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Im Zeitalter der Renaissance und des siebzehnten Jahrhunderts war es mehr denn je der Selbsterhaltungstrieb in seinen verschiedensten und ausschweifendsten Formen, der die Grundlage der Lebensführung bildete. Alles drehte sich um das liebe Ich, gleichviel, ob man nur an die Existenz des Individuums in dieser Welt dachte, oder ob man auch dessen Existenz in einer anderen Welt in die Betrachtung miteinbezog, wie es z.B. John Locke getan. Gegen diese Betrachtungsweise wurde seitens der philosophischen Ethiker Berufung eingelegt; namentlich glaubte man nicht, daß die Vernunft die superiore Macht sein könnte, die das Tun der Menschen zu bestimmen in der Lage wäre. Es ist Shaftesburys Verdienst, die Bedeutung des unmittelbaren Gefühls als Grundlage ethischer Wertschätzungen betont zu haben. Er stellt, vorwiegend antiken Einflüssen hingegeben, die seine Ideen bestimmen, einen nützlichen und folgenreichen Gegensatz gegen den aufkommenden Rationalismus auf. Bei ihm taucht wieder der Begriff der antiken Harmonie und Selbstbeschränkung und das antike Selbstvertrauen auf die Natur in voller Reinheit empor; es fehlt allerdings auch nicht – und dadurch bekundet er seine englische Herkunft! – an Sentimentalitäten, Geschmacklosigkeiten und Vorurteilen gegen die unteren Volksschichten.
Anthony Ashley Cooper Graf von Shaftesbury wurde 1671 in London geboren. John Locke, der Philosoph und Arzt, stand der Mutter als Geburtshelfer zur Seite und leitete später auch die Erziehung des Knaben. Er hatte eine Lehrerin, die geläufig Lateinisch und Griechisch sprach, so daß er diese Sprachen wie seine Muttersprache beherrschen lernte. Gesunde antike Gedanken wurden schon früh dem Geiste des Knaben eingeprägt. Seine weitere Entwicklung wurde durch Reisen in Italien und Frankreich gefördert, wo er sich Menschenkenntnisse und eine Fülle von Wissen erwarb. Daß er seine künstlerischen Interessen intensiv pflegte, davon legen viele Gleichnisse und Metaphern, die er aus der Welt der Kunst holt, Zeugnis ab. Einige Jahre lang war er Mitglied des Unterhauses, und 1699, als sein Vater starb, erbte er auch den Sitz im Oberhaus. König Wilhelm schätzte ihn hoch, aber Shaftesbury hatte, trotzdem er auf eine aussichtsreiche politische Karriere rechnen durfte, keine Lust, die staatsmännische Laufbahn einzuschlagen. Seine Gesundheit war nur schwach, und er fühlte Verlangen nach einem stillen literarischen Leben. Kaum zweiundvierzig Jahre alt, starb er 1713 in Neapel. Seine Werke, die er selbst kurz vor seinem Tode in drei Bänden sammelte, sind nicht in die Form einer ruhigen systematischen Darstellung gebracht; sie geben vielmehr rhapsodische Ausbrüche und Reflexionen in Brief- oder Dialogform, die oft von hinreißendem Schwunge und voll edler Gefühle sind; oft aber, wo man gute Gründe erwartet, wird man mit sentimentaler, wenn auch dithyrambischer Rhetorik abgespeist. Shaftesbury ist Gefühlsphilosoph, und am eklatantesten tritt diese Art zu denken mit all ihren Stärken und Schwächen in den »Moralisten« zutage.
Shaftesbury behauptet den Zusammenhang des Schönen mit dem Guten unter Wiederaufnahme der antiken Auffassung der Tugend als einer Harmonie zwischen den Teilen des einzelnen Menschen und zwischen den Menschen untereinander. Das Schöne ist ihm das Gute; gut ist, was schön ist. »Trachtet zuerst nach dem Schönen und das Gute wird euch von selbst zufallen.« Das ästhetische Ideal ist der Mittelpunkt seines gesamten Denkens und Fühlens. Den guten Geschmack zu kultivieren, ist die wesentlichste Absicht seiner Schriftstellerei. »Nur derjenige ist mir ein wahrhafter Künstler, der gleich dem obersten Werkmeister oder gleich der bildenden Natur ein Ganzes schafft, wo alles miteinander im Zusammenhang und im richtigen Verhältnis steht, und wo die einzelnen Teile sich naturgemäß unterordnen und gliedern.« Die gemessene und harmonische Klarheit, die Shaftesbury hochschätzt, findet er unter den Neueren daher nur in dem antikisierenden Klassizismus der Franzosen. Shakespeare ist ihm – das nimmt er Tolstoi vorweg! – nur ein tumultarischer Wilder, ein gotischer Rohling. Dagegen kommt er Goethe sehr nahe, wenn er das Leben als eine besondere Kunst betrachtet und es als die vornehmste Aufgabe des Menschen ansieht, der Künstler seines eigenen Lebens zu werden. Er verteidigt die Bedeutung des unmittelbaren Gefühls im Gegensatz zu der räsonierenden Vernunft, dem berechnenden Egoismus und den äußeren Sinnesempfindungen. Man dürfe nicht behaupten – meint er – daß wir die Ideen von der Liebe und der Gerechtigkeit nur aus der Erfahrung und aus dem Katechismus erhalten könnten. Es müßte dann auch einen Katechismus geben, der die Vögel fliegen und Nester bauen lehre und Mann und Weib einander finden lasse. Es gebe vielmehr einen Instinkt, der das Individuum mit dem Geschlecht verknüpfe, einen ebenso natürlichen Instinkt wie der der Fortpflanzung und der Sorge für die Nachkommenschaft. Der Mensch könne nicht außerhalb der Gesellschaft bestehen und habe es nie gekonnt. Der sogenannte Naturzustand sei eine Unmöglichkeit. Insofern der Mensch ein Wesen war unserer Art, mit unseren Geistesgaben und Fähigkeiten, Sinnen und Neigungen, körperlichen Schwächen und Organen, war er immer auf Gesellschaft angewiesen. Da er vielmehr dazu gemacht sei, anderen zum Raube zu dienen, als selbst vom Raube zu leben, da er bessere Nahrung und besseres Obdach benötigte als die Tiere, da beide Geschlechter in engster Verbindung leben müßten, um die Jungen zu erhalten und zu ernähren, dürfe man dem Menschen die gesellige Lebensform nicht absprechen. Schon die Bildung der Familie mit ihrem Zwang in Gemeinschaft zu leben, miteinander zu sprechen, zu bauen, Vorräte zu sammeln, durch Künste das Leben zu verschönern, bedinge eine Gemeinschaft, die, einmal begonnen, nie wieder aufgehoben werden könne. Diese Familie aber führe zur Bildung eines Stammes, der Stamm zur Zusammenschließung eines Volkes, das zu wechselseitigem Schutz und zur Gewinnung gemeinschaftlicher Vorteile zu einer Einheit verschmolzen sei. Shaftesbury geht auf den Standpunkt des dunklen Instinktes zurück, wo Individuum und Gesellschaft noch nicht als Gegensätze auftraten und zugleich erkennt er, daß Natur und Kulturzustand nur relative Begriffe sind. Das ist einer der wichtigsten Gedankenkeime, die man bei ihm findet.
Ausgezeichnet sind seine Gedanken über den Atheismus. Die Religion erhebe den Anspruch, nicht allein die zuverlässigste, sondern auch die ausschließliche Lehrerin der Tugend zu sein. Das Gegenteil sei der Fall: Die Religion mache aus der Tugend eine so lohnsüchtige Angelegenheit, daß von selbstloser Rechtschaffenheit nur wenig mehr übrig bleibe. Man könne ein Atheist und durchaus tugendhaft sein, denn der Atheismus sei niemals Ursache, daß man etwas als schön oder edel anerkenne und liebe, was häßlich oder verdammenswert sei. Dagegen könne eine falsche Religion durchaus zum Bösen verlocken. Es komme auf die Art des Gottes an, den jeder sich mache und seiner Religion unterlege. Wer einen rachsüchtigen Gott im Herzen trage, dem würden die grausamsten Handlungen gerecht, ja sogar göttlich erscheinen. Wo sei übrigens die bindende Kraft der Offenbarung? Die Bibel unterliege den mannigfachsten Auslegungen und sei schon von den Kirchenvätern sehr verschieden ausgedeutet worden. Wer daher die freie Forschung bekämpfe, sei ein Heuchler und Frömmler. Der Weg gehe nicht von der Religion zur Tugend, sondern von der Tugend zur Religion. Tugend sei sittliche Schönheit, glückliches Gleichgewicht aller Kräfte und Neigungen, Lebensharmonie. Die Liebe zur Tugend sei frei und selbstlos. Der Mensch liebe das Gute, um des Guten willen. Und da er bald erfahre, daß die Liebe zum Guten und Schönen froh und glücklich mache, gefährde er nur sein eigenes Wohl, wenn er bösen oder unsittlichen Trieben nachgebe. Tugend und Laster tragen ihre Vergeltung in sich selbst.
Trotzdem Shaftesbury dem Instinkte ein so großes Gewicht beimißt, übersieht er nicht die Bedeutung des Denkens. Es ermöglicht eine Reflexion über unsere eigenen inneren Zustände, die somit Gegenstände des Gefühls und der Beurteilung werden. Durch die Reflexion über die unwillkürlichen Regungen in uns entstehen besondere Gefühle: der Achtung oder Verachtung, der Bewunderung oder des Abscheus, Gefühle, die mit dem ästhetischen Wohlgefallen und Mißfallen verwandt sind, sich von diesem aber durch ihren zur Handlung antreibenden Charakter unterscheiden. Ein solches Gefühl nennt Shaftesbury ein »reflektierendes Gefühl« oder einen »moralischen Sinn« (moral sense).
Es gibt allerdings eine Philosophie, die lehrt, daß kein natürlicher Glaube, keine natürliche Gerechtigkeit, keine wirkliche Tugend zu finden sei, weil Eigenliebe und Herrschgier die einzigen wirksamen Kräfte seien. Aber diese Lehre entspringe vielleicht aus dem Widerwillen dagegen, sich von der Natur leiten zu lassen, um Zwecken zu dienen, die außer dem Ich lägen. Shaftesbury selbst lehrt, daß alle Wesen dem Glücke zustreben. Es macht aber einen großen Unterschied aus, sagt er, ob man das Glück darin findet, nach gemeinsamen Zwecken zu streben, oder ob man das Interesse auf das eigene Ich, den eigenen Vorteil beengt. Es gibt keinen absoluten Gegensatz zwischen den selbstischen und den sympathischen Gefühlen; denn teils führt die Liebe und die Freundschaft Selbstbefriedigung herbei, indem man dank einer Art Zurückstrahlung des Glückes teilhaftig wird, das man anderen bereitet; teils sind unsere Lebensbedingungen so eng mit denen anderer Menschen verbunden, daß wir aufhören, für uns selbst zu sorgen, wenn wir aufhören, für die gemeinschaftlichen Güter zu sorgen. Es gilt, die verschiedenen, sich im Gemüte regenden Antriebe in Harmonie zu bringen. Der ist der Baumeister seines eigenen Glückes, der sich eine innere Grundlage der Ordnung, des Friedens und der Eintracht erwirbt. Das Glück beruht auf inneren, nicht auf äußeren Werten. Die Harmonie und die Schönheit der Gefühle bilden die Formen und Sitten des wahren sozialen Lebens. Aber dieser Sinn für Ordnung und Harmonie richtet sich nicht nur auf die menschliche Gesellschaft, sondern auch auf das ganze Weltall und wird mithin zu religiöser Ehrfurcht.
Die Ordnung der Natur steht bewundernswert da. Unheil und Übel existieren nur für eine beschränkte Weltbetrachtung, die über ihr eigenes Ich nicht hinauszusehen vermag; unser endlicher Gedanke muß oft für unvollkommen ansehen, was vorerst als Vollkommenheit erscheinen würde, könnten wir es vom Standpunkt der Totalität aus erblicken. Das Weltall befolgt seine eigene innere harmonische Ordnung, die ihren Grund in Gottes Gedanken hat. Die Natur irrt niemals, und selbst da, wo uns ihre Werke verkehrt oder unnütz erscheinen, ist sie ebenso weise und vortrefflich wie dort, wo sie uns allen wunderbar zu sein scheint. Die Schönheit der Welt besteht aus lauter Kontrasten und Gegensätzen, die sich in allgemeine Harmonie auflösen. Wenn alles in der Welt ewigem Stoffwechsel unterworfen ist, Pflanzen von Tieren gefressen werden, verendete Tiere die Erde mit ihren Leibern düngen und wiederum das Pflanzenreich ernähren, so ist dies ein völlig harmonischer Ausgleich. Insekten werden von Vögeln und Vierfüßlern gefressen, diese werden von den Menschen dezimiert, und der Mensch ist wieder höheren Gewalten unterworfen. Wie Pflanze und Tier bringt auch er seinen Leib dem Ganzen wieder zum Opfer. Die Luft, die uns einschließt, die Dünste, die der Erde entsteigen, die Meteore über unseren Häuptern – alles wirkt seiner Natur gemäß. Wie kann es uns dann wundern, wenn durch Erdbeben, Stürme, Seuchen die lebendigen Geschöpfe oft Schaden erleiden? Und noch viel weniger darf es uns verwundern, wenn durch die Verderbnis des Körpers auch oft die Seele eines Menschen verderbt wird. Das Gute behält stets die Oberhand. Jede der Sterblichkeit unterworfene Natur ist mit ihrem Tode nur einer besseren Natur zinsbar, alle zusammen aber jener besten und höchsten Natur, die unsterblich und ewig ist.
Diese Ideen des »radikalen Optimisten«, die Lessing, Herder, Goethe und Schiller freudig aufgriffen, haben für uns weder einen praktischen noch einen moralischen Wert mehr. Wir können das Leben nicht als ein Schäferspiel eines harmonisch gestimmten Gottes betrachten. Wir leiden oft unverdient bittere Not, innerlich und äußerlich, und bedauern, daß wir nicht so organisiert sind, überall in der Natur und in der Gesellschaft Harmonie zu entdecken. In dem Luftschloß des konsequenten Optimismus läßt es sich nur schlecht leben, und der Mensch, dem das grenzenlose Leid der Welt im mitleidsvollen Herzen brennt, wird kaum die optimistische Einstellung zum Universum finden. Wer hungert und friert, den sättigt und wärmt die Harmonielehre nicht. Wie Schopenhauer wird sie jeder als eine »Ruchlosigkeit« empfinden, der in den Kesseln des Lebens gekocht wird. Wenn das Huhn den Wurm aufpickt, wird die Harmonie des Daseins sicherlich nur vom Huhn empfunden; frißt aber der Fuchs das Huhn, so ist das Vergnügen ganz auf Seiten des Fuchses, der seinerseits jetzt über die Harmonie des Daseins philosophieren könnte, bis der Jäger den Fuchs erschießt. Aber der Jäger, der, überzeugt von der Harmonie des Alls, in den Krieg gezogen ist, bekommt ein mächtiges Loch in seine Weltanschauung gerissen, wenn ihn die tödliche Kugel trifft. Das sind so die kleinen Disharmonien, die in der Welt des Dualismus notwendig sind, wenn man die Harmonie gewahr werden will. Diese Weltanschauung übersieht nur, daß das Vergnügen stets nur auf einer Seite sein kann. Wir kommen aus den Grenzen unseres Ich nicht heraus, wir sind alle in mehr oder minder hohem Grade die Kerkerlinge unserer vererbten und anerzogenen Wesenheit. Shaftesbury begreift zwar, daß die Gestirne ihrer Natur gemäß wirken müssen; er will aber nicht verstehen, daß auch der Mensch seinen eigenen Gesetzen folgen muß.
Man muß freilich zugeben, daß Shaftesburys Harmonielehre groß gedacht ist; aber es gehört ein Gott dazu, um ihr nachzuleben. Schon Mandeville nannte sie höhnend die »Philosophie des Gentleman« und bekämpfte in seiner berühmten »Bienenfabel« die Anschauungen Shaftesburys. Seine Lehre ist tatsächlich nicht für Menschen gemacht. Denn das menschliche Gefühl, diese höchste Instanz Lord Shaftesburys, wird nie erfassen, wie und worin die göttliche Harmonie des Weltalls zum Ausdruck kommen soll, wo wir täglich durch Kriege, Erdbeben, Stürme, Seuchen, Überschwemmungen und andere Katastrophen ganze Geschlechter auf einmal zugrunde gehen sehen. Mandeville stellte der besten aller Welten die schlechteste aller Welten gegenüber, ja, er behauptete geradezu, daß die Schlechtigkeit zum Weiterbestehen der Welt unumgänglich notwendig sei.
Wenn ich Shaftesbury lese, werde ich immer an jenen Studenten erinnert, der seinem Vater, auf dessen Frage, was er auf der Universität studiert habe, erwiderte, er habe sich hauptsächlich mit der Lehre jenes Philosophen beschäftigt, welcher sagt, alle Dinge beruhten auf Schein und Täuschung. »Hier hast du ein paar Ohrfeigen«, antwortete der Vater. »Warum schlägst du mich denn und tust mir weh?« fragte der Sohn. »Es ist Täuschung«, antwortete der Vater.