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Mit der Zeit begann Pfarrer Gerland in seiner Breitendorfer Einsamkeit doch empfindlichen Mangel zu fühlen an geistiger Anregung. Seine Büchersammlung, die er hin und wieder durch ein neues Buch vergrößerte, half ihm darüber nicht hinweg. Die Abende besonders dehnten sich in die Länge, und wunderliche Gesichte, wie sie die melancholische Einsamkeit gebiert, stiegen vor ihm auf. Erst jetzt begann Gerland zu begreifen, was für ein unersetzliches Gut der Umgang mit Gleichgebildeten, Ähnlichdenkenden und Ähnlichfühlenden sei. –
Die Pastorin Menke legte es dem jungen Geistlichen mehrfach nahe, mit den Honoratioren des Ortes Umgang zu pflegen; sie deutete an, daß sie gern bereit sei, Bekanntschaften dieser Art zu vermitteln. Sie behauptete, ein Menge »feine Leute« der Gegend zu kennen. Dabei hatte sie wohl hauptsächlich einige wohlhabende Bauern, Gutsbesitzer und eine Anzahl schnell zu Reichtum gelangter Industrieller der Nachbarschaft im Auge. Ihr »Seliger«, wie sie ihren Mann zu bezeichnen pflegte, habe es stets mit diesen »Herrschaften« gehalten. Das sei sehr wichtig; denn, fügte sie naiv hinzu, die Art hätte viel in Gemeinde und Kirche zu bedeuten und könnte einem allerhand Schaden anthun.
Gerland suchte auch wirklich die Bekanntschaft einiger dieser Leute auf, allerdings aus anderen Gründen, als die Witwe sie ihm zugemutet.
Aber er fand größere Gefühlsroheit und Gesinnungsniedrigkeit bei ihnen, als bei den Ärmsten seiner Parochianen. Die parvenühafte Aufgeblasenheit dieser Klasse widerte ihn an. Man protzte mit seiner Roheit mindestens ebensosehr, wie mit seinem Gelde. Ein einziges Mittagessen, das in eine wüste Schlemmerei ausartete, genügte, um Gerland über den Geist aufzuklären, der unter diesen Emporkömmlingen herrschte. Die Pastorin hatte in Zukunft gut reden, sie vermochte nicht, ihm den Mund nach weiteren Bekanntschaften wässerig zu machen.
So ergab er sich denn der Einsamkeit mit ihren geheimnisvollen Reizen.
Der einzige Mensch, mit dem er hin und wieder ein Gespräch führen konnte, war der Lehrer und Kantor von Breitendorf.
Kantor Wenzel war ein Mann von natürlichem Scharfsinn und von besserer Bildung, als man sie bei älteren Dorfschulmeistern gewöhnlich antrifft. Er war begierig, diese Bildung zu vervollkommnen. Der Geistliche borgte ihm Bücher, die Wenzel geradezu verschlang. Gerland wunderte sich, wie sicher und treffend häufig das Urteil des Lehrers über das Gelesene sei.
Von seiten der Behörde war Gerland bald nach seinem Amtsantritt in vertraulicher Weise ersucht worden, auf den Kantor und Lehrer an der Kirchschule sein besonderes Augenmerk zu richten. Kantor Wenzel war den Vorgesetzten bekannt als ein unverbesserlicher Liebhaber geistiger Getränke. Seine große Nase redete mit ihrer blauroten Färbung eine deutliche Sprache, noch mehr der unsichere Blick der schwimmenden Augen. Im übrigen hatte das bartlose Gesicht mit der hohen, weißen Stirn, die sich in einem kahlen Schädel fortsetzte, einen klugen Ausdruck. An der hageren, knochigen Gestalt des Fünfzigers war keinerlei Zeichen des Verfalls zu erkennen.
Auch dem Spiele sei Wenzel ergeben, so wurde dem Geistlichen von seiten des Gemeindevorstehers mitgeteilt. Einige Male schon war er ausgepfändet worden. In allerhand Liebeshändel sei er verwickelt gewesen – kurz, der Leumund des Mannes war nicht der beste.
Bei der Schulbehörde stand Wenzel längst auf der Liste der Wackeligen. Daß man ihm nicht bereits früher den Laufpaß gegeben, hing vielleicht damit zusammen, daß Pastor Menke ihm wohlgesinnt gewesen und mit einem Zipfel seines Talares manchen Fehler seines Freundes zuzudecken gewußt hatte.
Seinen Beruf verstand der Kantor von Grund auf. Er war musikalisch, hatte ein feines Gehör, und wußte der altersschwachen Breitendorfer Orgel Klänge zu entlocken, die mit Musik immerhin verwandt waren. In früheren Zeiten mochte er ein guter Sänger gewesen sein. Sein Gesangsunterricht war vortrefflich. Dazu kam die Routine im Unterrichten, welche er mit der Zeit erworben. Die Kinder hatte Wenzel in verhältnismäßig guter Zucht; er arbeitete zwar viel mit dem Bakel, doch war er nicht unbeliebt, da er gelegentlich einmal fünf gerade sein ließ. Mit den Eltern wußte er sich zu stellen. Er verstand es, den Bauern zu behandeln.
Sein Laster wurde ihm von den gewöhnlichen Leuten nicht allzusehr nachgetragen; die Breitendorfer waren in dieser Beziehung tolerant. Er war ja nur ein Periodensäufer – zwei, dreimal im Jahre betrank er sich so, daß man ihn nach Hause schaffen mußte. »Wenzel hat wieder mal die Rolle«, hieß es dann; man lachte und war ihm nicht weiter gram.
Wenzel besaß als Lehrer eine Gabe, die ihm sehr zu statten kam: er verstand zu examinieren. Niemand brachte seine Abteilung so gut vor die Schulprüfungskommission wie Kantor Wenzel, das war eine bekannte Sache.
Besonders sein Religionsunterricht galt als mustergiltig. Die Kinder schnurrten ihren Katechismus und eine erstaunliche Menge von Bibel- und Gesangbuchversen herunter, wie am Schnürchen.
Gerland, der in seiner Eigenschaft als Lokalschulinspektor dem Unterricht bereits mehrfach beigewohnt hatte, durchschaute freilich die Sache. Die religiösen Kenntnisse dieser Kinder beruhten auf geschickter Dressur; von einem tieferen Eindringen in den Sinn des Erlernten und vor allem von einem Begreifen der Bedeutung und des Zusammenhanges im ganzen war hier nicht die Rede.
Auf eine tadelnde Bemerkung, die Gerland dem Lehrer gegenüber über diese Methode des Religionsunterrichts fallen ließ, erhielt er die Antwort, daß die Kommission bisher mit seiner Art der Vorbereitung zufrieden gewesen sei.
Gerland mußte diese Antwort gelten lassen, sie enthielt nichts Neues für ihn. Er wußte nur zu gut, wie rein auf das Äußere gerichtet der Religionsunterricht in der Volksschule betrieben wird, wie alles mehr oder weniger auf Gedächtnisarbeit, auf Herplappern von Sprüchen und Versen, auf Eintrichtern des Systems hinausläuft. Er wußte nur zu gut, wie man die wirklich wertvolle Seite dieser Disziplin, die ethische, in den Hintergrund zu drängen verstand.
Nun, er hatte in Breitendorf die Lokalinspektion, er hatte ferner den Unterricht der Konfirmanden in der Hand. Unter ihm sollte das anders werden. Auf Herz und Gemüt der Kinder wollte er wirken, das gedankenlose Plappern der Lippen sollte aufs notwendigste beschränkt werden.
Aber er wußte, daß man derartige Reformen nicht über Hals und Kopf einführen kann. Er teilte dem Lehrer vorläufig seine Ansicht über diesen Punkt in bündiger Form mit, und Wenzel versprach, künftighin in diesem Sinne unterrichten zu wollen. Überhaupt fand Gerland den Lehrer durchaus gefügig.
Wenzel war seit mehr als zwanzig Jahren in Breitendorf und kannte die lokalen Verhältnisse genau. In Schul-, Kirchen- und Gemeindeangelegenheiten wußte er vortrefflich Bescheid. Die Bauern hatten ihn oft zur Führung von Protokollen und Abfassung von Petitionen herangezogen. Der Rat eines so routinierten Mannes war für den Neuling äußerst wertvoll.
Der junge Geistliche gewann allmählich soviel Zutrauen zu dem Lehrer, daß er ihm manches von seinen Plänen andeutete. Er fand auch hier Verständnis und bereitwilliges Eingehen bei Wenzel.
So kam Gerland allmählich zu der Ansicht, daß das allgemeine Gerücht dem Lehrer unrecht thue. Der Mann wurde entweder verleumdet, oder – und dieser Gedanke gefiel dem jungen Geistlichen besonders – mit Wenzel war ein Änderung zum Besseren eingetreten, seit er, Gerland, ins Amt gekommen. Er schmeichelte sich mit der Idee, bessernden Einfluß auf den Menschen ausgeübt zu haben. Vielleicht hatte es jenem nur an gutem Beispiel, an einem Vorbilde in seinem bisherigen Dasein gefehlt. Und dabei zog Gerland mit Wohlbehagen einen Vergleich zwischen sich selbst und dem verstorbenen Pfarrer. An Wenzel war viel gesündigt worden, schlechtes Beispiel mochte ihn verdorben haben. Jetzt, wo er ein anderes Vorbild sah, wo der Ertrinkende eine Hand gefunden hatte, die machtvoll nach ihm griff, richtete er sich auf, all die guten Seiten seiner Natur kamen nun hervor. Das Bewußtsein des eignen Edelmutes verdoppelte die günstige Meinung, welche Gerland für den alten Sünder hegte. Er war davon überzeugt, daß der Lehrer voll Dankbarkeit und Rührung zu ihm emporschaue, als zu seinem Retter. Es war angenehm zu denken, daß jener sich an ihm aufgerichtet habe und an seiner Hand einem besseren Leben zuschreite. –
Kantor Wenzel war Junggeselle. Er pflegte seine Mahlzeiten in der Schenke einzunehmen. Der Mangel eines eigenen Herdes mochte den Hang zum liederlichen Leben bei ihm bestärkt haben. Gerland beschloß, ihn öfter an den eigenen Tisch zu ziehen.
Als er der Pastorin diese Absicht mitteilte, hatte sie einen von ihren Lachanfällen. Sie saß da für Minuten und hielt sich die Seiten, ihre tadellosen Zähne zeigend. Jede Frage Gerlands, warum sie den Gedanken so lächerlich finde, rief nur einen erneuten Lachausbruch hervor. Alles, was mit Kantor Wenzel zusammenhing, schien die Witwe aufs Äußerste zu belustigen.
* * *
Wenzel schien die Einladung des Herrn Pastors, am nächsten Sonntage bei ihm zu speisen, als keine geringe Ehre aufzufassen. Eine halbe Stunde vor der Essenszeit erschien er in einem etwas knappen Frack, den er über dem mageren Leibe zusammengeknöpft hatte, weiße Handschuhe an den großen Händen, einen widerhaarigen Cylinder auf dem Kopfe. Gerland, der sich im Garten aufhielt und eben die Knospen an den im Frühjahr neugepflanzten Rosenstöcken musterte, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er diese hagere Kranichgestalt durch das Gartenthor stolzieren sah. Den Hut in der Hand, mit tiefen Bücklingen, kam Wenzel auf den Geistlichen zu, Gerland hatte Mühe ihn dazu zu bringen, daß er die borstige Kopfbedeckung wieder auf das kahle Haupt setzte.
Man ging noch ein wenig im Pfarrgarten auf und ab. Gerland zeigte seine Rosenstöcke und die Blumenrabatten, die er selbst angesäet hatte. Kantor Wenzel legte das größte Interesse hierfür an den Tag. Er schien auch auf diesem Gebiete Kenntnisse zu besitzen. Er erklärte dem Geistlichen in einleuchtender Weise, warum eine Anzahl Rosenaugen nicht gekommen seien und bot sich an, ihn das Okulieren zu lehren.
Gerland gefiel Wenzels Bereitwilligkeit und die Art und Weise, wie er Rat erteilte, ohne sich aufzudrängen. Eines allerdings störte den jungen Geistlichen an dem jungen Manne, er pflegte beim Sprechen den Blick auf einen entfernten Punkt zu richten. Gerland erklärte sich dieses Verhalten als eine Art von Scham, die jener über seine verhängnisvolle Schwäche empfinden mochte. Vielleicht, daß der Mann nach und nach mehr Zutrauen fassen würde.
Sie waren zu den Gemüsebeeten gekommen. Der Geistliche beklagte sich, daß einige feinere Sorten, die er angebaut habe, trotz eifrigen Düngens durchaus nicht gedeihen wollten. Wenzel hatte auch dafür sofort eine Erklärung. Dieser Teil des Gartens sei feucht, und das, in Verbindung mit der Kälte des Bodens, beeinträchtige das Pflanzenwachstum. Er behauptete, in dem Hügel hinter dem Pfarrgarten sei viel Wasser enthalten. Gerland fragte, warum der Kirchbauer, dem diese Felder gehörten, nicht drainiere. Wenzel erklärte, die Felder selbst seien durchaus nicht feucht, das Wasser laufe also wahrscheinlich auf einer undurchlässigen Thonschicht hin und dringe dann im tiefgelegenen Pfarrgarten zur Oberfläche. Gerland leuchtete die Erklärung ein; er fragte den Lehrer, wie dem abzuhelfen sein möchte. Drainieren sei das einzige, meinte Wenzel, aber dazu würde sich der Bauer nur herbeilassen, wenn Gerland den größten Teil der Kosten trage. Er bot sich an, die Unterhandlungen zu führen – er würde das Gewünschte billiger erreichen, als der Herr Pfarrer, meinte er – der Kirchbauer sei bekannt für eine Zähigkeit und Habgier. Er versprach die Sache zu Gerlands Bestem führen zu wollen.
Die Pastorin rief zu Tisch.
Gerland sprach ein lautes Tischgebet, wie er's immer that.
Heut war Wein aufgesetzt. Die Witwe hatte ein leuchtend blaues Kleid angelegt; seit einer Woche etwa trauerte sie nicht mehr. In den schwarzen Kleidern schwitze sie so fürchterlich, hatte sie Gerland gegenüber erklärt. –
Gerland bemerkte über Tisch, daß sie nicht im stande war, den Kantor anzusehen, ohne das Gesicht zum Lachen zu verziehen. Ihr Benehmen blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Der Kantor dagegen wahrte seinen gravitätischen Ernst durchaus. Gerland glaubte zu bemerken, daß er ihr gelegentlich einen mißbilligenden Blick zuwarf. Wenzel war während der ganzen Mahlzeit ziemlich wortkarg. Im Essen und Trinken zeigte er sich außerordentlich mäßig. Ein zweites Glas wollte er durchaus und durchum nicht annehmen, trotz Gerlands Zureden. Als der Geistliche versuchte ihm einzuschenken, hielt er die Hand über das Glas und versicherte, er wolle nicht mehr trinken.
Gerland selbst fühlte sich sehr aufgeräumt. Was für ein angenehmes Gefühl war es doch, den Wohlthäter spielen zu können! –