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George Meredith

Das englische Volk hat manchen Geist hervorgebracht, der innerhalb des Volkscharakters, den diese Nation sonst großzieht, eine auffallende Abweichung von der Norm bedeutet. Ein Denker etwa wie Shaftesbury wirkt in dem Geistesleben dieses Landes wie eine fremde Erscheinung. Man könnte meinen, ein launiger Schöpfer habe ihn nur aus Freude am Gegensatz in diese Nüchternheit geworfen, um das Grau der vorherrschenden materialistischen Weltanschauung durch einen freudigen Farbentupfen zu unterbrechen. Oder ist es keine Kuriosität, daß der extremste Philosoph des Idealismus just dem Volke angehört, das sonst ausschließlich und seit urdenklichen Zeiten dem Verstande lebt und in praktischen Dingen aufgeht? Wie kommt es, daß dieser Denker, der förmlich trunken ist in dem Willen, die Menschheit zu beglücken, seine hochfliegenden idealen Gedanken in England empfangen und ausbilden konnte, wo rings um ihn die rein praktischen, man könnte beinahe sagen: realpolitischen Ideen der Hobbes, Locke und Hume, dieser eisigen Heroen des Verstandes, alle denkenden Köpfe erfüllten?

Ein ebensolches Wunder ist die Erscheinung George Merediths. Englands Bastardlehre der Nützlichkeit, die für Irland und Schottland der größte Fluch ist und zum Untergang dieser Stammesarten führen wird, hat auf Meredith gottlob nicht abgefärbt. Er ist ein Outsider, eine Welt für sich, ein Alleingänger. Er ist für den englischen Geist ebensowenig typisch, wie Oscar Wilde. Meredith ist ein sublimierter Anatole France; aber Anatole France mutet in seinen reifsten Werken wie ein Schüler von Meredith an. Er hat einen ungeheuer prächtigen, ungeheuer üppigen Urwald von Ideen aufgebaut, durch den man sich nur mit guten Rüstzeugen hindurchschlagen kann. Meredith verlangt stets die äußerste Verstandeskonzentration seines Lesers, und streng genommen gehören seine Werke nicht zur schöngeistigen, sondern zur philosophischen Literatur. Man hat zuweilen den Eindruck, vor einer Fontäne zu stehen, die unaufhörlich ihre glitzernden Perlen aus der Erde schleudert. Aber das Bild ist falsch, denn die Wasserperlen zerstieben, während seine von echter Dauerhaftigkeit sind. Das Chaos, das diese Gedankenwelt zu sein scheint, entwirrt sich, sobald man sich darin auskennt, zu einem wohlgeordneten Ganzen, das ein souveräner Geist beherrscht, der unbedingte Ehrfurcht heischt. Seine Bücher sind einem außerordentlich gesunden Gehirn entsprungen; sie strotzen von Weisheit und Erfahrung. Gleichviel welchen seiner Romane man zur Hand nimmt: man wird über dem rein Geistigen, rein Aphoristischen sehr bald das Stoffliche und Romanhafte vergessen. Dies drängt sich sozusagen von selbst in den Hintergrund. Während Balzac seine Situationen gewissermaßen fast immer aussaugt, um das Resümee in einer allgemeinen Erfahrung wiederzugeben, verfährt Meredith umgekehrt, indem er einen Erfahrungssatz niederschreibt, ihn analysiert, von links und rechts beschaut, dreht, wendet, dessen Wahrheit er hinterher durch irgendeine Situation erklärt und bestätigt. Darum kann man ihn nicht im eigentlichen Sinne einen Dichter nennen. Denn am Anfang war der Stoff und dann erst vergeistigte er sich; aber bei Meredith ist es immer erst der Geist, der von Anfang an da ist und einen Stoff sucht, an dem er sichtbar werden könne. Daß ihm die Verschmelzung von Geist und Stoff nie restlos glückt, ist vielleicht die Tragikomik dieses edlen Geistes, von dem Oscar Wilde in seiner paradoxen Art gesagt hat: »Ah! Meredith! Wer will ihn beschreiben? Sein Stil ist Chaos, das von zuckenden Blitzen leuchtet. Als Schriftsteller beherrscht er alles, nur nicht die Sprache; als Romanschriftsteller kann er alles, nur nicht erzählen; als Künstler ist er alles, nur nicht klar. Irgendeiner in Shakespeare, ich glaube Touchstone, spricht von einem Manne, der sich an seinem eigenen Witz beständig die Glieder zerschlägt, und wie mir scheint, könnte man mit diesem Wort Merediths Art und Weise abtun. Was er aber auch sein mag, Realist ist er nicht. Oder doch vielleicht ein Sohn des Realismus, aber einer, der sich mit seinem Vater nicht steht. Durch eigene, freie Wahl ist er zum Romantiker geworden. Er verschmähte es, vor einem Götzenbild auf die Knie zu fallen, und wenn sich auch des Mannes herrlicher Geist nicht empörte gegen die lärmenden Anmaßungen des Realismus, es genügte sein bloßer Stil, um das Leben in angemessener Entfernung zu halten. Mit diesem Stil hat er eine Hecke um seinen Garten gezogen, eine Hecke von Dornen und roter Rosenpracht.«

Am augenfälligsten und ausgeprägtesten begegnet man der Meredithschen Eigenart in dem großen Roman » Richard Feverels Prüfung«, der zum erstenmal 1859 erschienen ist. Es ist im Grunde ganz gleichgültig, was hier erzählt wird. Auch wie es erzählt wird, ist von sekundärer Bedeutung. Es wird lediglich eine Behauptung aufgestellt, die eine geläufige und allgemein gültige Wahrheit enthält, deren Absurdität bewiesen wird. Die Welt behauptet beispielsweise: Erziehung vermöge alles. Es sind besonders die englischen Erfahrungsphilosophen, die diese Behauptung aufgestellt hatten und für die später die französischen Denker eingetreten sind. Ist der Mensch, wenn er geboren wird, tatsächlich ein unbeschriebenes Blatt, tabula rasa, dann ist es Sache der Erzieher und Lehrer, dies unbeschriebene Blatt mit ihren Zeichen zu füllen. Man hat es demnach vollkommen in der Hand, aus seinen Kindern zu machen, was man will. Das Schicksal der Kinder und ihr späterer Lebensweg hängt infolgedessen im wesentlichen von dem Charakter und der Einflußnahme der Eltern und Lehrer ab. Wenn dem aber so ist, wird jeder verantwortungsvolle Mensch natürlich das Äußerste tun, die Anlagen des Kindes, das seiner Obhut anvertraut ist, im besten und edelsten Sinne zur Entwicklung zu bringen.

Soweit die Behauptung.

Meredith sagt: Das ist nicht wahr. Das ist graue Theorie. Schwindel. Buchweisheit, die vor dem Leben nicht standhält. Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt. Seine Seele ist schon bei seiner Geburt von tausenden unleserlichen Runen bedeckt, die viele, längst schon tote Geschlechter ihr im Laufe der Jahrhunderte aufgeprägt haben. Erzieher und Lehrer können beim Kinde nur zur Entfaltung bringen, was im Keime längst vorhanden ist, ebenso wie im Samenkorn der Rose oder Distel schon der Duft oder die Stacheln eingeschlossen sind, die dereinst Freude oder Schmerz erregen werden. Aus einem Kinde ohne geniale Anlagen wird nie ein Genie zu machen sein, selbst wenn man ihm die besten Erzieher und Lehrer der Welt zur Seite gibt. Wenn aber ein Vater die Erziehung seines Kindes zu einer Art Rechenexempel machen und sagen wollte: Wenn ich meinen Jungen beharrlich diesen bestimmten Weg gehen lasse, wird er konsequenterweise früher oder später an das von mir bestimmte Ziel kommen müssen, – dann würde sich diese Rechnung als falsch erweisen. Denn die ursprünglichen Anlagen, die vielleicht im Hinblick auf das vom Vater erwählte Ziel hemmend wirken könnten und die deshalb bewußt unterdrückt worden sind, brechen sich früher oder später, dann aber desto gewaltsamer dennoch Bahn, und alle Berechnungen waren vergeblich, alle jahrelang getroffenen Maßnahmen sind durch einen unbewachten Augenblick zunichte geworden, alle Hoffnung getäuscht. Der Erzieher, der sich anmaßt, die Vorsehung zu spielen, der mit Menschenseelen zu experimentieren wagt, ist der Henne gleich, die mit Hingebung Tag und Nacht über ihren Eiern brütet und entsetzt ist, wenn Entenküken ausschlüpfen. Es gibt so etwas wie Vorbestimmung und Schicksal, und alle sterblichen Wesen, Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen sind an ihre Gesetze gebunden, an ihre Wesenheit verhaftet von allem Urbeginn an.

Sir Austin Feverel aber deutet die Dinge aus sich heraus, er richtet sich nach den vortrefflichen Erziehungsbüchern und philosophisch-pädagogischen Werken, die seine Berater sind; und wenn die Dinge seiner Deutung widersprechen, so ändert er nicht seine Deutung, er will vielmehr die Dinge zwingen, sich seiner Auslegung, seinem »System« anzupassen. Mit dem Ergebnis, daß Sir Austin eine Tragödie erlebt, die ihm das Herz verhärtet: sein Sohn geht zugrunde.

Aber diese Tragödie wird nicht nur die Eltern immer wieder ereilen, so oft die Eltern glauben, ihre Kinder von einem gebundenen Standpunkt aus lenken zu können, – denn die Seele ist keine chemische Substanz, die sich restlos in ihre Bestandteile auflöst, deren Ingredienzien sich beliebig mischen und wieder zusammensetzen ließen – dieselbe Tragödie wird auch der Mann mit dem Weibe seiner Wahl erleben, das er seinen Bedürfnissen und seiner Bequemlichkeit gemäß zu erziehen strebt, damit es zu ihm »passe«. Wenn maßlose Liebe vollkommene Weisheit wäre – heißt es im »Richard Feverel« –, dann könnte ein menschliches Wesen für ein anderes beinahe die Vorsehung verkörpern. Doch leider! göttlich, wie die Liebe ist – sie kann nichts tun, als das Haus, das sie bewohnt, erleuchten, muß seine Gestalt annehmen, bisweilen seine Enge nur enger machen, kann die alten lebenslangen Mieter oben und unten vergeistigen, doch nicht vertreiben.

Und das gilt in erhöhtem Maße noch vom » Egoisten« (1879 erschienen).

Ich kann nicht nachdrücklich genug auf dieses Werk hinweisen, das ein Quell unerschöpflicher origineller Weisheit ist und in dem man eine Ursprünglichkeit atmet, wie in einem Urwald. Kluge Frauen sollten dies Buch wie die Bibel heilig halten.

In dem Präludium, mit dem Meredith sein großes Werk einleitet, erhalten wir z. B. eine nach jeder Seite hin vollkommene Analyse des Egoismus. Was Meredith sagt, ist satt an Weisheit, und kein Spiegel könnte das aufgefangene Bild getreuer zurückgeben, als Meredith. Ein Mensch von patriarchalischem Alter spricht hier, und wir haben zunächst nur die Pflicht der Höflichkeit, ihm zuzuhören. Aber dann werden wir in den Bann seiner sanften und milden Klugheit hineingerissen.

Wenn der Mond sich im Brunnen spiegelt, glaubt man ihn mit Händen fassen zu können, aber sowie man sein Licht berührt, zerrinnt es; ebensowenig sind die Charaktere der Meredithschen Menschen zu fassen. Ich hoffe, man versteht, was ich sage, denn sezieren läßt sich seine Art nicht. Er wird zweihundertfünfzig Seiten brauchen, um die Seele eines Menschen zu beschreiben, ehe er das Äußere dieses Menschen schildert. Oh, wie kennt er das menschliche Herz. Er hat eine umfassende Erfahrung. Er läßt uns erst den Duft der Essenz kennenlernen, die er uns in der Geschichte des Egoisten selbst vorsetzen wird.

Ein vornehmer englischer Herr, schön und reich und geistsprühend, der Stolz seiner Grafschaft, der Liebling der Frauen, hat das fatale Geschick, daß seine Verlobung zweimal und immer mit einem schönen und eigenartigen bedeutenden Weibe, zurückgeht. Und der Inhalt des ganzen Romans beschäftigt sich eigentlich nur mit der Lösung des zweiten Verlöbnisses. Wie das Mißtrauen in dem schönen Mädchen erwacht, das in ihrem umschmeichelten Bräutigam den Egoisten wittert, dessen Seele nicht lieben kann; wie das Mißtrauen sich steigert; wie die Braut frei werden will und um ihre Freiheit kämpft – das alles ist hinreißend und ganz einzig geschildert. In einem Punkte bleibt mir die Handlungsweise der Heldin Klara Middleton indes vollkommen unverständlich, es sei denn, Meredith hätte in erster Reihe den Hauptakzent auf den Druck der gesellschaftlichen Bande gelegt, die dem Egoisten ein Recht geben, seine Verlobte zuzuwerfen, wem er will. Warum macht er sich nicht gefaßt darauf, daß dieses entzückende Geschöpf, das inmitten einer überfeinerten Welt eine Natur geblieben ist, ihm zuruft: »Ich heirate, wen ich will!« Daß sie dies nicht tut, empört gewiß jeden weiblichen Leser und beleidigt die Vorstellung, die man von ihrer Ehrlichkeit hat.

Aber ich weiß nicht, ob man ein Recht hat, derartige Aussetzungen bei Meredith zu machen. Sicher ist, daß er seine Klara nicht ohne Absicht so geschildert hat; daß wir diese Absicht nicht vollkommen ergründen, mag daran liegen, daß wir den komplizierten Typus der englischen Dame, den die aristokratische Gesellschaft herausgebildet hat, nicht genügend kennen.

In dieser Geschichte – und das ist das Wertvollste daran – wird die Komödie unserer Aufgeblasenheit gegeben, nur daß der Leser, wie in jeder echten Komödie, nicht weiß, ob der Schöpfer uns zum Lachen oder zum Weinen bringen wollte über uns selber. Der Egoist erregt sicherlich Mitleid; aber er wird mit Lachen begrüßt. Er, der den Wunsch hat, sich auf Kosten anderer Leute zu kleiden, ist zur Strafe dafür verurteilt, entblößt vor uns zu stehen. Er fordert den Hohn heraus. Das Komische in ihm kommt in den leisesten Andeutungen zum Vorschein und überwuchert seine Gestalt.

»So seid ihr!« werden die Frauen ausrufen, die dies Werk lesen, und sie werden sich auf die große Autorität Merediths berufen, dem nur die Höflichkeit verboten hat, zu sagen, wie die Frauen sind.

Wer hat die blinde Leidenschaft der Eifersucht noch so geschildert, wie Meredith? Shakespeare mag in den Grundzügen seines Othello oder Leontes ewig wahr sein; aber die Kompliziertheit dieses Gefühls in der Seele des modernen Menschen hat niemand so gekannt, wie Meredith. Man lese, was er im XXIII. Kapitel des »Egoisten« darüber sagt, »welches von der Vereinigung von Temperament und Klugheit handelt«.

Und will man das Tiefsinnigste oder Schönste lesen, was je über »Liebe« gesagt wurde, so lese man Meredith. Fiona Macleod apostrophiert den Dichter in ihrem wunderbaren »Reich der Träume« also: »Alle Menschen sprechen von Liebe; aber nur Sie haben das Allerhöchste von der Leidenschaft der Liebe gesagt, – nämlich, daß Leidenschaft edle Kraft in Glut ist. Es ist charakteristisch für das Individuum; es ist typisch für die Rasse: und doch sind Tausende von Dichtern gekommen und gegangen, Millionen und Abermillionen Herzen haben in diesem Akkorde geschlagen, und die Wendung hat gewartet, abseits stehend, auf Sie.«

Aber am besten läßt man den Dichter selber sprechen, um zugleich auch einen Begriff von seiner kühnen Diktion, seinen verwegenen Gedankensprüngen und seinem überquellenden Bilderreichtum zu geben.

Im siebenten Kapitel des »Egoisten«, das von den »Verlobten« handelt, lautet eine charakteristische Stelle: »Leute, deren Einnahmen soweit beschränkt sind, daß sie gezwungen sind, von ihrem Kapital zu leben, befreien sich bald von der verdächtigen Sorge, die an ihnen zehrt, durch das fröhliche Behagen, das sie in diesem Zustand genießen, und trösten sich nun für die unerträgliche Ahnung kommenden Mangels durch gelegentliche Anfälle sorgloser Verschwendung. So zehren auch Liebende von dem Kapital, sobald ihnen das Einkommen fehlt; auch sie verschwenden, um die Furcht zu ersticken und um dem Bedürfnis des Tages zu genügen, ihren Vorrat, so daß er sich schnell verringert; da sie der kommenden Hungersnot entgegensehen, haben auch sie ihren Rausch der Verschwendung; sie setzen ihr Gedächtnis in Bewegung und lieben rückblickend; sie betreten das alte Haus der Vergangenheit und plündern die Vorratskammer und würden freudig und entschlossen fortleben in dieser Illusion, wenn es nur möglich wäre, daß auch der reichste Honigvorrat von Erinnerungen auf die Dauer dem menschlichen Hunger genügen könnte, während nur die Wahl bleibt zwischen der Vernichtung des Bienenstockes oder des Geschöpfes, zu dessen Nahrung er dient. Hierin zeigen Liebende irdische Natur. Mehr als die ganze andere irdische Welt bedürfen sie der frischen Zufuhr gesunden Saftes, sie müssen knospendes Leben haben, Früchte, die noch auf dem Baume hängen und nicht trockenes Futter – eingekochte Konserven. Letztere sind später ausgezeichnet, wenn unendlich viel mehr Erinnerungsstoff vorhanden und dem Hunger nur noch ein Zahn geblieben ist. Sollten ihre Herzen sich vielleicht an den ersten Eindrücken gesättigt und diese unter dem verantwortlichen Lichte der Vernunft liebend bewahrt haben, dann dürften sie auch später noch so schöne Ernten haben wie in der ersten Zeit; aber der Fall ist selten. Mit anderen Worten: Liebe ist eine Angelegenheit für zwei, und auch nur für zwei, die so lebhaft und beständig in ihrem Verkehr miteinander sind wie Sonne und Erde, sei es durch Wolken getrennt oder von Angesicht zu Angesicht. Durch Zeichen der Liebe, Beweise der Treue und durch den Antrieb zur Bewunderung erhalten sie ihre Lebenslust voneinander. So ist es mit Männern und Frauen in der Blütezeit der Liebe. Aber eine einsame Seele, die einen Klotz hinter sich herschleppt, muß diesen Klotz zu einem Gotte machen, um Freude an der Last zu empfinden. Das ist nicht Liebe.«

Was aber Liebe ist, das hat Meredith – schöner als Shakespeare in »Romeo und Julia« – im XX. Kapitel des »Richard Feverel« gesagt, das »Eine Belustigung auf einer Groschenpfeife« betitelt ist. Ich setze es vollkommen hierher, denn es ist trotz der schlechten Übertragung zu wundervoll, um auch nur ein einziges Wort daraus fortzulassen!

»Fort mit Systemen! Fort mit einer verderbten Welt! Laßt uns die Luft der verzauberten Inseln atmen.

Golden liegen die Wiesen: golden fließen die Ströme: rotes Gold liegt auf den Tannenstämmen. Die Sonne steigt auf die Erde nieder und wandert auf Feldern und Wassern.

Die Sonne steigt zur Erde nieder, und die Felder und die Wasser jauchzen ihr goldene Jauchzer zu. Sie kommt, und vor ihr laufen ihre Herolde her und tauchen die Blätter von Eichen, Platanen und Buchen in leuchtenderes Grün, und die Fichtenstämme in roteres Gold; und sie lassen glänzende Spuren auf dichtbewachsenen Ufern, wo des Grasglöckchens letzte Glocken hängen und Brombeerranken durch reiches, feuchtes Grün hinwandern. Das Blattgefieder im Wald steht entflammt; und dahinter über die Ebene geht ein Wettlauf mit den langgeworfenen Schatten; ein Wettlauf über die Heide hin und die Hügel hinauf, bis die Herolde der Sonne rosige Finger an die fernste Grenze aufgetürmter östlicher Wolken legen und ruhen.

Lieblich sind die scheuen Verstecke des Waldes. Dort tritt der Strahl leise auf. Ein Nebel zittert quer über den Pfad, vielfarbig gegen purpurnen Schatten, der nach warmen Tannen, tiefen Moosbeeten und gefiederten Farnen duftet. Das kleine braune Eichhorn senkt den Schwanz und springt: der innerste Vogel erschrickt vor einem klanglosen Ton. Die Dinge ziehn vom Schweigen ins Schweigen.

Blicke des schwelgenden Glanzes oben und rings beleben das volle wissende Herz. Der flammende West und die glühenden Höhen schauern ihre Glorien durch weites Laubwerk. Aber dies sind Lauben, wo tiefe Seligkeit wohnt und kaiserliche Freude, die jenen Glorien keine Lehnspflicht schuldet, in denen junge Lämmer spielen und die Geister der Menschen sich freuen: Steige nieder, großer Glanz! Umarme die Schöpfung mit wohltätigem Feuer und gehe von uns! Du und das vizekönigliche Licht, das dir folgt und aller himmlische Festzug, ihr seid nur Diener und Sklaven dessen, was drinnen pocht! Denn dies ist die Heimat des Zaubers. Hier treffen sich, fern von bedrängten Gestaden, der Prinz und die Prinzessin der Insel; hier sitzen sie wie Nachtigallen im Dunkeln, und schütten sich in Augen und Ohren und Hände die endlos ewigfrischen Schätze ihrer Seelen.

Rollt weiter, zermalmende Räder der Welt: Schreie von Schiffen, die in Windesstillen untergehn, Seufzer eines Systems, das die rechte Stunde seines Triumphs nicht kennt, klagt dem All! Hier werdet ihr nicht gehört.

Er nennt sie bei ihrem Namen: Lucy, und sie, ob ihrer großen Kühnheit errötend, hat ihn bei seinem genannt: Richard. Die beiden Namen sind die Grundtöne der wundervollen Harmonien, die die Engel in Lüften singen.

»Lucy! Geliebte!«

»O Richard!«

Draußen in der Welt, am Saum des Waldes, bläst ein Schäferjunge zum nachdenklichen Abend auf einer Groschenpfeife.

Der Liebe Musik ist ebenso alt und ebenso arm; sie hat nur zwei Töne, und doch seht ihr, wieviel die kundige Künstlerin damit vermag!

Andere Sprache haben sie wenig; leichter Schaum, der auf den Wogen der Empfindung spielt, und feste Empfindung, die nur dann ausbricht, wenn ihr Inhalt zu voll und zu wild wird, und die so wenig wie ihr Seufzer der Zärtlichkeit redet.

Vielleicht spielte die Liebe ihre Melodie so gut, weil ihre Naturen keine stumpfen Kanten hatten und scharf die Seligkeiten empfanden und ihr als natürlicher Nahrung trauten. Für Herren und Damen spielt sie bezaubernd die Violine; oder sie bläst auf dem weichen Fagott; oder sie weckt die heroische Glut der Trompete; oder sie leitet gar das ganze Orchester für sie. Und es erfreut sie. Sie bleibt die kundige Künstlerin. Sie schmachten und kosten von der Ekstase; aber so klangreich es ist, es bleibt ein Konzert der Erde. Ihnen kreisen die Sphären nicht auf zwei Tönen. Sie haben den ersten übersinnlichen Sprung der reifen Sinne in die Leidenschaft verloren oder verwirkt oder nie gekannt – der Sinne Sprung, wenn sie die Seele mit sich tragen, und das Vorrecht der Geister genießen, daß sie entkörpert wandeln und ohne Grenzen empfinden. Oder einer hat es, und der andere ist ein toter Leib! Laß sie Ambrosia essen und Nektar trinken; hier sitzt ein Paar, dem der Liebe einfaches Wasser und Brot ein reicheres Festmahl ist.

Blase, glücklicher Schäferknabe, Liebe! Bestrahlte Engel, entfaltet eure Schwingen und erhebt eure Stimmen!

Sie haben die Philosophie geschlagen. Ihr Instinkt schoß über der Wissenschaft Haus hinaus. Er war für dieses Eden geschaffen.

»Und dieses göttliche Geschenk harrte auf mich!« So lautet der innere Schrei eines jeden, wenn er den andern faßt: es ist ihr ewiger Refrain in den Harmonien. Wie es vergangene Jahre erleuchtete und die lebendige Zukunft durchströmte!

»Du für mich; ich für dich!«

»Wir sind füreinander geboren!«

Sie glauben, daß von ihrer Wiege an die Engel um sie geschäftig waren. Die himmlischen Heerscharen haben würdig gerungen, um sie zusammenzubringen. Und, o Sieg! O Wunder! Nach Mühsal und Schmerz und übergewaltiger Arbeit haben die himmlischen Heerscharen gesiegt!

»Hier sitzen wir beide und werden droben als eines geschrieben!«

Die Farbenflut ist vom Himmel geebbt. Im Westen sinkt das Feuermeer; und die Sterne springen hervor und zittern und weichen vor dem steigenden Mond, der sich den Silbermantel aus Wolken von seiner Schulter streift und mit dem Fuß auf den Tannenwipfeln den Himmel überschaut.

»Lucy, hast du nie davon geträumt, daß du mich treffen würdest?«

»O Richard! Ja; denn ich vergaß dich nicht!«

»Lucy, und hast du gebetet, daß wir uns treffen möchten?«

»Ich tat es.«

Jung, wie er auf die Liebenden im Paradiese sah, wandert der schöne Unsterbliche weiter.

Vor ihm ist nicht Nacht, nur verschleierter Tag. Der halbe Himmel ist hell. Nicht dunkel, nicht Tag; sondern Hochzeit der beiden.

»Mein eigen! Mein eigen für immer! Du bist mir verlobt? Flüstere!«

Er hörte die köstliche Musik.

»Und du bist meins?«

Ein weicher Strahl wandert zu dem Farnendach unter der Fichte, wo sie sitzen, und zur Antwort hat er ihre Augen: einen Moment ihm zugewandt, furchtsam über die Tiefen der seinen flatternd, und dann gesenkt; denn durch ihr Auge zeigt ihre Seele sich nackt.

»Lucy! Meine Braut! Mein Leben!«

Der Ziegenmelker spinnt seine dunkle Monotonie auf dem Ast der Tanne. Der weiche Strahl zieht um sie herum und lauscht auf ihre Herzen. Ihre Lippen sind verschlossen.

Blase nicht mehr, Liebe, auf eine Weile! Blase, wie du willst, du kannst ihren ersten Kuß nicht ausdrücken! Nichts von seiner Süße, von seiner Heiligkeit nichts. St. Cäcilia oben von den silbernen Orgelpfeifen des Paradieses, die ihre Finger auf alle Tasten drückt, von denen die Liebe nur eine ist – von ihr magst du es hören!

So schweigt die Liebe. Draußen in der Welt, am Saume des Waldes, vollführt der zufriedene Schäferjunge eine letzte selbstgefällige Kadenz über die ganze Länge seiner Groschenpfeife und mit einem schiefgesichtigen Schlußakkord versinkt auch er ins Schweigen, da ihn das Abendbrot ruft. Die Wälder sind still. Nur den Ziegenmelker, der an dem Tannenzweig haspelt, vernimmt man, umsponnen vom Mondlicht.«

Ein andermal hat Meredith der Liebe einen seiner schönsten Romane gewidmet; er heißt » Die tragischen Komödianten«. Welch ein wundervolles Buch! Welch ein fein ziseliertes Glied in der Kette seiner unsterblichen Werke!

Es ist das Leben Ferdinand Lassalles, an dem Meredith hier zum Dichter geworden ist und, wenn mein Instinkt mich nicht täuscht, das Leben Lasalles, gesehen durch das Temperament Georg Brandes, dessen eindrucksvolle Schilderung des agitatorischen jüdischen Feuergeistes gewiß von großem Einfluß auf George Meredith war. Jeder Zug des Lasalleschen Wesens, jede menschliche und anekdotische Einzelheit, von der Brandes berichtet, und alle Personen, die in dieses meteorenhaft dahinsausende Leben verwickelt waren, begegnen uns in Merediths Roman wieder. Der Held Alton ist Ferdinand Lassalle; die Baronin ist die Gräfin Sophie Hatzfeld, deren Prozesse der junge Lassalle mit Einsetzung aller seiner Kräfte zu glücklichem Ende geführt hatte; Klothilde von Rüdiger ist Helene von Döniges, die Tochter des bayrischen Diplomaten, um deretwillen Lassalle, der heftigste Duellgegner, eine Pistolenforderung an den Prinzen Janko von Rakowitz geschickt hat (im Roman heißt er Marko Rornaris), in welchem Duell Lassalle denn auch so jählings fiel. Um all dieser Dinge willen lautet der Untertitel des Romans: »Eine Studie nach einer wohlbekannten Geschichte.« Aber das ist keine Studie mehr, sondern ein vollendetes Gedicht über die Liebe; über zwei Königskinder, die nicht zusammenkommen konnten.

Auch hier, wie in seinen übrigen Werken, überrascht die Blutfülle seiner Gestalten, deren Sinne ihm ebenso wichtig sind, wie deren Seele. Ob die Seele vom Körper abhängt oder der Körper von der Seele – dieser jahrhundertelange Disput der Philosophen – wird durch ihn im Sinne der französischen Aufklärungsphilosophen dahin entschieden, daß beide unzertrennlich sind; wer den Körper entweiht, erniedrigt die Seele. Wenn sie das heilige Feuer ist, so ist der Körper der Tempel, in dem die himmlische Flamme brennt. Wer asketisch die Kraft der Sinne unterdrückt, dessen Sinnlichkeit wird in religiöse Schwärmerei ausarten (Constanze Asper) oder in irgendwelchen anderen anormalen Eruptionen sich Bahn brechen und erschreckende, ja sogar verheerende Wirkungen hervorrufen.

Meredith ist eine der großartigsten Erscheinungen; in seinem Geiste haben sich La Rochefoucauld, Montaigne und Emerson die Hände gereicht, um in diesem einzigartigen Dichter ihre glänzende Wiederauferstehung zu feiern, um die Fülle ihrer Weisheit zu etwas Einschmeichelndem und Unvergeßlichem zu machen. Als Psychologe steht er in der ersten Reihe der fünf oder höchstens zehn größten Seelenkenner, die die Weltliteratur besitzt. Ich weiß nicht, ob ihm vor Dostojewski der Vorrang gebührt; neben ihm besteht er sicherlich in Ehren. Er ist kein Moralist, der Gesetze geben will, sondern ein Ethiker, der sie lieber ergründet; aber er ist nicht nur Ethiker, sonst wäre Tolstoi bedeutender als er. Er ist der mit Wissen und Erfahrung am meisten gesättigte Dichter, und ihn lesen heißt: in die tiefsten Tiefen des menschlichen Herzens schauen und in den unergründlichen Labyrinthen der Seele sich leicht zurechtfinden.

Ich habe Dostojewski genannt. Welcher ernste Mensch würde sein Bild in der Geschichte der Weltliteratur gern vermissen? Aber bei all der unbegrenzten Liebe und aufrichtigen Bewunderung, die ich für ihn hege und der ich Ausdruck gab, muß ich doch zugeben, daß dieser Apostel der Armen und Beleidigten, dieser glühende Verteidiger der Erniedrigten und Gekränkten, immer nur die Seele des pathologischen, des kranken Menschen vor uns klargelegt und uns gelehrt hat, das Chaos, das durch ein verworrenes Gehirn und ein heiß schlagendes Herz entsteht, zu begreifen und sogar zu lieben. Wie Dostojewski das stets zu sagen weiß, bleibt unnachahmlich und groß. Und doch ist Meredith größer. Er ist als Psychologe Dostojewski vollkommen ebenbürtig und an klarem Verstand ihm weit überlegen. Er ist pure Gesundheit, und fast alle seine Helden und Heldinnen gehen stets an einer Überfülle ihrer Gesundheit zugrunde. Es ist, als ob er wilde Pferde schilderte, die gefangen sind und frische Luft wittern. Man kann sich kaum kompliziertere und feinere Menschen denken, als die seinen, und doch haben sie Nerven wie Stricke. Sie sind übersaftig, zu vollblütig, und gleichen Flammen, die niedergehalten werden und danach ringen, emporzulodern. Wehe, wenn sie ausbrechen! Die Sonne schont den nicht, dem sie nahekommt. Sie verbreitet rings Tod und Verwüstung. Und doch ist sie die Sonne, die ewige und strahlende. In diesem Sinne sind Merediths Menschen sonnig und flammend, und wer sich ihnen nähert, wird von ihrer strahlenden Wärme geblendet und versengt oder wird selbst Sonne.

Aber all seine milde Weisheit, seine durch Güte filtrierte Erfahrung, sein großer ethischer Zug – frei von dem ethischen Fanatismus eines Tolstoi!– seine unheimliche psychologische Intuition, seine lichtvollen Gedanken, das alles wäre schemenhaft, wäre Gerippe, unbeseeltes Fleisch, wenn ein Dichter hier nicht zum Gestalter würde und zum Zauberer, der Leben gibt und nimmt und unter dessen Feder die Natur und der Mensch aufjubeln, dankbar, daß sie erstehen durften. Die Fähigkeit des Sehers, das Feuer der Darstellung zeichnen ihn aus. Wie es das Wesen der Sonne ist, Wärme zu verbreiten, ohne sich zu erschöpfen, so streut er seine Weisheit vor uns aus, ohne je zu versiegen. Wie eine reife Linde im Sommer überschüttet er uns mit seinen duftenden Blüten, gibt sich scheinbar völlig aus in den saftigen Früchten eines Werkes, um im nächsten Werk durch seinen blühenden Reichtum von neuem zu überraschen. Er ist unsystematisch wie die Natur, unerschöpflich wie die Natur.


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