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VI

Die politische Sommerversammlung im Striger Walde – die Enslev-Versammlung, wie man sie jetzt nannte – wurde trotz des stummen Widerstandes Pastor Gaardbos als ein Huldigungsfest für den alten Führer vorbereitet. Es war für die Jugend etwas wie ein Märchen, daß sie diesen Mann sehen und hören sollte, dessen Taten schon der Sagenwelt angehörten, und um dessen Charakter sich im Laufe der Zeiten so viele einander widersprechende Mythen gebildet hatten.

Die Spannung war um so größer, als in der letzten Zeit Gerüchte von einem zwischen ihm und dem jetzigen Ministerpräsidenten Tyrstrup entstandenen Streit durch die Zeitungen gegangen waren. Ein paar konservative Blätter hatten sogar behauptet, es sei Enslevs geheime Absicht, die Wahlen zu benutzen, um diesen Mann zu stürzen, den er seinerzeit selbst zu seinem Ablöser erwählt hatte. Enslev bekleidete noch immer das Ehrenamt eines Vorsitzenden der Partei, und es war charakteristisch für die öffentliche Meinung über ihn, daß trotzdem niemand die Gerüchte ganz unwahrscheinlich fand. Aber was war der Grund zu seiner Unzufriedenheit mit Tyrstrup? Hatte er sein Entsagen auf die Macht bereut? Oder spukte nur die Vergangenheit einen Augenblick, bevor sie endgültig zu Grabe getragen wurde? – So fragte man überall im Lande, wo die Reden, die Enslev bereits gehalten, und gewisse Artikel im »Fünften Juni« und in feinen Provinzblättern den Boden für die wildesten Vermutungen gedüngt hatten.

Der große Tag hub mit Regen an. Ein stiller, störrischer Rieselregen aus Süden, der entschlossen schien, das ganze Fest in Nässe zu ersäufen. Aber wie schon so oft zuvor, erwies sich der launenhafte Westwind als Enslevs Bundesgenosse. Am Vormittag sprengte er in seinem blauen Mantel, die Trompete vor dem Munde, als Herold der Sonne durch die Wolken hervor. Zur Mittagszeit flatterten die Fahnen über einem lichtflimmernden Lande.

Auf Storeholt war man in der letzten Zeit emsig beschäftigt gewesen mit den Vorbereitungen zum Empfang des Ehrengastes. Der Jägermeister hatte allerdings keine Antwort auf seine Einladung erhalten, aber er hatte sich in dieser Beziehung damit beruhigt, daß Enslev in dem Rufe stand, alle Einladungen unbeantwortet zu lassen und dessenungeachtet zu kommen, wenn es ihm paßte. Er hatte deswegen viele Mittagsgäste für den nächsten Tag eingeladen, wie er auch Frau Berta und Jytte überredet, ja fast durch Drohungen bewogen hatte, ihre Reise aufzuschieben, weil er wußte, daß es Enslev eine große Freude sein würde, sie zu treffen. Jytte ihrerseits hatte übrigens nicht viele Einwendungen hiergegen erhoben.

Gegen vier Uhr fuhr der mit grünem Buchenlaub geschmückte Landauer an der Freitreppe vor.

»Was höre ich?« sagte Frau Wilhelmine – sie kam in großer Renntoilette in den Gartensaal und zog ein Paar Handschuhe an. »Ist es wahr, daß du nicht mit willst?«

»Ja, ich bleibe zu Hause,« sagte Jytte. »Ich habe eine Angst vor Volksgedränge.«

Frau Wilhelmine hatte sich vor einen der großen Spiegel gestellt, um ihren Hut zurechtzusetzen.

»Dann weißt du vielleicht nicht, daß Pastor Gaardbo einer der Redner ist?«

»Freilich, ich weiß es sogar von ihm selber.«

»Und doch willst du nicht mit?«

»Fährst du etwa mit, um ihn zu hören?«

Die Schwägerin wandte sich um. Sie hatte die Hände noch oben am Hutrande.

»Du mußt wirklich verzeihen ... Ich bin nicht verliebt in Pastor Gaardbo.«

Jytte lachte.

»Offenbar mehr als ich!« sagte sie und ging in den Garten hinaus.

Erst als der Wagen abgefahren war, kam sie wieder herein. Sie hatte sich darauf gefreut, allein zu bleiben, als sie nun aber durch die großen leeren Räume ging, fühlte sie sich bedrückt durch die Stille.

Sie setzte sich an den Flügel im Wohnzimmer. Sie hatte ihn in den letzten Tagen nicht angerührt, weil es sie störte, zu denken, daß die Schwägerin möglicherweise irgendwo in einer der Stuben saß und ihr zuhörte. Sie war so weit, daß sie diese Frau haßte. Sie war empört über den Zynismus des Tones, in dem Wilhelmine sie bei jeder Gelegenheit hören ließ, daß sie ein paarmal mit Pastor Gaardbo im Garten gelustwandelt war, wenn er kam, um sich nach der kranken Oline umzusehen. Auch John hatte angefangen, unangenehm zu werden, ja er hatte sie geradezu vor dem Pfarrer gewarnt, von dem er allerlei nicht ganz feine Geschichten zu wissen behauptete.

Sie begann mit einer Chopinschen Polonaise, brach aber ab, nachdem sie ein paar Takte gespielt hatte, und setzte sich mit einem Buche hin. Auch das gab sie schnell wieder auf und versank schließlich in ihre eigenen Gedanken.

Daß sie Wert darauf legte, mit Pastor Gaardbo zu sprechen – ja, das würde sie Wilhelmine gern einräumen. Obwohl sie ihn weder amüsant noch geistreich fand – eher das Gegenteil –, hatte sie dennoch Ausbeute von der Bekanntschaft mit ihm gehabt, weil er so verschieden von allen Männern war, die sie je getroffen. Selbst Torben Dihmer hatte sie nicht in gleicher Weise interessiert.

Aber ihr lieber Vetter und die liebenswerte Schwägerin konnten sich trotzdem ihre Besorgnis sparen. Sie war nicht verliebt in Pastor Gaardbo, konnte es nie werden, wollte es auch um keinen Preis sein. Schon allein der Gedanke, wieder in den Hexentanz einer hoffnungslosen Verliebtheit hineingewirbelt zu werden, erfüllte sie mit Überdruß, so daß sie ganz außer sich geraten konnte. Aber das hatte keine Not. Mit Pastor Gaardbo erging es ihr genau so wie mit Meta. Er gehörte mit seinem ganzen Wesen einer Welt an, die nie die ihre werden konnte. Je mehr sie mit ihm gesprochen hatte, um so stärker fühlte sie das. Sie verstand diese Art Menschen nicht. Seine unerschütterliche Zuversichtlichkeit ärgerte sie. Ging denn der Mann mit geschlossenen Augen durch die Welt? Und starrte er nie in seine eigene Seele hinein?

»Gott kennt den Menschen bis auf den Grund der Seele,« hatte er einmal gesagt. Sie fand, man müsse sehr zufrieden mit sich selbst sein, um Trost in diesem Gedanken zu finden. Der Grund der Seele – das war ja gerade der Schreckensabgrund, der es ihr schwarz vor den Augen machte!

Wäre er nur nicht Geistlicher gewesen! Wäre er Arzt gewesen wie sein Bruder, oder irgend etwas anderes! Sobald er anfing, Misston zu treiben, empfand sie das wie eine Qual. Denn es war ja unmöglich, daß er selbst allen Ernstes an alle diese biblischen Ammenmärchen glauben konnte. Und tat er es wirklich, so wurde er ihr nur noch rettungsloser fremd und fern.

Außerdem ... da stand der Schatten eines jungen Mädchens zwischen ihnen. Sie erschien ihr in weißen Grabgewändern, sobald sie nur an ihn dachte, und das würde niemals anders werden. In diesem Punkte kannte sie sich selbst, – sie, die auf ihre eigene Mutter eifersüchtig gewesen war, so daß sie sie zuzeiten beinahe haßte. Falls das Unglaubliche denkbar war, daß sie Pastor Gaardbo liebgewinnen sollte, so würde ihre Seele keinen Frieden finden, ehe sie nicht diese Erinnerung aus seinem Herzen vertrieben hatte. Und falls sie ihn heiratete, würde sie doch immer die Empfindung haben, als schleiche ein Gespenst im Hause herum und belaure sie. Sie hatte in Gedanken längst die ganze Leidensgeschichte durchlebt ...

Sie klingelte dem Stubenmädchen und bat, ihr eine Tasse Tee zu bringen. Im selben Augenblick hörte sie das Brüllen eines Automobils, das vor dem Eingang vorfuhr.

»Sagen Sie nur, daß niemand zu Hause ist,« befahl sie dem Mädchen.

Dessenungeachtet tat sich nach einer Weile die Tür auf, und eine Dame trat ein. Es war Meta.

»Aber Liebste! Woher kommst denn du? Bist du nicht auf der Versammlung?«

»Ja, das war eigentlich meine Absicht, und ich war auch schon mit meinem Mann auf dem Wege dahin, aber dann zog ich es vor, ein wenig bei dir einzusehen. Ich dachte mir ja, daß ich dich heute allein finden würde. Und – offen gestanden, du – ich mache mir nicht so viel daraus, deine Schwägerin und den Jägermeister zu treffen. Da ist etwas, worüber ich gern mit dir reden möchte. Mein Mann kommt dann und holt mich ab, wenn er den Rednern eine Weile zugehört hat. – Sage mir nur, ob ich dich auch störe?«

»Nicht im geringsten! Im Gegenteil! Ich saß hier gerade und sehnte mich nach Gesellschaft. Ich bin wirklich ganz allein ... das heißt, eine Tante meiner Schwägerin ist hier im Hause, aber sie liegt zu Bett und hat Magenschmerzen, infolge einer großen Dosis Petroleum.«

»Petroleum?«

»Ja, das ist eine lächerliche Geschichte. Die sollst du später hören. Aber jetzt erzähle du mir! Was ist denn das, was du mir anvertrauen willst?«

»Nun wirst du vielleicht erschrecken und finden, daß ich zudringlich bin ... aber, siehst du ... du weißt doch, daß Sonntag eine kleine Festlichkeit im Pfarrhause stattfinden soll. Hat mein Schwager nicht davon gesprochen?«

»Ich glaube wohl.«

»Wir nennen es ›das Johannisfest der Alten‹. Alle Leute hier in der Gemeinde, die über fünfundsechzig sind, werden eingeladen. Sie bekommen Kaffee und Weizengebäck und werden auf verschiedene Weise unterhalten. Wir hatten um Weihnachten ein ähnliches Fest, und du hättest die Freude der Alten sehen sollen! ... Hättest du nicht Lust, so etwas einmal mitzumachen und mir beim Kaffeeeinschenken behilflich zu sein? Ich glaube, es wird dich interessieren. Am meisten würden wir uns natürlich freuen, wenn du dich entschließen könntest, die Alten ein wenig zu unterhalten, indem du ihnen etwas vorspielst. Ein Klavier gibt es freilich im Pfarrhause nicht, aber mein Schwager hat ein gutes Harmonium.«

Jytte sah auf ihren Fuß hinab, der auf und nieder wippte, als schlage sie Takt zu ihren Gedanken.

»Wie bist du nur auf den sonderbaren Einfall gekommen, Meta? Ist es deine eigene Idee, oder hast du sie von anderen?«

»Wenn du so fragst, Jytte, will ich lieber geradeheraus sagen, wie es sich verhält. Mein Schwager hat mich gefragt, ob ich glaubte, daß du dich überreden ließest, mit dabei zu sein und die Alten mit deiner Musik zu erfreuen. Er selbst pflegt eine kleine Rede zu halten, mein Mann will einen Akt aus ›Jeppe vom Berge‹ vorlesen – das kann er glänzend –, dann haben wir einen Damenchor. Das Ganze geht im Garten vor sich. Wir hoffen auf gutes Wetter.«

»Das klingt ja alles sehr vergnüglich. Ich verstehe nur nicht, weshalb dein Schwager mich nicht selbst gefragt hat.«

»Ich denke mir, er hat gefürchtet, einen Abschlag zu bekommen.«

»Gefürchtet?«

Meta rückte näher, und ihre Stimme wurde vertraulich.

»Ja, ich finde, du sollst es wissen, Jytte, – ich glaube, es würde meinem Schwager eine unendliche Enttäuschung sein, wenn du wegbliebest.«

Jytte, die fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen stieg, legte die Hände über das Gesicht und fing an zu lachen.

»Du mußt nicht böse werden, Meta, aber ich finde –«

Sie mußte innehalten, da im selben Augenblick das Mädchen mit dem Tee kam. Er wurde vor ihnen auf einem kleinen Tisch mit frischem Backwerk und Zitrone angerichtet.

Jytte zürnte der Freundin wegen ihrer Offenheit, sie war aber auch ärgerlich auf Pastor Gaardbo, weil er Meta zur Vertrauten in einem Verhältnis gemacht hatte, das so leicht mißverstanden werden konnte – was offenbar auch gründlich der Fall war. Als das Mädchen gegangen war, sagte sie:

»Du und dein Schwager, ihr müßt wirklich nicht auf meine Unterstützung rechnen. Ich passe so ganz und gar nicht in die Gesellschaft. Schon allein, wenn ich mir vorstelle, daß ich vor einem Harmonium sitze ... Offen gestanden, Meta, das ist das schrecklichste Instrument, das ich kenne.«

»Aber was macht das? Wenn du die andern erfreuen kannst?... Als du neulich nachts bei dem kranken Mädchen hier wachtest, hast du das doch wohl auch nicht zu deinem eigenen Vergnügen getan. Das war gerade das Hübsche dabei.«

Jytte errötete von neuem.

»So, das weißt du also auch! Ich habe wohl das Pech gehabt, Aufsehen mit der Geschichte zu erregen. Das war eigentlich nicht die Absicht. Das Ganze kam höchst natürlich. Ich sah, daß die Krankenpflegerin überanstrengt war, und die Mädchen haben ohnedem hinreichend zu tun. Da opferte ich den Schlaf einer Nacht. Das ist alles. Ich kann mich aus dein Grunde wirklich nicht feierlich als barmherzige Schwester fühlen.«

»Warum sagst du so etwas, Jytte?«

»Weil ich finde, daß ein ganz unsinniges Aufhebens von den Barmherzigkeitswerken der Leute gemacht wird. Mein alter, kluger Freund, Professor Ole Knudsen, pflegte zu sagen, es sei der menschlichen Natur zuwider, etwas gratis zu tun. Deswegen lasse man sich seine Wohltaten stets auf irgendeine Weise bezahlen. Selbst wenn man keinen himmlischen Vater über den Wolken habe, dem man sich angenehm machen müsse, in der Hoffnung auf eine entsprechende Vergütung, so lasse man sich trotzdem selten an dem Bewußtsein genügen, ganz einfach seine Pflicht getan zu haben, wenn man einem Wandergenossen über einen Graben hülfe. So viele Worte machte er davon!«

»Du mußt entschuldigen – aber das ist mir zu verwickelt!«

»Entsinnst du dich noch Anna Mohns? – Sie wurde Diakonissin. Es erregte ja eine unendliche Begeisterung, weil sie es vorzog, Kranke zu pflegen und mit den Becken zu gehen, obwohl ihr Vater so reich war, daß sie sich das Leben auf jede Weise angenehm machen konnte. An die habe ich gerade in den letzten Tagen oft denken müssen. Sie war mir immer so innerlich zuwider. Diese Art Leute werden gleich so unheimlich selbstgerecht. Sie glauben, daß sie sich für andere aufopfern, und dann schwelgen sie nur so in ihrer eigenen Vortrefflichkeit. So sind wir Menschen in unsern allerbesten Augenblicken! Narziß! Narziß!«

Meta war still geworden. Sie erkannte jetzt ihre Freundin aus alten Zeiten in Kopenhagen so gründlich wieder, wenn Jytte im Schaukelstuhl saß, die Hand unter dem Nacken, und alles auseinander zupfte, so daß man schließlich weder aus noch ein wußte. Selbst die Stellung war noch genau dieselbe.

»Wie wunderlich du doch bist!« sagte sie; aber es war nicht wie in der Mädchenzeit – ein Ausdruck der Bewunderung.

»Ich weiß es sehr wohl. Glaube mir aber, bitte, daß ich nicht absichtlich so bin. Ich denke zuweilen, ob ich nicht aus Versehen in diese Welt geraten bin und in Wirklichkeit für einen ganz andern Himmelskörper an dem entgegengesetzten Ende des Weltenraumes bestimmt war. Ich komme mir zuzeiten vor wie eine Taubstumme und begreife nicht die Spur von dem Ganzen. Zu andern Zeiten aber habe ich freilich ein ebenso unangenehmes Gefühl, die einzige Wache in einer Welt von Nachtwandlern zu sein.«

Sie wollte noch mehr sagen, gab es aber auf, weil sie sich doch nie ordentlich erklären konnte. Sie hörte jetzt auch selber, daß ihr Ton falsch war. Ach ja, sie war nun einmal dazu verdammt, als Karikatur von sich selbst umherzugehen, weil sie nicht die Fähigkeit besaß, ihr innerstes Wesen irgend jemand zu erkennen zu geben. Aber das war wohl übrigens das Los der allermeisten Menschen. Sie wußten es nur selbst nicht.

Das Mädchen kam abermals herein. Sie brachte Jytte eine Visitenkarte.

»Ist der Herr da draußen?«

»Ja, er fragte nach dem gnädigen Fräulein und nach Frau Geheimrat.«

Jytte dachte bei sich, daß dieser Besuch, so frech er war, ihr im Grunde ganz gelegen kam als Ablenkung. Nach kurzem Besinnen hieß sie das Mädchen, den Tee hinaustragen und den Herrn hereinführen.

»Kommt hier Besuch? Dann will ich lieber gehen,« sagte Meta.

»Nein, keinesfalls. Das erlaube ich nicht. Es ist Karsten From – du weißt wohl – der bekannte Porträtmaler. Er malt zur Zeit den Grafen auf Bäkkelund. Er ist ganz unterhaltend.«

Im selben Augenblick, als Jytte Herrn From eintreten sah, bereute sie ihre Übereilung. Es wurde ihr klar, daß er wahrscheinlich dieselbe Berechnung gemacht wie Meta und erwartet hatte, sie hier allein zu treffen. Sie glaubte, es ihm ansehen zu können, daß er enttäuscht war, Besuch vorzufinden, und die instinktive Angst, die sie schon das allererste Mal, als sie mit ihm zusammen war, vor diesem Menschen empfunden hatte, befiel sie wieder wie ein kalter Eishauch.

Aber das Unglück war nun einmal geschehen. Damit Meta nicht Unrat ahnen sollte, mußte sie ihn sogar mit einer gewissen Zuvorkommenheit empfangen.

»Herr Kunstmaler From – Frau Doktor Gaardbo. Sie wollten meine Mutter begrüßen, Herr From? Sie ist eben weggefahren. Nehmen Sie bitte Platz.«

»Grand merci!«

Der blonde Maler, dem es noch immer schwer wurde, seinen Ärger zu verhehlen, rollte einen Stuhl heran und setzte sich den Damen gegenüber.

»Wie befinden Sie sich denn auf Bäkkelund?« fragte Jytte im Konversationston.

»Nicht gut! Sehr schlecht sogar! ... Ich habe nicht geahnt, worauf ich mich einließ. Zwanzigmal am Tage bin ich im Begriff, Selbstmord zu begehen.«

»Das verstehe ich nicht. Graf Rönnows sollen doch sehr liebenswürdige Leute sein.«

»Liebenswürdig ... Der Himmel bewahre meinen Mund! Aber der Graf ist zweiundachtzig, und seine Schwestern, die beiden Komtessen, sind – mit Respekt zu melden – zur Zeit dieser Königsfamilie auch nicht mehr jung gewesen. Dabei gehören sie alle drei der Innern Mission an ... der allerinnersten Mission, kann man wohl sagen. Nun bitte ich Sie, Fräulein Abildgaard! Können Sie sich mich bei einer Morgenandacht vorstellen? Und es wird durchaus nicht gern gesehen, wenn man nicht zum Morgen- wie zum Abendgesang zusammen mit allen Dienstboten erscheint. Es wird auch ein sehr langes Tischgebet gesprochen, was der Graf immer selbst tut. Ich habe die allergrößte Ehrfurcht vor dem Vaterunser; aber – nicht wahr? – man kann doch nicht unterlassen zu denken, ob die Suppe nicht inzwischen kalt wird. In alten Zeiten verhüllte man sein Antlitz oder ging in sein Kämmerlein, wenn man mit dem höchsten Wesen telephonieren wollte. Jetzt gehört ein warmes Gebet mit zu der Speisefolge in den adeligsten Kreisen. –

Ja, verzeihen Sie, wenn ich das Unglück haben sollte, Euer Gnaden Gefühle zu verletzen,« wandte er sich plötzlich an Meta, die sprachlos vor Staunen dasaß.

»Die Unzufriedenheit ist also wohl gegenseitig,« beeilte sich Jytte zu sagen, als sie das Entsetzen sah, mit dem die Freundin die Augen niederschlug, ohne zu antworten.

»Ja, leider Gottes! Und Sie werden begreifen, daß die Lage äußerst peinlich für mich ist. Neulich abends holte ich meine Gitarre und klimperte nach Tische ein wenig. Ich sang drei von meinen französischen Liedern, die Sie ja kennen. Darunter das von den Versuchungen des Zollassistenten, das sonst überall ein so kolossales Glück macht. Aber die Damen waren entrüstet, und der Graf verbat sich sehr bestimmt dergleichen Unterhaltung für die Zukunft. Können Sie das begreifen?«

»Ich könnte mir eine passendere Wahl des Repertoirs denken.«

»Natürlich, – das sehe ich jetzt sehr gut ein. Nur sonderbar, daß der Graf wie die Komtessen sich erst hinterher Luft machten. Aber das nennt man wohl angeborenen Takt!«

Jytte merkte sehr wohl, daß Metas entsetzte Augen jetzt auf ihr ruhten. Sie wußte auch, daß Pastor Gaardbo alles, was hier vor sich ging, erfahren würde. Aber damit hatte sie ja gerade gerechnet, ja, sie wagte es, aus diesem Grunde ihren Bemerkungen Karsten From gegenüber einen Anflug von Vertraulichkeit zu geben.

»Ich meine, Sie sprachen neulich von einer lachsroten Kammerherrnuniform und freuten sich darauf, sie zu malen. Aber vielleicht hat auch die Sie enttäuscht?«

»Nein, die ist mir wirklich ein Trost in der kleinen Stunde, die mir der Graf täglich zumißt. Aber was soll ich den ganzen übrigen Tag mit mir selbst anfangen? Die Tage sind ja obendrein zu dieser Jahreszeit so unverschämt lang. Deswegen wollte ich Sie und die Frau Geheimrat untertänigst bitten, mir die Barmherzigkeit zu erweisen, den Jägermeister Hagen und die Frau Jägermeister für einen unglücklichen Maler zu interessieren, der das Pech hat, im Besitz eines geselligen Temperaments zu sein. – Ich glaube, Sie werden mich mit gutem Gewissen als einen Menschen mit präsentabeler Gitarre und einer verhältnismäßig gut ausgebildeten Brüllstimme empfehlen können.«

Seine Dreistigkeit imponierte Jytte. Sie dachte bei sich, sie würde viel dafür geben, wenn sie erfahren könnte, was für ein Mensch er im Grunde sei. Sie hatte ihn im Laufe der letzten Jahre verschiedentlich im geselligen Leben getroffen, und jedesmal hatte sie sich dieselbe Frage gestellt: Wer war er? Sie wußte, daß es viele gab, die ihn auf Grund seines Benehmens für ein wenig verrückt hielten, aber es war bald klar geworden, daß seine Narrheit erkünstelt war. Nur begriff sie nicht, was er damit bezweckte, vor den Leuten den Hanswurst zu spielen.

Aber jetzt wollte sie ihn los sein. Der Narr hatte seinen Nutzen getan, er konnte gehen. Sie wandte sich an Meta, fragte nach ihren Kindern, sprach überhaupt über Dinge, die ihn von der Unterhaltung ausschlossen. Endlich gelang es ihr auch, ihn zur Tür hinauszutreiben.

Als er gegangen war, schlug Jytte eine Wanderung durch den Gatten vor. Aber auch hier draußen konnte die Unterhaltung zwischen den Freundinnen nicht recht wieder in Gang kommen. Metas Haltung war ganz verändert.

Jytte begann: »Ich will dir sagen, wie die Dinge liegen – wenn es auch noch nicht offiziell ist – Mutter und ich reisen übermorgen ab. Du wirst also verstehen, daß es mir allein aus dem Grunde ganz unmöglich ist, an dem Fest teilzunehmen, von dem du sprachst.«

Meta sah sie zweifelnd an.

»Ihr wollt abreisen?«

»Ja, das hat seinen Grund in Verhältnissen hier im Hause, über die ich nicht gut reden kann.«

»Das muß ja ganz plötzlich beschlossen sein.«

»Nein – im Gegenteil. Mutter wollte schon früher abreisen. Sie ist nur Enslevs wegen hier geblieben. Sie sind ja alte Bekannte, aus der Zeit, als Vater und er Sitz im selben Ministerium hatten.«

»Wohin, reist ihr denn?«

»Ich weiß es nicht bestimmt. Nach Fanö vielleicht. Oder auch nach Skagen. Dort ist es um diese Zeit gewiß ganz munter.«

»Skagen Das ist ja das Stelldichein der Künstler. Dann wirst du vielleicht Herrn From dort treffen.«

»Ja, – das ist wohl nicht undenkbar.«

Meta fiel jetzt ein, daß sie notwendigerweise gehen müsse. Sie habe etwas mit der Haushälterin ihres Schwagers zu besprechen in Anlaß des Festes, sagte sie. Sie wollte ihren Mann dann im Pfarrhaus erwarten.

Jytte versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Sie konnten doch nicht mehr zusammensprechen. Sie hatte wieder eine Freundin verloren, die sie zu enttäuschen gezwungen gewesen war. Auch Meta würde in Zukunft mit Bitterkeit und Scham an sie denken. Das war nun einmal ihr Schicksal. Jedes neue Erlebnis konnte nur ihr Einsamkeitsgefühl und ihren Trübsinn steigern.

Sie begleitete die Freundin durch die Allee hinaus und ging während der ganzen Zeit Arm in Arm mit ihr, obwohl Metas Haltung keineswegs dazu aufforderte. Am Ende der Allee verabschiedete sie sich mit einem Kuß von ihr.

Während sie langsam zurückging, mußte sie an etwas denken, was Pastor Gaardbo von Meta und ihrem Mann gesagt hatte. In seinem unermüdlichen Missionseifer hatte er einmal in einem ihrer Zwiegespräche erklärt, er vermöge nicht zu begreifen, wie ein ernster Mensch ohne Gott leben könne. Und als sie ihn in dieser Veranlassung aufforderte, seinen eigenen Bruder danach zu fragen, hatte er wehmütig geantwortet, daß seines Bruders und Metas häusliches Glück vorläufig ihre Herzen ausfülle.

»Aber an dem Tage, wo die Sorge an ihre Tür pocht – und dieser Tag kommt ja für jeden Menschen –, werden auch sie die Hilfe dort suchen, wo sie allein zu finden ist. Die Hoffnung gebe ich niemals auf.«

Sie hatte daran gedacht, ob Meta und ihr Mann wohl ahnten, mir welchen Hoffnungen er sich für sie trug? Sie konnte sich auch entsinnen, daß sie auf der Zunge gehabt hatte, ihn zu fragen, ob seine verstorbene Braut eine Christin gewesen sei, oder ob er auch für sie auf die Überredungsgaben des Kummers und der Leiden gehofft hatte. Denn in letzterem Falle war es vielleicht nicht so ganz sicher, daß das junge Mädchen infolge eines Unglücksfalles gestorben war. Früher oder später mußte sie ja von einer so verbrecherischen Selbstgerechtigkeit in den Tod getrieben werden.

Sie verstand ihn nicht. Wie konnte er, der so hilfreich und gut und so voller Liebe für die Menschen war, gleichzeitig so unmenschlich unversöhnlich sein? Wußte er denn nicht, daß jedes arme Menschenwurm, auf alle Fälle jede Frau, um ihrer selbst willen, und nicht ihrer Ansichten und ihres Glaubens wegen, geliebt werden wollte?... Ach, diese unmaßgeblichen Meinungen über alles im Himmel und auf Erden! War das Leben nicht schon ohnehin schrecklich genug? Wozu brauchten sich die Menschen durch diesen ewigen Streit über Träume bis aufs Blut zu plagen!

Als sie die Treppe hinaufging, hörte sie, daß Fräulein Söholm aufgestanden war. Die falschen Flötenskalas der alten Dame tönten wie eine verzweifelte Klage durch die Stille. Jytte hielt mit einem »Au!« die Hände vor die Ohren.

Es lag etwas von der Unheimlichkeit einer Besessenheit in diesen eigensinnig herausgequälten Tönen, die sie während ihres ganzen Aufenthalts auf Storeholt verfolgt hatten. Die erbärmliche Todesfurcht einer armen Seele durchbebte sie. Es war, als sehe man die alte Person selbst, so wie sie bei den Mahlzeiten saß und mit ihren kurzsichtigen Augen mißtrauisch jedes Stück Brot untersuchte, aus Angst vor dem Bazillus, der über kurz oder lang ihrem elenden, freudlosen Dasein ein Ziel setzen würde.

Einige Krähen, die in einem Baumwipfel saßen und krächzten, schienen über die Gesundheitsmusik der alten Dame zu lachen. Das klang in Jyttes Ohren wie ein dämonisches Spottgelächter über die ganze Menschheit mit ihrem krampfhaften Festklammern an ein Leben, das so voll von Sorgen und Entbehrungen und Schmerzen war. In der Tür wandte sie sich um und sah zu den schwarzen, übermütigen Vögeln empor. Wie sie sie verstand! –


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