nämlich die ihnen und ihren Bedürfnissen gemässe, muss man auch dem Menschen diese Variationsmöglichkeit zugestehen. Wenn einem Bauern sein ranziger Speck gut schmeckt, so beweist das nicht, dass ich, wenn ich bei Hiller diniere, luxuriös lebe. Der Bauer würde sich an meinem Diner den Magen verderben und ich mir den meinen an seinem Speck.

Kurt: Du schätzest also den Reichtum?

Alfred: Ich überschätze ihn sogar, denn nur dadurch bekommt er einen Sinn. So wie alle Asketen und Einsiedler die Armut überschätzen. Sie befriedigt in ihnen eine Art geistiger Wollust. Denn Asketismus ist ja auch nichts anderes als religiöser Luxus.

Kurt: Das heisst die Dinge auf den Kopf stellen.

Alfred: Vielmehr, sie von einer neuen Seite sehen. Du weisst, dass die Gesundheit ein Gut ist, das nur der Kranke schätzt. Ebenso ist der Asketismus ein höherer Epikuräismus und das Fasten eine verfeinerte Schwelgerei. Das Fleisch wird gepeinigt, um desto stärker seiner bewusst zu werden. Es abtöten wäre Gotteslästerung, denn Gott hat nicht nur den Geist geschaffen, sondern auch das Fleisch. Die Geschichte der Heiligen beweist, dass der höchsten religiösen Ekstase die höchste sinnliche Ekstase immer sehr nahe ist, ebenso wie dort, wo der höchste Luxus herrscht, auch die geringste Fähigkeit besteht, ihn zu geniessen.

Kurt: Wieso das?

Alfred: Weil man keine Distanz mehr dazu hat. Er ist etwas ganz Selbstverständliches geworden, wie die Zahnbürste, und man wird sich seiner ebensowenig mehr bewusst, wie sich ein gesunder Mensch des Atmens nicht bewusst wird oder wie sich ein Reisender der Hotelbedienung und des Trinkgeldgebens nicht mehr bewusst wird.

Kurt: Dieser letzte Vergleich stimmt nicht, denn sonst würde die Trinkgeldfrage nicht ewig aktuell sein.

Alfred: Das kenne ich. Jedes Jahr, seit man reist, entdecken einige entartete Kellner, dass es unter ihrer Würde sei, Trinkgeld anzunehmen und einige geizige Filze sehen eine Plage in diesem Trinkgeldgeben.

Kurt: Ich kann mir einen Standpunkt denken, von dem aus der Kellner und der Geizige recht haben. In der Tat degradiert sich der Kellner, wenn er Trinkgeld nimmt.

Alfred: Aber nicht doch! Trinkgeld nehmen ist das Privileg seines Standes.

Kurt: Ich finde es unwürdig.

Alfred: Warum denn? Der Kellner hält es ja für deine Pflicht, dass du Trinkgeld gibst. Du bist ihm vollkommen gleichgültig, bis zu dem Augenblick, wo du ihm, um ihn nicht zu demütigen, nichts gibst. Er hat keine Hochachtung vor dir, wenn du ihm kein Trinkgeld gibst, sondern er verachtet dich. Er denkt: Du Tölpel glaubst, ich sei, weil ich dich bediene, dein Diener oder stünde auf einer niedrigeren Stufe. Du irrst. Ich bin vielmehr – und so weiter. Kurz, er denkt über deine Lage nach. Er zieht dich zu sich herab, bringt dich noch unter sich. Kurz und gut: er denkt, und ein Diener, der denkt, den hole der Teufel. Gibst du ihm aber das gebührende Trinkgeld, so hast du ihn wirklich zu dem gemacht, was er sein soll: zu deinem Diener, zu einem unpersönlichen zufriedenen Wesen, das keine Sekunde lang über dich nachdenkt und dem du keine Veranlassung gibst, auch nur eine Sekunde lang über sich oder über die Standesunterschiede nachzudenken, die euch trennen. Du hast ihn als Individuum ausgelöscht. Er ist ein Luxusgegenstand für dich geworden; eine Annehmlichkeit, die Geld kostet, wie jede Annehmlichkeit. Ihr kennt euch gar nicht, wenn ihr auseinandergeht. Das Kunststück ist nur: nicht zu viel Trinkgeld zu geben, jedem vielmehr nur, was ihm nach Würde, Arbeit und Rang gebührt. Ein Mensch von Kultur hat das im Gefühl. Denn auch hier musst du auf die weite Skala des Luxus achten. Ein erstklassiges Hotel verlangt andere Formen, als ein Hotel dritten Ranges und die Diener stufen sich ab, je nachdem der Ruf des Luxus ist, in dem das Hotel steht. Gibst du zu viel Trinkgeld, so dankt man dir, indem man dich für einen Idioten hält. Folglich behandelt man dich auch wie einen Idioten und du – das ist das fatalste! – darfst dann überzeugt sein, dass du auch wirklich einer bist.

Kurt: Es ist alles relativ, willst du sagen.

Alfred: Ich will sagen, dass man den Luxus nicht verurteilen kann, da man nie weiss, wo er anfängt überflüssig zu werden oder wo er eine Notwendigkeit ist. Vor allem aber will ich sagen, dass das Geschrei gegen den Luxus, welcher Art er auch immer sei, nur einem Tolstoi ansteht und ähnlichen Barbaren.

Kurt: Du nennst Tolstoi, der dem Evangelium nachlebte, einen Barbaren?

Alfred: Jeder, der unsere Kultur beschimpft, ist ein Barbar, und wenn er sich noch so intensiv auf Jesus beruft. Weil im Evangelium nicht von Shakespeare und Beethoven die Rede ist, schimpfte er auf beide. Da es ihm lediglich auf eine sogenannte Moral in der Kunst ankam, hat er ein ganzes Buch gegen Shakespeare als unmoralische Erscheinung schreiben können. Er fertigt Goethe mit der Wendung ab, dass ihm die sittliche Grundlage fehle; er verdammt Maupassant als einen verderblichen Schriftsteller, lobpreist aber Paul de Cock, weil er in seinen faden Obszönitäten zum Schlusse nie vergisst, die Tugend zu belohnen. Ich leugne nicht, dass das originell ist. Es passte auch in sein Bild, den Bauer zu spielen und sich in die Pose des Einsiedlers einzuleben. Jeder, der geistig kopfsteht oder den Tag Nacht nennt oder das Grade krumm, wird die Menge als Zuschauer haben. Aber den Menschen, die Kultur haben, wurde dieser russische Fanatiker mit samt seinem Rousseauschen Geschrei »Zurück zur Natur!« zu einer ungeniessbaren Kuriosität.

Kurt: Du hassest ihn, sehe ich.

Alfred: Ich hasse alle Unkultur. Und weil sie in dem Falle von einem gepredigt wurde, der sich auf Grund starker Dichtungen einen berühmten Namen gemacht hat, so liegt die Gefahr nahe, dass ihn, den philosophischen Schriftsteller, von tausend Menschen, die ihn gegen alle Kultur geifern hörten, noch immer zehn ernst nehmen. Dass er Unsinn schwatzt, hören diese zehn gar nicht; sie hören nur, dass ihn derjenige schwatzt, der sich einst diesen grossen Namen gemacht hat. Ihn hassen! Würdest du den hassen, der heute darauf bestehen würde, dass man Messer und Gabel abschaffe, Fensterscheiben, Bücher, die Einrichtung der Post, die D-Züge? Denn das alles war doch vor noch gar nicht langer Zeit arg verpönter Luxus. Montaigne spottet über das Taschentuch und empfiehlt statt dessen die Nase mit Zeigefinger und Daumen zu schneuzen. Niemand ass vor dem Jahre 1000 n. Chr. mit einer Gabel. In Deutschland war sie noch im vierzehnten Jahrhundert ein Luxusgegenstand. Aber selbst am Tische Tolstois hättest du nicht mehr mit den Fingern in die Schüssel greifen können. Gewisse Gesetze des Luxus anerkannte also auch er.

Kurt: Wo sie notwendig sind.

Alfred: Wo man den Fortschritt nicht mehr erkennt, den sie gegen eine frühere Epoche bedeuten. Denn dass die Gesetze des Luxus notwendig sind, habe ich bereits gesagt. Die Geschichte des Luxus ist die Geschichte des Fortschritts, wobei ich dich bitte, darauf zu achten, dass ich niemals von Protzentum spreche, sondern von Luxus. Zwischen den beiden Formen ist ein Unterschied, wie zwischen dem Gecken und dem Weltmanne. Protzen heisst, für Luxus kein Verständnis haben, denn Luxus ist vornehm illustrierte Unabhängigkeit.

Kurt: Wer ist unabhängig?

Alfred: Im absoluten Sinne freilich niemand: weder Gott, noch Mensch, noch Tier, noch Strauch, noch Fels. Alle Wesen und Dinge brauchen einander und stehen in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Nach der allgemeinen Definition ist freilich derjenige unabhängig, der ein grosses Vermögen besitzt.

Kurt: Demnach werde ich nie unabhängig sein. Ich glaubte, um unabhängig zu sein, genüge es, dass ich mich unabhängig fühle, und es komme nicht darauf an, dass andere mich dafür halten.

Alfred: Im Gegenteil! Deine Unabhängigkeit hängt ausschliesslich von der Meinung der Anderen ab. Du hast kein hohes Bankkonto nötig; wenn du es nur geschickt vorzutäuschen verstehst, so wird das vollkommen genügen, dir deine Unabhängigkeit zu sichern. Wenn du dagegen verwahrlost umherläufst, so nützt dir dein Unabhängigkeits gefühl nicht viel. Jeder Schneider, den du unbezahlt zurückschickst, nimmt es dir.

Kurt: Das empfinde ich nicht so.

Alfred: Das liegt an deinen schlechten moralischen Grundsätzen, und weil du nicht die Verpflichtung hast, Luxus zu treiben. Du hast nur einige Bedürfnisse, die über das Tierische hinausgehen. Du bist ein deklassierter Mensch. Oder, um es kürzer zu sagen: Du bist ein deutscher Dichter. Und ich spreche vom Luxus – –


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