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XI

Enslev verließ Storeholt am nächsten Morgen, um nach Jütland zu reisen, wo er wieder auf einer Versammlung reden sollte, und während der folgenden Wochen war er ununterbrochen auf der Reise, zog von einem Wahlkreis nach dem andern, um Truppen zu werben für den Kampf gegen die Geistlichkeit, den er trotz der Warnungen vieler seiner Freunde dem Volke jetzt aufzwingen und auf Leben und Tod auskämpfen wollte.

Im Hauptquartier in Kopenhagen hatte man anfänglich den Feldzug des kranken Mannes nicht sonderlich ernst genommen. Nach seiner Rede im Striger Walde sahen ihn viele als halb unzurechnungsfähig an und wünschte um seines historischen Namens willen, daß er bald sterben möge. Aber allmählich, als der Wahltag näher heranrückte, wuchs die Nervosität in der Tyrstrupschen Presse. Ringsumher in den Kreisen verursachte Enslev Unsicherheit und Verwirrung, und die politischen Wetterfahnen fingen an zu schwingen.

Auch die Kandidatur des Jägermeisters, die anfangs Heiterkeit erregt hatte, begann man jetzt im Jerver Kreise ernsthaft in Erwägung zu ziehen. »Fyns Venstre« war die meistgelesene Zeitung der Umgegend, und Redakteur Danielsen hatte täglich irgendein »Eingesandt« als Marktschreier für die Verdienste des Jägermeisters auftreten lassen. Wirkensdrang, Tatkraft, Gerechtigkeitsgefühl, Derbheit, Seelenadel, Opferwilligkeit, Herzenswärme, Treue, Begeisterung und Freimütigkeit waren einige von den Tugenden, die ihm das Blatt in diesen Wochen beigemessen hatte. Auch seine landwirtschaftlichen Versuchsarbeiten waren mit Anerkennung erwähnt worden, namentlich sein Kampf für die Ausrottung des Kartoffelschimmelpilzes, dem er, wie berichtet wurde, in uneigennütziger Weise sein Vermögen geopfert hatte.

Auf den Wahlversammlungen gewann er allmählich durch seine Reden die Stimmung für sich. Seine geschlechtslose Stimme rief allerdings zuweilen Gelächter hervor, aber an Worten fehlte es ihm nicht. Und gerade die menschlichen Eigenschaften, die sein Unglück im Privatleben veranlaßt hatten, kamen ihm als Wahlkandidat zugute. Seine Charakterlosigkeit, sein verantwortungsloses Nachplappern, seine Mildtätigkeit in bezug auf Versprechungen und leichtsinnige Versicherungen gewannen ihm viele Freunde, während Pastor Gaardbo, der nicht mehr versprach, als er halten zu können glaubte, und keine einmal gemachte Äußerung widerrief, selbst wenn er wußte, daß sie ihm schaden konnte, oft den Interpellanten gegenüber zu kurz kam.

Am Morgen des Wahltages fuhr der Jägermeister bei prächtigem Sommerwetter zusammen mit Frau Wilhelmine von Storeholt fort. Er war stark nervös nach der wochenlangen Spannung und erschlafft nach einer schlaflosen Nacht. Er hatte an diesem Morgen zum erstenmal seit vielen Jahren zu Gott gebetet und sich im übrigen durch ein solides englisches Frühstück, aus Hafergrütze, Schinken und Eiern bestehend, gestärkt.

Der Anblick der mächtigen Plakate mit seinem Namen, die im Laufe der Nacht überall an den Mauern und Telephonpfählen angeschlagen waren, erhöhte seine Zuversicht.

»Stimmt für Hagen!«

Auf dem ganzen langen Wege bis zum Wahlort begegneten seine Augen den riesenhaften Aufrufen, und sein Gemüt ward bewegt durch diese Zeugnisse von dem Vertrauen des Volkes. Freilich waren da auch viele Anschläge mit Pastor Gaardbos Namen, aber er bemerkte mit Befriedigung, daß sie kleiner waren als die seinen und außerdem eine häßliche welkgrüne Farbe hatten.

Auf dem Marktplatz in Jerve war die Wahltribüne zwischen vier Flaggenmasten errichtet, und hier versammelte sich gegen zehn Uhr eine ruhige und ziemlich gleichgültige Menge, die aus ihren Pfeifen paffte und von Schweinepreisen sprach, während der königliche Brief verlesen wurde. Ein persönliches Interesse an dem Ausfall der Wahl hatten nur die wenigsten. Ob der Jägermeister oder der Pfarrer gewählt wurde –, es war doch stets das Volk, das regierte.

Allgemein nahm man an, daß der Jägermeister siegen würde; aber es war hier wie fast überall im Lande unmöglich, die Wirkung von Enslevs Auftreten zu berechnen. Man hatte sich innerhalb der Partei diesmal auf Grund von Fragen geteilt, die bisher eine Wahl nicht in dem Maße beeinflußt hatten. Das Ergebnis der Abstimmung war bis zuletzt unsicher, und in den vielen Wirtschaften, die den Marktplatz umgrenzten, wurden beim Glase Bier Wetten eingegangen, ganz wie auf der Traberbahn. Nachdem die Auszählung der Stimmzettel begonnen hatte, stieg der Kurs auf den Pfarrer plötzlich um hundert Prozent infolge von Nachrichten, die aus den Wahllokalen durchgesickert waren. Einmal hieß es sogar mit großer Bestimmtheit, daß seine Wahl gesichert sei.

Das war jedoch nicht der Fall. Die Stimmenzahl des Pfarrers wurde im Gegenteil eine ernste Enttäuschung für seine Freunde. Enslevs Wahltaktik war richtig berechnet gewesen. Am Abend wurde die Wahl des Jägermeisters zum Folkethingsabgeordneten des Kreises mit einer Mehrheit von einigen hundert Stimmen verkündet. Auf einem Hintergrund von pfaufarbenen Sonnenuntergangsstrahlen trat er auf der Tribüne vor und nahm die Huldigung seiner Wähler entgegen, indem er mit einem Kunstgriff, den er seinem politischen Führer und Lehrmeister abgeguckt hatte, mit ausgestreckten Armen dankte, als wünsche er, jedem einzelnen die Hand drücken zu können.

Hinterher zog ein Triumphzug, mit Musik an der Spitze, nach dem Gasthof, wo eine Siegesmahlzeit eingenommen werden sollte.

Als der Zug an der Wohnung des Kreisarztes vorüberkam, stand Doktor Gaardbo am offenen Fenster und demonstrierte mit einem mächtigen Hohngelächter. Wenn es aus diesem Grunde nicht zu Unruhen kam, so hatte das nur darin seinen Grund, daß ihn niemand ernsthaft nahm und die meisten ihn für ein wenig verrückt hielten.

Der Doktor und Meta saßen dann da und warteten auf den Pfarrer, der im Laufe des Tages nur ein paar kurze Besuche im Doktorhause gemacht hatte. Als er nicht kam, wurde nach dem Mäßigkeitshotel telephoniert, wo er und seine kirchlichen Freunde während der Wahlhandlung ihren Sammelplatz gehabt hatten. Zu ihrem größten Erstaunen hörten sie nun, daß er nach Hause gefahren war.

»Was kann das bedeuten?« fragte der Doktor. »Er muß ja elend geworden sein. Ich will gleich zu ihm hinausfahren. Er hat sich sicher überanstrengt. Wenn es mir gelingt, ihn zu überreden, bringe ich ihn mit zurück. Ach, hätten wir ihn doch verheiratet, Meta! Er wird immer überirdischer und exaltierter!«

»Daß es mit Jytte nichts geworden ist, sollst du dir nicht leid sein lassen,« sagte Meta. »Sie hätte Johannes nur unglücklich machen können.«

»Glücklich oder unglücklich – das ist nicht die Hauptsache! Wenn wir nur unsere Schuldigkeit tun, so kommen wir immer auf irgendeine Weise in ein vernünftiges Verhältnis zum Dasein. – Na, dann fahre ich jetzt!«

Während er in seinem holzschuhförmigen Wagen die Landstraße entlang rollte, gedachte er eines Sommertages vor langer Zeit in Kopenhagen, als sein Bruder zusammen mit ein paar andern theologischen Studenten nach England reiste, um bei einer großen christlichen Weltversammlung die dänischen Akademiker zu vertreten. Er konnte ihn noch deutlich vor sich sehen, wie er an der Reling stand und seine Mütze schwenkte, während der große, häßliche Kohlendampfer durch das Fahrwasser dahinglitt und verschwand.

Er hatte oft daran gedacht, daß er bei der Gelegenheit den richtigen Johannes im Grunde zum letztenmal gesehen Hatte. Als er zurückkam, war er ein anderer. Er, der zuweilen durch seine Ausgelassenheit ein wenig kindisch hatte wirken können, war stumm und ernsthaft geworden. Er, der so unbefestigt im Glauben gewesen, daß er mehrmals daran dachte, das theologische Studium aufzugeben, um sich den Sprachstudien zu widmen, war jetzt felsenfest in seinem Entschluß, Geistlicher zu werden. Kurze Zeit darauf war es auch gewesen, daß er bei einer politischen Versammlung, wo er als Redner auftrat, zur allgemeinen Überraschung mit dem Glaubensbekenntnis schloß.

Auf ihr brüderliches Verhältnis war seine Verwandlung lange Zeit ohne Einfluß geblieben. Erst nach dem Tode der armen Rosalie und namentlich, nachdem er und Meta nach Jerve gekommen waren, hatte er zuweilen merken können, daß er nahe daran war, das Vertrauen seines Bruders zu verlieren. So wie zum Beispiel heute wieder! Was sollte das heißen, daß er nach einem solchen Ereignis nach Hause fuhr, ohne sich ordentlich ausgesprochen zu haben? ... Fast wünschte er, daß Johannes wirklich krank geworden sei.

Er traf den Bruder allein. Der Pfarrer ging auf und nieder in seinem halbleeren Arbeitszimmer, in dem nur die kleine niedrige Lampe auf dem Pult unter dem Christusbilde brannte. Er hielt mit geistesabwesender Miene in seiner Wanderung inne, als der Doktor hereinkam.

»Bist du es?« sagte er.

Der Doktor merkte sogleich an dem Ton, daß er nicht willkommen war.

»Warum haben wir nichts von dir gesehen, Johannes? Du konntest doch wissen, daß wir dich erwarteten. Meta hatte auch Anstalten gemacht, um dich ein wenig gut zu bewirten nach den Anstrengungen des Tages.«

»Ich hatte das Bedürfnis, nach Hause zu kommen. Willst du deiner Frau meine Entschuldigung überbringen. Es tut mir leid, daß sie Mühe gehabt hat.«

Der Doktor setzte sich, während der Pfarrer seine Wanderung wieder aufnahm.

»Du bist natürlich enttäuscht von dem heutigen Ergebnis.«

»Allerdings.«

»Ich meine, du sollst es dir nicht zu sehr zu Herzen nehmen, Johannes! Du hast es nun nicht nötig, dich an dem politischen Hexensabbat zu beteiligen, aber ganz umsonst hast du dich doch nicht aufgeopfert. Balduin hast du auf alle Fälle vertrieben, und er ist unbedingt der Bösartigste mit seinem verschrobenen Idealismus. In den Augen vieler ist dieser Quatschkopf ja ein ganzer Prophet. Der Jägermeister gehört zu den verhältnismäßig unschuldigen Verbrechern. Er trägt seine verderbte Natur außen auf dem Rock wie eine Dekoration. Man darf wohl sogar hoffen, daß dieser Ritter alles Jammervollen als nützliches Schreckbild auf die Öffentlichkeit wirken wird. Insofern sehe ich deswegen kein so großes Unglück darin, daß es gegangen ist, wie es ging.«

»Nein, das tust du wohl nicht,« sagte der Pfarrer und blieb stehen. »Du vergißt aber, daß sich die Sache für mich in jeder Beziehung anders stellt. Ich nehme mir meine Niederlage nicht um meiner selbst willen zu Herzen.«

Der Doktor schwieg einen Augenblick. Ihm war in des Bruders Blick eine offene Feindseligkeit entgegengetreten, wie er sie in letzterer Zeit, namentlich nach Jytte Abildgaards Abreise, mehrmals hatte aufblitzen sehen.

»Wie stellt sich denn die Sache für dich?« fragte er.

»Das kann ich dir nicht erklären, ohne auf Dinge einzugehen, von denen zu reden du mir verboten hast. Aber so viel will ich dir doch sagen: wer jetzt nicht das Seine dazu tun will, dem Ärgernis Einhalt zu gebieten durch Gebet zu Ihm, der allein helfen kann, der hat selbst Anteil daran. Er hat Mitverantwortung für die Zerstörung, wieviel guten Willen er sonst auch bezeugen mag zur Teilnahme an der Arbeit für die sittliche Aufrichtung des Volkes. Du sprichst von der verderbten Natur des Menschen. Du schreibst ja sogar an einem Buch, das davon handelt. – Aber du verstehst sie selbst nicht, Paul, ehe du nicht gelernt hast, daß nur ein Weg zur Erlösung der Menschheit führt – der Weg des Kreuzes.«

»Du weißt, der ist für mich ein Krebsweg.«

»Ach – Prahlerei! Frechheit ist das und nichts weiter! Du und deinesgleichen, ihr verderbt das Volk. Das ist die Wahrheit! Ihr habt kein Gewissen, und die Ehrlichsten unter euch geben zu, daß ihr Gott haßt.«

Der Doktor erhob sich.

»Höre einmal, Johannes, dies hier muß aufhören. Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten, aber ich entschuldige dich. Du bist abgespannt von den Mißgeschicken des Tages, und ich muß wohl lieber gehen. Morgen komme ich wieder. Dann hoffe ich, daß mit dir zu sprechen ist. – Gute Nacht, Johannes!«

Er reichte ihm die Hand. Der Pfarrer aber behielt die seine hinten auf dem Rücken.

»Einem Gottesleugner gebe ich nicht die Hand!«

Der Doktor zuckte zusammen. Er wurde kreideweiß und starrte den Bruder mit halboffenem Munde an.

»Das Wort wiederholst du nicht noch einmal, Johannes!«

»Einem Gottesleugner gebe ich nicht die Hand!« sagte der Pfarrer abermals und diesmal mit der ganzen Kraft seiner Stimme.

Die Antwort des Doktors war eine schallende Ohrfeige. Der Pfarrer taumelte zurück, und ehe er wieder zu sich kam, war der Bruder gegangen. Einen Augenblick später fuhr er aus dem Hof hinaus.


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