Henrik Pontoppidan
Rotkäppchen
Henrik Pontoppidan

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I

Auf einer der hölzernen Bänke im Wartesaal einer kleinen, ostjütischen Landstation saßen an einem Herbstabend ein paar Bauern und warteten auf einen Zug, der in einer kleinen Stunde kommen sollte. Während der Rauch aus ihren Pfeifen in langen Streifen durch die naßkalte Luft zog und sich zu einer bläulichen Wolke um die trübe leuchtende Lampe unter der Decke sammelte, saßen sie da und schwatzten über eine Reihe von Ereignissen, die seit längerer Zeit die Gemüter dort in der Gegend beschäftigt hatten.

Nach einer siebzehnjährigen Ehe hatte der Magnat der Gegend, Rittergutsbesitzer Engelstoft auf Sofiehöj und Agersögaard und Besitzer verschiedner zinsentragender Papiere, sich von seiner Gattin, einer geborenen van Decken, mit der er schon seit längerer Zeit sehr unglücklich gelebt, scheiden lassen. Eines Abends, auf einer Klubmaskerade im Städtchen, hatte er die Schwester des Realschuldirektors, ein ganz junges Mädchen von imponierender zigeunerartiger Schönheit, gesehen, und drei Monate später hatte die gerichtliche Trennung stattgefunden.

Unter der Bevölkerung der Gegend hatte allgemeine Befriedigung über das Ereignis geherrscht. Es gab allerdings auch Leute, die sich auf Grund ihres Verhältnisses zum Staat oder zur Kirche verpflichtet gefühlt hatten, den Gutsbesitzer strenge zu verurteilen; es waren das aber freilich ganz dieselben, die späterhin die häufigsten Gäste in Sofiehöj wurden und förmlich miteinander wetteiferten, dem jungen Mädchen als künftiger Schloßherrin zu huldigen.

Frau Engelstoft war nämlich immer sehr unbeliebt dort in der Gegend gewesen. Es war und blieb den Leuten ein Rätsel, wie der reiche und lebensfrohe Gutsbesitzer sich mit ihr hatte verheiraten können. Freilich war sie ihrerzeit recht hübsch gewesen, und noch heute besaß ihre Erscheinung eine gewisse Stattlichkeit. Obwohl sie nicht groß und wohl eigentlich schmächtig gebaut war, lag über ihrer aschblonden Erscheinung mit dem liniengeraden Rücken und dem fein geformten Kopf etwas Vornehmes, das Ehrfurcht erheischte, aber sie war ein Monstrum an Unliebenswürdigkeit, mißtrauisch, zanksüchtig, geizig, so genau ihren Untergebenen gegenüber, daß sie sogar von den halben Ören, die im Haushalt draufgingen, Rechenschaft verlangte. Zur Verzweiflung des friedliebenden Gutsbesitzers lebte sie deswegen in ewigem Streit mit ihren Dienstboten und lag in offenem Krieg mit allen Händlern in meilenweitem Umkreis.

Sie war selber aus einer Gutsbesitzersfamilie. Ihr Vater, Jägermeister Joachim van Decken, war einstmals in gewissen fröhlichen Junkerkreisen bekannt gewesen, wo er im Laufe von ungefähr zwanzig Jahren mit großer Unverfrorenheit das von seiner Frau eingebrachte Vermögen verpraßt und verspielt hatte, so daß die Familie schließlich buchstäblich von Haus und Hof mußte. Als Engelstoft seine künftige Gattin zum erstenmal sah, war sie eine einfache Gouvernante auf einem Gut in der Gegend und hatte ihren Platz am unteren Ende des Tisches zwischen den Kindern.

Aber trotz der glücklichen Erhöhung von der armen Lehrerin zur Herrin von Sofiehöj und Agersögaard, und obwohl sie von ihrem Gatten geliebt, ja vergöttert wurde, war sie im Laufe der Jahre immer verschlossener und menschenfeindlicher geworden.

Man hatte nachgerechnet, daß nicht weniger als zwölf von den Dienstboten in Sofiehöj zu ihrer Zeit und auf ihre Veranlassung der Polizei übergeben worden waren, wegen Versehen, von denen das größte in der unrechtlichen Aneignung eines pelzgefütterten Rockes bestanden hatte; und beständig hatte sie ihren Mann zu Rechtsverfolgungen und gerichtlichen Klagen gezwungen, so daß er, der die personifizierte Nachgiebigkeit und Gutmütigkeit war, fortwährend in Prozessen lag, bald mit dem Fiskus um Ausbesserung einer Wegstrecke, bald mit einem Kaufmann, von dem er sich übervorteilt glaubte, bald mit einem Nachbar wegen einer Grenzzwistigkeit. Bei dem bloßen Argwohn, daß man sie benachteiligen könne, setzte sie lieber ihr ganzes Glück aufs Spiel, als daß sie sich zu einem Vergleich herbeigelassen hätte. –

Auch erst nach einem erbitterten Kampf war die Scheidung zustande gekommen, und man begriff kaum, wie der Gutsbesitzer den Mut gefunden hatte, das entscheidende Wort zu seiner Gattin zu sprechen – zu der »Kröte«, wie die Bauern in der Umgegend sie nannten, sowohl wegen ihrer Zanksucht als auch wegen ihrer warzigen Gesichtshaut. Engelstofts juristischer Berater, Rechtsanwalt Sandberg, war denn auch nach Sofiehöj gerufen, und teils durch ihn, teils durch das Gesinde und den Gutsschreiber hatte die Bevölkerung Einblick in den Verlauf des Kampfes gewonnen.

Da zeigte es sich denn, daß es weniger die Auflösung der Ehe war, die Schwierigkeiten verursachte, als die Frage um die Teilung des Vermögens. Frau Engelstofts Forderungen waren so weitgehend, daß ihre Erfüllung den Gutsbesitzer zu einem armen Manne gemacht haben würde. Erst als sein Rechtsanwalt – mit dem Finger auf den Paragraphen im Gesetzbuch – sie davon überzeugt hatte, daß sie sich selber einen Gefallen tun würde, wenn sie das Anerbieten ihres Mannes annähme, statt die öffentliche Entscheidung der Sache zu erzwingen, gab sie endlich nach.

So wurde denn abgemacht, daß Engelstoft selber Sofiehöj behalten sollte, das dem Ehepaar zum gewöhnlichen Aufenthaltsort gedient hatte, während die Frau ihrem eigenen Wunsche gemäß Agersögaard erhielt, ein bedeutend größeres, aber vernachlässigtes Gut, hoch oben in der vendysselschen Dünen- und Mooreinöde, dem sie unter anderem gerade wegen der Einsamkeit seiner Lage den Vorzug gab. Außerdem ward ihr das uneingeschränkte Elternrecht über ihr einziges Kind, die damals sechzehnjährige Esther, sowie ein halbes hunderttausend Kronen in barem Gelde zugesprochen.

In der Nacht, nachdem der Scheidungskontrakt am Nachmittag unterschrieben war, verließ sie Sofiehöj mit der Tochter, die während der ganzen Woche, in der die Verhandlungen geführt wurden, auf ihrem Zimmer eingeschlossen gewesen war und nun bei der Abreise nicht einmal Erlaubnis erhielt, ihrem Vater Lebewohl zu sagen.

Mehrere Tage lang ließ sich der Gutsbesitzer nicht blicken. Der lange Kampf und namentlich die Verzweiflung über den Verlust des Kindes, das er innig liebte, hatten den starken Mann gänzlich geknickt. Aber sein vorgeschrittenes Alter duldete nicht, daß er sich lange in seinen Schmerz versenkte.

Nach Verlauf einiger Wochen feierte er, wenn auch in aller Stille, seine Verlobung mit der schönen Schwester des Realschuldirektors, und als abermals einige Wochen verstrichen waren, gab er seine erste größere Mittagsgesellschaft in jenem üppigen Stil, den seine älteren Freunde von »vor der Zeit der Kröte« kannten, und der seiner künftigen Frau in hohem Grade zusagte. Von den vielen sittlich Entrüsteten der Gegend waren schon damals nur noch zwei, die der Einladung nicht nachgekommen waren. Der eine war der Propst, der nur – und zwar zu seinem größten Bedauern – durch Kolikschmerzen verhindert war, während der andere die weltliche Obrigkeit des Ortes, der Hardesvogt war, der als konstituierter Amtmann die Trennung hatte vollziehen müssen.

Aber das Unglück war nun einmal in Sofiehöj eingezogen. Ein halbes Jahr darauf erkältete sich die junge Braut auf einem Weihnachtsball und starb unter schweren Leiden.

Schon bei ihrem Begräbnis hatten die Leute beim Anblick des Gutsbesitzers gesagt, daß er ihr bald nachfolgen werde.

Er war mit einem Schlage ein alter Mann geworden. Im Laufe des Sommers schwand seine breitschultrige Gestalt zu einem Schatten seiner selbst hin. Er trug von Jugend an den Keim eines Herzleidens in sich, das jetzt aufflammte und seine Lebenskraft von Tag zu Tag verzehrte.


»Es ist so, wie ich dir sage, Per«, sagte der eine der beiden Bauern, die auf der hölzernen Bank im Wartesaal saßen und aus ihren Pfeifen pafften. »Es hat höchstens noch acht Tage übrig, dann ist es aus. Das sollen die eigenen Worte des Doktors sein.«

»Herrgott,« sagte der andere, der ein älterer Mann war, »daß es ein solches Ende nehmen muß.«

»Ja, traurig genug ist es, wenn man darüber nachdenkt. Denn das muß man ihm lassen, ein Prachtkerl ist Engelstoft sein Lebzeit gewesen. Und gut gegen die Armen, – soweit das Weib es ihm erlaubte!«

»Herrgott,« wiederholte der andere, in seine eigenen Gedanken versunken, »daß es ein solches Ende nehmen muß! – denn er ist ja doch noch ein jüngerer Mann.«

»Wart mal – hm, er kann wohl bald so an die fünfzig sein, denke ich. Aber es sind nicht immer die Jahre, wonach es geht, Per. Der Kummer frißt an den Eingeweiden, das ist ein altes Wort. Und Engelstoft, der hat nu auch seine Last zu ziehen gehabt. Was hat der arme Mann wohl nicht mit der Kröte durchzumachen gehabt, ehe er die Hexe loswurde. – Hu! Hu! Die hat ihm manches weiße Haar gemacht!«

»Ja, sie war eine schreckliche Person, das muß man sagen.«

»Hu! Hu! Und kann man sich was Jämmerlicheres denken, als daß die Braut heimgehen und sterben muß, gerade als er sie sicher hat. Das muß ihn doch schrecklich mitgenommen haben.«

»Ja, ja, Mads, – das war nu mal so Gottes Wille.«

»Das war es natürlich; das ist ein wahres Wort, Per! – Aber was für ein schönes Mädchen war es doch! – Ich weiß noch ganz genau – es mag wohl 'n gutes Jahr her sein, da kam ich vom Limer Moor mit einem Fuder Torf gefahren. Und da begegnet' ich ihnen im Ostwald. Sie kamen gerade auf mich zugeritten auf ein Paar Füchsen. »Guten Tag, Mads Iversen!« sagte Engelstoft so recht freimütig und holt mit der Reitpeitsche aus. Und die Braut schmunzelt so ein bißchen und ritt auf seine rechte Seite, – denn sie hatten sich ja ziemlich nahe gesessen. Es war wirklich schön anzusehen.«

»Ach ja, – das glaub' ich!«

»Nie in meinem ganzen Leben hab' ich einen Menschen mit solchen lustigen Augen gesehen wie das Mädchen. Und wie ihr die Glieder am Körper saßen, das hätt' ich damals, weiß Gott, auch nicht gedacht, daß sie so ein drei, vier Monate später drei Ellen unter der Erde liegen und sich langweilen sollt'!«

»Ja, das war nu mal so bestimmt.«

»Ja, dabei is nichts zu machen.« –

»Und was für ein Begräbnis sie gekriegt hat! Es war ja beinah, als wenn es eine Königin gewesen wär'. Ich glaube steif und fest, Engelstoft selbst kriegt es nicht feiner.«

»'n Abend auch!« ertönte es im selben Augenblick aus der anderen Ecke des Wartesaales.

Es war der Bahnwärter. Er kam mit einer Handlaterne aus dem Bureau.

»'n Abend«, antwortete der ältere der Bauern nach einer kleinen Weile.

»'n Abend«, wiederholte der andere noch ein wenig später, er war ein großer Mann mit rotem Haar und einem Bartwuchs, der sich bis auf die Ohren fortsetzte. »Wir sitzen hier und schnacken über Engelstoft«, fügte er hinzu, während der Bahnwärter die Lampe in die Höhe schrob, – das Zeichen, daß der Zug zu erwarten war.

»Ja, mit dem soll es ja recht mau aussehn, hör' ich.«

»Er hat höchstens noch acht Tage übrig. Das soll der Doktor selbst gesagt haben.«

»Ja, das is ganz schnurrig zu denken! Er muß doch 'ne tüchtige Portion für das Mädchen übrig gehabt haben, daß er sich so davon 'runterkriegen läßt!«

»Ja, das sag' man noch mal. Das hat er ja auch gezeigt, als er sich von der Kröte loskaufte, um sie zu kriegen. Agersögaard und ein halbes Hunderttausend in bar, – das ist 'n runder Preis für 'ne Braut. Der junge Kristian Balle, der bei uns, der eben vom Seminar herkommt, der hat es neulich mal ausgerechnet, daß, wenn sie ihm nich gestorben wär', und wenn sie man bloß zwanzig Jahr verheiratet gewesen wären, – dann wären es 93 Kronen für jeden einzigen Tag gewesen, – mit Zinsen natürlich, 'n schöner Tagelohn, wie?«

»Ja, und was hat er nu davon!« warf der alte Bauer dazwischen.

»Das sag' man noch mal, Per. Aber so ist es mit die Art Leute. Wenn es sich um Frauenzimmer handelt, werfen sie es mit vollen Händen aus 'n Fenster 'raus!«

»Habt ihr gelesen, was heut in der Zeitung steht?« fragte der Bahnwärter.

»Was soll da stehen?« riefen beide Bauern wie aus einem Munde aus und ließen ihre Pfeifenspitzen sinken.

»Engelstoft hat ja Sofiehöj verschenkt als Vermächtnis oder so was.«

»An wen?«

»Da soll, wenn er tot is, ne Wohltätigkeitsanstalt aus gemacht werden – für schwächliche Frauenspersonen, glaub' ich, is es. Das steht heute in der Zeitung.«

»Das kann wohl nich seine Richtigkeit haben«, bemerkte der alte Bauer mit einem ganz bedenklichen Tonfall.

»Ja, das soll sich aber doch so verhalten!« erwiderte der Rotbärtige und schlug befeuernd mit der Hand auf sein Knie.

»Das sieht Engelstoft ganz ähnlich. Ein prächtiger Mann is er immer gewesen.«

»Ja, dann seht mal,« erklärte der Bahnwärter weiter, »es ist ja doch ganz eigentümlich, daß sie – die Braut – auch gerade Sophie heißen mußte. Das paßt zu Sofiehöj, versteht ihr? Dann wird ja auf die Art das Ganze eine Art Andenken an sie.«

»Aber kann das denn auch mit rechten Dingen zugehen?« fragte der Alte. »Er hat ja doch seine leibliche Tochter.«

»Ach Gott, das Kind kriegt ja Gottes Gaben genug!« krähte sein Nachbar auf der Bank. Agersögaard fällt ihr ja einmal zu, und einen mörderlichen Packen Geld kriegt sie von beiden Seiten. Die Kröte verkleckert ihre Schillinge wahrhaftig nich. Sie soll ja da oben ein ganz schreckliches Regiment geführt haben. Ich hab' gehört, sie hätt' schon über hundert Tonnen Heideland umgepflügt. Ein mordsmäßiges Frauenzimmer.«

Draußen ertönten drei Schläge auf einer gesprungenen Signalglocke, und der Bahnwärter machte sich an die Arbeit. Er nahm eine Rolle Kautabak aus seiner Hosentasche, biß ein Ende davon ab und schlenderte mit seiner Laterne auf den Bahnsteig hinaus.

Gleichzeitig wurde die Tür nach der Landstraße hinaus von einem kleinen, o-beinigen Manne mit einem mächtigen Hausiererbündel auf dem Rücken und einem Stab in der Hand geöffnet.

»'n Abend, Freunde!« grüßte er gleich in der Tür mit einer quiekenden Stimme.

»Ne – das is ja Wolle!« flüsterte der große Bauer dem andern zu.

»Ja, das is er!«

»Der kleine Kerl will wohl wieder mit seinem Packen weiter!«

»Na – was salbadert ihr beiden denn da?« sagte der Neuangekommene, nachdem er das Bündel abgeworfen und auf der hölzernen Bank neben den andern Platz genommen hatte.

»Wir sprechen von Engelstoft.«

»Das hab' ich mir ja gedacht. Ja, der ist bald fertig, der arme Kerl! Habt ihr denn auch das Allerneuste gehört?«

»Meinst du das, was heut' in der Zeitung steht?«

»Ne, – ich meine das, was da drüben im Reisestall beim Krug steht – das, was vorhin da 'reingefahren is!«

»Wer is das denn?«

»Das is Engelstoft sein neuer Landauer, den er vergangen Jahr gekauft hat. Sie erwarten heut' abend noch hohen Besuch in Sofiehöj.«

»Woll den Amtmann?«

»Den Amtmann – ne, höher 'rauf, mein Freund.«

»Doch nich den neuen Bischof?« fragte der Alte ganz benommen.

»Ne, – noch höher 'rauf!«

»Ach was, Unsinn! Du willst uns doch nich vorreden, daß es der König selbst is?«

»Ne, – noch höher 'rauf!«

»Nanu, du treibst Fastnachtsscherz um Michaeli, Wolle. Damit hast du hier kein Glück. Na, was soll denn aber heut' abend kommen, wenn du es doch weißt?«

»Dem Teufel seine Urgroßmutter in eigener Hoheit, – wenn ihr mich nu verstanden habt!«

»Die Kröte!« riefen beide Bauern wie aus einem Munde aus und erhoben sich förmlich von ihren Sitzen.

»Ja, so is es und nich anders! Sie und die Tochter kommen jetzt mit dem Zuge. Kutscher Jens hat es mir erzählt. Der Kaplan saß im Wagen, der soll sie in Empfang nehmen.«

»Ja, ja, – der Tod versöhnt«, sagte der alte Bauer nach kurzem Schweigen und nickte vor sich hin.

»Und das is sehr gut«, fiel ihm der andere in die Rede. »Denn es war eigentlich schrecklich, zu denken, daß er davongehen sollte, ohne daß sie sich vertragen hätten. Aber ich hätt' der Kröte wirklich nich so viel Herz zugetraut.«

Die Tür nach der Landstraße hinaus tat sich von neuem auf, diesmal, um den Kaplan, einen jungen Mann mit glatt rasiertem Gesicht, das ein tiefer Ernst prägte, einzulassen. Die drei Männer auf der Bank lüfteten ihre Hüte unter jenem ehrfurchtsvollen Schweigen, das der Anblick eines Geistlichen unter der ländlichen Bevölkerung noch immer hervorruft. Zerstreut, aber mit großer Höflichkeit erwiderte er ihren Gruß und begann im Wartesaal auf und nieder zu gehen, die Hände tief in die Rocktaschen vergraben.

»Wir können den Zug wohl bald erwarten?« fragte er kurz.

»Ja, gemeldet is er«, antworteten die drei Männer im Chor, sie verfolgten ihn bei dieser Wanderung durch den Raum mit starren Augen, während die Lippen sich vor Fragebegier unwillkürlich bewegten.

Alle wußten, daß dieser ganz junge Pfarrer, der vor nicht gar langer Zeit hierher in die Gegend gekommen, in der letzten Zeit täglich in Sofiehöj gewesen war und großen Einfluß auf den Gutsbesitzer gewonnen hatte. Der Hausierer flüsterte den andern zu – was sich auch in der Tat so verhielt – daß ihm im wesentlichen das Verdienst gebühre, eine Annäherung zwischen den geschiedenen Ehegatten herbeigeführt zu haben. Engelstoft war bisher, ebenso wie seine Gattin, nicht gläubig gewesen. In diesem einen Punkt waren ihre Anschauungen einigermaßen übereinstimmend gewesen. Und doch war in ihrem Verhältnis zu der Kirche der Unterschied, daß Frau Engelstoft ihren Bruch mit derselben offen bekannte, während der Gutsbesitzer aus Rücksicht auf den alten Propst, der ihn getauft und konfirmiert hatte, wie auch überhaupt, um kein Ärgernis zu erwecken, sich regelmäßig ein paarmal in dem geschnitzten Betstuhl auf dem Chor sehen ließ, der ihm als Rittergutsbesitzer und Patron der Kirche vorbehalten war, und wo er während des ganzen Gottesdienstes einen verzweifelten Kampf mit dem Schlaf kämpfte.

Aber seit dem plötzlichen und qualvollen Tode seiner Braut, und namentlich nachdem er selber krank geworden war und sich von der Hoffnungslosigkeit seines Zustandes überzeugt hatte, empfand er ein immer stärkeres Bedürfnis nach dem Trost der Religion; und gerade, weil ihm der Kaplan ein Fremder war, den er nur in seiner Eigenschaft als Geistlichen kannte, den er nie an einer wohlbesetzten Tafel oder als vierten an einem Spieltisch gesehen hatte, besaß der junge Mann von vornherein weit bessere Bedingungen, um ihm Zutrauen einzuflößen und seine Aufmerksamkeit durch seine Worte zu fesseln, als der alte Propst, der immer eine auffallende Schwäche für alles gehabt hatte, was schwer im Magen und in der Tasche lag.

Als der Kaplan zum erstenmal mit ihm über seine Frau redete und mit der größten Vorsicht die Möglichkeit einer Versöhnung berührte, hatte ihn der Gutsbesitzer sofort unterbrochen, er wolle kein Wort davon hören. Aber allmählich, als die Kräfte schwanden, hatte die Angst vor dem Tode den einsamen Mann demütig gemacht, und so war es denn in stillschweigendem Einverständnis mit ihm geschehen, daß der Kaplan an Frau Engelstoft schrieb, ihr erzählte, wie die Sachen standen, und sie bat, mit ihrer Tochter herzukommen, ehe der Tod die endgültige, unwiderrufliche Scheidung oder die ewige Vereinigung vollzog. Als nach Verlauf von acht Tagen keine Antwort eingetroffen war, schrieb der Kaplan nochmals einen Brief, in dem er sie noch flehentlicher bat, doch die letzte Bitte eines Sterbenden zu erfüllen. Auch nach Absendung dieses Briefes verstrichen mehrere Tage, ohne daß eine Antwort erfolgte. Endlich, diesen Morgen, war die Beantwortung in Form eines kurzen Telegramms gekommen: »Komme mit dem Abendzuge.«

In diesen Minuten, während er auf den Zug wartete, beschäftigten sich die Gedanken des jungen Pfarrers namentlich mit der Tochter. Obwohl Fräulein Esther nicht viel mehr als ein Kind war, als er sie zuletzt gesehen hatte, und ihre Bekanntschaft nur kurz und flüchtig gewesen war, hatte er eine sehr lebhafte Erinnerung von dem jungen Mädchen bewahrt, und weit mehr, als er sich selber eingestehen wollte, hatte diese Erinnerung an sie ihn in seinem Eifer bestärkt, das zerrissene Band zwischen den Eltern von neuem zu knüpfen.

Die Landleute auf ihrer hölzernen Bank hatten eine Weile flüsternd dagesessen. Jetzt sagte der große Bauer laut und zu dem Pfarrer gewendet:

»Heut' abend kommt wohl noch Besuch für Sofiehöj?«

Der Kaplan hemmte seine Schritte, strich sich mit der Hand über das Gesicht, um sich zu sammeln, und antwortete darauf in sehr freundlichem Ton:

»Ja, – es wird Besuch erwartet.«

Um aber weiteren Fragen zu entgehen, wandte er sich im selben Augenblick um und ging durch die Glastür auf den Bahnsteig hinaus.

Indessen hatte sich das Gerücht von der Ankunft der Kröte aus dem Reisestall des Kruges bis in die umliegenden Häuser und Gehöfte verbreitet und überall das größte Aufsehen erregt. Aus allen Richtungen schlenderten Leute nach dem Bahnhof, die Knechte mit ihren langen Pfeifen, die Mädchen mit Tüchern um den Kopf, lachend und schwatzend. Als der Zug endlich klappernd vor den Bahnsteig einlief, stand dieser halb voller Neugieriger, die sich drängten und den Hals ausreckten, um zu sehen.

»Da is sie!« ertönte es aus dem Gedränge, als sich ein Abteil erster Klasse in einem der hintersten Wagen auftat und eine dunkel gekleidete Dame mit einem von den Schultern herabhängenden Pelzmantel ausstieg.

Alle, die sie von früher her kannten, sahen sogleich trotz der kärglichen Beleuchtung, wie sie gealtert hatte. Die dichten Haarlocken über der Stirn waren fast grau. Aber die Haltung war unverändert, und selbst in der Entfernung empfanden die Leute die eigentümliche Macht, die in dem Blick aus ihren großen, hellen, stark gewölbten Augen lag.

Der Kaplan trat jetzt herzu und entblößte sein Haupt.

Frau Engelstoft oder Frau van Decken-Engelstoft, wie sie sich seit der Scheidung genannt hatte, erwiderte seinen ehrerbietigen Gruß, ohne ihm jedoch die Hand zu reichen. Als sie im selben Augenblick die herbeigeströmte Menschenmenge vor der Tür des Wartesaals gewahrte, stieg ein scheuer Ausdruck in ihren Augen auf, und sie zog den Schleier ihres Hutes vor das Gesicht.

Der Kaplan, der noch in das Abteil hineingeguckt und dasselbe leer befunden hatte, rief plötzlich ganz erschreckt aus:

»Aber ist denn Fräulein Esther nicht mitgekommen?«

»Nein, ich bin allein«, antwortete sie und wandte sich ab, um ihrer Kammerjungfer, die zugleich aus einem Abteil neben dem ihrigen gestiegen war, einen Befehl zu erteilen. Dann ging sie mit schnellen Schritten gerade auf den Wartesaal zu, wo der neugierige Menschenhaufe unwillkürlich vor ihr zurückwich. Einzelne der Männer lüfteten sogar die Mützen.

Mit einem ganz verwirrten Gesichtsausdruck folgte ihr der Kaplan auf den Fersen.

»Aber Ihr Fräulein Tochter kommt doch wohl später?« fragte er stammelnd, indem sie durch den leeren Wartesaal schritten.

»Wie gesagt, – ich komme allein,« wiederholte sie kurz. »Wo ist der Wagen?«

Vor dem Stationsgebäude hielt ein geschlossener Landauer mit einem umfangreichen Kutscher, der scheu zu seiner ehemaligen Herrin hinunterschielte, während er mit der Peitsche grüßte. Frau Engelstoft, die nicht einmal nach dem Befinden des Kranken gefragt hatte, setzte sich mitten auf den breiten Vordersitz, um die Nachbarschaft des Kaplans zu vermeiden. Nachdem dieser deswegen ihr gegenüber Platz genommen hatte, erhielt die Kammerjungfer, die zu dem Kutscher hinaufsteigen wollte, von ihrer Herrin den Befehl, sich in den Wagen hineinzusetzen, – offenbar in der Absicht, jede vertraulichere Unterhaltung unmöglich zu machen.

Es wurde denn auch während der fast zweistündigen Fahrt nicht ein einziges Wort gewechselt. Von bösen Ahnungen bedrückt, saß der junge Geistliche in die Wagenecke gepreßt, die Hände auf dem Schoß gefaltet, und starrte schwermütig und unruhig in die Finsternis hinein.

 


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