Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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IX.

»Lieber Pastor!« meinte Polani beim Frühstück. »Sie haben die Wahl, wollen Sie sich mir anschließen, ich habe einen Gang vor in die Parochie; oder ziehen Sie vor, in Gesellschaft meiner Frau sich unseren Ort anzusehen? – Aber, wie gesagt – ganz wie Sie wollen.«

Die Pastorin antwortete an seiner Stelle: »Laß Herrn Gerland nur mit mir gehen, Arthur; er muß doch den Kursaal sehen und die Promenade. Nicht wahr, Herr Gerland, das macht Ihnen mehr Spaß, als langweilige Krankenbesuche; gestehen Sie es nur offen!«

»Von einer freien Wahl ist da kaum mehr die Rede,« meinte der Gatte spottend.

Polani machte sich sofort nach dem Frühstück auf den Weg.

Die Pastorin lief ihm nach, als er schon in der halbgeöffneten Thür war, und umarmte ihn. Polani lächelte, küßte sie mit kühler Miene auf die Stirn und ging dann.

Sie kehrte errötend zu Gerland zurück. Befangenheit beherrschte die beiden während der nächsten Minuten. Die Frau war voll unnatürlicher Gesprächigkeit; dann kam sie auf einen Einfall, der beiden wie eine Erlösung erschien:

»Ich will Ihnen doch mal unser Haus zeigen.« –

Sie führte ihn durch eine Flucht von Zimmern. Vor allem in ihrem Salon gab es viel zu sehen. Als er die bunte excentrische Einrichtung dieses Raumes betrachtete, überkam ihn ein Gefühl des Befremdens; er faßte sich ein Herz und sagte ihr, daß er solchen Luxus in Pfarrhäusern nicht gewohnt sei.

Sie lachte, seine Bemerkung schien ihr nicht zu mißfallen. »Ich bin auch keine gewöhnliche Pastorsfrau – will es gar nicht sein,« meinte sie und sah ihm übermütig in die Augen; dann etwas ernster: »Machen Sie mir wirklich einen Vorwurf daraus, daß ich ein wenig Geschmack besitze? Sehen Sie, man muß doch einen Spaß haben in der Welt!«

Das Studierzimmer des Pastors lag neben ihrem Salon; es war einfacher eingerichtet. Eine ansehnliche Büchersammlung nahm den größten Teil der Wände ein. Gerland konnte sich eines Ausrufes staunender Freude nicht enthalten, als er die wohlgeordneten Reihen sah. Der bloße Anblick dieser prächtigen Rücken sprach für Echtheit und Gehalt der dickleibigen Bände. Er wollte sich daran machen, die Titel zu studieren; aber sie rief ihn davon weg, nach dem Schreibtische des Gatten. Hier standen Photographieen in glänzenden Rahmen. Sie nahm eines der Bilder zur Hand und wischte den Staub davon; sie selbst war es, im Ballkleide mit bloßen Schultern und Armen. »Das bin ich als Mädchen,« sagte sie und reichte ihm das Bild. »Seit ich verheiratet bin, habe ich keinen Schritt mehr getanzt. – Würden Sie Ihrer Frau das Tanzen verbieten, Herr Gerland?« –

»Ich glaube – ja!«

»Ach, wie langweilig!« – Sie setzte das Bild schnell wieder an seinen Ort. Er wollte seine Ansicht begründen, aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Lassen Sie nur, ich sehe schon, Sie sind auch so – wie soll ich sagen –«

Dann sprang sie auf ein anderes Thema über. »Dort ist die Büchersammlung; das ist Arthurs ganze Passion. Er ist der reine Bücherwurm, sage ich Ihnen. Er kann es gar nicht vertragen, wenn ich ihn beim Lesen störe. Das ist, glaube ich, das einzige, womit man ihn wirklich böse machen kann. – Ich lese übrigens auch sehr viel, er hat mich damit angesteckt. Was soll man schließlich den ganzen Tag anfangen!«

»Was lesen Sie hauptsächlich, wenn ich fragen darf?«

»Alles, was er mir giebt. – Wissen Sie, Herr Gerland, mein Mann ist ein sehr gescheiter Mensch, das glauben Sie wohl gar nicht?«

Gerland erklärte, daß er sich davon in den ersten zehn Minuten der Bekanntschaft überzeugt habe.

Sie begann ihren Mann zu preisen, geradezu, als wolle sie ihn verteidigen – gegen wen, war nicht abzusehen.

Dann plötzlich rief sie: »Jetzt wollen wir ausgehen; bitte, warten Sie hier einen Augenblick, ich will mich zurechtmachen.«

Sie blieb lange weg. Gerland fand inzwischen Muße, die Büchersammlung zu mustern; theologische Schriften wogen vor. Er fand da von den Kirchenvätern und den Reformatoren die hervorragendsten Namen vertreten. Dann die mittelalterliche Scholastik und Mystik. Von den Philosophen: Wolf, Leibnitz, Spinoza, Kant, Jacobi, Herder, Fichte; von den neueren: Schleiermacher, Hegel, Feuerbach, Lange, die Tübinger Schule, die englischen Moralisten, den Rationalismus in seinen bedeutendsten Vertretern, bis herab zur modernsten Theologie. –

Manches Buch war da, das man nicht auf dem Bücherbrette eines Geistlichen gesucht hätte. Französische, englische und deutsche Unterhaltungsbücher standen in einer besonderen Abteilung.

Die Pastorin trat jetzt in das Zimmer, in hellem Promenadenkleid; Hut und Schirm von gleicher Farbe.

Sie verließen das Haus durch die Hinterthür und schritten durch den Pfarrgarten. Gerland sprach seine Bewunderung über die Blumen aus; sie bekundete keinerlei Interesse dafür. »Das besorgt alles eine Frau von nebenan,« meinte sie.

»Wollen Sie etwa die Kirche sehen?« fragte sie stehenbleibend. »Viel ist nicht daran; übrigens, das können Sie auch ein andermal, wenn Sie wiederkommen. Und dann müssen Sie Arthur predigen hören; während der Badesaison ist die Kirche immer so voll, daß kein Apfel zur Erde kann.« –

Durch ein Pförtchen am Ende des Gartens gelangte man direkt in die Anlagen des Badeortes.

Gerland sah unter ihrer Führung die Hauptsehenswürdigkeiten: das Kurhaus, die Wandelbahn, das Brunnenhaus. Auf Veranlassung der Pastorin mußte er auch einen Becher des Hauptquells trinken.

Auf der Brunnenpromenade erregte ihre Erscheinung ein gewisses Aufsehen, von vielen wurde sie gegrüßt.

Man schritt jetzt eine schattige Kastanienallee hinab, daneben lief die Fahrstraße. Die Aufmerksamkeit der Pastorin wurde plötzlich durch einen eleganten Zweispänner in Anspruch genommen, der die Straße herab kam. Ein Herr in hellem Anzuge saß auf dem Bocke, hinter ihm der Kutscher in dunkelblauem Livreerock mit verschränkten Armen.

Der Herr auf dem Wagen schien die Pastorin erkannt zu haben. Er parierte die Pferde aus stärkstem Trabe, warf dem Kutscher die Zügel zu, sprang vom Wagen und kam über den frisch angesäten Rasenstreifen, der die Promenade begrenzte, auf sie zugeschritten. Schon von weitem zog er den Strohhut, riß sich die Fahrhandschuhe von den Händen. Dann als er vor ihr stand, verbeugte er sich tief und küßte ihr die Hand.

Der Herr mochte Ende der zwanzig sein. Er war von großer, hagerer Figur mit langgezogenem, bartlosem Gesicht von braunroter Farbe, aus dem eine scharfe Hakennase weit vorsprang. Beim Lachen zeigte sein großer Mund starke, gesunde Zähne. Der Kopf war auffällig und glich in seiner vornehmen Häßlichkeit einem rassigen Pferdegesicht. Das Haar war fast bis auf die Kopfhaut herab geschoren, der magere Hals mit dem ausgeprägten Kehlkopfe ragte aus einem blauen Hemdkragen hervor. Die außerordentliche Magerkeit dieser langen Gestalt wurde etwas durch den weiten, bauschigen Flanellanzug verdeckt.

So stand er vor der Pastorin, Hut in der Hand. Sie bat ihn schließlich, sich zu bedecken. Sie machte die Herren miteinander bekannt; zu Gerlands Staunen hörte er den Namen: Graf Mahdem.

Hatte er in diesem jungen Manne wirklich seinen Patronatsherrn vor sich? Dem Alter nach konnte er es immerhin sein. Gerland hatte kurz nach seinem Antritt dem Patron von Breitendorf den schuldigen Besuch auf seiner Herrschaft Althaus gemacht, ohne ihn anzutreffen. Es hieß damals, der Graf sei noch nicht von Berlin zurück.

Man schritt jetzt die Allee zu dreien herab. Gerland war verwundert über den kordialen Ton, den Graf Mahdem der Pastorin gegenüber anschlug. Die Hände in den Rocktaschen, schritt er nachlässig neben ihr her, halb ihr zugewandt und ihr unverfroren ins Gesicht blickend.

Sie schien sein Benehmen nicht unpassend zu finden. Leicht und elastisch schritt sie dahin, sah sich selbstbewußt um, nicht unangenehm berührt, daß die Blicke der zahlreichen Spaziergänger auf sie und die außergewöhnliche Erscheinung ihres Begleiters gerichtet waren.

So bummelte man wohl ein halbdutzendmal auf und ab; der Graf klemmte hin und wieder sein Monocle ein und musterte die Badegäste. Aus einigen Bemerkungen, die er machte, erfuhr Gerland, daß die Hauptquelle des Badeortes Eigentum des Grafen sei.

Am unteren Ende der Allee erschien jetzt Polani zu Gerlands großer Freude, der sich so ganz außerhalb der Unterhaltung in peinlicher Lage befand. »Ah, da ist ja auch der Gatte,« rief der Graf.

Polani schien ebenfalls gut mit dem Grafen bekannt zu sein. Man schüttelte sich lebhaft die Hände. »Ich habe wirklich fabelhaftes Glück,« meinte der Graf, »komme hierher, um mal den Brunnen zu visitieren, und treffe gleich Herrn und Frau Pastor.«

»Sie kommen doch zu Tisch zu uns, Herr Graf,« bat die Pastorin. Der Eingeladene verbeugte sich tief.

»Also um zwei Uhr,« meinte sie. »Sie sehen, wir halten an der spießbürgerlichen Mittagsstunde fest.«

Graf Mahdem verabschiedete sich von ihr, indem er ihr abermals den Handschuh küßte, dann trat er zu Gerland, der bis dahin nicht für ihn existiert hatte; er reichte ihm die Hand und meinte: »Es freut mich, Sie kennen gelernt zu haben, Herr Pastor; habe sehr bedauert, daß Sie sich im Frühjahr umsonst nach Althaus bemüht haben. Hoffe ein andermal!« –

Damit riß er den Hut noch einmal vom kahlgeschorenen Kopfe und eilte dann im Laufschritt nach seinem Wagen, der auf der Straße nebenan hielt.

Gerland hatte sich seinen Patronatsherrn etwas anders vorgestellt. Er äußerte diese Ansicht unverhohlen Polani gegenüber.

»Machen Sie mir den nicht schlecht,« fiel die Pastorin ein; »er ist ein ganz reizender Mensch.«

Auch Polani rühmte ihn. Nach seiner Aussage war der Graf ein junger Mann von nicht alltäglicher Begabung.

Im Laufe des Gespräches erfuhr Gerland daß Polanis Bekanntschaft mit dem Grafen älteren Ursprungs sei. Polani war in seiner Kandidatenzeit Erzieher in einem Magnaten-Hause gewesen, dort hatte er den jungen Grafen Mahdem, einen Verwandten, mit erzogen.

Man schritt jetzt dem Pfarrhause zu. Die Pastorin wollte, wie sie sagte, noch einige Vorbereitungen für den unvorhergesehenen Gast treffen.

»Ich habe Diakonus Fröschel für heute zu Tisch gebeten, Agathe,« erwähnte Polani.

»Den Diakonus!« rief sie und blieb mitten auf dem Wege stehen.

»Ja, ich wünschte, daß Pastor Gerland ihn kennen lernen solle.«

»Gerade heute, wo der Graf bei uns speist, diesen Menschen! – Kannst du das nicht rückgängig machen?«

»Nein! Das wäre eine Beleidigung, die ich Fröschel nicht anthun will.«

»Ach, bei dem kommt's nicht darauf an. Bestelle ihn doch auf ein andermal.«

»Nein, Agathe, das geht nicht!« sagte er sehr bestimmt.

»Das ist wirklich zu fatal!« rief sie, verzog das Gesicht und warf dem Gatten einen feindseligen Blick zu.

Polani zuckte nur die Achseln.

»Nun ist mir der ganze Spaß verdorben.« Gerland bemerkte Wasser in ihren Augen.

* * *

Bei Tisch war sie wieder in der besten Laune. In einem ausgeschnittenen, schwarzen Kleide, das ihren schönen Hals zur Geltung brachte, saß sie zwischen dem Grafen und Gerland. Von ihrem vorigen Grame war nicht das geringste zu bemerken.

Graf Mahdem im Gehrock, mit hohem, steifem Kragen und mattleuchtender Perle in der seidenen Krawatte, sah jetzt einem Standesherrn entschieden ähnlicher als zuvor.

In Diakonus Fröschel hatte sich ein unansehnlicher, blasser Mensch vorgestellt, der eine Brille trug und sich linkisch verbeugte. Es lag etwas Frühreifes, vorzeitig Gealtertes in diesem kleinen, runden Gesicht, das die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug. Als er mit seinem abgetragenen Rock und den plumpen Stiefeln eintrat, begriff Gerland das Benehmen der Pastorin. Ihre Miene nahm einen nervös ängstlichen Ausdruck an, als der Diakonus dem Grafen vorgestellt wurde. Aber dieser reichte auch ihm huldvoll seine lange, magere Hand.

Im übrigen existierten weder Gerland noch Fröschel für den Grafen. Seine Aufmerksamkeit war völlig durch die Pastorin in Anspruch genommen. Er berichtet ihr vom Leben der Berliner Hofkreise, und sie hing an seinen Lippen. Ein paar Anekdoten erzählte er, die eine starke Zumutung an ihre Leichtgläubigkeit bedeuteten. Sie lachten beide viel, auch wenn wenig Grund dazu vorlag. Ein bewußter Übermut schien sie zu beseelen. Die triumphierenden und dabei doch schuldbewußten Blicke, die sie hin und wieder nach dem Gatten und Gerland gleiten ließ, schienen zu forschen, ob ihr Benehmen jenen auch den erwünschten Verdruß bereite.

Gerland blickte voll Neugier auf Polani. Dessen Mienen blieben völlig kalt, nichts in seinem Wesen deutete auf Eifersucht.

Diakonus Fröschel beteiligte sich nicht an dem Gespräche, obgleich Polani wiederholt den Versuch machte, den bleichen, stillen Menschen in die Unterhaltung zu ziehen. Aber jener schien sich auf das Zuhören beschränken zu wollen. Mit kleinen, tief im Kopfe lagernden Augen, blickte er um sich, lächelte hin und wieder trübe zu einzelnen Bemerkungen. Es war merkwürdig, diese Züge wurden durch ein Lächeln nicht aufgeheitert, sie erschienen noch um einen Grad melancholischer.

Polani legte eine Belesenheit und Detailkenntnis an den Tag, welche Gerland sehr bald zwang, die Rolle des Zuhörers anzunehmen. Dann wurde durch eine plötzliche Wendung des Gespräches naturwissenschaftliches Gebiet gestreift. Hier zeigte Polani eine gewisse Reserve, die Gerland nicht entging. Daß er die Ergebnisse der neuesten Forschung kenne, und daß er Stellung dazu genommen, nahm Gerland von einem Manne, wie Polani, an. Es reizte ihn ungemein, gerade hierhin die Ansichten des älteren Amtsbruders zu erkunden; daß Polani ein Mensch sei, der sein Innerstes mit vielfachen Verkleidungen verschanzt hielt, war ihm nachgerade klar geworden.

Gerland machte einige Bemerkungen, die als Köder dienen sollten, auf den jener stoßen möchte. »Das scheint mir die größte Frage für den gebildeten Christen,« meinte er, »ja vielleicht die größte Frage unserer Zeit überhaupt: wie setzt man sich mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung auseinander? Wie stellt man sich zu den Resultaten der Forschung? Denn daß Resultate, ganz bedeutende Resultate, vorliegen, das können und dürfen wir doch nicht leugnen, wenn wir ehrlich sein wollen.«

Noch ehe Polani geantwortet, mischte sich hier auf einmal die Pastorin ganz unerwarteter Weise ins Gespräch:

»Naturwissenschaftliche Forschung?« ließ sie sich vernehmen, »damit meinen sie wohl Darwin? Pfui! von dem mag ich gar nichts hören. Vom Affen stammen wir nicht ab – das ist ja zu geschmacklos.«

Gerland konnte sich nicht enthalten zu lachen. Diakonus Fröschel rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her und rieb sich nervös die Hände.

»Meine Ansicht ist die,« sagte der Graf, von der andern Seite des Tisches, »daß man mit solchen Dingen nicht spaßen soll; dazu sind sie viel zu ernst.« Sein Gesicht nahm dabei einen indignierten Ausdruck an.

Gerland glaubte, daß diese Bemerkung seines Patronatsherrn auf ihn gemünzt sei; er sann noch über eine passende Antwort nach, als zu seinem nicht geringen Staunen Diakonus Fröschel das Wort ergriff:

»Natürlich sind das sehr ernste Dinge, die ernstesten, die es überhaupt giebt. Aber gerade deshalb soll man sich mit ihnen abgeben, nicht sie totschweigen. – Ein Vogelstraußverfahren ist hier geradezu Verbrechen.«

Der Diakonus hatte das hastig hervorgestoßen; er war noch bleicher als sonst, und Gerland fühlte ihn neben sich zittern.

Das lange Gesicht des Grafen wurde noch länger; er öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen.

Die Pastorin, wohl in der Absicht, der fatalen Situation ein Ende zu bereiten, rief: »Daß solche Bücher überhaupt gedruckt werden dürfen, begreife ich gar nicht!«

»Welche Bücher?« fragte Gerland.

»Nun eben solche – das müßte verboten werden.«

»Allerdings eine einfache Lösung der Frage,« meinte Fröschel halblaut.

Graf Mahdem hatte sich inzwischen so weit von seinem Staunen erholt, daß er eine Antwort geben konnte. »Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß freie Ansichten selbst unter den Theologen Anhänger zu finden scheinen. Kein Wunder dann, allerdings, wenn die Verwilderung im Volke erschreckende Fortschritte macht.«

Er sah sich herausfordernd um, ob jemand hierauf noch etwas erwidern würde.

Fröschel wollte etwas sagen, verstummte aber plötzlich; das traurige Lächeln erschien wieder auf seinem kränklichen Gesichte, während er in sich zurück sank.

Der Graf schien sich als Sieger zu betrachten, er nahm eine selbstzufriedene Miene an, und bald darauf hörte Gerland, wie er die Pastorin fragte: »Haben Sie ›Auf Gottes Wegen‹ gelesen, gnädige Frau? Ein wirklich gutes Buch, von einem positiven Christen geschrieben; wenn Sie gestatten, schicke ich es Ihnen zu.« –

* * *

Im Salon der Pastorin, wo man nach Tisch den Kaffee einnahm, hatten sich Gerland und Diakonus Fröschel, abseits von den anderen, in einer Fensternische zusammengefunden. Jeder von ihnen hatte viel Unausgesprochenes auf dem Herzen behalten.

Mit Staunen sah Gerland, wie der stille Mensch, der ihm einen knabenhaft unbedeutenden Eindruck gemacht hatte, sich als eine höchst eigenartige Individualität entpuppte. Schmalschultrig, mit gekrümmtem Rücken, stand der kleine, gebrechliche Mann vor ihm, nervös die Finger gegeneinander reibend. Das Tischgespräch hatte Fröschel offenbar an einer empfindlichen Stelle verletzt. Auf seinen Backen zeigte sich etwas wie Röte; die kleinen, versunkenen Augen funkelten unstät hinter den Brillengläsern.

Man hatte zunächst einige allgemeine Bemerkungen gewechselt: über Herkunft, Studienzeit und gemeinsame Bekannte. Aber das waren nur Präliminarien; jeder wußte von dem anderen, daß er ihm Bedeutsameres mitzuteilen habe, und jeder wartete auf den anderen, daß er den Anfang machen solle.

Nachdem man so eine Weile Fühler nach einander ausgestreckt hatte, nahm plötzlich Fröschel die Hände auf den Rücken, richtete sich auf und blickte Gerland mit einem scharfen Blicke an. »Sie sprachen da vorhin von dem Gegensatze zweier Weltanschauungen,« sagte er, »der religiösen und der wissenschaftlichen – so will ich mich einmal der Kürze wegen ausdrücken. – Sie schienen beiden Anschauungen Existenzberechtigung zuzugestehen. – Habe ich Sie darin recht verstanden?«

»Allerdings! Und ich sagte, daß es mir das größte Problem der Zukunft erscheine, wie diese beiden sich scheinbar ausschließenden Weltanschauungen zu vereinigen seien.« –

»Die eine Weltanschauung wird die andere vernichten, das scheint mir die einzig mögliche Lösung.«

»Sie halten ein Aufgehen in einander für ausgeschlossen?«

»Für völlig ausgeschlossen! Ebensogut könnten Sie hoffen, daß sich Wasser und Feuer dermaleinst zu einem neuen Elemente vereinigen lassen möchte. Freilich, bei Gott ist alles möglich; aber das werden Sie mir zugeben, Wunder sind keine Argumente – und, wie eine derartige Vereinigung ohne ein Wunder eintreten könnte, kann ich nicht absehen.«

Gerland blickte mit wachsendem Staunen auf den Sprecher. Auf was für einen merkwürdigen Gesellen war er da gestoßen!

»Entweder man glaubt,« rief Fröschel, »oder man glaubt nicht, Tertium non datur! Die eine Weltanschauung schließt die andere aus.«

Er blickte Gerland herausfordernd an und wippte sich auf den Spitzen seiner plumpen Stiefeln.

»Erlauben Sie,« erwiderte ihm Gerland, »hier handelt es sich doch eigentlich gar nicht um verschiedene Weltanschauungen.«

»So, um was denn?«

Gerland suchte für einen Augenblick nach Worten, um einen ihm selbst noch nicht geläufigen, eben erst gefundenen Gedanken auszuprägen. »Nicht um eine Weltanschauung handelt es sich, sondern um eine Fähigkeit, um eine Disposition der Seele, wenn Sie so wollen. Glaube, das heißt in diesem Sinne Fähigkeit, sagen wir: Wille zum Glauben. Den objektiven Glauben, das Dogma, allerdings wird man schwer vereinigen können mit den Resultaten moderner Forschung. Hier steht eben Theorie gegen Theorie, System gegen System. Aber der Glaube, von dem ich spreche, ist ein subjektiver, eine Fähigkeit, ein bestimmter Zustand der Seele.«

»Also, Ihr Glaube wäre am letzten Ende einer Kantschen Kategorie sehr ähnlich –«

»Jetzt haben wir uns verstanden.«

»Was Sie da sagen, klingt nicht gerade sehr lutherisch; damit kommen wir auf die trostloseste aller Lehren, die Prädestinationslehre. Der eine ist von vornherein zum Glauben befähigt, der andere zum Unglauben – kann es etwas Gröberes, etwas Roheres geben? Der Mensch ist der Spielball höherer, parteiischer Mächte. Dann ist alles Zufall. Persönliche Freiheit, Individualität, Selbstzucht, haben damit ein Ende. Glauben Sie mir, in den Abgrund dieser Frage habe ich geblickt. Der Glaube ist eine Fähigkeit; damit verdammen wir alle Suchenden, alle Zweifelnden, die nach neuer Wahrheit dürsten – also die Besten. Die alle werden, wenn Ihr Wort wahr ist, in Verzweiflung getrieben.«

»Natürlich, die Fähigkeit zum Glauben kann auch verscherzt werden,« meinte Gerland voll Eifer, »wie alle guten Eigenschaften, die Gott in uns gelegt. Nicht umsonst sagt Christus: ›Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählet‹.«

»Und Paulus sagt: ›So erbarmet er sich nun, welches er will, und verstocket, welchen er will,‹« erwiderte Fröschel. »Sie sehen, ich kenne mein Neues Testament auch.«

»Ich kann mein Herz verstocken gegen die göttliche Gnade. Wer nicht glaubt, verfinstert sein Gewissen.«

Fröschel blickte den anderen mit schnellem, forschendem Blicke von der Seite an, als wollte er fragen: ›Meinst du das wirklich aufrichtig?‹ Dann flog ein Zug von Spott um seinen Mund. »Um so schlimmer für den armen Schächer von Menschen! Vielleicht ist ihm die Fähigkeit zum Glauben, von der Sie sprachen, von Natur versagt, dann kann er sich von vornherein die Worte über Dantes Infernum zum Wahlspruche nehmen. Oder er gehört zu den Auserwählten – auch dann ist er nicht sicher, in der Gotteskindschaft zu bleiben. – Nein, mit Ihrer Erklärung kommen wir nicht weiter. Sie übersehen, daß der Glaube zwei Seiten hat, von denen die eine nicht ohne die andere bestehen kann; subjektiver und objektiver Glaube müssen sich decken. Ich habe alles zu glauben oder nichts. Denn die christliche Lehre ist ein System, und man kann nicht willkürlich einzelne Steine herausreißen, ohne das Ganze zum Sturze zu bringen. Behaupten, daß man nicht an die Empfängnis durch den heiligen Geist und die Himmelfahrt glauben könne, wohl aber an die Auferstehung und Erhöhung, das ist entweder Mangel an Logik oder Mangel an Wahrhaftigkeit. Es kommt eben schließlich doch auf das heraus, was ich behauptet habe. Unglaube und Glaube schließen einander aus. Darüber giebt es nur zwei Brücken, und beide sind schlecht. Kompromiß heißt die eine – unsere weichliche, verbildete Generation benutzt sie mit Vorliebe – den ernstlich Suchenden, der nicht Bequemlichkeit will, sondern Wahrheit, den trägt diese Brücke nicht. Das andere Mittel, den Abgrund zu verdecken, ist das schlimmere: die Lüge. Ich spreche hier nicht von Selbstbetrug, verstehen Sie mich wohl: von der Lüge, der bewußten Lüge, spreche ich. Ich könnte Beispiele anführen, wenn ich wollte, aus nächster Nähe. Man kann sehr hochangesehen sein und über und über von Tugend und Ehrbarkeit glänzen – und dabei ein Lügner und Schauspieler sein durch und durch!« –

Der kleine Mann war sehr erregt, auf seinen Backenknochen zeichneten sich runde, rötliche Flecke ab. Es lag etwas persönlich Gereiztes, Giftiges in seinen letzten Worten. Er sprach hastig und mit gedämpfter Stimme, häufig nach dem anderen Ende des Zimmers blickend, wo Polani, der Graf und die Pastorin bei Kaffee, Cigarre und Liqueur um einen kleinen, niederen Tisch saßen. Es war keine Gefahr vorhanden, daß jene ihn hören konnten, sie waren ganz mit sich selbst beschäftigt und schienen sich, ihrem häufigen Lachen nach zu schließen, vortrefflich zu unterhalten.

Gerland folgte unwillkürlich Fröschels Blicken. Wen meinte er – den Grafen? – Daß er von Polani in dieser Weise sprechen könne, wollte Gerland nicht in den Sinn.

Wie eine Antwort darauf erklang es aus Fröschels Munde: »Tausendmal lieber, als solche Schlangen, sind mir Leute, wie der Graf dort. Sie werden sich vielleicht gewundert haben, daß ich heute Mittag auf seine letzte Bemerkung nichts erwiderte. Es giebt ein Stadium des Dünkels, das unangreifbar ist. Aber solche Leute sind wenigstens konsequent und aus einem Gusse in ihrer beschränkten Sphäre. Wohl ihnen! Sie sind die eigentlich Zufriedenen; sie besitzen die Wahrheit handgreiflich, – so wie man Geld und Gut besitzt. Sie sitzen auf ihren wohl mit Positivismus gefüllten Säcken. Es fällt mir gar nicht ein, ihnen diesen ihren Seelenzustand zu verargen – im Gegenteil, ich könnte sie beneiden. Mit solcher Veranlagung muß sich's sehr bequem leben. Aber ganz was andres ist es, wenn einer genau weiß, daß diese Säcke Sand enthalten und trotzdem vorgiebt, es sei lauteres, unverfälschtes Gold darin; den Ruin der Firma kennen und dennoch weiterwirtschaften mit glattem, ruhigem, freundlich lächelndem Gesichte – so thun, als wäre alles in schönster Ordnung – keine Gefahr vorhanden, keine Fäulnis – nicht alles in Zersetzung begriffen, in Auflösung – die alten Werte längst morsch und wurmstichig, durch und durch – erstarrte Götzenbilder mit thönernen Füßen, ohne Herz, mit wackelnden Köpfen – und helfen, diesen Puppen immer wieder neue Kleider anfertigen, um ihre lächerliche Nacktheit zu verstecken – recht eigentlich, Flicken auf Flicken nähen und Risse verkleistern – Sehen Sie, das ist in meinen Augen die Thätigkeit des modernen Theologen.« –

Es war schwer zu sagen, ob er aus Mangel an Atem hier abbrach, oder weil ihn die Wucht seiner Empfindungen überwältigte.

Auch Gerland war still; er brauchte einige Zeit, um sich von seinem Staunen zu erholen. »Das müssen Sie mir erklären.« Aber Fröschel wollte auf keine Fortführung des Gespräches eingehen; fast schien es, als bereue er, zuviel von seinem Innersten gezeigt zu haben.

Gerland meinte, da man so viele Berührungspunkte gefunden, dürfe man nicht scheiden, ohne sich ganz ausgesprochen zu haben. –

Fröschel schüttelte eigensinnig den Kopf: »Es hat keinen Zweck – gar keinen Zweck.«

Graf Mahdem unterbrach sie; er hatte seinen Wagen bestellt und kam jetzt auf Gerland zugeschritten. »Ein paar Worte mit Ihnen, mein Herr Pastor!«

Der Graf zeigte sich jetzt weit weniger zugeknöpft, als zuvor; das Diner und die Unterhaltung mit der Pastorin hatten ihn offenbar in joviale Stimmung versetzt. Er habe bisher wenig Gelegenheit gehabt, sich um die kirchlichen Verhältnisse auf seinen Besitzungen zu kümmern, erklärte er; aber das habe seinen Grund nicht in Mangel an Interesse. »Im Gegenteil, ich interessiere mich außerordentlich für das Religiöse. Ich halte die Kirche für die wichtigste Institution in unserer Zeit; für die Institution, mit der wir stehen und fallen. Ordnung und Moral und alles Übrige« – dieses Übrige sollte eine vage Handbewegung ausdrücken – »alles das ruht eben doch schließlich auf der Religion.«

Der Graf begann sich dann näher nach der Gemeinde zu erkundigen. Im allgemeinen schien er nicht viel von den Breitendorfer Verhältnissen zu wissen; nur über zweierlei fand ihn Gerland genauer unterrichtet: daß Pastor Menke seine ehemalige Wirtschafterin geheiratet habe; und: »das skandalöse Benehmen dieses atheistischen Doktors – wie heißt er doch gleich?«

»Der Herr Graf meinen jedenfalls Doktor Haußner in Eichwald.«

»Haußner, ganz recht!« –

Graf Mahdem erging sich darauf des weiteren über den bekannten Zwist des Arztes mit den kirchlichen Organen; er bezeichnete Haußner als den »Schandfleck der Gegend« und erklärte, daß er viel darum geben würde, wenn man ihn auf irgend eine Weise »fortgraulen« könne.

Gerland hielt es nicht für nötig, anzudeuten, daß er mit Haußner in persönliche Berührung getreten sei. Er verhielt sich dem Grafen gegenüber vorsichtig. Diese plötzliche, unvermittelte Leutseligkeit seines Patronatsherrn war verdächtig; er hatte das Gefühl, daß ihm auf den Zahn gefühlt werden solle.

»Der Kirchenbesuch ist doch hoffentlich gut?« fragte der Graf. Gerland bejahte. »Das freut mich zu hören – freut mich sehr; denn das ist ja doch schließlich die Hauptsache.« – Er nickte. »Wie gesagt, ich werde nächstens einmal nach Breitendorf kommen und mich persönlich vom Stande der Dinge überzeugen. Bis dahin auf Wiedersehn, mein Herr Pastor.« – Mit verbindlicher Miene reichte er Gerland die Hand.

Mit Handkuß und einem besonderen Blicke nahm der Graf Abschied von der Pastorin.

Gerland sah sich nach Fröschel um; der Diakonus war bereits gegangen.

Gerlands Abschied von der Pastorin war kurz und frostig. Polani begleitete den Amtsbruder bis vor den Ort, um ihm den Weg nach Breitendorf zu zeigen. »Nun, was sagen Sie zu meinem Diakonus?« fragte er. »Ein merkwürdiger Mensch – was?« Dann rühmte er Fröschels Kenntnisse und stellte seiner Begabung ein ausgezeichnetes Zeugnis aus. Gerland wartete auf das »aber«, das voraussichtlich diesen Lobsprüchen folgen würde – und richtig, es kam.

»Schade, schade, um den jungen Menschen!« meinte Polani; »er zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe. Das taugt nicht für einen Theologen.«

Bald darauf trennte man sich. Polani sprach noch einmal die Bitte aus, daß Gerland nach Annenbad herüberkommen möge, so oft immer es seine Zeit erlaube. –

Auf dem mehrstündigen Heimwege fand Gerland reichlich Zeit, den Eindrücken der beiden letzten Tage nachzuhängen; er hatte mehr denn einen interessanten Menschen kennen gelernt. Aber unter all den neuen Gesichtern, die in der Erinnerung dieser zwei Tage vor ihm auftauchten, war doch die merkwürdigste und nachdenkenswerteste Erscheinung der kleine Diakonus mit dem blassen Kindergesicht, den versunkenen Augen und dem bitteren Leidenszug um die schmalen Lippen.



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