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VIII

Im Schloß ging es beständig vorwärts mit der Genesung des Kranken. Nach Verlauf einiger Wochen fühlte sich Torben fast gesund. Mit Staunen sahen ihn die Leute in der Umgegend wieder lange Fahrten im offenen Wagen machen und ihren Gruß freundlich erwidern. Er war strahlender Laune. Auch sein Aussehen hatte sich nach und nach verändert. Die aufgedunsene Umgebung der Augen und die unförmigen Hände und Füße schwollen ab, genau so, wie Asmus Hagen es vorausgesagt hatte.

Eines Morgens Anfang Februar reiste er von Favsingholm ab. Er fuhr direkt nach Wiesbaden, um eine Badekur durchzumachen, ehe er nach Italien weiterfuhr, wo er mit Jytte und ihrer Mutter zusammentreffen sollte, von denen er Briefe und Glückwünsche erhalten hatte.

Kurz vor seiner Abreise hatte sich an einem Sonntag während des Gottesdienstes in der Favsinger Kirche ein Auftritt ereignet, der in der ganzen Gegend die größte Bewegung hervorrief. Mitten während der Predigt war Mads Vestrup in ein Schluchzen ausgebrochen, das wie das Heulen eines Hundes geklungen hatte. Er sank auf die Knie nieder, die Hände vor dem Gesicht, und vermochte nicht fortzufahren.

Schon seit längerer Zeit hatten unheimliche Gerüchte über sein Verhältnis mit der mannstollen Oleane auf dem Hügelhof die Runde in der Gemeinde gemacht. Jetzt bekam der Klatsch Wind in die Segel und erschreckte die Bevölkerung allen Ernstes.

Ein paar Tage, nachdem Torben abgereist war, kam Propst Broberg in seiner Kalesche durch das Dorf gefahren und hatte gegen seine Gewohnheit seine Frau nicht bei sich, was seine Erscheinung gleich verdächtig machte. Als die Leute sahen, daß der Wagen in den Pfarrhof einbog, waren sie sich klar darüber, daß Mads Vestrups Stunde geschlagen hatte.

Mads Vestrup saß mit seiner Familie und seinem Gesinde bei Tische, als der Propst vorfuhr. Beim Anblick des Wagens begann er zu zittern, erhob sich leichenblaß von seinem Platz und sagte, ihm sei nicht wohl. Worauf er durch die Küche hinausging.

Stine mußte den Propst empfangen, der indessen sofort erklärte, er wünsche mit ihrem Mann unter vier Augen zu reden.

Aber Mads Vestrup war plötzlich wie von dem Erdboden verschwunden. Man rief vergebens im Osten und im Westen nach ihm, man suchte in dem Stall und in der Scheune, aber er war nicht zu finden. Erst nachdem der Propst mit steigender Ungeduld über eine halbe Stunde gewartet, kam er von dem Holzschuppen drüben her, wo er sich verborgen gehalten hatte. Er sah ganz verstört aus.

Dem Propst gegenüber gestand er sofort alles ein. Er suchte auch keine Zuflucht in Entschuldigungen, sondern bekannte redlich, daß er in Sünden gelebt und nicht die Kraft besessen habe, sich von seinem Fall wieder zu erheben, bis ihm die Verworfenheit seiner Mitschuldigen klar geworden sei. Er rechnete damit, daß er durch ein offenes Geständnis seine Richter milder stimmen, vielleicht den Verlust seines Amtes abwehren oder sich doch wenigstens eine Pension sichern könne.

In seiner wirren Angst, sein Auskommen zu verlieren und mit seiner kranken Frau und seinen Kindern auf der Landstraße zu stehen, fuhr er am nächsten Tage nach Aarhus und tat in tiefster Demut einen Kniefall vor dem Bischof. Aber der alte Mann konnte ihm keine Hoffnung machen.

In einem Zeitungsinterview hatte Propst Broberg ganz offen seine Befriedigung darüber geäußert, daß die Kirche von einem Lehrer befreit werde, der außer seiner Behaftung mit einem so ernsten moralischen Makel auch in intellektueller Hinsicht unter dem Minimum stehe.

Schon ehe die Entdeckung geschah, hatte Mads Vestrup eines Tages selbst seiner Frau gegenüber gebeichtet. Stine war ganz außer sich vor Wut geraten und hatte gedroht, ihn bei der Gemeinde zu verklagen, ja, sie war in Wirklichkeit diejenige, die zuerst durch ihr Gebaren dem Verdacht gegen ihren Mann Nahrung gegeben hatte. Aber jetzt, wo sie sah, daß sich alle von ihm abwandten, und wie namentlich seine Amtsbrüder ihn einmütig von sich stießen wie einen räudigen Hund, schlugen ihre Gefühle um. Sie stellte sich mutig auf seine Seite und erklärte, daß wenn sie ihm verzeihen könne, die andern es wohl auch könnten. In der letzten aufflackernden Hoffnung auf Rettung gelang es Mads Vestrup, sie zu überreden, in der Gemeinde von Haus zu Haus zu gehen und Namen unter eine Bittschrift an den Minister zu sammeln.

Aber es war alles vergebens. Der König selbst hätte ihn nicht von der Schande erretten können. Gleich nach dem Geständnis war er suspendiert, und das kleine jütische Dorf lieferte einige Tage lang sämtlichen Zeitungen des Landes einen willkommenen Stoff zur Sensation. »Großer Predigerskandal in Jütland – Ein Bußprädikant auf schlechten Wegen – Was hinter dem Heuschober geschah«, stand in brüllenden Überschriften in all den kleinen Klatschblättern. Auch Kopenhagener Zeitungen schickten Berichterstatter, die die Bevölkerung ausfragten und namentlich energische Sturmläufe gegen den Pfarrhof selbst unternahmen, um mit Mads Vestrup oder doch wenigstens mit seiner Frau und seinen Kindern zu sprechen und sich ein Bild von ihnen zu verschaffen. Die ganze kläffende Meute der Presse wurde auf den armen Mann losgelassen wie ein Unwetter aus der Hölle. Er hatte sich eingeschlossen, harte sich vor allen versteckt, sogar vor seinen Kindern. Nur Stine war bei ihm. Er saß in diesen Schreckenstagen, mit dem Kopf an ihre Schulter gelehnt, und es war ihm, als sei er nicht nur von den Menschen, sondern auch von seinem Gott verstoßen und verflucht.

Ein paar Wochen wartete man in Favsing auf die Bekanntmachung seiner endgültigen Verabschiedung, und es verlautete, daß er den bittern Kelch bis auf die Neige würde leeren müssen, indem ihm auch die Berechtigung, Talar und Priesterkragen zu tragen, abgesprochen werden würde.

Aber ehe dies geschah, nahm Mads Vestrup selbst Abschied von seiner Gemeinde, und zwar auf eine Weise, die weit und breit von sich reden machte und bei vielen Zweifel über seine Zurechnungsfähigkeit erweckte. Nachdem er sich während dieser ganzen Zeit vor niemandem hatte blicken lassen, lud er eines Tages durch einen Boten und Glockengeläute zu einer Versammlung in der Kirche ein, die er trotz des Widerspruchs des Küsters aufschließen ließ. Und als die Leute versammelt waren, erschien er in vollem Ornat in der Chortür.

Die Abendsonne fiel auf seine Gestalt, und man sah, daß er eigentümlich verändert war. Er war keineswegs der zerknirschte Mann, den man zu sehen erwartet hatte. Sein Gesicht war verweint. Aber die Augen leuchteten.

Seine tiefe Seelennot hatte mit einer neuen geistigen Erweckung geendet. Er, der in seinem Gottesverhältnis so furchtsam gewesen, der sich dem himmlischen Thron immer am liebsten auf Umwegen genähert hatte, war aus seinem einsamen Kampf mit einer Sicherheit in der Seele, mit einer Vertröstung auf die ewige Barmherzigkeit hervorgegangen, wie er sie nicht gekannt hatte, seit er als Kind am Fenster in der niedrigen Stube seiner Mutter auf den Knien gelegen und dem Brausen des Windes in den Pappeln da draußen lauschte mit einem wunderlichen Gefühl, als liege er dicht an Gottes Herz geschmiegt.

Er sprach mit lauter Stimme, bekannte mit schonungsloser Offenheit sein Vergehen vor der Gemeinde, die sich bei dieser Gelegenheit vollzählig eingefunden hatte, so daß viele in dem Mittelgang stehen mußten. Dann aber wandte er sich gegen die Geistlichkeit, die ihn verstoßen hatte. Er sagte, jetzt wisse er, daß seine Sünde, so schlimm sie auch sei, in den Augen Gottes gering wäre im Vergleich mit der Schamlosigkeit, mit der fast alle Diener Gottes ihre Kirche verrieten und das Evangelium fälschten. Er erklärte, daß der Herr lieber Trunkenbolde, Ehebrecher, ja Räuber und Mörder auf den Kanzeln der Kirche stehen sähe, als diese läppischen und ehrsüchtigen Geistlichen, die mit der Welt buhlten und die Ohren der Gottlosen mit leichtfertigem Geschwätz über die höchsten Dinge füllten.

Es war Unruhe in der Kirche entstanden. Man sah sich unwillkürlich nach einem Schutzmann um. Viele erhoben sich und wollten gehen. Mads Vestrup aber ließ sich nicht bange machen. Der früher so mutlose und sorgenvolle Mann, der so verzagte Gedanken über sich selbst und die Bestimmung der Vorsehung mit ihm gehabt hatte, war als wolfsgieriger Streiter des Herrn erwacht, hatte sich, wie geschrieben steht, bereitet, seine Lenden zu schürzen und Heim und Kinder Gottes Obhut zu empfehlen, um die zerstreuten Überreste seiner Gemeinde zum Kampf gegen die Hölle zu sammeln.

Während er redete, hörte er das Heergeschrei der Cherubime in der Luft, und er erhob seine Hände, als er schloß, und um »zum letzten Male unseren alten Glauben in diesem Hause zu bekennen, das vielleicht für eine Zeitlang die Beute des Satans werden wird«.

In großer Erregung strömten die Leute aus der Kirche. Man rief sich gegenseitig als Zeugen an für das, was er gesagt hatte, und viele sahen bedenklich drein, weil sie ihre Kirche von einem geisteskranken Manne entweiht fühlten. Die Ernstesten unter ihnen gingen schweigend nach Hause.


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