Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der jütländische Däne Henrik Pontoppidan (geboren am 24. Juli 1857 in Fredericia), Pfarrerssohn, entsprungener Polytechniker, war, wie die Literaturgeschichten mit Genugtuung feststellen, aus demselben Jahrgang wie seine dichterischen Gegenpole Herman Bang und Gjellerup. War ein natürlicher Feind aller weltstädtischen Überkultur und Raffiniertheit und versenkte sich mit starken Impulsen unmittelbar in die Darstellung des Kleinstadtlebens, Volkslebens, Bauernlebens. Der Abfall von Brotstudium und Bürgerberuf fiel ihm nicht schwer; ein lebhafter Freiheits- und Unabhängigkeitstrieb war in ihm, jene gesunde Unruhe, die den Künstler erst schöpferisch macht. Mit seinem Debüt als Schriftsteller, der Bauernerzählung »Gestutzte Flügel« (1881), stand er eigentlich fertig da. Pontoppidan hat nur eine Ausbreitung, keine Entwicklung gehabt – vielleicht im Stil und in der gestaltenden Form, aber nicht in den grundlegenden Ideen, in den menschlichen Regungen seines künstlerischen Wesens und in seiner Art, zu sehen und psychologisch zu ergründen. Er ist ein sozialer Skeptiker und eine Doppelnatur. Ist traditionell erzogener Däne, und doch holt er sich die ersten literarischen Einflüsse vom strengen norwegischen Realismus: Alexander Kjelland. Er verschmäht die vermittelnde Eleganz und sucht die Kraft, die unerschrockene Beobachtungsgabe. Andererseits saß diesem Pfarrerssohn das Vatererbe tief im Blut: der rosenrote religiöse Optimismus Grundtvigs, Gefühlsweichheit, Romantizismus, Fabulieren, die Saga eines alten Geschlechts. Mit diesen gegensätzlichen Dingen hat sich Pontoppidan sein Leben lang als Volksdichter herumgeschlagen in einer nach innen bohrenden Kritik: er fand das schöne Leben verschandelt durch die häßliche Armut, durch das elende Helotentum des Volkes; hinter dem Triumph der Demokratie sieht er eine neue Knechtseligkeit; der Egoismus ist ihm die häßliche Triebfeder der Welt (siehe Seite 48 ff.); die Frauenbewegung ist ihm etwas Unzulängliches, fast Komisches; der Idealismus ist in die Welt gesetzt, um elend Schiffbruch zu erleiden (in seinem dreiteiligen Hauptwerk »Das verheißene Land«); die Art, wie die Gesellschaft soziale Fragen schlichtet, ist ihm wie Verrat an der Heiligkeit der Armut. Diese Zweifel erregen und bewegen den charaktervollen Mann. Treiben ihn von Stätte zu Stätte, in einer Art »Landflucht« innerhalb des eigenen Landes, tragen ihn ins Ausland – nach Deutschland, Frankreich, Italien.
Als positives Begütigungselement aber kam über diesen Dichter die Landschaftsnatur seiner dänischen Heimat: die Wiesen, die Äcker, der Erdgeruch der Scholle, die Buchenwälder, der Sund, die ländliche Arbeit und die ländlichen Arbeiter und die gemütvolle Betrachtung jenes engen, kleinbürgerlichen Lebens in den größeren Siedlungen. Von ausländischen Eindrücken ist nichts in seine Bücher übergegangen. Seine Epik ist reine Volksepik, gleichsam ein gestaltetes Freiluftleben des Heimattreuen. Er kannte den gemeinen Mann und schilderte ihn mit dem Reichtum seines Herzens, schilderte das Bauernproletariat mit erregtem Mitgefühl. Er sympathisiert mit den Kraftnaturen, welchen Standes sie auch seien, auch da noch, wo der Schicksalsrebell an die Grenze des Verbrechens oder über sie hinaus geführt wird. Die Menschennatur muß geschlossen sein, im Guten wie im Bösen. Die Kunst dieses Gestalters von Alltagsmenschen hat eine welterklärende Macht.
So hat Pontoppidan in der vorstehenden Erzählung für die Schuld der traurigen Heldin eine gewisse Rechtfertigung. Sie ist Produkt und zugleich Opfer ihrer Herkunft. Die Novelle hieß ursprünglich im Original »Thora van Deken«. Hier liegt eine merkwürdige Einwirkung Henrik Ibsens vor: wie Hedda Gabler in der Ehe nicht Hedda Tesman wurde, so wird Thora van Deken nicht Thora Engelstoft; die Tragik ihres Hauses hängt über ihr; sie sinkt von Reichtum in Armut und steigt wiederum zu Reichtum und Macht empor. Ihr Herz verhärtet sich zu frondierender Selbstsucht; so wie sie handelt, glaubt sie gut zu handeln, um das Geschick ihres Hauses zu rächen – doch ihre Rache vergreift sich in den Mitteln.
Julius Elias.