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Ein Paket aus der Heimatstadt kam für Gerland an, seine älteste Schwester schickte ihm warmes Unterzeug; er hatte ihr seine Erkrankung mitgeteilt. Ihre schwesterliche Teilnahme that ihm wohl, aber der beiliegende Brief verdroß ihn. Aus jeder Zeile las er, daß ihn die Schwester nicht verstehe.
Sie schrieb ihm, daß der Geistliche an der Trinitatiskirche schwach auf der Brust werde, und daß er's voraussichtlich nicht mehr lange treiben würde. Fräulein von Enterlein hätte neulich gesagt: daß wäre doch eine Stelle für den Herrn Bruder, und auch andere Leute, deren Stimmen etwas gälten, schienen so zu denken. Dann ließ die gute Schwester so ganz gelegentlich eine Bemerkung über die glänzende Karriere einfließen, die Paul, ein entfernter Vetter, gemacht, der ins Provinzial-Konsistorium berufen worden war; und ihr Mann habe gesagt: wer sich in jetziger Zeit nicht an den Laden lege, der bringe es zu nichts. –
Gerland wußte genau, was all das bedeuten sollte.
Das Paket mit dem Briefe war eingelaufen, als der Geistliche bereits in Rekonvalescenz begriffen war. Doktor Herzner hatte ihm gestattet, im Zimmer auf und ab zu gehen; ins Freie durfte er noch nicht.
Gegen das Verbot des Arztes suchte Gerland auch schon wieder das Expeditionszimmer im Parterre auf, wo sich mancherlei Arbeit angehäuft hatte.
Trotz des dicken Überziehers, den er angelegt, dünkte es ihm kalt in dem ungeheizten Raume; er beschloß daher oben zu schreiben. Er suchte zusammen, was er nötig hatte, und ging die Treppe hinauf. Es fiel ihm auf, daß die Thür zu seinem Zimmer, die er geschlossen zu haben glaubte, offen stehe. Jemand mußte drinnen gewesen sein. Seine Filzschuhe verrieten ihn nicht; ungehört trat er auf die Schwelle.
Was mußte er sehen! Die Pastorin, ihm den Rücken zuwendend, ganz in die Lektüre des Briefes vertieft, den er auf dem Schreibtische liegen gelassen.
Er räusperte sich, um ihr seine Anwesenheit bemerkbar zu machen. Wie mit Blut übergossen stand sie da, auf frischer That ertappt; dann stammelte sie eine sinnlose Entschuldigung: sie hätte geglaubt, es sei einer ihrer Briefe gewesen, den sie seit einiger Zeit vermisse.
Er sagte kein Wort. Die Frau hielt es für das klügste, sich zu entfernen.
Jetzt wurden ihm mancherlei Erscheinungen klar, die er wohl bemerkt, aber denen er bisher keinerlei Bedeutung beigelegt. Sein Tagebuch hatte er gelegentlich an einem ungewohnten Flecke gefunden, einer seiner Briefe war auf rätselhafte Weise verschwunden. Kein Zweifel mehr, sie hatte seine Korrespondenz und sein Tagebuch gelesen.
Der Gedanke, daß sie so Mitwisserin seiner intimsten Geheimnisse sei, war ihm unsagbar peinlich. Er begann sich Vorwürfe wegen seiner übergroßen Vertrauensseligkeit zu machen.
Diesem Zustande mußte, sobald es nur anging, ein Ende bereitet werden. Das Gnadenhalbjahr war in wenigen Tagen abgelaufen; er wußte, die Witwe trug sich mit der Hoffnung, noch länger bleiben zu dürfen. Sie hatte öfters darauf angespielt, und im Scherze bemerkt: er müsse jemanden haben, der ihn bemuttere. Gerade in der letzten Zeit, während seiner Erkrankung, hatte sie es verstanden, sich ihm unentbehrlich zu machen. So war es zu einer Art stillschweigenden Abkommens zwischen ihnen gekommen, daß sie auch nach Ablauf der Gnadenfrist im Hause bleiben und ihm die Wirtschaft führen werde.
Damit war es natürlich jetzt vorbei.
Da er einen begreiflichen Abscheu vor Weiberthränen hegte, teilte er ihr die Kündigung schriftlich mit. Das Briefchen hatte zur Folge, daß sie nicht zum Essen erschien. Durch das Mädchen ließ sie sagen, sie sei erkrankt und müsse das Bett hüten. Gerland bekam den ganzen Nachmittag und Abend nichts von ihr zu sehen; er war gespannt, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden.
Am nächsten Tage erschien sie wieder bei Tisch, blaß, mit verweinten Augen. Warum sie ihr Witwenkleid, nachdem sie längst die Trauer um den Seligen aufgegeben, heute wieder angelegt, war schwer zu verstehen. Mit Ostentation hielt sie die Blicke zu Boden gerichtet und sprach kein Wort, die Befehle an das bedienende Mädchen gab sie mit leiser, trauriger Stimme.
Dieselbe betrübt feierliche Miene beim Abendbrot. Gerland wurde es schwer, den Zustand zu ertragen. Sie bewies Menschenkenntnis bei der Wahl ihrer Methode. Schon fing das Mitleid an, in seinem Herzen Stimme für sie zu erheben. War seine Maßregel nicht allzuhart? Die Frau hatte in diesem Hause glückliche Jahre verlebt. War es nicht grausam, sie, die kein Heim hatte, auszuweisen? –
Der Witwe schien die Wandlung in Gerlands Stimmung nicht entgangen zu sein, sie sprach zu ihm im demütigen Tone der reuigen Sünderin. Ihre Derbheit, der burschikose Ton waren verschwunden, hatten einem verfeinerten, weicheren, geläuterten Wesen Platz gemacht.
Im Hause zeigte sie den größten Eifer. Jeden Wunsch schien sie ihm von den Augen ablesen zu wollen. Und wenn Gerland mit absichtlicher Schroffheit ihre Dienste ablehnte, hatte sie einen so wehmütig bittenden Blick, daß er sich besiegt fühlte.
Schon war der Zeitpunkt, an dem sie nach Gerlands ursprünglicher Bestimmung das Haus verlassen sollte, überschritten; stillschweigend war sie geblieben. Er konnte sich nicht entschließen, kurzen Prozeß mit ihr zu machen, obgleich ihn eine geheime Stimme häufig dazu mahnte. Die unsichtbaren Beziehungen zwischen Mensch und Mensch mit einem Rucke zu zerreißen, schien so unendlich schwer.
Auch Vernunftsgründe sprachen dafür, sie zu behalten. Wo eine andere Haushälterin herbekommen? Sollte er, wie Dornig, in den Gasthof zum Essen gehen?
Die Wage begann sich zu Gunsten der Witwe zu neigen.
* * *
Gerland, der seinen früheren gesunden Schlaf wiedergewonnen, erwachte mitten in der Nacht von einem Geräusch an der Thür. Erstaunt setzte er sich im Bette auf; der Dunkelheit wegen konnte er zunächst nicht das geringste erkennen. Er suchte seine Gedanken zusammen und fragte sich, ob er nicht geträumt habe.
Da, ein Klopfen! – jetzt ganz deutlich, an der Thür.
Auf seine Frage, wer da sei, antwortete die Pastorin mit zaghafter Stimme. Sie fürchte sich so sehr, unten habe es an einen Fensterladen gerüttelt – sie glaube, man wolle einbrechen.
Im ersten Augenblick durchfuhr den jungen Mann ein heftiger Schreck; doch sprang er sofort aus dem Bett und rief: er werde kommen. Dann machte er Licht und fuhr in die ersten besten Kleidungsstücke, die ihm in die Hand fielen.
Während des Anziehens überlegte er, daß er keinerlei Waffe besitze. Ein Stock, das war alles, was er auftreiben konnte; den nahm er zur Hand und öffnete die Thür.
Die Witwe stand vor ihm, ein Licht in der Hand.
»Wie ich aus dem Bette komme, so stehe ich vor Ihnen, Herr Pastor,« flüsterte sie. »Ich habe solche Angst. Jemand will einbrechen – ganz gewiß!«
Gerland ließ sich in Eile beschreiben, was sie wahrgenommen habe. Sie blickte sich ängstlich um und berichtete, daß sie von einem Geräusche erwacht sei, vom Expeditionszimmer her. Ganz deutlich habe sie flüsternde Stimmen vernommen. Dann sei es eine Zeitlang ganz still geworden, aber plötzlich habe sie Lärm an der Hinterthür gehört, als feile jemand Eisen. Da sei sie aufgesprungen und hergelaufen – »gerade wie ich bin – weil ich so erschrak.«
Man stand eine Weile und lauschte mit angehaltenem Atem; nichts ließ sich hören. Die Nacht war windstill. Dennoch beschloß der Geistliche, ins Erdgeschoß hinab zu gehen. Er faßte seinen Stock fester und forderte die Witwe auf, ihm mit dem Lichte zu folgen. Das Herz klopfte ihm, er zitterte, aber er schritt doch vorwärts.
Im Hausflur blieben sie von neuem stehen und lauschten. Nichts zu hören.
Er untersuchte die vordere, darauf die hintere Thür, beide waren unversehrt. »Haben Sie sich nicht getäuscht, Frau Pastorin?« Sie beteuerte, daß sie verdächtigen Lärm gehört habe.
Vorsichtig öffnete er die Thür zum Expeditionszimmer; der Raum war leer und in gewohnter Ordnung.
Gerland schüttelte den Kopf.
»Sie müssen sich getäuscht haben, Frau Pastorin.«
»Herr, mein Gott!« schrie die Witwe plötzlich auf und umklammerte seinen Arm. Unwillkürlich fuhr Gerland zusammen. »Was ist denn?«
»Hörten Sie's denn nicht?«
»Was denn?«
»Was?«
»Stimmen – ganz deutlich! – – Ach Gott, Herr Pastor – ich fürchte mich so.« Und sich an ihn schmiegend, suchte sie Schutz bei ihm.
»Das ist ja Unsinn!« rief Gerland ärgerlich und machte sich los. Dann schritt er zum Fenster, riß es auf, öffnete auch die äußeren Läden; die Nacht war still.
Noch einmal ließ er sich den Vorgang von ihr berichten; sie erzählte mit großer Ausführlichkeit und mit Einzelheiten, die sie zuvor nicht erwähnt hatte.
Er hörte ihr aufmerksam zu. Ob es möglich war, daß sie das alles geträumt hatte, ob sie eine so lebhafte Phantasie besaß? Denn welchen Grund konnte sie haben, dergleichen zu erfinden?
Die Ahnung eines Verdachtes stieg in ihm auf; er musterte sie scharf. Sie senkte den Blick und zog die offenstehende Nachtjacke über der Brust zusammen. »Sehen Sie mich doch nicht so an, Herr Pastor!«
Er erschrak heftig. Was bedeutete das Wort?
Sie schlug die Augen zu ihm auf, mit einem Ausdrucke, der ihm den Verstand rauben wollte. Ihre Hand nestelte an der Jacke herum, die von neuem auseinandergefallen war.
Gerland lehnte gegen die Wand, schweratmend, kreidebleich. Der Raum schien sich um ihn zu drehen, der Boden ihm unter den Füßen zu schwinden.
Er und sie – – kein Mensch, der sie sah – und ihre Blicke! – –
Mit weitgeöffneten Augen starrte er sie an.
»Sehen Sie doch nicht so auf mich!« Die Flamme, die in ihren Augen aufleuchtete, strafte ihre Worte Lügen.
Er bebte am ganzen Leibe, schwankte, wollte Fuß und Arm heben. Vergangenheit und Zukunft schienen in eins zusammenzufließen. Tausend Gedanken mochten in einer Sekunde sein Hirn durchsausen. Das Fazit eines Lebens wurde hier gezogen. Ein kurzer Kampf, der über Glück, Reinheit und Würde seines Daseins entschied.
Und gleichsam zum Zeichen, daß der Kampf entschieden sei, richtete er sich mit einem Zusammenraffen des ganzen Körpers aus seiner schlaffen Stellung auf, stellte sich vor das Weib hin, lachte ihr ins Gesicht, und schritt an ihr vorbei, hinaus, sich im Dunkeln den Weg nach seinem Zimmer suchend.
* * *
In dieser Nacht ging er nicht mehr zu Bett. Das Bewußtsein, einer riesenhaften Gefahr entgangen zu sein, hielt alle seine Sinne wach; er war wie einer, der in traumwandelnder Sicherheit an einem Abgrund dahingeschritten und nachträglich, wo er auf seinen Weg zurückblickt, erst vom Schwindel gepackt wird.
Welch teuflische Raffiniertheit wohnte in dieser glatten Haut, die sie seinen Blicken so schamlos preis gegeben.
Er dachte zurück; ein Zug fügte sich zum andern, bis das Bild fertig war und er ihren wohlerwogenen Plan von Anfang an zu durchschauen glaubte. Das Bild seines Amtsvorgängers tauchte vor ihm auf. Mit einem war ihr's gelungen; er hatte ein zweiter Menke werden sollen.
Immer neues Material brachte sein Gedächtnis herbei. Blicke, Gebärden, Andeutungen, denen er früher keinen Wert beigelegt, bekamen jetzt eine ganz andere Bedeutung; er war umstellt gewesen von Schlingen die ganze Zeit über.
Was kann dem erhebenden Gefühl, dem reinen Glücke, dem seligen Stolze gleichkommen, die der junge Mann empfand, bei dem Bewußtsein, überwunden zu haben in einer Versuchung, wie sie ihm das Leben so riesengroß, dämonisch und überraschend noch nicht gebracht.
Merkwürdig, als er da unten gestanden, an die Wand gelehnt, vor sich die reife Frucht, die sich ihm anbot, da hatte er an keinen Gott gedacht, kein Gebet um überirdische Hilfe war von seinen Lippen gekommen. Aus selbsteignem Entschlusse heraus hatte er dort sein Geschick entschieden.
Aber jetzt in der Überfülle seines Glückes über den jungen Sieg, mußte er die aufquellende Gewalt der Gefühle auslassen und mitteilen; das Bedürfnis zu danken und zu preisen überkam ihn mit Gewalt.
Höchste Not und höchstes Glück vermag der Mensch nicht allein zu ertragen.