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Pfarrer Gerland hatte seine dritte Predigt in Breitendorf gehalten. Er war noch keine vier Wochen in der neuen Stelle. Aber der Weg von der Kirche zur Pfarre herüber kam ihm schon so bekannt vor, als sei er bereits seit Jahren hier. Er kannte die fünf ausgetretenen Stufen, die von dem kleinen Pförtchen der Sakristei auf einen kiesbestreuten Vorplatz führten, so gut, daß er sie ohne Besorgnis zu stolpern, die Füße mechanisch setzend, erhobenen Hauptes herabschritt.
Durch den Haupteingang unter dem Glockenturme strömte die Gemeinde zur Kirche hinaus. Hier und da bückte sich einer und legte eine Kupfermünze in das Opferkästchen, das am Boden stand.
Die Männer trugen Cylinder von vorsündflutlicher Form und langschößige schwarze Röcke; bei diesem und jenem machte sich auch eine farbige Weste breit. Mancher, der den Mittag des Lebens längst überschritten, führte noch den Rock, den er zur Konfirmation eingeweiht hatte, der damals wohlweislich auf Zuwachs berechnet worden war. Die Frauen erschienen in weiten Röcken und bunten Kopftüchern; nur einige von den jüngeren, die auswärts gedient haben mochten, trugen Hüte mit falschen Blumen und anderen städtischen Putz zur Schau.
Gegenüber der Kirchenthür hatte eine Hökerin Platz genommen, die an die Kirchgänger Würste, Semmeln und Kuchen verhandelte.
Für den Geistlichen gab es durch den Gottesacker einen Privatweg nach dem Pfarrhause. Pastor Gerland warf einen forschenden Blick nach dem Himmel: tiefblau, kein Wölkchen weit und breit. Früh, als er zur Kirche herüberschritt, hatte ihm das Aussehen des Himmels Bedenken eingeflößt; im Osten drohten weißgraue Wolkenmassen, die Sonne verdeckend. Aber während der Predigt hatte es sich aufgehellt. Dem Geistlichen war das nicht entgangen, er hatte wohl bemerkt, wie allmählich lichtere Helle in die Kirche drang, bis die Sonne blendende Vierecke auf die Steinfliesen des Bodens malte.
Sein Herz hatte frohlockt, denn er wollte heute, zum freien Sonntagsnachmittage, einen Spazierweg unternehmen: auf die Höhen, in den Wald – wer weiß wohin! –
Pfarrer Gerland war Naturfreund. Er liebte die Erde und was sie hervorbringt. Er bewunderte die geheimnisvolle Kraft, welche die Scholle mit grünen Halmen bedeckt und an den kahlen Baumgerippen Blätter und Knospen hervorbrechen läßt. Er hatte Auge und Ohr für die Wunder der Natur. Und daß er sich über die Erklärung dieser Wunder nicht den Kopf zu zerbrechen brauchte, daß er sie hinnehmen durfte als etwas Gottgewolltes und Gottgeschaffenes, das war sein besonderes Glück. Mochte die Wissenschaft mit jedem Tage außerordentliches entdecken, mochten die Naturforscher Beobachtung auf Beobachtung häufen, neue Gesetze feststellen und alte über den Haufen werfen, das konnte nur dazu dienen, die Wunderbarkeit der Schöpfung zu erhöhen, Größe und Ruhm des Schöpfers zu vermehren. Gottes Allmacht, Weisheit und Güte wuchs ihm wie ein Berg unerforschlich aus dem Innern der Erde heraus in den Himmel hinauf, wo ihn Wolken verhüllen, – Anfang und Aufhören unserem Auge entzogen. –
Dieses Bild liebte Pfarrer Gerland besonders. Er hatte es auch heute in seine Predigt eingeflochten. Ob ihn die Häusler und Bauern von Breitendorf verstanden haben mochten? –
Die Kirche war gut besucht gewesen während der drei Male, wo er im neuen Amte gepredigt hatte. Die Breitendorfer schienen viel kirchlichen Sinn zu besitzen, sie folgten dem Gottesdienste mit Andacht; nur einige Alte hatte der Geistliche schlafen sehen. –
Als Pastor Gerland heute das Pfarrhaus betrat, schlug ihm ein scharfer Bratengeruch entgegen. Unwillkürlich regte sich sein Appetit. Die Predigt und die nachfolgende langwierige Aufkündigung hatten ihn hungrig gemacht. Er legte schnell den Talar ab, zog den Sonntagsrock an und blickte dann in die Küche.
Frau Menke, die Witwe seines Amtsvorgängers, war dort am Herde thätig.
»Wann können wir wohl heute essen, Frau Pastorin?« fragte er, in der Küchenthür stehend.
Die Witwe, eine stattliche Frau, noch in den dreißigen, mit hochaufgestreiften Ärmeln, antwortete aus einer weißlichen Dampfwolke heraus: in einer halben Stunde könne das Essen aufgetragen werden, wenn es dem Herrn Pastor recht sei. Gerland war damit einverstanden.
Im Hausflur fand er eine alte Frau, die auf ihn wartete. Gerland blickte forschend in das braune verwitterte Gesicht unter der mächtigen schwarzen Haube mit den phantastischen Ohrenklappen. Mit weitvorgebeugtem Oberkörper stand sie da, auf einen Stock gestützt. Ein Wollrock von greller Farbe und eine wattierte Jacke mit altmodischen Puffärmeln war ihre Kleidung. Das ehrwürdige, ehemals goldschnittverzierte Gesangbuch, um welches zur Schonung ein Zipfel des buntgedruckten Taschentuches geschlagen war, fehlte nicht in ihren verdorrten Händen.
Sie sprach mit zitterndem Haupte. Was sie sagte, konnte der junge Geistliche nicht verstehen; der Dialekt der Gegend bereitete ihm noch Schwierigkeiten. Er beugte sich zu der Alten herab.
»Was wünschen Sie von mir, liebe Frau?« fragte er und versuchte seinen Zügen den freundlichsten Ausdruck zu geben.
»Haa?« – machte die Alte, zum Zeichen, daß sie nichts verstanden habe und zeigte ihre lückenhaften Kiefer. Gerland wiederholte seine Frage. Als geborener Städter wurde es ihm so schwer, sich mit diesen Leuten zu verständigen.
»Sein Se unse neier Pfarr?«
»Allerdings, ich bin der Geistliche.«
»Iche bi namlich de Heenzen huba vu dar Eibe, Märzliebs-Hanne tun se mich heeßa.«
»Sie kommen von Eiba?« wiederholte Gerland, froh, daß er wenigstens das eine Wort verstanden hatte. »Sehen Sie einmal an, dann gehören Sie also zu meinen entferntest wohnenden Parochianen.«
Grinsend sah sie ihn von der Seite an und blinzelte mit den Maulwurfsaugen. Er forderte sie auf, in sein Expeditionszimmer zu kommen, das er sich im Parterre eingerichtet hatte. Die Alte folgte ihm langsam, mit den ungewohnten Lederschuhen schwerfällig tappend. Die Thürschwelle bereitete ihr Schwierigkeiten. Der Geistliche faßte sie an der Hand und half ihr herüber. Das machte sie sichtlich zutraulicher. »Dank och schiena, dank och schiena!« Gerland bot ihr einen Stuhl an und fragte sie von neuem nach ihrem Begehr.
»Entschuld'gen Se ock, iche koan blußig bäuersch mit Se raden,« begann sie und wickelte in ihrer Befangenheit das Gesangbuch aus und ein. »Iche wullt ock fragn, ob Se niche heute zu unsarn klennen Madel kima kinnten?«
»Ist das Mädchen krank?«
»Se leit schun in zahnten Monda.«
»Was fehlt ihr denn?«
»Dar Dukter sagta übern Suhn und ar meenta, 's ginga nu ufs latzta mit er. –«
»Und da wünschen Sie wohl, daß ich sie berichten soll?«
»Ne ne, se is no ne kunfermiert.«
»Wie, Sie hätten eine Tochter, die noch nicht eingesegnet ist?«
»Ne, 's is ju dan Suhn senna Kleena. Karl Heenze is nämlich mei Suhn.«
Gerland versprach der Alten, noch im Laufe des Nachmittags zu kommen. Er ließ sich Namen und Katasternummer genau angeben und geleitete sie dann nach der Hausthür. Sorgsam führte er die alte Frau einige steinerne Stufen hinab, die von der Schwelle in den Garten hinunter führten. Es war ihm nicht unangenehm, daß ein paar Gemeindemitglieder, die eben zur Gartenpforte eintraten, diesen Vorgang mit ansahen, und auch noch das warme »Bezahl's Gutt, bezahl' Sie 's dar liebe Gutt!« der alten Märzliebs-Hanne vernahmen.
Einige Männer waren gekommen, welche Taufen anmelden wollten, ein anderer kam in Aufgebotsangelegenheiten. Es war Sitte in dem ausgedehnten Kirchspiele von Breitendorf, alles Geschäftliche mit dem Geistlichen am Sonntage zwischen den Gottesdiensten abzumachen. In einem fort ertönte die Klingel über der Hausthür, beim Öffnen in aufsteigender, beim Schließen in fallender Tonleiter.
Auf diese Weise war die Essenszeit herangekommen. Die Pastorswitwe teilte Gerlands Mahlzeiten; ein Mädchen, das er sich als Aufwartung hielt, bediente.
Pastorin Menke hatte Zeit gefunden, das Küchengewand mit einem schwarzen Kreppkleid zu vertauschen, das gut zu ihren frischen Gesichtsfarben stand. Ihr Mann, der vor einem Vierteljahr ganz plötzlich infolge eines Schlagflusses gestorben, war um mehrere dreißig Jahre älter gewesen, als sie. In ihren Witwenstand schien sie sich gut gefunden zu haben; nur hin und wieder hielt sie es für passend, dem Verstorbenen ein paar Thränen nachzuweinen, die ihr schnell zur Hand waren.
Gerland hatte die Witwe seines Amtsvorgängers im Pfarrhause vorgefunden, als er die neue Stelle antrat. Ihm war es recht, daß sie das Gnadenjahr im alten Heim verbringen wollte. Sie erbot sich, auch in Zukunft die Wirtschaft zu führen. Er nahm das Anerbieten an, weil es so für alle Teile das bequemste erschien. Und es stellte sich bald heraus, daß er dabei nicht schlecht gefahren sei. Die Pastorin war eine energische Frau, griff überall selbst mit zu und hielt das Hauswesen in musterhafter Ordnung.
Bei Tisch sorgte sie für die Unterhaltung. Sie sprach gern, vor allem über den lieben Nächsten, wenn auch nicht immer liebevoll. Sie kannte die Dorfleute genau und war mit dem Klatsch der ganzen Gegend vertraut; voll Eifer ging sie daran, den Neuling einzuweihen. Gerland ließ ihr das Vergnügen. Es war für ihn nicht ohne Wert, über die gänzlich fremden Verhältnisse der neuen Heimat etwas zu erfahren. Und dann unterhielten und zerstreuten ihn diese Gespräche auch. Er war sehr einsam; noch keinerlei Verkehr hatte sich bis jetzt für ihn gefunden, allerdings nicht ohne seine Schuld, denn er hatte noch keinen Umgang gesucht. Als Städter und studierter Mann fand er sich sehr schwer in die ländlich ungehobelten Sitten seiner Parochianen. Die gebildeten Leute waren äußerst dünn gesät in dem abgelegenen Gebirgswinkel.
Auch die Pastorin war von ländlicher Herkunft, ihr Deutsch war nicht das beste, und mit der Orthographie lebte sie auf ziemlich gespanntem Fuße, wie Gerland aus ihren Wochenrechnungcn bereits ersehen hatte. Auch stützte sie beim Essen nicht selten die Arme auf den Tisch und benutzte mit Vorliebe das Messer zum Auflöffeln der Sauce.
Der junge Geistliche, der vom Elternhause her an gute Manieren gewöhnt war, drückte darüber ein Auge zu. Sie hatte etwas Frisches in ihrem Wesen, das ihre Formlosigkeit erträglich machte. Ihre Ausdrücke, die nicht immer die gewähltesten waren, verletzten nicht, denn sie perlten mit natürlicher Lebhaftigkeit von einem roten Munde, der prächtige gesunde Zähne blicken ließ. Es war eine Lust, sie lachen zu sehen, obgleich sie dabei den Oberkörper über Gebühr hin und her warf und häufig die drallen Arme auf die breiten Hüften stützte.
Er fand den Umgang mit ihr äußerst bequem; sie war immer guter Dinge, gleichmäßig heiter und unterhaltend. Daß sie sofort das Taschentuch hervorzog, sowie das Gespräch auf den verstorbenen Pastor kam, war eine Schwäche, die ihr Gerland, im geheimen darüber belustigt, gern nachsah. –
Zum Sonntag hatte die Pastorin nach dem Braten eine süße Speise auf den Tisch gebracht. Man war eben dabei, sie zu genießen, als Gerland Schritte im Garten vernahm. Nach dem Fenster blickend, sah er einen Mann auf das Haus zukommen.
»Dornig!« rief der Geistliche, sprang vom Stuhle auf und eilte ans Fenster.
Ein junger, korpulenter Mensch, bartlos, im schwarzen Rock, ein Brille vor den Augen, kam auf ihn zu und reichte ihm lachend die Hand zum Fenster hinauf.
Gerland zeigte sich befangen. Es war ihm nicht unbekannt gewesen, daß sein ehemaliger Schulkamerad Dornig nicht weit von Breitendorf als Pfarrer angestellt sei, aber er hatte es bisher versäumt, ihn aufzusuchen. Das Bewußtsein dieser Unterlassung machte ihn unsicher dem andern gegenüber. Er versuchte es, sich zu entschuldigen und sein Ausbleiben zu erklären, verwickelte sich dabei aber in Widersprüche.
Pastor Dornig lächelte gutmütig dazu. Er schien nicht im mindesten gekränkt. »Ich habe dich immer erwartet,« meinte er. »Und als du nicht kamst, dachte ich, da läufst du eben selbst mal 'rüber. Man marschiert immerhin seine zwei Stunden zwischen Färbersbach und Breitendorf. Ich bin gleich nach der Predigt fortgegangen.«
Dornig hatte den Hut vom Kopfe genommen und wischte sich den Schweiß von dem breiten Gesichte und dem fleischigen Nacken.
»Dann hast du also noch gar nicht gegessen?«
»Nein, gegessen habe ich noch nicht.«
»Aber, dann mußt du doch gleich – bitte, komm herein! Frau Pastorin, lassen Sie noch ein Gedeck auflegen.«
Pfarrer Dornig wurde ins Zimmer genötigt. Es stellte sich heraus, daß er und Pastorin Menke Bekannte waren.
Suppe und Braten wurden noch einmal hereingebracht. Dornig hieb tüchtig ein. »Ja ja, die Frau Pastorin kann kochen, das wissen wir,« meinte er, mit vollen Backen kauend, und blinzelte dem Amtsbruder zu.
Gerland bat um Kaffee. Er erwartete, die Witwe würde sich dadurch veranlaßt fühlen, ihn mit dem Amtsbruder allein zu lassen. Aber sie trug dem Mädchen auf, das Kaffeezeug herein zu bringen; sie selbst blieb sitzen, um nur ja nichts von der Unterhaltung zu versäumen, die sich um die Geistlichen der Diözese und ihre Familien drehte. Sie wußte eine Menge Skandalgeschichten zu berichten, über den Lebenswandel der geistlichen Herren und ihrer Ehehälften. Dornig hörte dem mit Behagen zu, häufig unterbrach er sie mit einem breiten Lachen.
Gerland war einsilbig geworden, ihn verstimmte dieses Gespräch. Sowie der Kaffee getrunken, schlug er dem Amtsbruder vor, ihn auf einem Gange zu begleiten.
»Amtspflichten am Sonntag Nachmittage? Bist du so eifrig in der neuen Stelle?« meinte Dornig, der sich in seinem Lehnstuhle mit seiner Cigarre, in Gesellschaft der munteren Witwe behaglich fühlte und keine Lust zum Aufbrechen zu verspüren schien.
»Ein Mädchen liegt im Sterben. Ich bin aufgefordert, sie zu berichten.«
»So – das ist natürlich etwas Anderes.« –
Die beiden machten sich auf den Weg. Erst ging's ein Stück die Dorfstraße hinauf. Die Leute standen in den Hausthüren oder hinter den Zäunen – die Männer mit sonntäglich frischen Hemdsärmeln – und genossen den ersten wirklich schönen Frühlingstag des Jahres.
Die Geistlichen wurden neugierig begafft. Mehrfach geschah es, daß Kinder, die auf dem Wege spielten, aufsprangen, als sie der beiden schwarzen Röcke ansichtig wurden, und ins Haus liefen, um den Eltern zu berichten: »Dar Pfarr' kimmt, und no' enner!«
Gerland grüßte, so oft er eines Erwachsenen ansichtig wurde, als Erster. Die Leute sollten sehen, daß er es sich angelegen sein ließ, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Nirgends klapperte heute der Webstuhl, dessen eintönige Musik dem jungen Geistlichen bereits vertraut geworden war. Als sie an der Schenke vorbeikamen, standen dort eine Anzahl jüngerer Männer mit geröteten Gesichtern, die Mützen schief auf dem Ohre, die Hände in den Hosentaschen. Der Lärm, der erst geherrscht hatte, verstummte, als die beiden Geistlichen herankamen. Einen Augenblick lang schien es, als wollten sie nicht Platz machen, aber schließlich trat man doch beiseite, wenn auch zögernd.
Gerland schritt, den Hut lüftend, mit einem »Guten Tag!« durch die Rotte, gefolgt von Dornig.
Hinter dem Dorfe schlugen sie einen schmäleren Fahrweg ein, nach dem hochgelegenen Eiba.
Gerland blieb stehen, als man die halbe Höhe erreicht hatte, um Rundschau zu halten. Ein äußerst durchschnittenes Gelände dehnte sich ringsum aus, unregelmäßig durcheinanderliegende Höhenzüge, die Kuppen meist bewaldet. Das blendende Nachmittagslicht verhinderte die Aussicht auf den langgedehnten, hinter den Vorbergen aufragenden Gebirgsstock. In der Thalsenke lag Breitendorf, lang auseinandergezogen mit unsicheren Marken, einzelne Ausläufer hinaufschiebend bis an den Wald. Ein Fluß oder ein größerer Wasserspiegel fehlten der Gegend. Die Flur war verteilt in unzählige braune und grüne Streifen und Ackervierecke. Reich war die Gegend höchstens an Abwechselung. Strohdächer herrschten vor, die blitzende Fläche eines Schiefer- oder Ziegeldaches bildete einen auffälligen Punkt in dem Bilde.
Pfarrer Gerland schaute nach seiner Kirche aus. Sie konnte sich sehen lassen. Das Dach war hoch und steil abfallend, mit hellroten Ziegeln gedeckt, die Wände weiß getüncht. Der Turm, etwas niedrig für die Größe des Gebäudes, hatte eine grüne Haube. Das Pfarrhaus daneben verschwand ganz in Bäumen.
»Deine Parochie ist ganz gehörig groß,« meinte Dornig, »und sehr auseinandergelegen. Das wird dir oft höllisch unbequem werden.«
»Unbequem, wieso?«
»Das viele Laufen bei Hitze, oder im Winter bei hohem Schnee. Da habe ich's besser; meine Parochie ist halb so groß und hübsch zusammengelegen.«
»Ich bin ein guter Fußgänger.«
»Wart's nur erst ab. Wenn sie dich mitten in der Nacht aus dem Bette holen zum Berichten. Das lieben sie hier in der Gegend sehr. Der Schande halber kann man doch nicht nein sagen. Und nachher, wenn man hinkommt, ist's 'ne alte Frau, die zum zehnten Male sterben will, ›'s is mer su wia ims Harze,‹ sagt sie, wenn du sie fragst, was ihr fehlt. Und dafür bist du um deine Nachtruhe geprellt. – Das wirst du alles noch durchmachen; paß mal auf!«
Dornig schritt vor Gerland her. Der sah den breiten Rücken des andern und den roten Nacken, in den die hellblonden von Schweiß zusammengebackenen Haarsträhne herabhingen. Dornig hatte sich doch nicht ein bißchen verändert seit der Schulzeit.
Sie schwiegen längere Zeit. Es drängte Gerland, etwas von seinen Plänen zu verraten, das große Ziel, das er sich gesteckt hatte, wenigstens von weitem anzudeuten; aber rechtzeitig warnte ihn noch die Besorgnis, sein Heiligstes zu profanieren.
Plötzlich fragte Dornig im Weiterschreiten: »Wie bist du eigentlich auf den Gedanken gekommen, dich zu der Breitendorfer Stelle zu melden?«
»Sie war gerade vakant und da griff ich schnell zu.«
Gerland lächelte in sich hinein, froh über sich selbst, daß er dem andern ausgewichen. Aber Dornig war nicht so leicht von einer aufgenommenen Fährte abzubringen.
»Wenn's noch ein anderer gewesen wäre; aber du, du hattest es doch wirklich nicht nötig, nach der ersten besten Stelle zu haschen; du konntest es doch ruhig abwarten, bis sich was Besseres bot.«
Gerland fühlte sich doch angenehm berührt durch die gezollte Anerkennung.
»Nun, ich wollte eben aufs Land, in einfache Verhältnisse; das war von jeher mein Ideal.«
»Du wirst noch dein Haar finden in den einfachen Verhältnissen. Was willst du in diesem Winkel anfangen? Von allem bist du hier weggesetzt. Ich wäre in der Stadt geblieben an deiner Stelle, das wüßte ich. In der Stadt kann man viel eher was erreichen.«
»Ich will gar nichts erreichen – wenigstens was äußere Ehren anbelangt.«
Dornig blieb stehen, vielleicht weil der Weg jetzt steiler wurde, und sah den Amtsbruder mit seinen wasserblauen Augen verwundert an. Er wollte etwas sagen, unterdrückte es jedoch, als er Gerlands ernstes Gesicht bemerkte.
Beide mußten an die Schulzeit zurückdenken, als sie sich jetzt so nahe Auge in Auge blickten. Sie waren natürliche Antipoden gewesen in der Klasse. Schon als Knabe war Gerland seine eigenen Wege gegangen.
Dornig nahm die Brille herunter und putzte daran herum, dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn, der dem fleischigen Manne aus allen Poren drang.
Von jetzt an übernahm Gerland die Führung. Man trat kurz vor der Höhe in ein Stück Wald: Nadelholz. Nur hier und da leuchtete eine Birke mit weißem Stamme und hellgrüner Perücke aus dem braungrünen Ernste der Kiefern und Fichten hervor. Die Nachmittagssonne warf schräge Streifen über den sandigen Weg und den aufkeimenden Teppich von Gräsern und Heidelbeerkraut.
Der Wald war zu Ende; einige hundert Schritt vor ihnen lagen strohbedeckte Hütten, etwa ein Dutzend an Zahl, über die Berglehne verstreut, auf grüner Wiesendecke, umstanden von knospenden Obstbäumen. Darüber erhob sich als steiler Hintergrund der Tannenforst.
Es war ein Bildchen für sich, ausgeschnitten aus dem Rund der großen Welt.
»Ist das schön!« rief Gerland aus, und hielt die Hand über die Augen zum Schutz gegen die Sonne.
»Geh nur erst rein in die Holzstuben,« meinte Dornig, »da ist von Schönheit nicht viel zu spüren. Manchmal hocken sie drin zu zwei und drei Parteien – schlafen, essen, wirken und treiben alles in einem Raume. Gelüftet wird nie. Von Menschen kann man da kaum mehr reden.« –
Gerland fand sich nach der Beschreibung, die ihm die alte Märzliebs-Hanne gegeben, bald zurecht. Das Haus lag etwas abgesondert von den übrigen. Eine Pfütze davor hatte ihm die Frau als besonderes Wahrzeichen genannt. Einige Gänse mit Jungen lagen am Rande; der Gänser fuhr bösartig zischend auf die Fremden ein. In der Thür stand ein Junge von etwa acht Jahren, im Feiertagsstaate, wie ein Erwachsener gekleidet, mit langen Beinkleidern, Schirmmütze, blauem Halstuch, Holzpantoffeln an den nackten Füßen. Offenen Mundes starrte er die Fremden an, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.
»Wohnt hier Frau Heinze, mein Junge?« fragte Gerland. Der Junge blickte weg, als sei er nicht gefragt.
»Kannst du mir nicht sagen, ob Frau Heinze hier wohnt, mein Junge?«
»Mit denen muß man anders reden,« meinte Dornig herantretend. »Das sind Dickköpfe hier.« Er faßte den Knaben unter dem Kinn, zwang ihm das Gesicht in die Höhe und fragte, ihm scharf in die Augen blickend: »He, Bengel, wem gehört das Haus hier?«
»Heenzes Karle,« knurrte der Junge.
»Siehst du's, er weiß es ganz gut. Nur nicht zu höflich sein; das halten sie für Dummheit.«
Er ließ das Kind los. Der Junge stolperte von dannen, so schnell es ihm die Holzpantoffeln gestatteten; als er die Pfütze zwischen sich und die beiden Geistlichen gebracht, brach er in ein wütendes Heulen aus. – Dornig lachte.
Inzwischen war man im Hause rege geworden. Verschiedene Köpfe erschienen an den kleinen erblindeten Fenstern.
Die beiden traten über die Holzschwelle auf den lehmgestampften Gang, der die Hütte in zwei Hälften teilte. Linker Hand war ein Bretterverschlag, Ziegen meckerten dahinter. Durch die offenstehende Hinterthür hatte man einen Ausblick auf den Misthaufen, der dicht am Hause lag.
»Was habe ich dir gesagt?« flüsterte Dornig, »wie das liebe Vieh leben sie.«
Jetzt öffnete sich die Thür zur Rechten, die alte Frau steckte den Kopf zur Spalte heraus. Als sie Gerlands ansichtig wurde, grinste sie über das ganze Gesicht: »Nu, kimmt ack rei, kimmt ack rei!«
In der Wohnstube schlug den beiden ein stickiger, sauerstoffarmer Dunst entgegen. Der hochgewachsene Gerland mußte sich bücken, um nicht an den Tragbalken der niederen Decke anzustoßen.
Eine Frau in mittleren Jahren, mit bloßen Armen, ein buntes Zipfeltuch um die Brust geschlungen, brachte zwei Stühle herbei, die sie sorgsam mit der Schürze abwischte.
Gerland grüßte befangen nach allen Seiten. Diesen Leuten gegenüber beherrschte ihn stets die Besorgnis, für hochmütig gehalten zu werden. Er meinte in ihren Mienen Argwohn und Feindschaft zu lesen. Seine Überlegenheit, Bildung und günstigere Lage empfand er als bohrenden Vorwurf ihrem Elend gegenüber. Daß ein solcher Abstand zwischen Mensch und Mensch bestehen könne, fühlte er gewissermaßen als persönliche Schuld.
Von solch sentimentalen Bedenken ahnte Dornig nichts. Selbstbewußt blickte er um sich und musterte die verschiedenen Persönlichkeiten, die in dem engen Raume zusammengepfercht waren, mit Kennermiene. »Hier muß man sich erst 'mal orientieren,« meinte er. »Ist das alles eine Familie?«
»Ju, ju, mir geheeren zusammde!« erklärte die alte Frau. »Der doa is mei Suhn, Karl Heenze.« Sie wies auf einen hageren Mann mit ausgemergelten Gliedern und bartlosem hohlwangigem Gesichte, der in Hemdsärmeln und bloßen Füßen in der Hölle des Kachelofens hockte.
»Schön, das ist also der Hausherr,« meinte Dornig. »Übrigens Sie führen doch einen ganz anderen Namen, als Ihr Sohn, wenn ich recht gehört habe?«
»Se heeßen mich alls de Märzliebs-Hanne. Sahn Se, dos kimmt su: mei Vater sal'ch hieß Gottlieb und woar Uchsenknacht bein Märzenpauer. Se hießen en ock Märzlieb, mennen Voter. Dodarvune hoe ich dan Namen: Märzliebs-Hanne.«
Dornig nickte mit dem Kopfe. »So so! das muß man nur wissen.« Und zu Gerland gewendet, erklärte er: »Hier führt nämlich niemand seinen wirklichen Namen. Sie haben alle Spitznamen.«
Dornig war nicht scheu. »Wie viele Kinder haben Sie, Heinze?« fragte er den Hausherrn.
»Fünfe, drei Madel und zwee Jungens – viera sein tud.«
Dornig sah sich im Zimmer um und zählte. »Hier sind ja noch zwei mehr; wem gehören denn die?«
Ein kurze Pause entstand, etwas wie Verlegenheit drückte sich in den Mienen der Leute aus. »Zweia sein dere do ihra,« erklärte endlich die jüngere Frau und wies mit dem Finger über die Schulter nach einem weiblichen Wesen, das hinter dem Webstuhle saß und jetzt kichernd das Gesicht abwandte. Ein Wochenkind lag neben ihr auf der Bank, das sie gestillt haben mochte, ehe sie durch den Eintritt der Herren gestört wurde. Sie mußte noch sehr jung sein, und hatte ein hübsches Gesicht mit frischen Farben. Unter dem Gestell des Webstuhles leuchteten ihre bloßen Waden rosig hervor. Einmal warf sie einen scheuen Blick nach den Fremden herüber, um dann sofort wieder ihr Gesicht zu verstecken.
Auch an sie richtete Dornig seine Fragen, aber er erhielt nichts als Kichern zur Antwort.
»Ga, doas sein dar ihre Kinder,« erklärte endlich die alte Frau. »Dar Liebsta is bein Suldaten.« –
Gerland hatte das Gleichgewicht der Stimmung immer noch nicht wiedergefunden. Auf solchem Boden versagten ihm alle geistigen Hilfsmittel. Zuviel Widerliches stürmte auf sein Gemüt ein. Die schlechte verbrauchte Luft benahm ihm fast den Atem. All das Unästhetische, der Anblick der blassen, verwahrlosten Kinder, von denen eines häßliche Pusteln auf dem Kopfe hatte, verursachte ihm Ekel. Und dann die sittliche Verrohung, welche hier gedieh!
Ihn verdroß auch das selbstbewußte Betragen des Amtsbruders. Schließlich war doch er der Hirte dieser Seelen. Jener mochte nur mit seiner Überlegenheit protzen, die Zeit würde schon kommen, wo er in ganz anderer Weise auf die Gemüter dieser Verwahrlosten einwirken wollte.
Er fragte die alte Frau, wo das kranke Mädchen sei und bat, zu ihr geführt zu werden.
Das Kind war in der Kammer neben der Wohnstube untergebracht. Es war ein elendes Verließ, vier Lehmwände, an denen hie und da noch die Überreste von ehemaligem Anstrich zu erkennen waren. Von den zwei winzigen Fensterscheiben, ohne Rahmen in die Wand eingelassen, war die eine zerbrochen.
Gerland machte die Thür nach dem Wohnzimmer zu. Er wollte nicht beobachtet sein, vor allem nicht von Dornig; denn hier nahte eine ernste Stunde, das fühlte er, sobald er einen Blick auf die Kranke geworfen.
Das Mädchen lag in einer elenden Bettstelle, die schief stand, da ein Fuß abgebrochen war und man einige Ziegelsteine als Ersatz hingestellt hatte. Aus dem Strohsack, auf welchem sie ruhte, blickten an mehreren Stellen die Halme heraus. Widerlicher Geruch erfüllte den Raum. Eine Menge Fliegen schwirrten umher. Der junge Geistliche bemerkte das alles, aber es focht ihn nicht an. Er empfand keinen Ekel mehr, die Krankenatmosphäre schien nicht auf seine Lunge zu drücken. Es war ihm leicht, die Hand der Kranken zu ergreifen und ihr in das abgezehrte Gesicht zu blicken. Diese Züge zogen ihn an in ihrer durchgeistigten Magerkeit. Vom ersten Augenblicke an fühlte er einen Konnex zwischen sich und dem Mädchen hergestellt.
Die alte Frau fing an zu jammern und zu weinen, sie wollte die ganze Krankengeschichte erzählen. Gerland bat sie, sich zu entfernen. Er wollte allein sein mit dem Mädchen – Menschenkind gegen Menschenkind.
Als die Alte gegangen, stellte er einige Fragen. Die Kranke antwortete mit leiser Stimme in ihrem Dialekte, für ihn kaum verständlich.
Er nahm sie unter den Einfluß seiner Blicke, und es gelang ihm, ihre Augen, die anfangs scheu umherwanderten, in die seinen zu bannen. Er fühlte seine Macht wachsen. Und nun begann er zu sprechen, so, wie er meinte, daß sie es verstehen könne. Diese Welt sei ein Jammerthal und nicht wert, daß man sein Herz an sie hänge, jenes Leben aber würde voll Frieden sein und allen Erdenschmerz ausgleichen. Dort würden wir von Sünden frei sein und darum selig. Wer aber hatte die Macht der Sünde gebrochen? Christus, durch sein Blut. – So führte er sie zu der Gestalt, bei der er selbst in jeder Not seiner Seele noch immer Trost gefunden. Er rief ihr den Christus vor die Augen, der, ganz Mensch und Bruder, jeden Kummer des Menschengeschlechtes verstanden und geteilt. Nicht den Weisen, den Religionsstifter citierte er, auch nicht den erhabenen Richter, der voll eifernder Worte den Feinden seiner Sache mit Gottes Zorn droht. – An diesem Schmerzenslager sprach er von dem Christus, welcher an Lazarus' Grabe Thränen vergoß, dem Freunde der Menschen, dem kein Leid dieser Erde fremd gewesen.
Die Worte drängten sich ihm auf die Lippen, schlicht und gut, er wuchs an der eignen Begeisterung. Die Lehre, welche er so oft im nüchternen Gotteshause vor einer halb verschlafenen Gemeinde verkündet hatte, erschien ihm dieser dem Tode verfallenen Gestalt gegenüber wie etwas Größeres und Neues; noch nie war er so von ihrer Wahrheit durchdrungen gewesen.
»Glaubst du an Jesum Christum?« fragte er das Mädchen, »und daß er dich durch sein Blut erlöset hat?« Er sah mehr, daß sie bejahte, als daß er es hörte. »Dann wirst du selig sein in ihm.«
Er ließ sich neben dem Bette auf die Kniee nieder, faltete die Hände vor dem Gesicht und sprach ein inbrünstiges Gebet. Er empfahl diese Seele dem allmächtigen Gotte, dessen Nähe er deutlich zu fühlen vermeinte.
Dann erhob er sich und öffnete die Thür. Pastor Dornig sah den Amtsbruder mit einem Blicke an, als wolle er sagen: ›Na, endlich fertig!‹ –
»Was meenen Se denne,« wandte sich die alte Frau mit besorgter Miene zu Gerland, »warn mer se ebissen missen, 's Madel?«
»Das steht in Gottes Hand, liebe Frau.«
»Kinnt ack der liebe Gutt ne a Einsahn han? 's wor su a hibsches Madel, und goanz gesund bis dohin. Gerne gahn mer se ne har. Arbeeten that se schun wie a Grußes.«
»Ich sogs duch immer,« fiel die Mutter des kranken Mädchens ein, »wenn mer a Kind su weit hoat und se kinnen salber woas verdiena, dernoa missen se wag. Ich hoe 'r schun zwee uf'n Kirchhufe. Ne ne, 's gieht ne immer geracht zu ei dar Welt. Ich hoe duch su gebatet, su siehre gebatet hoe ich im dos Madel. Aber unserenen derhört dar liebe Gott ne. Drüben dar Bömichpauer, dar Hot och an kranken Jungen gehont; su krank wie dar woar, dar Dukter sogte, ar wirde dan Summer niche darlaben. Heute läuft ar rim wie ener. – Und dar Bömichpauer is duch su a schlachter Racker, a Viech- und Menschenschinder is dar; dos sogt a jeds. – Dan hot ar nu darhiert, und uns ne. Ne ne, ees koan duch moanchmol ne verstiehn, wos dar lieba Gott fürhot.«
Die beiden Geistlichen brachen auf. Die alte Frau kam ihnen noch ins Freie hinaus nachgelaufen. »Pfarr'!« rief sie, mit ihren knochigen Armen winkend, »Pfarr'!«
»Sie will dir noch was sagen, ich kann mir schon denken was!« meinte Dornig.
Gerland kehrte um und trat zu der Alten.
»Ich dank' och schiena, daß 'r gekumma sedt.«
»Das war ja nur meine Pflicht, liebe Frau.«
»Dar alte Pfarr' wär ne gekumma – nee, dar ne!«
»Pastor Menke wäre sicher auch gekommen; das glaube ich bestimmt.«
»Nee, dar ne!« Sie senkte ihre Stimme und blinzelte mit den kleinen roten Augen. »Dar hielt 's mit de Reichen. A Arms, das mußte dreimol schicken und darnoa kam er manchmol no ne. Su ener wor dar. – Menen Suhne woar's o gornich racht, daß 'ch Se gerufen hoe, ar hoat gebissen, als ar's hierte. Ich ho ibern gesogt, Karle, ho 'ch gesogt, ich warn Pfarrn bezahla, wenn de ne willst und bist su geiz'g, aber guttlus soll mer dos Madel ne sterba. – Na, und wos bi'ch denne anu schüldg?« –
Gerland verstand diesen Gedankengang zunächst nicht. Dornig mußte den Interpreten machen. Als er endlich begriffen, was die Frau wollte, errötete der junge Geistliche über und über und konnte eine Gebärde des Unwillens nicht unterdrücken.
Es dauerte einige Zeit, bis Dornig der Alten klar gemacht, daß sein Amtsbruder für den Gang keine Bezahlung annehme. Schließlich streckte sie Gerland freundlich grinsend die dürre, gebräunte Hand entgegen: »Na, dann bedank'ch mich och schienstens, – kimmt ack beede a mal wieder – dank och schiena!« –
»Du hast noch viel zu viel Zartgefühl,« meinte Dornig im Gehen, »das muß man sich abgewöhnen mit denen.« Er triumphierte im Innern, wie glänzend sich seine Erfahrenheit dem Amtsbruder gegenüber dargethan hatte. –
Eines der Häuser, an dem sie vorbei kamen, trug einen etwas städtischeren Charakter, als die andern. Es war eine Art Schaufenster vorhanden, mit Krämerware. Steinerne Stufen führten zu einer Thür mit bunten Glasfenstern empor. Über der Thür stand auf blauem Holzschild mit weißen Lettern zu lesen: »Krämerei und Branntweinschank.«
Laute Stimmen ertönten aus dem Laden, wie von Leuten, die sich heftig stritten, dann klirrte eine zerbrechende Scheibe, die Thür flog auf, und eine Gestalt schoß jählings die steinernen Stufen hinab und blieb unten liegen.
Gerland sprang hinzu, er glaubte, der Gestürzte müsse sich verletzt haben, aber der Mann erhob sich, machte ein paar Schritte nach vorwärts, stark torkelnd; unfehlbar wäre er von neuem gefallen, wenn er nicht zur rechten Zeit einen jungen Obstbaum erfaßt hätte, an den er sich anklammerte. Ein paar Männer waren hinter ihm drein die Steinstufen herabgestolpert, gleich dem Herausgeworfenen schwer betrunken. Sie hatten offenbar nicht übel Lust, den Streit im Freien fortzusetzen, aber der Anblick der beiden Geistlichen hielt sie im Zaume.
Gerland betrachtete kopfschüttelnd die Szene. Der Gestürzte hielt sich noch immer an dem Baume fest, Blut floß ihm von der Stirn, er begann jetzt kläglich zu weinen.
Gerland wollte auf ihn zu. Dornig hielt den Amtsbruder ab. »Unsinn!« sagte er halblaut. »Laß dich auf so was nicht ein! Am besten man hält sich ganz fern davon.«
Die zwei anderen betrachteten die Geistlichen mit herausfordernder Miene und machten spöttische Bemerkungen.
»Komm, gehen wir!« riet Dornig, dem die Situation bedenklich zu werden anfing. »Wenn die betrunken sind, sind sie zu allem fähig.«
Aber der heißblütige Gerland ließ sich nicht halten, er that einige Schritte auf die Burschen zu, seine Augen blitzten, rote Flecken zeichneten sich auf seinen Backen ab: »Ist das die Art, wie ihr hier den Sonntag heiligt?«
Die Männer standen mit verdutzten Gesichtern da. »Pfui!« rief Gerland, vor ihnen stehend, »pfui!« Mehr wußte er in seiner Erregung nicht vorzubringen.
Der Gestürzte hatte den stützenden Baum inzwischen fahren lassen und saß jetzt im Grase. Er nickte Gerland, beistimmend zu und rief mit grölender Stimme: »Dos is unse Pfarr'! Ju ju, dos is unse Pfarr'!« Dann begann er, immer noch sitzend, »Jesus meine Zuversicht« zu intonieren.
Mehr dem Gefühle des Ekels, als Dornigs Zureden Folge gebend, verließ Gerland den Platz. Höhnische Bemerkungen, Gelächter und Pfeifen klang hinter den Geistlichen drein.
Gerland war totenbleich geworden, der Spazierstock zitterte in seiner Hand. Lange Zeit sagte er kein Wort.
»Moralische Entrüstung ist ganz unangebracht in solchen Fällen,« meinte Dornig nach einiger Zeit. »Gewiß, es ist ja traurig! Aber so änderst du nichts daran. Ich fürchte, hier ist überhaupt nicht viel zu helfen.«
»Das gebe ich nicht zu. Zu helfen muß sein!«
»Wenn man eine Million in der Hand hätte, könnte man vielleicht einiges bessern. Die Verhältnisse der Leute sind eben zu elend.«
»Nun, ist denn die Liebe gar nichts?«
Pastor Dornig hatte einen kurzen eigentümlichen Seitenblick auf diese Bemerkung des Amtsbruders, als wolle er sagen: ›Wozu das, wenn wir unter uns sind?‹ Dann zuckte er die Achseln.
Man schritt längere Zeit schweigend nebeneinander her. Sie waren inzwischen wieder in den Wald gekommen. Gerland achtete nicht auf Weg und Umgebung. Das Erlebte beschäftigte ihn ganz.
»Was war mein Amtsvorgänger für ein Mann?« fragte er plötzlich.
»Menke war kein schlechter Seelsorger – im allgemeinen. Er verstand sich auf die Leute, und hegte keine Illusionen; er kannte die Menschen, vor allem den Bauer. In den letzten Jahren war er etwas bequem geworden.«
»Bequem – wahrhaftig! ein schönes Prädikat für einen Seelsorger.«
»Gott – was willst du! Er hat sein halbes Leben in der Breitendorfer Stelle zugebracht. Er war so recht verbauert hier.«
»Und das findest du so selbstverständlich?«
»Ach Gott – der hohe Schwung, – die Ideale, das legt sich alles mit der Zeit, bei dem einen früher, bei dem andern später.«
Wieder trat Schweigen ein. Pastor Dornig pfiff sich ein Liedchen und schlug mit dem Stocke die Köpfe der am Wege stehenden Blumen ab.
Gerland fühlte in diesem Augenblicke einen Widerwillen gegen den Amtsbruder, der an Haß grenzte. Schien er nicht mit seinem phlegmatischen Lächeln, seinem trägen Achselzucken und jedem seiner flachen Worte doch immer recht zu behalten! –
»Nein, Menke war noch gar nicht so übel; wenn nicht die dumme Geschichte gewesen wäre. – Seine Frau, die hat ihm eben das Renommee verdorben.«
Gerland stutzte: »Wieso! – Was soll denn mit der Pastorin gewesen sein?«
»Du hast wohl keine Augen im Kopfe, Gerland?«
»Nun, daß sie nicht vom allerfeinsten Stoffe ist, das habe ich natürlich gemerkt,« erwiderte Gerland verwirrt.
Pastor Dornig lachte und pfiff vor sich hin.
»Was wird ihr denn vorgeworfen?« fragte Gerland beinahe ängstlich.
»Sie war erst ein oder zwei Jahre Wirtschafterin bei dem alten Pastor, ehe er sie heiratete.«
»Kein Wort weiß ich davon!«
Dornig sah ihn zweifelnd an: »Das wäre ja spaßhaft!«
»Wahr und wahrhaftig! Es ist das erste, was ich höre. Die Pastorin hat mir auch nicht mit einem Worte darüber eine Andeutung gemacht.«
»Sie wird sich hüten! Die Sache war nicht ganz reinlich damals. Menke sah sich veranlaßt, sie zu heiraten, weil es anfing, ein öffentlicher Skandal zu werden. Die Affäre hätte ihm beinahe seine Stelle gekostet. Die Vorgesetzten drückten ein Auge zu, weil er bei der Gemeinde beliebt war und sich bis dahin nichts hatte zu schulden kommen lassen. Die Sache wurde nach Möglichkeit vertuscht, und mit der Zeit wuchs Gras darüber. Man hat sich allgemein gewundert darüber hier in der Gegend, daß du die Frau bei dir behalten hast. Wärst du nur zu mir gekommen, ich hätte dir manchen guten Rat erteilen können. Du mußt dich in acht nehmen, dir keinen bösen Leumund zu machen, Gerland. Die Leute sind hier schnell bei der Hand mit übler Nachrede, verstehst du! Schließlich, so schlimm ist die Frau gar nicht. Sie soll eine ausgezeichnete Wirtschafterin sein, jedenfalls kocht sie gut; das habe ich heute an deinem Tische gemerkt. Du bist vielleicht noch gar nicht so schlecht mit ihr gefahren. Auf alle Fälle bist du jetzt gewarnt. Ich hielt das für meine Pflicht als Freund. Wir Geistlichen sind gezwungen, auch auf die Dehors etwas zu geben.« –
Dornig wußte noch manches über die Pastorin und ihren verewigten Gatten zu berichten. Gerland hörte nur mit halbem Ohre zu, er stand ganz unter dem peinlichen Eindrucke, den ihm das Vernommene bereitet. Das also war diese Pastorin, deren offenes Wesen einen gewissen Zauber auf ihn ausgeübt hatte. Ihm war zu Mute wie einem Menschen, der sich eine Speise hat munden lassen und der nachträglich von Unbehagen befallen wird, wenn er von der Zubereitung erfährt.
Man war inzwischen ein gut Stück Weges vorwärts gekommen. Die Sonne stand nicht mehr hoch über dem Horizonte, ihr rötliches Licht gab dem Grün der Wiesen und jungen Saaten eine saftigere Färbung. Die beiden hatten auf dem Marsche einen Halbkreis um ihren Ausgangspunkt beschrieben, an der Berglehne hinwandernd. Breitendorf lag tief unten, ihnen zu Füßen, in breiter Thalmulde. In weiter Ferne, hinter den bewaldeten Kuppen der Vorberge, stieg jetzt der langgezogene Gebirgskamm auf. Ehern ruhig lag der mächtige Grat im Abendlichte, eine stahlblaue Silhouette, die sich vom aprikosenfarbenen Abendhimmel abhob. Weiße Streifen zogen vom Kamme hinab und verschwanden im Dunst der violetten Tiefe. Der Schnee war dort oben noch nicht ganz geschmolzen.
Der Weg führte sie jetzt auf eine Gruppe Häuser zu, die sich am Berghange unter dem Hochwalde ausbreiteten. Eines der Häuser, über die andern emporragend, fiel sofort in die Augen, stattlich mit weißen Mauern und hohem Ziegeldach. Wie eine Gluckhenne lag es da mit ausgebreiteten Flügeln. Alte Bäume standen darum, ein parkartig gehaltener Garten zog sich hinauf bis an den Wald.
»Wo sind wir denn hier?« fragte Pastor Dornig.
»Das ist Eichwald,« erwiderte Gerland. »Und das große Haus gehört einem gewissen Doktor Haußner.«
»Haußner – Doktor Haußner! Siehe einmal an, das ist ja interessant.«
»Weißt du etwas von dem?«
»Ich bitte dich, das ist ja der berühmteste, man kann wohl sagen berüchtigtste Mann der Gegend. – Ein stattliches Haus; es könnte ein Rittergut sein.«
Dornig warf einen bewundernden Blick nach dem großen Steinhause hinüber, dem sie sich näherten. »Er soll reich sein. Gesehen habe ich ihn noch nie. Kenne ihn nur vom Hörensagen. Er muß ein ganz verschrobener Kauz sein. Hat sich hier vergraben wie ein Dachs; geht mit niemandem um.«
Sie hatten sich inzwischen dem Gebäude genähert. Ein hoher Staketzaun, dahinter eine Weißdornhecke und in dritter Reihe dichte Bosketts von Ziersträuchern schlossen das Grundstück wie mit einem undurchdringlichen Wall von der Landstraße ab. Den Eingang bildete ein schweres schmiedeeisernes Thor, mit granitenen Standpfeilern. Das Thor war geschlossen, am Pfeiler hing eine Glocke. Das Ganze hatte etwas Vornehmes, Zurückgezogenes – Besonderes.
»Seine Tochter hat er nicht taufen lassen,« sagte Dornig mit gedämpfter Stimme, während sie vorüberschritten.
»Nicht taufen lassen!« rief Gerland in ehrlichem Entsetzen.
»Er ist aus der Landeskirche ausgetreten. Es hat darüber viel Skandal gegeben vor Jahren. Es fing damit an, daß er sich weigerte, seine Kinder den Religionsunterricht besuchen zu lassen. Die Regierung ließ das natürlich nicht zu – kurz, es ist darüber ein langes Hin und Her gewesen. Auch mit deinem Amtsvorgänger, Pastor Menke, hat er Krakeel gehabt. An dem hat er sich sogar thätlich vergriffen.«
»Was sagst du!«
»Jawohl! Das ist eine ganz wilde Geschichte. Beim Begräbnisse seiner am Nervenfieber ganz plötzlich verstorbenen Kinder ist das passiert. Eine Bemerkung in Menkes Grabrede hatte ihm nicht gefallen, und da hat er dem amtierenden Geistlichen am offenen Grabe den Talar vom Leibe zu reißen gedroht. Ein angenehmer Herr – nicht wahr? – Übrigens, du kannst dich beruhigen, du wirst schwerlich Not mit ihm haben. Er soll jetzt ganz ruhig geworden sein. Zur Kirche geht er natürlich nicht, und der kirchlichen Rechte ist er ja entkleidet als Dissident. Das Krakeelen mit den Geistlichen hat er aufgegeben; ich glaube, er hat damals doch ein Haar in der Geschichte gefunden. Jetzt macht er stets einen großen Bogen, wenn er einem von uns begegnet. – Ein sonderbarer Heiliger – was?«
»Und die Tochter nicht getauft? – Wie alt ist sie denn?«
»Im Backfischalter, glaube ich, und sie soll ein hübsches Mädchen sein. Er hat sie ganz in seinen Anschauungen auferzogen. Angeblich ist sie noch schlimmer als der Vater selbst. Und dabei war ihre Mutter in einer Herrnhuter Anstalt erzogen und soll durchaus orthodox, ja geradezu pietistisch gewesen sein. Die Frau ist schließlich tiefsinnig geworden. Eine Jugendfreundin der verstorbenen Frau Haußner hat mir neulich die ganze Sache mit allen Details erzählt. Ein interessanter Fall – meinst du nicht?« –
Sie waren jetzt an dem Grundstück vorüber. Unwillkürlich machte Gerland halt und blickte nach dem Hause zurück. Ein großer schwerfälliger Steinkasten, lag es da. Ihm mißfiel es auf einmal, trotz der alten Lindenbäume und des Kranzes von blühenden Obstbäumen darum. ›Wie kalt muß es da drinnen sein!‹ dachte der junge Geistliche.
»Ein schönes Anwesen,« meinte Pastor Dornig in einem Tone, durch den ein leises Bedauern zitterte. »Schade, daß man mit dem Manne nicht umgehen kann.« –
Sie wandten sich und schritten jetzt bergab auf Breitendorf zu.
»Daß ein Mensch zum Häretiker werden kann, verstehe ich,« sagte Gerland, »wenn er sein Herz verstockt – auch Beispiel oder Lektüre können das bewirken – aber, – das eigene Kind auf diesen Weg führen! Wie kann ein Vater das auf sich nehmen?«
»Persönliche Gereiztheit spielt dabei eine Rolle. Er ist verärgert. Man hat ihn, glaube ich, ganz falsch behandelt. Er ist künstlich in die Opposition getrieben worden.«
»Um so schlimmer, wenn ihn persönliche Leidenschaften bestimmt haben. Wer darf sich unterfangen, das Heil einer fremden Seele zu beeinflussen; selbst ein Vater hat dazu kein Recht.«
»Dann mußt du unsere Gesetze ändern. Wer sein Kind nicht taufen lassen will, kann es bleiben lassen.«
Die Sonne tanzte eben über dem Horizonte als riesige feuerrote Kugel. Die Wälder lagen bereits in tiefem Schatten, die Fluren verschwammen im Zwielicht der Dämmerung. Höher als zuvor ragten die Berge, beinahe drohend, gleichfarben von oben bis unten, wie aus Stahl gegossene Riesenfesten.
Gerland blieb von neuem stehen, als wolle er die Aussicht noch einmal genießen. Sein Blick überflog flüchtig das Bergrund, dann suchte er einen Punkt, an dem er haften blieb. Dort lag das Haus. Scharf hob sich das weiße Viereck von dem dunklen Walde dahinter ab.
Der letzte Rand der Sonnenscheibe war eben unter dem Horizonte verschwunden, aber die Fenster des hochgelegenen Hauses leuchteten unheimlich, wie von eignem Lichte, als stehe das Gebäude in Flammen.
Gerland starrte die Erscheinung an, betroffen. Als der Glanz der Scheiben schnell verblich, wandte er sich und blickte nach der andern Richtung hinab, wo Breitendorf lag. Über dem Dorfe schwebte weißlicher Dunst, ein breiter Streifen, der über dem Wasserlaufe stand. Kirche und Pfarrhaus waren zur Not zu erkennen.
Der Geistliche schätzte im Geiste die Entfernung zwischen Haus und Haus ab. Er fragte sich, ob er wohl jemals den Weg hier herauf gehen und das schmiedeeiserne Thor durchschreiten würde. –
Dann, wie eine Eingebung plötzlich, überkam es ihn: Diesen Mann zurückzuführen zu Gott, das ist deine Mission.
Freudiger Schrecken durchzuckte ihn, ihm wurde warm und kalt. Und schon machte sich seine Phantasie geschäftig daran, einen Plan zu entwerfen und auszubauen.
Die Dunkelheit brach schnell herein. Die beiden Fußgänger schlugen unwillkürlich schnelleren Schritt an. Bald waren sie in der Dorfstraße. Hier und da leuchtete schon ein Licht auf hinter den Fenstern. Im Gasthof war Tanzmusik; von der Straße aus konnte man sehen, wie sich die Paare langsam drehten.
Gerland forderte den Amtsbruder auf, das Abendessen im Pfarrhaufe einzunehmen. Dornig nahm das Anerbieten ohne Zögern an.
Dem Wiedersehen mit der Witwe sah Gerland mit peinlichen Empfindungen entgegen; er atmete auf, als das Dienstmädchen berichtete, die Frau Pastorin sei zu einer Freundin ins Dorf gegangen. Das Abendessen stand äußerst sauber angerichtet auf dem Tische.
»Deine Pastorin ist doch eine ganz famose Wirtin,« meinte Dornig, während er kräftig einhieb. »Du hast schließlich ganz gut gethan, sie zu behalten.« –
Bald nach dem Imbiß ging Dornig.
Pastor Gerland begab sich in sein Wohnzimmer. Lange saß er dort im lederbeschlagenen Lehnstuhle, den Kopf auf die Brust gesenkt, in die gelbe Lampenglocke starrend. Vom Gasthof herüber schwirrten hin und wieder abgerissene Klänge der Tanzmusik. Vor ihm auf dem Tische standen Photographieen seiner verstorbenen Eltern und anderer Angehöriger. Neben ihm auf einem Bücherbrett breitete sich die bescheidene Bibliothek aus. Er hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen: Schleiermachers Monologen. Aber er verspürte keine Lust zum Lesen heute.
Im neuen Amte wars doch ganz anders, als er sichs gedacht. Soviel Feindliches, Häßliches, Verwirrendes – so viele Versuchungen, Unklarheiten, versteckte Abgründe – er dazwischen gestellt mit seiner gottsuchenden Seele, den heißen Wünschen seines Fleisches und seinem Hunger nach Erkenntnis. –