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Obgleich Thekla sich aller Geselligkeit fern hielt, wurde der Verkehr in ihrem Hause doch weit größer, als es ihr eigentlich lieb war. Sie empfand gar kein Bedürfnis nach neuen Bekanntschaften. Wer von alter Zeit her in Treue an ihr festhielt, war ihr willkommen; die Zeit Freundschaften zu schließen jedoch, schien ihr ein für allemal vorüber.
Eine Frau, die neuerdings viel zu ihr kam, war Leo Wernbergs Schwester, die geschiedene Gräfin Nieden. Ohne daß sie die Gräfin irgendwie dazu ermutigt hätte, wurde Thekla fortgesetzt von ihr in's Vertrauen gezogen. Leos Schwester fand, daß zwischen ihrem und Theklas Schicksal eine große Ähnlichkeit bestehe. Eigentlich lag Ähnlichkeit nur darin, daß beide Frauen getrennt lebten von ihren Männern; im übrigen waren die Geschicke kaum mit einander zu vergleichen.
Gräfin Tessi, die eigenes Vermögen nicht besaß, wurde von ihrem ehemaligen Gatten unterstützt. Er zahlte ihr eine Leibrente, die sich auf die Hälfte verringern sollte, sobald sie an den Ort zöge, den er zu seinem Aufenthalt wählen würde. Graf Nieden lebte den größten Teil des Jahres auf dem Lande und nur im Winter in Berlin, wo seine Söhne als Offiziere standen. Diese Söhne, zwei an 302 Zahl, hatten sich von der Mutter losgesagt, in der Scheidungsangelegenheit des Vaters Partei nehmend.
Die Gräfin hatte, nachdem die Scheidung ausgesprochen war, zunächst versucht, mit ihrer Mutter zu leben. Dieser Versuch mißglückte. Die alte Frau von Wernberg war eine viel zu ausgesprochene Persönlichkeit von festgefaßten, schroffen Ansichten, um mit einer excentrischen Dame, wie ihre Tochter Tessi war, auf die Dauer gemeinsam Haus halten zu können.
Thekla hegte aufrichtiges Mitleid mit Tessi Nieden, zu einem Gefühle wirklicher Zuneigung jedoch vermochte sie es Leos Schwester gegenüber nicht zu bringen.
Tessi war ein widerspruchsvoller Charakter. Sie empfand stark und unmittelbar, gab sich offen und mit warmem Herzen; aber es fehlte ihr an Selbstbeherrschung, an Kritik und an ausgleichender Besonnenheit. Das Unglück ihres Lebens: jenes Zerwürfnis mit Mann und Söhnen, hatte sie selbst auf sich herabgezogen.
Ihr Geschick war, wenn man sie freilich selbst sprechen hörte, völlig unverschuldet. Nieden hatte ihr in der That Grund gegeben zur Eifersucht, aber sie war im Gefühle berechtigter Kränkung weit über das Ziel hinausgegangen, hatte ihm sofort alles vor die Füße geworfen, ohne zu bedenken, daß sie von ihm abhängig sei. Und nun mußte sie es erleben, daß sich die Söhne auf die Seite des Vaters schlugen. Auch diesem Schlage gegenüber empfand sie nichts als maßlose Entrüstung, bedachte nicht, daß sie es versäumt habe, sich der Herzen zu versichern, solange es Zeit dazu gewesen.
Es stimmte tragisch, eine solche Frau zu sehen. Tessi hatte durch ihre Erlebnisse alles Gleichgewicht verloren, trieb auf den Wellen wie ein Schiff mit falscher Belastung. Seit zehn Jahren war sie geschieden, konnte sich aber heute noch 303 nicht mit dieser Thatsache abfinden. Daß sie pekuniär von ihrem ehemaligen Gatten abhing, empfand sie hart, fühlte sich jedoch außer Stande, den einzigen Weg zur Freiheit zu beschreiten: seine Unterstützung abzulehnen. Das Gefühl der Ohnmacht machte sie unstät und ungerecht. Jederzeit war sie bereit, zu beichten, welch himmelschreiendes Unrecht ihr angethan worden sei. Ja sie fing an, ihr Unglück zu hätscheln, weil sie sah, daß sie dadurch interessant wurde.
Mit einer gewissen Naturnotwendigkeit war diese Frau den Bestrebungen moderner Frauenemancipation in die Arme getrieben worden. Im Demonstrieren und Opponieren suchte und fand sie Befriedigung.
Man hatte die Gräfin schon ihres Namens und Standes wegen in den Kreisen, die »Frauenrecht« zu ihrer Losung gemacht haben, mit offenen Armen aufgenommen. Ihr außergewöhnliches Schicksal wurde gern angeführt, wenn man ein krasses Beispiel brauchte für die Vergewaltigung des Weibes durch das geltende Recht. Tessi Nieden galt als Märtyrerin ihres Geschlechtes. Bereitwilligst nahm sie diesen Nimbus an.
Tessi hätte nur zu gern auch Thekla Lüdekind für die Bestrebungen gewonnen, von denen sie Genesung der Welt erwartete, weil sie ihr Balsam auf die eigenen Wunden brachten. Selten kam sie, ohne ein Buch, eine Broschüre, ein Zeitungsblatt mitzubringen, welche stets Bezug hatten auf das eine Thema: Weib. Thekla las diese Sachen aus Gefälligkeit für Tessi, die sich später über den Inhalt mit ihr aussprechen wollte.
Und dabei blieb es nicht, Tessi führte auch ihre Freundinnen und Gesinnungsgenossinnen aus der »Bewegung« bei Thekla ein. Es waren dies Damen, mit denen die Gräfin, als sie noch in Berlin in exklusiver 304 Weise Haus gemacht hatte, schwerlich verkehrt haben würde. Jetzt fühlte sie sich geschmeichelt, mit so bedeutenden Frauen intim zu sein, redete ihnen die radikalsten Anschauungen, vor denen sie sich ehemals bekreuzigt hatte, unbewußt nach.
Thekla wunderte sich oft über den Ton, den diese Weiber anschlugen, wenn sie unter sich waren. Tessi schien dann eine ganz andere Person als gewöhnlich. Ihrer Erscheinung und ganzen Lebensweise nach war sie die verwöhnte Gesellschaftsdame geblieben, durch den Verkehr aber, den sie neuerdings pflegte, hatte sie sich etwas burschikos Emancipiertes angewöhnt; ihre Redewendungen schmeckten stark nach der Frauenversammlung.
Der Antipode von Tessi Nieden war Reppiner. Die beiden hatten sich bei Thekla kennen gelernt. Tessi, die keine Gelegenheit vorüber ließ, wenn sie mit einem Vertreter des anderen Geschlechts zusammenkam, den betreffenden Mann über seine Stellung zur Frauenfrage zur Rede zu stellen, hatte das auch mit Theklas Freund versucht. Reppiner, der sich in seinem menschenscheuen, leicht verletzten Wesen für derartige Anzapfungen gar nicht eignete, hatte sarkastisch und ziemlich unhöflich geantwortet. Von da ab wurde ihm keine Ruhe gelassen, wenn er zufällig mit einigen jener Damen zusammenkam. Sie fielen über ihn her, wie ein Schwarm Wespen; er mußte diesen streitbaren Amazonen büßen für all die Sünden, die angeblich sein Geschlecht begangen hatte. Reppiner, der doch als ehemaliger Advokat gelernt hatte, in der Debatte seinen Mann zu stehen, kam schließlich gegen diese Zungen nicht mehr auf. Er kehrte fortan an Theklas Thür um, wenn er vernahm, daß sie Damenbesuch habe und vermehrte dadurch den Triumph auf gegnerischer Seite, abermals einen Mann widerlegt und in die Flucht geschlagen zu haben.
Trotz aller Bemühungen gelang es Tessi und ihren 305 Freundinnen nicht, Thekla Lüdekind in ihr Lager herüberzuziehen.
Der Einsicht, daß der Gedanke der Frauenbewegung seine tiefe Berechtigung habe, hatte sich Thekla, seit sie damit überhaupt in Berührung gekommen war, nicht entziehen können. Sie sah es, daß die Frauen aller Berufe und Stände, verheiratet oder ledig, ob Jungfrau, Matrone oder Greisin, unter einem schweren Joche lebten. Und die Summe des übrigen Unrechts, das auf der Welt geschieht, schien gering, gehalten gegen die Vergewaltigung unschuldiger Frauen, die bewußt oder unbewußt, täglich und stündlich von dem stärkeren Geschlecht in Worten, Gedanken und Handlungen begangen wird. Das wußte sie. Das Leben hatte sie's gelehrt; Bücher und Zeitungen bedurfte es nicht, um ihr diese allzu offenkundige, traurige Wahrheit zu offenbaren. Tief in ihr lebte der Glaube, daß die Zeit kommen müsse, wo die Befreiung des Weibes aus dem Stande der Erniedrigung erfolgen würde, als etwas Selbstverständliches.
Aber in den Verwünschungen und Brandreden, mit denen diese Frauen um sich warfen, konnte sie nicht die kommende Rettung erblicken. Das waren im besten Falle Zuckungen, Krämpfe, welche das Bestehen einer Krankheit bewiesen, aber noch lange keine Vorboten der Genesung.
In den Schriften für die Frauensache wurde schwere Anklage erhoben gegen die regierenden Gewalten, in letzter Linie immer gegen den schlimmsten Peiniger und Feind des Weibes: den Mann. Mit einem großen Aufwande von Scharfsinn wurde gezeigt, wie die jetzigen Einrichtungen und Gesetze die Frau erniedrigten und ruinierten. Gezeigt wurde auch, wie die Frau in diese Lage geraten sei durch die soziale Entwickelung. Für die Befreiung daraus wurde plaidiert. Hundert verschiedene Vorschläge gab es und Rezepte; sie alle sollten unfehlbar das Heil enthalten.
306 Und doch war nach Theklas Gefühl kein Vorschlag dabei, der an die Wurzel weiblichen Elends herangereicht hätte.
So schnell ließ sich ein Übel nicht kurieren, das im innigsten Zusammenhang stand mit den größten Welträtseln. Lag nicht allem Menschlichen: dem Leben, dem Sterben, der Liebe, jene unheimliche Brutalität zu Grunde, das Regiment des Härteren und Stärkeren, der Triumph des Egoismus. Das war nicht aus der Welt zu schaffen, mit noch so leidenschaftlichem Rufen nach Glück und nach Gerechtigkeit nicht. Aber hier sollte im Handumdrehen eine Frage durchgesetzt werden, an der unbewußt die Menschheit gearbeitet, seit Mann und Weib einander erkannt hatten in ihrer Verschiedenheit, seit die Geschlechter einander abstießen in tausendfältigem Gegensatz und einander suchten zur Ergänzung und Genesung.
Frau Thekla ahnte nur, ohne imstande gewesen zu sein, dem Ausdruck zu verleihen, daß es die Natur sei und ihr ehernes Gesetz, das diese Frauen verdammte. Sie kämpften gegen einen Wall, den sie Vorurteil nannten, und merkten nicht, daß sie abprallten an den Grundfesten der Welt.
Und mit welch unzulänglichen Mitteln fochten sie! Es bestand kein Verhältnis zwischen dem Apparat, der in Bewegung gesetzt wurde und dem, was erreicht werden konnte. Allen diesen Frauen fehlte die Nüchternheit. Sie kannten die Einrichtungen und Gesetze nicht mal, die sie verwarfen; es genügte ihnen, sie zu verdammen, weil sie ihnen wehe thaten. Keine von ihnen hatte sich mit der Pietät durchdrungen, welche Pflicht ist, wenn man Jahrtausende alte Ruinen wegräumen zu wollen sich vermißt. Keine von ihnen führte einen wirklich sachlichen Kampf; ähnlich wie Tessi Nieden waren sie durch persönliche Gründe 307 der Bewegung zugeführt worden. Linderung suchten sie für irgend welche geheime Wunde, Ersatz für Glück, das ihnen das Leben schuldig geblieben war.
Daher dieser Mangel an ernster, stetiger Arbeit, dieses leidenschaftliche Verlangen nach Resultaten, wo noch gar kein solider Grund gelegt war, das sanguinische Hoffen, das schnelle Verzagen, und nicht zuletzt das ungerechte Aburteilen, ja, das fanatische Hassen, was den extremen Vertreterinnen dieser Bewegung anhaftete.
Sie wollten die Welt reformieren, eine neue Sittlichkeit aufrichten, die Lage ihres Geschlechtes heben, und fochten mit Waffen, die sie dem Arsenal des Mannes entwendet hatten; mit Waffen, deren Wirkung sie durch ein neues Gift vermehrten.
Und wie schlecht stand ihnen die erborgte Rüstung, in der sie einherstolzierten. Der Kampf nahm ihnen die Güte, die Grazie. Alles mußte ihrer Propaganda dienen, selbst die Kunst. Tessi machte Thekla mit ein paar Romanen bekannt, von Frauen über das Sklavenloos der Frau geschrieben; Thekla vermochte diese Bücher, welche Tessi als »epochemachend« bezeichnete, nur mit Widerwillen zu Ende zu lesen, so war alles darin einseitig übertrieben, tendenziös gefärbt, so war das Verhältnis der Geschlechter zur Fratze verzerrt.
Am schlimmsten aber war es, wenn man diese Führerinnen – denn so nannten sie sich alle – hörte, wie sie über einander urteilten. Da gab es kaum eine Schwäche, kaum eine Lächerlichkeit, die sich diese Damen nicht nachgesagt hätten. Das Mindeste war, das jede der anderen Eitelkeit vorwarf; ein Vorwurf, der leider meistens zutraf. Mit Vorliebe auch nahmen sie einen einzeln und warnten vor der Freundin, der nicht über den Weg zu trauen sei.
Frau Thekla hielt sich an das, was sie sah und hörte, 308 des Spruches eingedenk: ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!‹ – Sie war gewarnt, sich nicht tiefer mit einer Sache einzulassen, die solche Vertreterinnen hatte.
* * *
Eines Tages erzählte Tessi Nieden, nächstens werde die bekannte Frauenrechtlerin Elsbeth Broitsch erwartet, um hier einen Vortrag zu halten. Tessi verlangte von Thekla Lüdekind, daß sie unbedingt dazu erscheinen müsse, denn Fräulein Broitsch sei eine der bedeutendsten Vorkämpferinnen der Bewegung.
Thekla hütete sich zu sagen, daß Elsbeth eine Mitschülerin und gute Bekannte von ihr sei, deren »Frauenrecht und Mannesgewalt« sie gelesen habe. Hätte sie das verraten, dann würde sie Tessis Verlangen, sich der »Sache« anzuschließen, unrettbar verfallen sein.
Im stillen war sie entschlossen, zu dem Vortrage zu gehen. Ihre Erinnerungen an die Altersgenossin waren so eigener Art, daß sie auf keinen Fall die Gelegenheit versäumen wollte, sich mit eigenen Augen zu überzeugen, was aus Elsbeth geworden sei.
Zu manchen Menschen haben wir heimliche Beziehungen, denen die Jahre nichts anhaben können, die nicht absterben und verblassen, selbst wenn wir die Betreffenden im Leben nicht wiedersehen. Gewisse Erlebnisse beschlagen niemals mit dem Moos der Vergessenheit, das doch alles zu überziehen trachtet. Vor allem sind das jene Erinnerungen, die uns von einer ungetilgten Schuld zu erzählen haben.
Thekla war von dieser Mitschülerin schwärmerisch 309 verehrt worden, wie sonst von keinem weiblichen Wesen vorher oder nachher. Damals hatte sie diese glühende Mädchenneigung nicht zu würdigen gewußt. Sie empfand nicht die geringste Sympathie für Elsbeth, die weder in Erscheinung noch Wesen etwas Anziehendes besaß. Elsbeths Liebesbekenntnisse waren ihr nur lächerlich vorgekommen, ja ihre Bezeugungen von Zärtlichkeit und Bewunderung wurden ihr geradezu lästig. Gegenstände, die Thekla nur berührt hatte, pflegte Elsbeth zu küssen, es hieß in der Klasse – die über dieses Verhältnis natürlich ihren Spott hatte – Elsbeth trage eine Haarnadel, die Thekla verloren, eingenäht als Amulett auf dem Herzen. Thekla hatte das Mädchen mehr als einmal abgewiesen; mit einer Schroffheit, die sonst nicht ihre Art war; es lag ihr nichts an Elsbeths Liebe, sie hatte andere Freundinnen, die netter aussahen und amüsanter waren, als Elsbeth Broitsch mit ihrem unreinen Teint und den Mulattenlippen.
Wie manche Szenen aus jener thörichten Zeit sich dem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten! – In der Freiviertelstunde ergingen sich die Mädchen bei schlechtem Wetter in einem verdeckten Glasgange, der an dem Garten des Instituts hinlief. Theklas intimste Freundin war damals Lilly von Ziegrist. Mit ihr ging sie eines Tages die lange Wandelbahn auf und ab. Da nahte sich mit bescheiden bittender Miene diesen beiden maßgebenden jungen Damen Elsbeth Broitsch, wohl in der Hoffnung, sich ihnen anschließen zu dürfen. Aber Lilly sprach die vernichtenden Worte: »Mit einem Mädel, das seine Nägel kaut und geflickte Schuhe trägt, gehen wir nicht!« –
Thekla sah noch jetzt, deutlich, als wäre es gestern gewesen, den Ausdruck der beiden Gesichter. Die höhnisch triumphierende Kälte, in der Lilly die Lippen schürzte, 310 und den verzweifelten um Hilfe flehenden Blick, den Elsbeth auf sie, auf Thekla, richtete.
Und sie hatte dem armen Dinge nicht geholfen, hatte ihr verächtlich den Rücken zugewendet, war mit Lilly weitergeschritten.
So gab es mehr als einen Fall, in dem Thekla, wie sie sich jetzt in verspäteter Reue eingestand, pharisäisch hochmütig gegen Elsbeth Broitsch gehandelt hatte. Das Mädchen war eben der Paria, die komische Figur gewesen der Klasse, hatte ihrer Häßlichkeit, ihrer schlechtsitzenden Kleider und anderer rein äußerlicher Schwächen wegen, für lächerlich und verächtlich gegolten. Wer hätte in jenem Alter soviel Charakter besessen, diesen Bann zu brechen, die Partei der Verachteten zu nehmen und sich dadurch selbst der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen! –
Wie brannte jetzt tiefe Scham in Theklas Seele, wenn sie an die rührende Liebe dachte, ihr damals aus vollem Herzen entgegengebracht, die auf den steinharten Boden des Hochmuts gestoßen war bei ihr!
Der Vortrag von Fräulein Broitsch sollte in einem der größten Säle stattfinden. Vollste Öffentlichkeit war angesagt, die Männer wurden besonders aufgefordert, zu erscheinen und sich an der Diskussion zu beteiligen. Die Art der Einladung und das Thema: »Zweierlei Sittlichkeit« verursachten von vornherein Aufsehen.
Unter dem Schutze der Dunkelheit, dicht verschleiert, in einer absichtlich einfach gewählten Toilette, glückte es Thekla, unbemerkt in den Saal zu gelangen. Sie begab sich nach den hinteren Sitzreihen, da sie in der Nähe des Podiums die Führerinnen, unter ihnen Tessi Nieden, in Thätigkeit sah.
Es war das erste Mal, daß Thekla Lüdekind an einer Versammlung von solchem Umfange teilnahm. Das Herz 311 klopfte ihr gewaltig vor Bangigkeit. Unwillkürlich versetzte sie sich in Elsbeths Seele. Würde ihr nicht der Mut sinken? Würde ihr nicht die Stimme versagen vor so vielen fremden, gleichgiltigen, vielleicht feindlichen Menschen? Dieses Stimmengeschwirr, dieses unruhige, zerstreuende Durcheinander, Gespräche, Rufe, Hin- und Hereilen, Lachen, boshafte Bemerkungen; alles andere, als Wohlwollen oder Andacht!
Fast noch beängstigender, als der Lärm, wirkte die plötzliche tiefe Stille, als jetzt zwei Frauen auf das Podium traten. In wenigen Worten stellte die Vorsitzende Fräulein Broitsch, die Rednerin des Abends, der Versammlung vor. Dann trat diese selbst hinter das Rednerpult und begann ihren Vortrag.
Thekla hörte gar nicht auf die Worte, zunächst ganz gefesselt durch den Anblick der Rednerin.
Ja, das war Elsbeth, ihre Mitschülerin! Dasselbe blasse, blutleere Gesicht, dasselbe rötliche, dünne Haar, das die Schädelform durchblicken ließ, dieselbe kleine, bewegliche Figur! Nur alles viel ausgearbeiteter, bedeutender als damals. Jetzt, da Elsbeth in dem Alter stand, wo Schön und Häßlich einander ähnlicher werden, fiel an ihrer Erscheinung mehr das Geistvolle, Energische als das Abstoßende in's Auge.
Sie sprach mit heller, durchdringender Stimme, der man die gute Schulung anmerkte, fließend und ruhig, mit jener Sicherheit, welche allein schon den Hörer zur Aufmerksamkeit zwingt.
Auch Thekla folgte jetzt dem Vortrage. Sie war beruhigt für Elsbeth; man hatte es mit einer Meisterin zu thun. Die Hörer hingen an ihren Lippen.
Fräulein Broitsch gab zunächst in großen Zügen ein Bild von der Entwickelung der Sittlichkeitsfrage in der 312 Vergangenheit und von ihrem gegenwärtigen Stande bei den civilisierten Völkern. Dieser Teil des Vortrags brachte viel Zahlen und geschichtliches Material, war kühl und sachlich gehalten. Thekla fand, daß man Elsbeth Broitsch unrecht thue, wenn man ihr Radikalismus der Anschauungen und leidenschaftliche Kampfesweise nachsagte.
Aber das war nur die Einleitung gewesen. Aus der bisherigen Objektivität heraustretend, entwickelte die Rednerin einen kritischen Teil, und dieser gipfelte in einer Anklage gegen die moderne Gesellschaft und gegen den Herrscher darin: den modernen Mann.
Ein furchtbares Sündenregister hielt sie dem männlichen Geschlechte vor. Überall benutzte der Mann seine bevorzugte Stellung, seine brutale physische Kraft, seine von Alters her günstigere Lage, zur Unterdrückung des Weibes. Alle Gesetze waren zu Gunsten des Mannes geschrieben, alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens wie der Familie so getroffen, daß der Starke stärker wurde und die Schwache schwächer. Ob bewußt oder naiv, er wollte herrschen und genießen; die Frau war ihm Sklavin und Genußobjekt.
Die Rednerin geizte nicht mit Beispielen für ihre Behauptung. Sie wies auf die Lage der Frau hin in den niederen Ständen, auf das Weib des Proletariers, das stumpfe, beinahe willenlose Arbeitstier! Stellte ein Bild auf von der Lage der Frau im Erwerbsleben. Zeigte die erfolgreiche Konkurrenz des Mannes auf den eigensten Gebieten der Frau, die Schundlöhne, die Verelendung der Arbeiterinnen, den Rückgang ihrer geistigen und körperlichen Kräfte, den verderblichen Rückschlag daraus auf die gesamte Generation. Und über beiden Geschlechtern die furchtbare Geißel der Prostitution, die den Mann entmannte und das Weib entmenschte.
313 Dann ging sie über zu den höheren Ständen, entwarf von ihren Sitten ein nicht minder düsteres Bild, zeigte, in welch künstlicher Abhängigkeit dort der Mann die Frau hielt, durch das eheherrliche Mundium. Führte alle jene Unterlassungssünden der Eltern und Vormünder an in der Erziehung der höheren Tochter. Überging nicht mit Stillschweigen die Sünden der Frauenwelt selbst: das Schlaraffenleben der Salondame, die ganze innere Not der verbildeten Frau, die Verhätschelung des Weibes zur Haremsnatur.
Und der Zaun, der das Ganze einhegte, vom Manne ausgerichtet und sorgsam bewacht, der Zaun der Moral; diese Moral mit doppeltem Boden, die den Mann durchschlüpfen ließ, während sie das Weib unbarmherzig einkerkerte. Diese Kunst, hier weiß zu nennen, was dort schwarz sein sollte! Die doppelte Sittlichkeit, kraft deren der Mann im Geheimen ungestraft genoß, was er öffentlich mit Strafen belegte. Die Reinheit, die er von seiner eigenen Frau forderte, während es keinen ärgeren Verfolger weiblicher Tugend gab, als ihn. Heuchelei, Unkeuschheit, Begierde zum Richter gesetzt über Recht und Sitte. –
Unerschöpflich war die Rednerin, Beispiel reihte sie an Beispiel zur wuchtigen Anklage, vor der nichts Stand halten zu können schien.
Thekla sträubte sich anfangs, wollte nicht zugeben, daß jene recht haben könne. Es durfte nicht so sein, wie Elsbeth sagte, zu traurig wäre die Welt sonst gewesen, zu furchtbar das Los, darinnen zu leben! – Aber was half es! Vergebens widersetzte man sich solcher Beredtsamkeit. Erscheinung, Stimme, Mienenspiel, alles wirkte an dieser Frau, ergriff, riß einen im Wirbel mit fort.
Das war freilich etwas Anderes, als jene Frauenrechtlerinnen des Salons, welche Thekla bisher kennen gelernt hatte. Hier stand hinter dem Worte eine 314 Persönlichkeit. Bitterer Ernst war es dieser Elsbeth Broitsch mit ihrer Lehre. Herb stand sie da und drohend, unbestechlich, wie eine Richterin. Diese kleine Frau wuchs an der Größe ihrer Forderungen, wurde zur Rächerin ihres Geschlechtes, welche Rechenschaft heischte von Vätern, Gatten, Brüdern: was sie aus Töchtern, Gattinnen, Schwestern gemacht.
Der Schluß ihrer Rede war ein Mahnruf: jede Frau müsse eine Kämpferin werden für Frauenrecht. In ihrem Kreise sollte eine jede das Ideal im Kleinen herzustellen suchen, was die Bewegung für das große Ganze erstrebte. Viele verletze noch der Gedanke des Kampfes; aber vor gerechtem Kampfe dürfe man nicht zurückschrecken. Sache des Gewissens sei es, sich zu regen für die Schwestern.
Denn die furchtbare Thatsache blieb bestehen, daß unzählige Frauen verkümmerten geistig, körperlich und sittlich. Das Weib, das die ersehnte Retterin hätte werden können der Gesellschaft, durfte seine Gaben nicht entfalten, durfte nicht seinem Herzen gemäß leben, weil es die geltende Gesellschaftsordnung nicht gestattete.
Aber schon begann es zu dämmern. Der kräftige Weckruf, der durch die ganze Welt ging, von dem sie heute nur einen schwachen Widerhall vernahmen, konnte nicht wieder ersterben. Die Frau war erwacht, begann sich die Augen zu reiben und klopfte nach tausendjährigem, geduldigem Warten an die Pforten der Gesellschaft, ihr Erbteil fordernd, das ihr von dem starken Bruder vorenthalten wurde, und dieses Erbteil hieß: freie Persönlichkeit.
Die Zuhörerschaft stand unter dem Banne der Rednerin. Man konnte Ergriffenheit lesen in den Mienen von Frauen, wie Männern. Als sie geendet, herrschte für einen Augenblick jenes gewichtige Schweigen, das die beredteste Sprache ist eines starken Eindrucks. Dann erst brach der Applaus los.
315 Thekla fand es sehr unnötig, daß nun eine Debatte stattfand. Was konnte dem Gehörten eigentlich noch hinzugefügt werden? Sie wäre gegangen, wenn sie nicht hätte fürchten müssen, aufzufallen.
Die Debatte brachte nichts Bedeutendes. Ein paar Herren versuchten der Vortragenden Widersprüche nachzuweisen; gaben ihr aber damit nur Gelegenheit, ihre Behauptungen ausführlicher zu begründen.
Endlich schloß die Vorsitzende mit einem Schlußwort die Versammlung. Thekla fühlte kein Bedürfnis, nach vorn zu gehen zum Podium, wie sie es andere Frauen thun sah, um die Rednerin zu beglückwünschen. Elsbeth Broitsch schien ihr nicht eine Person, die des Lobes und der Anerkennung bedurfte. Zudem wenn man, wie sie, so starke Eindrücke empfangen hatte, ging man lieber schweigend nach Haus, suchte zu verarbeiten, was man erfahren; das war die höchste Anerkennung, die man der Rednerin zollen konnte.
Sie vermochte ihre Gedanken nicht loszumachen von dem Erlebten. Merkwürdigerweise war Rührung das Gefühl, welches alle anderen bei ihr überwog. Mochten die Zeitungen, die nunmehr lange Berichte brachten über den Vortrag, Fräulein Broitsch Einseitigkeit, Übertreibung, Fanatismus vorwerfen, mochten die Kritiker in Witzen sich ergehen über sie. Thekla hatte mit dem feineren Ohre der Frau aus der Tiefe von Elsbeths Seele einen ganz anderen Ton herausgehört, als den der Feindschaft. Einen Schrei der Not, eine Bitte, ein Bekenntnis, wenn auch gekleidet in die Form bitterer Anklage. Überall aus ihren Schroffheiten und Härten hatte doch das Weib herausgeblickt, das Weib mit seinem Liebesbedürfnis. Wahrlich Elsbeths Haß war nichts Anderes, als entartetes Lieben. Voll Trauer war diese Prophetin und voll Sehnsucht nach Erlösung.
316 O, sie war rührend diese Elsbeth, wie sie sich Mühe gab, hart und ehern zu erscheinen. Schwer trug sie an den Waffen, die sie mit solchem Geschicke führte. Sicherlich sehnte auch sie sich danach, Schmerzen zu stillen, statt Wunden zu schlagen.
Was mußte an einer Frau gesündigt worden sein, ehe sie dahin kam, aller Frauenart entgegen, aus ihren Leiden Pfeile zu schnitzen und sie mit ihren Schmerzen zu tränken! – Thekla kannte die späteren Lebensschicksale ihrer Altersgenossin Elsbeth nicht, aber sie war sicher, daß ihr Weg besät gewesen mit Enttäuschung, Zurückweisung, Kummer und Entsagung aller Art. Eine Märtyrerin stand hier, eine, die all die innere Not ihres Geschlechtes, der ihre Zunge so beredten Ausdruck verlieh, an sich selbst erfahren hatte. Das war es, was ihren Worten solches Gewicht gab, daß sie einschlugen, wohin sie trafen. Die Erfahrung verlieh ihr ein Recht, zu sprechen.
Auch sie, auch Thekla Lüdekind, hätte der Welt ja erzählen können von Frauenleid und Not. Aber es war nicht jede eine Elsbeth Broitsch, nicht jeder war solcher Freimut gegeben, nicht jeder die Stimme, sich vernehmbar zu machen.
Der liebe Gott würde schon wissen, warum er die Menschen so verschieden hatte wachsen lassen! Des Menschen Sache war es, in Zeiten den ihm geordneten Beruf zu erkennen. Thekla wußte, daß ihr nicht bestimmt sei, auf das Podium zu treten, hinaus vor alle Welt, Kritik zu üben an der Ordnung der Dinge, Forderungen aufzustellen, Resolutionen einzubringen.
Und doch konnte auch sie ihr Scherflein beitragen; und vielleicht war das, was sie geben wollte, mehr wert, als all die laute Agitation um sie her. Auch sie konnte Aussaat streuen in die Zukunft.
317 War sie nicht Mutter? Trugen die Kinder nicht jene Anschauungen als bleibendes Gut in's Leben hinaus, welche mütterliche Sorgfalt ihnen früh in den Sinn pflanzte? Und vielleicht, wenn um der Mutter Grabhügel längst sich Epheu rankte, fiel der reife Samen in's Feld und vermehrte, was sie einstmals gehegt und gepflegt hatte, in's Hundertfältige. Waren es nicht demnach die Mütter, welche Denkart und Sitte der kommenden Geschlechter vorbereiteten und in Händen hielten? –
Was war es denn, worüber die Besten und Ernstesten der Frauen am meisten klagten? Was war es, was Thekla selbst am bittersten empfunden hatte von allem Unrecht, das ihr widerfahren? Der Mangel an Achtung vor dem Weibe war es, den sie gefunden hatte, überall, selbst auf dem tiefsten Grunde der Liebe.
An diesem Defekt krankte das Verhältnis der Geschlechter am schwersten. Wer den Frauen die Achtung des Mannes gewann, die tiefe, aus Herz und Kopf stammende Achtung, die nichts zu thun hat mit Verliebtheit, der ersparte ihnen den Kampf um's Recht, um die Emancipation.
Die Achtung wollte sie ihrem Jungen einpflanzen. So ganz wollte sie seine junge Seele erfüllen mit diesem Gefühl, daß er in jeder Frau, die ihm je begegnen würde, die Mutter wiederfinden sollte, der wehe zu thun, ihm die Kindes-Ehrfurcht unmöglich machte.
Vielleicht lag darin der Schlüssel zu der ganzen Frage. Die Welt konnte dann erst gut werden, wenn das Mutterherz darinnen regierte. 318