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Vier Tage später begegneten sich der Kaplan und Esther nach vorhergegangener Verabredung in einer langen Eichenallee am äußersten Ende des Parkes, wo sie Aussicht hatten, ungestört zu sein.
Der Kaplan war schon am vorhergehenden Tage in Sofiehöj gewesen, um sich die Antwort des jungen Mädchens auf seinen Antrag zu holen; aber er hatte ihr Wesen ihm gegenüber wieder so eigenartig scheu gefunden, daß er es für das richtigste gehalten hatte, ihr nochmals vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit zu geben. Es hatte auch geregnet, so daß er nicht – so wie sonst – einen Spaziergang in den Garten vorschlagen konnte, und die Mutter hatte das Zimmer, in dem sie sich aufhielten, sozusagen nicht verlassen. Es war fast, als ahne sie etwas und wolle sie verhindern, allein zu bleiben. Er hatte, ehe er ging, gerade noch Gelegenheit gefunden, Zeit und Ort zu einer neuen Begegnung ohne Zeugen zu nennen.
Um nicht gesehen zu werden, hatte er den Weg durch den Wald eingeschlagen, von wo aus ein Überstieg in den Park führte. Er ging langsam, weil die Zeit der Begegnung noch nicht da war, auch war er darauf gefaßt, eine gute Weile warten zu müssen. Sobald er aber in die Eichenallee einbog, sah er Esther dort schon auf einer Bank unter der gelblichroten Laubwölbung sitzen.
Als er ungefähr zehn Schritte von ihr entfernt war, erhob sie sich und kam ihm gesenkten Hauptes entgegen.
Wie ein übermüdes Kind, das Ruhe sucht, lehnte sie den Kopf an seine Schulter und flüsterte »Ja«, noch ehe er mit ihr gesprochen hatte.
Er ergriff ihre Hand und preßte sie an seine Brust.
»So willst du mir denn ohne Furcht und Reue in die Welt hinaus folgen?«
»Ja!« wiederholte sie.
»Weit fort von Vaterland und Mutterhaus und Kindheitserinnerungen?«
»So weit du willst, – so weit du kannst!«
Er fragte, ob sie noch wisse, was er ihr gesagt habe, daß das Land, wohin sie ziehen wollten, für alle Weißen das Land des Todes genannt werde, daß die großen Sümpfe Fieber aushauchten, daß in den Wäldern Tiger und Hyänen hausten und im Grase giftige Schlangen, daß ihr Heim eine Strohhütte oder ein Zelt und ihre Nahrung Früchte oder gedörrte Wurzeln sein werde. – –
Sie aber erwiderte, sie fürchte weder wilde Tiere noch Hunger noch Not; nur vor den Menschen hege sie Furcht.
»So segne denn Gott unsern Bund! Er verbinde unsere Seelen in gemeinsamem Glauben, Liebe und Hoffnung, bis uns der Tod scheide, um uns in der Schar der Heiligen droben in der himmlischen Herrlichkeit wieder zu vereinen! Amen! Amen!«
Er hatte den strahlenden Blick zum Himmel erhoben. Jetzt beugte er sich über sie und küßte sie auf den Mund.
Eine Weile gingen sie dann Arm in Arm in der Allee auf und nieder, aber der junge Geistliche merkte gar bald, daß Esther selbst in diesen Augenblicken zerstreut und scheu war und ihm kaum zuhörte. Deswegen zweifelte er jedoch nicht an der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle. Er kannte ihre Angst vor dem Zorn der Mutter und glaubte hierin die ganze Ursache ihrer Mutlosigkeit zu erblicken. Kaum hatte er denn auch die Mutter genannt, als sie sich wieder an seine Schulter schmiegte und sagte:
»Was sollen wir doch nur machen? Was wird sie sagen?«
Sie einigten sich dahin, daß sie ihr vorläufig nichts sagen, sondern ihr erst Ruhe lassen wollten, um sich von den Gemütsbewegungen der voraufgehenden Tage zu erholen, die sie augenscheinlich sehr angegriffen hatten. Der Kaplan wollte sie dann allmählich auf die unvermeidliche Trennung vorbereiten und sie zu der Einsicht bringen, daß sie kein Recht habe, sich ihrem gemeinsamen Willen zu widersetzen.
Aber obwohl der entsetzliche Kampf damit ins ungewisse hinausgeschoben war, hielt Esthers fieberhafte Unruhe an. Und da gingen dem Bräutigam endlich die Augen auf. Er zog sie an sich und sagte, indem er zärtlich bemüht war, ihrem eingeschüchterten Blick zu begegnen:
»Du verbirgst mir etwas, Esther.«
Sie fing an zu zittern und wandte schweigend ihr bleiches Antlitz ab. Selbst ihm konnte sie das schreckliche Geheimnis nicht anvertrauen, das nahe daran war, sie zu ersticken.
»Aber du machst mich ganz besorgt, Esther! – Was ist denn nur geschehen?«
»Ich kann es nicht sagen – heute nicht – Verlange es nicht!«
Es lag eine solche Angst in dem flehenden Ausruf, daß der Kaplan begriff, jetzt würde es ihm nichts nützen, in sie zu dringen.
»Dann wollen wir uns hier trennen, Esther. Dein Gemüt bedarf der Ruhe. Morgen aber komme ich wieder. Und dann darfst du kein Geheimnis mehr vor mir haben.«
* * *
Am nächsten Tage um dieselbe Zeit hielt sich Frau Engelstoft wie gewöhnlich in ihrem Arbeitszimmer auf. Sie saß, die beiden Hände vor dem Gesicht, an dem großen Schreibtisch, der immer mit Papieren und Anschreibebüchern bedeckt war, und hatte sich lange nicht gerührt.
Die letzten vier Tage hatte sie in ununterbrochener, rastloser Arbeit verbracht. Dies Betäubungsmittel hatte ihr schon früher über schwere Krisen hinweggeholfen, und sie zweifelte nicht daran, daß es auch diesmal schließlich ihrem Gemüt sein Gleichgewicht und seine Kraft wiedergeben würde. Von des Morgens um sechs Uhr bis spät in die Nacht hinein hatte sie dort am Tische gesessen und Befehle erteilt, Rechnungen durchgesehen und Pläne für einen ganzen Umbau des Pachthofes und Veränderungen seines Betriebes gemacht. Und wie sie keine Schonung gegen sich selber kannte, frönte sie auch allen Vorsichtsrücksichten ihren Untergebenen gegenüber. Dreimal täglich mußten der Verwalter und der Vogt bei ihr erscheinen, um ihre Befehle in Empfang zu nehmen; und weder die Küchenmägde noch die Leute in den Ställen und Scheunen konnten mehr sicher sein, bei ihrer Arbeit nicht von ihr überrascht zu werden.
Ihr äußeres Wesen war jedoch gleich ruhig und beherrscht, vielleicht sogar eher ein wenig abgedämpft; aber sie scheute nicht mehr vor einer Herausforderung ihrer Feinde zurück. Namentlich war der Gutsschreiber an den Rand der Verzweiflung gebracht. Obwohl er wußte, daß seine verschiedenen Radierungen in den Anschreibebüchern mit Meisterhand ausgeführt waren, empfand er jedesmal, wenn er zu ihr beschieden wurde, und das geschah oft nur mit einer Stunde Zwischenraum, heftiges Kneifen in seinem großen Magen. In der Regel wollte sie jedoch gar nicht über die Rechnungen mit ihm sprechen, sondern vielmehr über ihre Umbaupläne. Sie gab nicht nur selbst die Ideen hierzu an, sondern arbeitete auch die Kostenanschläge und die Zeichnungen aus. Und – was ihr so gar nicht ähnlich sah – sie hatte fast jeden Tag einen neuen Plan, der den alten über den Haufen warf. Sie mußte immer in Atem sein. Sie konnte ihr Gehirn nicht in Untätigkeit lassen. Um die Spannkraft ihrer Seele zu bewahren, häufte sie eine Arbeit auf die andere, ließ eine Anstrengung der anderen folgen – – bis sie plötzlich, wie von einem Blitz getroffen, betäubt und verwirrt, zusammensank.
So hatte sie jetzt eine halbe Stunde unbeweglich dagesessen und ihr Antlitz in den Händen geborgen, um den eigenen Anblick zu meiden, und namentlich die rechte Hand nicht zu sehen, die ihr in einzelnen Augenblicken eine wilde Angst einflößen konnte.
Sie wußte sehr wohl, wie töricht das von ihr war. Sie wußte, daß es der Schatten des lauernden Wahnsinns war, der in solchen Augenblicken ihren Verstand umnebelte. Aber sie konnte sich nicht von der Einbildung befreien, daß die drei Finger, die sie an jenem Tage bei der Eidesablegung gen Himmel erhoben hatte, täglich kleiner wurden – hinwelkten.
Daß sie doch nicht darüber lachen konnte! Sie fühlte, daß, wenn sie nur ein einziges Mal in ein herzliches Lachen über sich selbst ausbrechen könnte, das Ungeheuer des Wahnsinns für immer verscheucht sein würde. Das war es überhaupt, wonach sie ein so schmerzliches Verlangen empfand, nur einmal wieder so recht aus vollem Herzen lachen zu können. Oder wenn sie auch nur einen Tag den Gedanken an die dummen Finger verbannen könnte! Aber es erging ihr damit: geradeso wie mit dem Testament, das zu vernichten sie sich nicht hatte überwinden können, und zu dem sie sich Tag und Nacht gleichsam in einem wollüstigen Banne hingezogen fühlte, obwohl sie wußte, oder vielleicht gerade weil sie wußte, daß die Entdeckung dieses Schriftstückes ihr das Leben kosten würde.
Endlich erhob sie den Kopf und sah sich um. Drinnen im Saal hatte die alte Rokokouhr soeben ihre kleine Walzermelodie gespielt. Und nun scholl die Grabesstimme der Turmuhr durch das Haus und machte sie frieren. Sie konnte diese Töne niemals hören, ohne an Niels' Tod erinnert zu werden, den sie an jenem Abend gleichsam angekündigt hatten. Stunde für Stunde, bei Tag und bei Nacht riefen sie ihr immer wieder von neuem alles ins Gedächtnis zurück, was sich damals an dem Sterbebett zugetragen hatte. Wenn sie nicht gefürchtet hätte, Verdacht dadurch zu erregen, würde sie schon längst Befehl gegeben haben, die Uhr anzuhalten, eine solche Angst überkam sie, sobald sie diese Töne hörte, als sei es Niels' Stimme, die sie aus dem Jenseits rief.
Namentlich des Nachts, wenn sie in der tiefen Stille allein dasaß, verfolgte diese Vorstellung sie, so daß sie nirgends Ruhe oder Frieden finden konnte. Sogar bis in ihre Träume hinein fand die Grabesstimme ihren Weg und weckte sie, sobald sich der Schlummer auf ihre Augen herabsenkte. Sie hatte seit Niels' Tode noch nicht eine Stunde ruhigen Schlaf gehabt.
Jetzt hörte sie draußen Schritte. Die Kammerjungfer öffnete die Tür und sagte nur:
»Der Kaplan!«
Der junge Mann hatte stets freien Zutritt bei Frau Engelstoft, die sich aus Klugheitsrücksichten – um sein Benehmen Esther gegenüber bewachen zu können – freundschaftlich zu ihm stellte, während sie gleichzeitig daran arbeitete, ihn für immer vom Hause zu entfernen. Sie hatte begriffen, daß es jetzt die höchste Zeit war, ihn fortzuschaffen, falls sie nicht ihre Tochter verlieren und erleben wollte, daß alles, was sie in einem zwanzigjährigen Kampf der Selbstentsagung für sie gesammelt, ja was ihr jetzt den Frieden ihrer Seele und halbwegs ihren Verstand gekostet hatte, den Launen eines Fremden preisgegeben wurde.
Sie empfing ihn mit dem Ausruf:
»Wie? Sind Sie noch hier?«
Sie hatte ihn in der letzten Zeit regelmäßig mit derselben erheuchelten Überraschung empfangen und hinterher ein paar scherzende Worte hinzugefügt, daß sie ihn längst über alle Berge geglaubt habe.
Aber der Gesichtsausdruck des Kaplans war heut so ernsthaft, daß sie statt dessen sogleich fragte, ob ihm etwas Unangenehmes begegnet sei.
»Ja«, erwiderte er mit einem kleinen Seufzer. »Ich komme voraussichtlich fürs erste nicht hier fort.«
»Wieso?«
»Ich habe heute morgen einen Brief von dem Direktor der Missionsgesellschaft gehabt. Er antwortet mir, daß noch nicht hinreichend Geld für meine Reise eingekommen sei. Die Einnahmen eines Basars, den man veranstaltet, haben den Erwartungen nicht entsprochen. Es fehlten noch mehrere tausend Kronen, folglich hat es lange Aussichten damit.«
»Und Sie können das Geld nicht anderswo erhalten?«
»Wie meinen Sie?«
»Nun, ich meine, wenn Sie wirklich so große Lust dazu haben – – ich meine, wenn Sie einen so starken Wunsch in sich fühlen, gerade diesen Beruf zu ergreifen, so wird Ihr Vater Ihnen diese Summe wohl schon vorschießen. Für ihn kann das nichts bedeuten; er ist ja ein reicher Mann.«
»Mein Vater würde mit Freuden das Zehnfache geben, um mich zurückhalten zu können. Sie wissen, wie es ihm – leider – immer zuwider gewesen ist, daß ich den geistlichen Stand erwählte; und namentlich ist er ein Gegner dieser Missionsreise gewesen. Er betrachtet sie als meinen sichern Tod, das Klima da drüben soll ja für Europäer sehr ungesund sein.«
»Ich habe davon gehört. Aber dergleichen wird immer sehr übertrieben.«
»Das glaube ich auch.«
Es entstand ein kurzes Schweigen, dann fragte der Kaplan:
»Ist Fräulein Esther heut nicht zu Hause?«
Frau Engelstoft stellte sich, als habe sie die Frage überhört, und sagte:
»Ist die Summe, die dem Missionsverein fehlt, wirklich so groß?«
»Viertausend Kronen, glaube ich.«
»Ja, das ist viel Geld!«
Sie saß noch immer am Schreibtisch, die Hand unter der Wange, das Gesicht abgewendet. Ihre Augen schweiften hinaus über die Bäume des Gartens mit einem sinnenden Blick, der, indem sie die letzten Worte noch einmal wiederholte, einen eigenartig finstern Ausdruck annahm.
Als Esther sich noch immer nicht sehen ließ, kam dem Kaplan der Gedanke, daß sie ihn vielleicht unten in der Eichenallee erwartete, um mit ihm allein sein zu können. Er ahnte nämlich nichts von dem Schicksal, das sie betroffen hatte, seit er sie verließ. Er wußte nicht, daß Frau Engelstoft Unrat geahnt hatte, als sie die Tochter am vorhergehenden Tage von ihrem Spaziergang im Park hatte zurückkommen sehen, und daß sie nach einem scharfen Verhör schnell die ganze Wahrheit aus dem verschüchterten Kinde herausgebracht hatte.
Esther saß nun in ihrem Zimmer eingesperrt, und es war der feste Entschluß der Mutter, sie unter Schloß und Riegel zu halten, bis der Kaplan hinreichend weit entfernt war.
Der junge Bräutigam wollte sich gerade erheben, um sie aufzusuchen, als ihm der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß es wohl das richtigste sein würde, Frau Engelstoft so allmählich auf ihre Verbindung vorzubereiten. Er fing deswegen an, von den Gerüchten zu reden, die auch ihm zu Ohren gekommen seien, nämlich von den großen Umbauten, die auf Sofihöj bevorständen. Er hatte gehört, sagte er, daß unter anderem der ganze Molkereibetrieb verändert werden solle, um ein Prozent Butterertrag mehr zu gewinnen, und er äußerte in unverblümten Worten sein Erstaunen über die ungeschwächte Energie, mit der sie fortfuhr, ihre materiellen Interessen zu wahren, »die doch schon im voraus hinreichend gesichert erschienen«.
»Ich weiß es sehr wohl,« erwiderte sie, »daß es für eine Frau als verächtlich angesehen wird, wenn sie sich um ihre Angelegenheiten kümmert. Die Moral gebietet, daß man sich dem ›Schicksal‹ preisgibt. Sammelt deswegen nicht in die Scheuern! – Eure Schätze sollen im Himmel sein.«
»Ihr Spott trifft mich nicht, Frau Engelstoft. Freilich ist das Los der Menschen hienieden dem Wechsel unterworfen, aber ich begreife doch nicht, wie man, wenn man sich die kurze Dauer des Lebens so recht klarmacht, das Bedürfnis oder die Lust empfinden kann, so tief in dem Irdischen zu wurzeln.
Es ist, als wolle der Schmetterling ein Nest bauen und für eine Weitervermehrung sorgen, obwohl er doch nur einen Tag lebt!«
»Sie lassen eines außer acht, daß unser Leben in unseren Kindern fortgesetzt wird.«
»Nein, das lasse ich keineswegs außer acht. Aber ist das viel mehr als eine Phrase? Den Fall gesetzt, daß die Kinder, wenn sie heranwachsen und geistige Reife erhalten, gar keinen Wert auf unsere mit so großen Opfern gefüllten Scheuern setzen. Ich denke dabei sowohl an die geistigen wie materiellen Güter, die wir ihnen zu hinterlassen bestrebt sind, und das kommt doch vor. Ich kann selber ein wenig davon mitsprechen. Und kann man sich wohl etwas Nichtigeres, Verfehlteres denken, als ein solches Leben, das der Erlangung eines Gutes geopfert wurde, das von demjenigen, für den es in erster Linie bestimmt ist, verachtet und vielleicht gar als ein Übel angesehen wird? – – Aber einem solchen, wirklich tragischen Schicksal setzt sich ein jeder aus, der sein Lebensziel außerhalb des Ewigen, Unwandelbaren sucht.«
»Sind das die Lehren, die Sie hier zu verbreiten bestrebt gewesen sind?«
»Ja.«
»Dann ist es ein Glück, daß junge Leute fünfundzwanzig Jahre alt sein müssen, ehe sie Erlaubnis erhalten, über sich selbst zu bestimmen. Ist erst das Alter erreicht, so hat das Leben sie im allgemeinen gelehrt, was zu ihrem Besten dient.«
Der Kaplan fing an zu verstehen, daß sie etwas ahnte. Sie hatte mit starkem Nachdruck gesprochen und sandte ihm bei den letzten Worten einen Blick zu, der wie ein hingeworfener Handschuh wirkte.
»Von Ihrem Standpunkt aus haben Sie wohl leider recht«, sagte er. »Sie scheinen also ausnahmsweise einen Schutz in den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zu finden.«
»Ausnahmsweise – ja!«
»Im übrigen gilt ja die Altersgrenze, die Sie nannten, ausschließlich für Männer und für unverheiratete Frauen. Ich bin kein Jurist, aber so viel weiß ich denn doch, daß eine minorenne Frau, wenn sie sich verheiratet, durch ihren Gatten völlige freie Verfügung über sich selber, wie über das, was sie persönlich besitzt, erhält.«
Frau Engelstoft erwiderte nichts. Sie fühlte sehr wohl die Drohung, die in seinen letzten Worten verborgen lag. Und derselbe finstere Ausdruck trat wieder in ihre Augen, als sie ihn von der Seite ansah.
Er fühlte, daß er es diesmal nicht wagen dürfe, weiter zu gehen, deswegen erhob er sich und ging.
Frau Engelstoft, die beim Abschied nur mit einer Neigung des Kopfes gegrüßt hatte, ohne ihm, wie sonst, die Hand zu geben, blieb in derselben Stellung wie bisher am Schreibtisch sitzen, die eine Hand unter der Wange, während ihr Blick über die Bäume des Parkes hinausschweifte.
Sie schrak zusammen, als nach einer Weile an die Tür gepocht wurde. –
Es war wieder die Kammerjungfer.
Sie kam schüchtern herein und fragte, ob die gnädige Frau nicht einen Augenblick zu Fräulein Esther kommen wolle. »Fräulein Esther ist so unruhig«, erklärte sie.
»Ich werde kommen.« –
Esther saß mit unordentlichem Haar und Anzug auf dem Rande ihres Bettes und schluchzte laut, als die Mutter hereinkam. So sanft und schüchtern sie im allgemeinen war, konnte doch hin und wieder einmal »ein böser Geist in sie fahren«, wie die alte Haushälterin sagte, der sie als Frau Engelstofts Tochter kennzeichnete. Während ihrer fast vierundzwanzigstündigen Einsperrung hatte sie sich anfänglich mit gewöhnlicher Nachgiebigkeit dem mütterlichen Willen unterworfen; allmählich aber erwachte der Trotz in ihr, sie wollte nicht essen, nicht schlafen, nicht antworten.
Und als sie nun vor einer halben Stunde die Stimme ihres Verlobten gehört hatte, als dieser die Treppe hinaufkam, ließ sie sich zu einem hysterischen Ausbruch der Verzweiflung hinreißen, ging händeringend im Zimmer auf und nieder und rief Gott und Jesum Christum an.
Die Mutter setzte sich zu ihr auf den Rand des Bettes, ergriff ihre eine Hand und sprach in ruhigem Ton mit ihr.
Sie sagte, sie dürfe sie nicht mißverstehen, sondern daran glauben, daß das, was sie von ihr fordere – selbst wenn sie es jetzt auch nicht verstehen könne –, dennoch zu ihrem eigenen Besten sei.
Sie sagte, sie sei noch zu unerfahren, um beurteilen zu können, wieviel für sie beide auf dem Spiele stünde, und daß der Mann, auf den sie ihre Gedanken gerichtet habe, ein Phantast, ein Abenteurer sei, der sie und sich selber ins Unglück stürzen würde.
Sie erinnerte sie an ihr eigenes Schicksal und erzählte von ihrer Mutter, die an den Bettelstab gebracht sei, weil sie keine Kraft gehabt habe, sich dem Willen ihres Mannes zu widersetzen.
Esther aber hatte seit jener Nacht, als sie der Mutter Treiben im Saal beobachtet, einen unüberwindlichen Abscheu vor ihr bekommen. Vor Furcht, sie zu sehen, hatte sie sich jetzt, als sie sie kommen hörte, hier auf den Rand des Bettes gesetzt, das Gesicht in den Händen geborgen; und bei der bloßen Berührung ihrer Hand fing sie an zu zittern.
Schließlich gelang es ihr denn auch, ihre Hand frei zu machen und an das andere Ende des Zimmers zu fliehen.
Und hier faßte sie Mut, erhob den Kopf und sagte, daß Armut sie nicht schrecke, daß sie allen Reichtum der Welt hingeben würde für die Freiheit, dem folgen zu dürfen, den sie liebe, und daß sie nie bereuen würde, was sie getan, wenn sie auch in Zukunft auf bloßen Füßen von Tür zu Tür gehen und um das trockene Brot betteln solle.
Frau Engelstoft schwieg bei diesen Worten. Nach einer Weile erhob sie sich und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Hier blieb sie eine Weile am Fenster stehen und sah hinaus, während sie mit den Fingern auf das Fensterbrett trommelte. – Jetzt mußte gehandelt werden. – Dieser Pfarrer, dieser Störenfried mußte aus dem Wege geschafft werden, gleichviel mit welchen Mitteln. Später konnte sie dann ja ihre Einwilligung zu der Verlobung geben. War er nur erst aus dem Gesichtskreise, so würde Esther schon zur Besinnung kommen. – Und dann – aus dem Lande, wohin er ging, kehrte niemand zurück.
Entschlossen setzte sie sich an den Schreibtisch, nahm ein bedrucktes Blatt aus einem der Schubfächer, um eine Anweisung auf viertausend Kronen an ihren Kopenhagener Bankier darauf auszufertigen, der die Summe anonym an die Direktion der Missionsgesellschaft senden sollte.
Sie war keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß sie ihn mit dieser Anweisung direkt in den Tod sandte. Sie hatte die Sache genau untersucht und wußte, daß nicht ein einziger von den Missionaren, die bisher diese Gegenden bereist hatten, lebend heimgekehrt war.
Sie machte sich aber keine Gewissensbisse daraus. Sollte eine Mutter die Mittel abwägen, wo es sich darum handelte, einen Menschen aus dem Wege zu schaffen, der das Leben ihres einzigen Kindes zerstören wollte? Von allen Verbrechen der Gesetzgebung erschien ihr keine teuflischer als das, welches jedem jungen Manne, der die Sinne eines jungen Mädchens verlockt hatte und gewillt war, ein Papier, den sogenannten Trauschein, zu bezahlen, gestattete, sie sofort aus ihrem Heim und ihrer Familie zu entführen, die Mutter beiseitezustoßen und hohnzulachen über die einzige Liebe, die stark ist wie der Tod. Und eine Mutter sollte sich nicht zur Wehr setzen, sondern sich ruhig darein finden, zum Opfer eines solchen Justizmordes gemacht zu werden?
Sie griff mit denselben drei Fingern, mit denen sie an jenem Tage geschworen hatte, nach der Feder und tauchte sie tief in das Tintenfaß. Dann füllte sie langsam die Anweisung mit großen, deutlichen Buchstaben und Zahlen aus. Als sie schließlich ihren Namen daruntersetzte, geschah dies mit dem schwindelnden Gefühl, als unterschreibe sie das Todesurteil ihres gefährlichsten Feindes.