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Ein hoher Gerichtssaal mit einer Reihe nach Süden gelegener Fenster, durch die die Sonne lustig die großen kahlen Wandflächen bescheint. Quer durch den Saal läuft die Schranke, und dahinter thront der Hardesvogt in goldgestickter Uniform und dreht ungeduldig ein Lineal in der Hand hin und her. Links von ihm sitzt ein Schreiber an einem kleinen Tisch, ein mächtiges Protokoll vor sich, und an der Tür auf der anderen Seite der Schranke, durch die die Komparenten herein- und hinausgeführt werden, steht ein ellenlanger Gerichtsdiener und schläft halb in aufrechter Stellung, den Daumen an der Hosennaht.
Das Verhör des Dutzends vorgeladener Männer und Frauen nähert sich seinem Ende. Realschuldirektor Brandt war zuerst aufgerufen, um eine Erklärung abzugeben. Er hatte an Eides Statt erklärt, daß er drei Stunden vor Gutsbesitzer Engelstofts Tode mit diesem gerade über sein Testament gesprochen, und daß nach seiner festen Überzeugung jeder Gedanke, auch an eine nur teilweise Aufhebung desselben dem Verstorbenen zu dieser Zeit vollkommen fern gelegen habe. Falls er deswegen wirklich ein paar Stunden später seine Einwilligung zu der völligen Vernichtung des Testaments gegeben haben sollte, müsse das in einem geistigen Zustand geschehen sein, in dem er sich der betreffenden Handlung nicht mehr klar und voll bewußt gewesen war, wodurch sie also auch in diesem Falle ohne gerichtliche Gültigkeit sei, im übrigen aber glaube er, der Komparent, nicht an diese Erklärung.
Auf die Frage des Hardesvogts, ob er denn jemanden im Verdacht habe, sich das Testament angeeignet zu haben, hatte der Schuldirektor kühn ja geantwortet. Er zweifle freilich nicht daran, sagte er, daß Frau Engelstoft es in Übereinstimmung mit ihrer Erklärung vernichtet habe, aber, wohl zu beachten, erst nach dem Tode des Gutsbesitzers, und ohne dessen Einwilligung dazu. Und er hatte hinzugefügt: wie unglaublich es auch klingen möge, daß eine Dame von Frau Engelstofts Stande eine so empörende Handlung begehen könne, so dürfe man doch nicht vergessen, daß offenbar in ihrer Familie eine Neigung zum Verbrechen vorhanden sei, indem Frau Engelstofts längst verstorbener Bruder, nach dem, was man bei dieser Gelegenheit in Erfahrung gebracht, sich an der Kasse seines Prinzipals vergriffen habe und nach Amerika geschickt sei, um der Strafe zu entgehen.
Dieser letzte Giftstich wurde in der wohl überlegten Erklärung des Schuldirektors wie der Punkt über dem i angebracht. So wenig fremd die angeführte Tatsache gerade dem Richter war, der seiner Zeit den armen Jungen gekannt und lebhaften Anteil an seinem Schicksal genommen hatte, machte die Erinnerung daran in diesem Augenblick doch einen gewissen Eindruck auf ihn.
Gleich darauf rief er jedoch, dunkelrot vor Zorn aus:
»Wenn diese losen Vermutungen, die Sie hier angeführt haben, alles sind, worauf Sie Ihren Verdacht bauen, so fehlen mir allerdings die Worte, um Ihr Benehmen zu stempeln. – Oder haben Sie noch etwas vorzubringen?«
»Nein!«
»Dann können Sie gehen.«
Hierauf war eine Reihe von Personen verhört worden, die sich an öffentlichen Orten über die Sache geäußert hatten, als wenn sie Bescheid darüber wüßten.
Der Schuldirektor und Rechtsanwalt Sandberg hatten im Verein mit dem bestochenen Schutzmann ihre Namen aufgestöbert und dafür gesorgt, daß sie vorgeladen wurden.
Die Erklärungen aller dieser Menschen verliefen als loses Geschwätz im Sande. Entweder leugneten sie überhaupt, etwas gesagt zu haben, oder sie redeten sich mit zeugenfähigen Äußerungen heraus. Einer von den Knechten aus Sofiehöj selber, der eines Abends im berauschten Zustand erzählt hatte, daß er in der Nacht, als der Gutsbesitzer gestorben war, Frau Engelstoft, einen Beutel mit Geld in der Hand, in den Park habe schleichen sehen, geriet so außer Fassung, daß er vor der Schranke laut zu heulen anfing; und der Schutzmann mußte ihn schließlich beim Kragen nehmen, um ihn wegzuführen.
Eine von den zuletzt Vernommenen war die Krankenpflegerin Schwester Bodil.
Sie wiederholte, was sie früher schon erzählt hatte, wie sie einige Zeit, nachdem der Gutsbesitzer und Frau Engelstoft an jenem Abend allein im Krankenzimmer gewesen waren, gehört hatte, wie die Türen zu dem eisernen Schrank geöffnet und wieder geschlossen wurden, im übrigen aber wisse sie nichts von dem, was zwischen ihnen vorgegangen sei.
Der Hardesvogt fragte:
»In welchem Zustand fanden Sie den Kranken vor, als Frau Engelstoft Sie später hineinrief?«
»Der Todeskampf hatte damals eben begonnen.«
»Wie lange nachher trat der Tod ein?«
»Ich glaube, es können wohl zehn Minuten vergangen sein.«
»Sagte er während der Zeit etwas?«
»Nein – jedenfalls nicht so, daß ich es verstand.«
»Haben Sie oder Frau Engelstoft das Sterbezimmer während der Zeit verlassen?«
»Nein.«
»Aber später, nachdem der Tod eingetreten war?«
»Ich ging einen Augenblick in das anstoßende Zimmer, um Mamsell Andersen, die Haushälterin, zu rufen, die im Eßzimmer saß.«
»Waren Sie so weit oder so lange entfernt, daß inzwischen Schränke oder Schubladen geöffnet werden konnten, ohne daß Sie es hörten?«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie kannten ja den Verstorbenen nach einer so langen Pflege recht genau. Hatten Sie den Eindruck einer besonders erregten Gemütsstimmung bei ihm, als Sie hineingerufen wurden?«
»Nein!«
»Vielleicht fiel Ihnen das Gegenteil auf, – eine ruhige und versöhnliche –«
»Ich hatte nur den Eindruck eines Sterbenden.«
»Sie bemerkten also kein Anzeichen eines unmittelbar vorausgegangenen heftigen Wortstreites, geschweige denn einer gewaltsamen Überredung?«
»Wie erklären Sie sich denn den plötzlich eingetretenen Todesfall? Denn Sie waren doch nicht darauf vorbereitet, daß derselbe so bald eintreten würde?«
»Ich glaube wohl, daß die durch Frau Engelstofts Ankunft und durch die lange Unterredung hinterher hervorgerufene Gemütsbewegung den Tod beschleunigt hat; im übrigen war Herr Engelstoft schon vorher so schwach, daß man jeden Augenblick auf eine Katastrophe gefaßt sein konnte.«
Nachdem der Hardesvogt noch einige Fragen an sie gerichtet und die ganze Verhandlung zu Protokoll gegeben hatte, wurde dasselbe ihr vorgelesen, und sie erhielt einen Wink, abzutreten.
Aber sie blieb stehen und bat, ob sie nicht noch etwas sagen dürfe.
»Was nun noch?« rief der Richter ungeduldig aus, in dem augenblicklichen angstvollen Gefühl einer drohenden Gefahr.
Sie sagte, sie wünsche Frau Engelstoft so wenig wie sonst einem Menschen anderes als Gutes; aber sie müsse um ihres eigenen Gewissens willen etwas sagen, was sie – und wahrscheinlich nur sie allein – mit Bestimmtheit wisse.
»Ja, der Ansicht waren die anderen ja auch. Aber so reden Sie doch, und machen Sie ein Ende mit der Sache.«
Sie wolle nur das eine sagen, sie habe gehört, daß das bestrittene Testament nach Frau Engelstofts Aussage in Gegenwart des Gutsbesitzers verbrannt sein solle; aber das könne nicht gut der Fall sein.
»Und warum nicht?«
»Weil zu jenem Zeitpunkt in dem Ofen im Schlafzimmer des Gutsbesitzers kein Feuer gewesen ist oder gewesen sein kann.«
»Was soll das heißen? Als ob man ein Stück Papier nicht auch in einem Ofen verbrennen kann, ohne daß vorher Feuer darin gewesen ist!«
»Herr Hardesvogt mißverstehen mich. Es kann zu dem Zeitpunkt überhaupt unmöglich im Ofen etwas verbrannt sein, weder Papier noch sonst etwas.«
»Wie können Sie das mir mit einer solchen Bestimmtheit sagen?«
»Ja, denn das Ofenloch war voll von Wattenstücken, die ich benutzt hatte, um die Arme des Gutsbesitzers des Abends vor dem Einschlafen mit Spiritus einzureiben. Am Tage, nachdem der Gutsbesitzer gestorben war, lagen die Wattestücke noch im Ofen; und es ist doch einleuchtend, namentlich da sie mit einem brennbaren Stoff getränkt waren, daß sie bei der geringsten Berührung mit Feuer augenblicklich in Flammen hätten aufgehen müssen.«
Der Hardesvogt hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt und die Arme gekreuzt. Während sein Hundegesicht sich zu einer schreckeinjagenden Grimasse zusammenzog, betrachtete er ängstlich Schwester Bodil hinter den gesenkten Brauen mit einem einfältig blinzelnden Blick.
»Das ist ja sonderbar. Wie sind Sie nur auf die eigentümliche Idee gekommen, gerade im Ofen nachzusehen?«
»Es ist meine Pflicht, ehe ich ein Haus verlasse, das Zimmer zu reinigen, in dem mein Patient sich aufgehalten hat, und alles wegzuschaffen, was mit dem Kranken in Berührung gekommen ist.«
»Nun, – Sie entfernten auch die Wattestücke?«
»Ja, ich habe sie verbrannt. Es fiel mir ja damals nicht ein, daß sie von irgendwelcher Bedeutung werden könnten.«
»Hm – hm!«
Es trat eine kurze Stille ein.
»Ich nehme an, daß Sie sich klar darüber sind, welche Bedeutung Ihre Mitteilung möglicherweise für die Sache haben kann, um deren Aufklärung es sich hier handelt. Ich hoffe, daß Sie deshalb Ihre Worte genau erwogen und nichts weiter gesagt haben, als was Sie nötigenfalls durch Ihren Eid bekräftigen können. Sind Sie dazu bereit?«
»Ja, ich bin dazu bereit!«
»Ja, dann habe ich Sie in diesem Augenblick nicht mehr zu fragen. Aber Sie haben wohl die Güte, hierzubleiben, weil ich möglicherweise später noch Ihrer bedürfen werde.«
Jetzt wurde Frau Engelstofts Name aufgerufen, und die Augen des Schreibers wie die des türöffnenden Gerichtsdieners standen förmlich aus dem Kopfe heraus, als sie, nachdem sie eine Weile auf sich hatte warten lassen, im Saal erschien.
Der Hardesvogt, dessen Gesicht einen grübelnden Ausdruck angenommen hatte, begrüßte sie mit soviel von der ihm angeborenen Galanterie, wie es die Heiligkeit des Ortes und die Würde des Richterstuhles gestattete.
Er machte eine Bewegung mit der Hand nach dem Stuhl vor der Schranke, auf dem den Honoratioren unter den Vorgeladenen Platz angewiesen wurde; aber sowohl die Ungeschicklichkeit dieser Handbewegung als die ganze unsichere Art und Weise, in der er das Verhör leitete, verrieten, welche Verlegenheit er über die Gewalt empfand, die ihm in diesem Augenblick kraft seiner Stellung über sie gegeben war.
Frau Engelstofts Wesen war außerdem mürrisch und abweisend. Sie hatte den Schleier vom Gesicht zurückgeschlagen und erstattete ihren einleitenden Bericht mit einer Sicherheit, aus der ein fein geübtes Ohr leicht etwas Einstudiertes herausgehört haben würde. Die Fragen des Richters, die immer nichtssagender wurden, beantwortete sie dahingegen nur kurz oder gar nicht. Sie kannte ihre Macht über diesen Mann und war entschlossen, sie zu benutzen.
So vergingen wohl zehn Minuten mit zwecklosem Hin- und Herreden, bis der Richter endlich Mut faßte und die entscheidende Frage stellte.
»Sie halten also daran fest,« sagte er und begegnete zum erstenmal ihrem Blick, »Sie halten also daran fest, daß das Testament auf des Verstorbenen eigenen Wunsch vernichtet ist?«
»Ja.«
»Und in Gegenwart des Verstorbenen?«
»Ja!«
»Und auf welche Weise wurde es vernichtet?«
»Es wurde ganz einfach verbrannt.«
»Im Ofen?«
»Ja.«
»In dem Ofen, der im Zimmer des Verstorbenen stand?«
In der Art und Weise, wie diese Frage gestellt wurde, wie auch in dem gespannten Gesichtsausdruck des Richters lag etwas, das ihr plötzlich ein ängstliches und schwindelndes Gefühl einflößte, als befinde sie sich am Rande eines Abgrundes. Ohne sich zu besinnen, antwortete sie:
»Nein.«
»Aber wo dann?«
»In dem Ofen im Saal nebenan, – damit kein Rauch oder Qualm den Atem des Kranken beschweren sollte.«
Es war, als falle eine zentnerschwere Last von den Schultern des Richters.
Die Angst hatte ihm förmlich den Schweiß auf die Stirn getrieben. Ganz befriedigend war ihre Antwort bei genauerem Erwägen nun freilich nicht. Es war dadurch ein Widerspruch in ihre Aussage gekommen, der allerdings an und für sich ohne Bedeutung war, die ganze Erklärung aber doch ein klein wenig erschütterte.
»Sie sagten vorhin, die Vernichtung des Testaments sei in Gegenwart des Verstorbenen vor sich gegangen?«
»Ja«
»Das war also nicht ganz korrekt. Was drinnen im Saal vor sich ging, konnte der Verstorbene nämlich nicht von seinem Bette aus verfolgen.« –
»So buchstäblich sollten die Worte natürlich nicht aufgefaßt werden. Im übrigen ist das ja auch ganz ohne Belang.«
»Das ist wohl war, – ich räume das ein«, sagte er abermals ganz verlegen und verwirrt, bei Spitzfindigkeiten ertappt zu sein, die als Ausdruck eines Verdachtes gegen sie aufgefaßt werden konnten.
»Das Entscheidende ist natürlich, daß es mit Einverständnis des Verstorbenen geschah, mit seiner vollen, freiwilligen Billigung. Und in bezug hierauf halten Sie also an Ihrer früheren Erklärung fest, die Ihnen jetzt vorgelesen werden soll.«
Nachdem hierauf das Protokoll verlesen und von ihr richtig befunden war, fuhr er mit einer entschuldigenden Verbeugung fort:
»Es ist jetzt meine mir vorgeschriebene Pflicht, Sie zu fragen, ob Sie Ihr Gewissen wohl genau erforscht und die Folgen wohl bedacht haben, falls Sie später zu einer anderen Erkenntnis kommen sollten? Und ob Sie schließlich ohne Furcht die abgegebene Erklärung mit Ihrem Eidschwur bekräftigen können?«
»Ja!«
Sie sagte das in der Hoffnung, daß der Eid nicht selber von ihr verlangt werden würde. Während sie ihren falschen Bericht über die Ereignisse der Todesnacht, die sie übrigens jetzt so oft wiederholt und in ihren Gedanken durchlebt hatte, daß sie nahe daran war, an die Richtigkeit zu glauben, erstattete, hatte sie die Angst vor dem Eidschwur noch nicht überwinden können.
Der Hardesvogt aber war sich die ganze Zeit darüber klar gewesen, daß nur eine beeidigte Aussage ihrerseits die Kraft haben würde, das Mißtrauen niederzuschlagen; und da er trotz allem nicht den geringsten Zweifel über ihre Unschuld hegte, griff er vertrauensvoll nach dem Eidesformular, um zu der feierlichen Handlung zu schreiten.
Er erhob sich und gab der »Komparentin«, die einen scheuen Blick auf das schwarz eingebundene Formularbuch geworfen hatte, zu erkennen, daß auch sie sich erheben solle. Der Gerichtsdiener, der sich auf das Ende einer Bank an der Tür niedergelassen hatte, erhob sich ebenfalls wieder, um die Gelegenheit zu ergreifen, mit seinem militärischen Anstand zu glänzen, während der Schreiber sich damit begnügte, die Feder niederzulegen.
»Der Schwörende versichert, daß er die Wahrheit, die reine, unverfälschte Wahrheit ausgesagt hat, so daß er nichts erklärt hat, was er nicht wußte, und nichts verheimlicht hat, was er zur Aufklärung dessen, worüber ihm eine Erklärung abgefordert wurde, wußte, sich auch keines Vorbehalts bedient, sondern die Worte aufrichtig und in der Meinung gebraucht, in der er wußte, daß sie verstanden wurden. Er steht vor dem Gericht der Menschen, das den Meineidigen hart strafen wird, wenn Gott die Wahrheit ans Licht kommen läßt, und aller Herzen werden sich demjenigen verschließen, der mit dem schrecklichen Namen eines Meineidigen gebrandmarkt ist. Er steht vor dem Angesicht des allwissenden Gottes, der in das Verborgene sieht und offenbarlich bezahlt; wie er den Fluch ausgehen ließ, daß er in das Haus des Diebes kommen soll und in das Haus dessen, der fälschlich bei seinem Namen schwört.«
Während der Richter diese Sätze schnell und ausdruckslos vor sich hinmurmelte wie etwas Auswendiggelerntes, hatte Frau Engelstoft die eine Hand auf die Lehne der Schranke gelegt, um sich darauf zu stützen. Sie fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen schwankte.
Und jetzt erhob der Richter seine Stimme, die das Gepräge eines gewohnheitsmäßigen priesterlichen Pathos annahm, indem er das schicksalschwangere Schlußwort des Formulars verlas:
»Er hebe der alten Sitte gemäß die drei Finger der rechten Hand, und dies sichtbare Zeichen soll ihn daran erinnern, daß er den dreieinigen Gott zum Zeugen anruft, und daß, falls er falsch schwört, er der Gnade, des Schutzes und des Segens Gottes entsagt hat; er hat den Erlöser der Welt verleugnet und kann keine Zuflucht bei ihm suchen in den Nöten des Lebens oder am Tag des Gerichts; er hat den Weg zu Gottes Geist verschlossen und auf allen Trost des Wortes Gottes in der Not des Lebens wie des Todes verzichtet. – – Während er hier auf Erden wandelt, wird sein Herz zittern, und sein Glaube wird keine Ruhe finden; darauf wird er hingehen, wo jedem nach seinem Verdienst bezahlt werden wird, denn was ein Mensch säet, das wird er auch ernten.
Mit dieser Ermahnung und Warnung haben wir das Unsere getan; das übrige überlassen wir dem allsehenden und allwissenden Gott. Ein jeder, der bei der Wahrheit bleibet, lege unverzagt seinen Eid ab; ein jeder hüte sich aber dann bei dem Namen des Höchsten falsch zu schwören.«
Der Richter hielt inne und warf das Formular neben sich auf den Tisch.
Darauf wandte er sich an Frau Engelstoft und fuhr mit einer zweiten ehrerbietigen Verbeugung fort, wodurch er die vorschriftsmäßige Geradheit der Worte wieder gutzumachen suchte:
»Sie erheben die drei Finger der rechten Hand mit diesen Worten: Daß die von mir abgegebene Erklärung mit der Wahrheit übereinstimmend ist, bekräftige ich hiermit bei meiner Seligkeit mit dem Eide, so wahr mir Gott und sein heiliges Wort helfe.«
Obwohl nicht das geringste in Frau Engelstofts Zügen etwas anderes verriet als natürliche Gemütsbewegung bei der Verrichtung einer feierlichen Handlung, war sie in Wirklichkeit nicht mehr bei Bewußtsein. Die ganze Spannkraft ihres Geistes mußte sie aufbieten, um die äußere Ruhe zu bewahren und ein Zittern zurückzudrängen, das sie jeden Augenblick zu übermannen und zu verraten drohte.
Der Richter, der der Ansicht war, daß sie ihn nicht verstanden habe, da sie zögerte, berührte jetzt ihren rechten Arm, um ihr zu erkennen zu geben, daß sie ihn erheben solle. Und diese Berührung einer Menschenhand erfüllte sie mit einem solchen Grauen, einem solchen Trotz, einer solchen Rachgier, daß sie im selben Augenblick die Finger in die Höhe hob.
Mit lauter, ruhiger Stimme sprach sie die feierliche Versicherung nach:
»Daß die von mir abgegebene Erklärung übereinstimmend mit der Wahrheit ist, bekräftige ich hiermit bei meiner Seele Seligkeit durch einen Eid, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort.« – –
Wenige Minuten später saß sie in ihrem Wagen, der unten auf der Straße gehalten hatte, und fuhr in der hereinbrechenden Dämmerung nach Sofiehöj zurück.
Mit einem wollüstigen Gefühl der Befreiung hatte sie den Eid gesprochen. Noch während des ersten Teiles der Heimfahrt siedete das Blut in ihren Adern wie bei einem Rausch. Aber allmählich, als sich die Erregung des Gemütes legte und die Gedanken sich klärten, schwand auch die flammende Röte ihrer Wangen. Die heftigen Frostschauer, mit denen sie während des ganzen letzten Teiles des Verhörs gerungen hatte, kehrten wieder und ließen sich nicht bezwingen. Obwohl sie sich zuletzt in alle Teppiche und Schals hüllte, die die Haushälterin ihr mitgegeben hatte, und obwohl die Luft milde, beinahe sommerlich war, kroch sie frierend in der Wagenecke hinter den geschlossenen Fenstern zusammen.
Sie dachte, ob sie wohl nicht ernstlich erkrankt sei. Vielleicht hatte sie sich erkältet, während sie in den langen Gängen des Gerichtsgebäudes gewartet hatte. Dieser Gedanke beruhigte sie einen Augenblick; – – bald aber erbebte ihr Körper wieder unter krampfhaften Kälteschauern, die ihr die Zähne im Munde klappern machten.