Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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XI.

Thekla nahm ihre Nachtwache an Gabriels Lager wieder auf. Leo blieb nicht länger im Selzbad, als bis zum Morgen; unverrichteter Sache kehrte er nach Haus zurück.

Auch den nächsten Tag und die Nacht darauf brachte Thekla in Gabriels Pflege zu. Sie sagte sich, daß schnell gethan werden müsse, was man ihm noch Liebes anthun wolle. Schon erkannte er sie zeitweise nicht mehr, war sich nicht immer klar, wo er sich befinde und was mit ihm vorgehe. Sein Schlaf war voll wilder Phantasieen.

Am folgenden Tage kam Frau Bartusch. Thekla holte sie an der Bahn ab, um sie unterwegs in alles einzuweihen, was sie wissen mußte. Der Kranke selbst hatte die Mitteilung, daß seine Mutter komme, mit Gleichgiltigkeit aufgenommen.

268 Frau Bartusch brachte nicht jene Gefaßtheit mit, die am Lager schwer Kranker unerläßlich ist. Nicht einmal dem Todeszeichen auf dem Angesichte ihres Sohnes gegenüber, vermochte sie ihre Empfindlichkeit zu unterdrücken. Sie war gekränkt, daß er ihr seinen Aufenthalt verheimlicht hatte und benutzte das Wiedersehen dazu, ihm bittere Vorwürfe zu machen.

Thekla sah zu ihrem Bedauern, daß die Mutter den Kranken, statt ihn aufzuheitern und zu ermutigen, nur errege und deprimiere. Trotzdem mußte sie ihr die nächste Nachtwache allein überlassen, da sie selbst von den Ereignissen der letzten Tage völlig erschöpft war.

Ihre eigenen Angelegenheiten drängten zu einer Entscheidung. Was Leo thun würde, wußte sie nicht; nur soviel schien ihr wahrscheinlich, daß er nunmehr Scheidung plane. Gern hätte Thekla mit ihrem Bruder darüber gesprochen, was nunmehr für Schritte zu thun seien, um ihre Rechte zu wahren. Schon deshalb wollte sie ihre Abreise beschleunigen.

Als sie an jenem Morgen bei Gabriel saß, während die Mutter das Krankenzimmer auf einen Augenblick verlassen hatte, griff er plötzlich nach ihrer Hand und flüsterte, hastig, indem er sich umsah, als fürchte er Lauscher: »Diese Nacht war zu furchtbar. Geben Sie mir lieber Gift! – Bleiben! – Nicht gehen, nicht gehen!« –

Thekla blickte ihm traurig in die Augen. »Mein lieber Freund . . . .« begann sie. Aber er ließ sie nicht ausreden, setzte sich mit ungewohnter Energie im Bette auf und sagte: »Ich werde nur wenige Tage leben, das weiß ich jetzt. Sie haben noch ein langes Leben vor sich, Thekla. Wollen Sie mir davon nicht die paar Stunden schenken?«

Wie fielen vor einer solchen Bitte ihre Pläne in sich zusammen!

269 Er verbarg das Haupt in die Hände, sagte leise vor sich hin: »Ich fürchte den Tod nicht; ich weiß, er ist Erlösung. Aber das Sterben fällt schwer, wenn einem das Glück gelächelt hat.«

Thekla blickte weg; er war ihr zu rührend. Sie fürchtete sich, ihm zu antworten, der verräterischen Thränen wegen.

Er schob sich näher an sie heran, zog ihre Hand an seinen Mund und küßte sie. Thekla sah in sein bartumrahmtes, geisterhaft blasses Angesicht, darin das einzig Lebendige die großen leuchtenden Augen schienen. So schaute er flehend zu ihr empor.

»Sieh mal, Thekla,« flüsterte er. »Ich habe dich geliebt, als wir noch Kinder waren, und seitdem immer – immer! Du hast nichts von meiner Liebe wissen wollen; ich mache dir keinen Vorwurf! Es war eben so! – Aber jetzt, wo ich sterbe, gehörst du mir. Siehst du denn nicht, daß das der Ausgleich ist? – Bleibe bei mir, Thekla!«

Sie nickte; sprechen konnte sie nicht. Die Thränen flossen ihr über die Wangen.

»Versprichst du's?«

Statt der Antwort strich sie ihm mit sanfter Hand über das Haar. Befriedigt, mit dankbarem Blick, legte er sich zurück, völlig von Kräften.

Nun war es entschieden, daß Thekla blieb. Sie entschloß sich, an Arthur zu telegraphieren; er wurde gebeten, samt Ella schleunigst zu kommen.

Sie selbst zog in das Haus, in welchem der Kranke lag. Dort war inzwischen reichlich Platz geworden, denn sobald es sich herumgesprochen hatte, daß hier ein Sterbender sei, waren sämtliche Gäste mit deutlich kundgegebener Entrüstung ausgezogen. Arthur und Ella, die am Tage darauf ankamen, fanden daher unter dem nämlichen Dache Platz.

270 In den Nächten phantasierte der Sterbende viel, am Tage lag er in einer Art von Halbschlaf. Kam er einmal zu wachem Bewußtsein, dann sah er sich im Zimmer um, mit unruhigen Augen, als suche er jemanden. Friede kam erst wieder über seine Züge, wenn er Thekla neben seinem Lager fand. Um seine eigenen Anverwandten kümmerte er sich wenig; kaum daß er ihre Fragen hie und da mit einem müden Worte beantwortete.

Seitdem ihre Tochter da war, hatte Frau Bartusch endlich das, was sie brauchte: jemanden, dem sie vorlamentieren durfte. Noch immer konnte sie sich nicht darüber beruhigen, daß eine fremde Frau sie von dem Sterbelager ihres Sohnes verdrängt habe. Ja, in mütterlicher Eifersucht war sie geneigt, jener überhaupt die Schuld an Gabriels Zustand zuzuschreiben.

Thekla kam so gut wie gar nicht dazu, mit Arthur über ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen. Die Nähe des Todes gab das Gefühl, daß selbst die wichtigsten Dinge unbedeutend seien und aufgeschoben werden könnten.

Während einer Nacht noch hatte der Sterbende schwer zu kämpfen. Niemand von den Seinen ging zu Bett. Gegen Morgen verfiel er in lindernden Schlaf.

Als sie sah, daß er ruhig atmete, begab sich Thekla in ihr Zimmer, um sich auszuruhen. Sie lag noch keine Stunde auf ihrem Bette, unausgekleidet, um jederzeit zur Hand zu sein, als Ella hereingestürzt kam und ihr zurief, sie solle sofort kommen; es gehe zu Ende.

Thekla eilte hinüber. Die Seinen umstanden das Lager.

Als sie eintrat, richtete er mit übermenschlicher Anstrengung den Oberkörper auf. Ella und seine Mutter wollten ihm behilflich sein; er schob unwillig ihre Hände 271 von sich. Starr war sein Blick auf das eine Gesicht gerichtet; alles übrige schien vor ihm versunken.

Er hatte sich emporgerafft bis auf die Kniee. So hielt er sich für einige Augenblicke mit gefalteten Händen, einem Büßer vergleichbar, mit hagerem Leibe und wildem Haar, der zu einem Heiligenbilde betet. Das Auge funkelte weißlich aus seiner dunklen Höhle, seine trockenen Lippen begannen sich zu regen, ohne einen verständlichen Laut hervorzubringen.

Dann begann er zu schwanken, griff mit den Händen um sich. Thekla fing ihn auf, langsam sank er in ihren Armen zurück, ein Lächeln glitt über seine Miene, wie ein letztes Erkennen. Die Brust hob sich noch einige Male im Krampf, Thekla fühlte es in seinen Händen, die die ihren preßten, wie ein starkes Zucken. Darauf streckte sich der Körper, und die großen Augen starrten glanzlos in's Leere.

Kein fassungsloser Schmerz wurde an der Leiche laut. Frau Bartusch fand Beruhigung in dem Gedanken, daß ihr Sohn noch im letzten Augenblicke seine Gedanken auf das ewige Heil gerichtet hätte, indem er versucht habe, ein Gebet zu sprechen. Sie behauptete, ganz deutlich die Bitte um Vergebung von seinen Lippen vernommen zu haben. Niemand widersprach ihr.

Thekla hatte sich zurückgezogen. Sie wollte nicht länger Zeuge sein der Gespräche, die im Nebenzimmer geführt wurden. Sie wußte, daß niemand von den Seinen den Abgeschiedenen jemals verstanden habe; sie verstanden ihn nicht einmal in seinen letzten Worten. Ja, um Vergebung hatte Gabriel gebetet, aber an wen das Gebet gerichtet gewesen, das wußte sie allein.

Um seiner Seele Heil hatte Thekla keine Sorge. Wenn da drüben den Guten eine Seligkeit vorbehalten 272 war, dann würde er ihrer teilhaftig werden. Seine Schuld wog nicht schwerer als die anderer. Zeitlebens in der Irre zu gehen, war sein menschliches Geschick gewesen. Gott würde ihn verstehen, wenn es die Menschen nicht konnten, würde in Gnaden dieses Herz aufnehmen, um seiner großen Liebe willen.

Als Thekla sich überzeugt hatte, daß niemand mehr bei der Leiche sei, ging sie in das Sterbezimmer zurück. Einmal noch wollte sie ihrem Freunde gegenüber stehen, allein.

Er lag mit gefalteten Händen. Die Frauen hatten ihm ein Gesangbuch dazwischen gelegt. Thekla mußte lächeln, als sie bedachte, was er dazu wohl gesagt haben würde! – Dann versenkte sie sich in seinen Anblick. Gabriel sah jünger aus, die Züge wirkten weicher, freier und friedlicher; alles Gespannte und Harte war daraus gewichen.

Sie empfand nicht die geringste Scheu vor dem Toten. Dicht trat sie heran, legte die Hand auf seine beiden gefalteten.

Wie vieles hätte sie ihm sagen wollen! Für was alles hätte sie ihn um Vergebung bitten mögen! Für ihre Blindheit, Hartherzigkeit und Untreue. Ein reicher Schatz von Liebe war hier verloren, weil sie ihn verworfen hatte, thörichtes Mädchen das sie gewesen. Sie war seine Schuldnerin; hier endlich gestand sie es, wo es ihm nichts mehr frommte. Ja hier durfte sie ihm noch mehr sagen: daß sie ihn liebe. Lange hatte er um sie geworben, nun endlich fiel das Siegel von ihren Lippen, nun endlich gewährte sie dem toten Manne das Größte, was sie zu vergeben hatte: ihr Herz.

Sie beugte sich über ihn und drückte einen Kuß auf seine Stirn.

* * *

273 Gabriel lag erst wenige Stunden tot, als Thekla ein mit »Eilbrief« bezeichnetes Schreiben von ihrer Mutter erhielt. War Gerd etwas zugestoßen? Sie riß den Umschlag hastig auf.

Frau Sänger schrieb, eben sei Leo dagewesen und habe den Jungen weggeholt. Ob Thekla davon wisse? Sie habe aus dem Schwiegersohne nichts herausbekommen können über Anlaß und Zweck dieser merkwürdigen Maßregel. Er hätte nur erklärt, daß er es für wünschenswert erachte, den Jungen bei sich zu haben. Sein Auftreten wäre von ungewohnter Schroffheit gewesen. Gerd sei weinend dem Vater gefolgt. Was das alles vorstelle? Sie habe Angst. –

Thekla hatte merkwürdigerweise mit der Möglichkeit, daß Leo sich des Jungen bemächtigen könne, nicht gerechnet. Sie verstand auch jetzt noch nicht, was er damit bezwecke; aber es erschreckte sie auf's äußerste.

Sie eilte zu Arthur, dem sie den Brief zu lesen gab. Arthur erklärte: Wernbergs Absichten seien nur zu klar; er wolle sich für den bevorstehenden Scheidungsprozeß eines Pfandes versichern. Man könne daraus schließen, daß er mit der Forderung auftreten werde, das Kind zugesprochen zu erhalten.

Thekla, die eben noch an Gabriels Sterbelager die größte Selbstbeherrschung an den Tag gelegt hatte, stand völlig ratlos. Arthur redete ihr beruhigend zu. Vorläufig sei noch nichts verloren. Wenn sich auch Leo jetzt des Jungen bemächtigt habe, so könne er von rechtswegen gezwungen werden, ihn wieder herauszugeben. Es komme alles auf den Gang des Prozesses an, und was er zu Tage fördern werde.

Aber gerade vor diesem Prozesse hatte Thekla die größte Furcht. Sie kannte nicht das Gefühl des Vertrauens, das 274 den Mann beseelt, der sich in seinem Rechte weiß. Sie war voll Mißtrauen gegen die Irrgänge und Spitzfindigkeiten der Rechtswege. Daß sie vor göttlichem und menschlichem Tribunal Leo gegenüber im Rechte sei, davon war sie durchdrungen, ob sie aber ihm gegenüber mit ihren guten Forderungen auch durchdringen werde, das schien von Bedingungen abhängig, die nicht in ihrer Hand lagen, die sie nicht einmal zu berechnen vermochte.

Arthur versprach, sich ihrer Sache anzunehmen, als sei sie die seine. Er war voll Kampflust; hatte er doch mit seinem Schwager Wernberg eine alte Rechnung zu begleichen! Er begann das »Material zu sichten«, wie er sich ausdrückte, forschte Thekla aus, ob ihr Mann ihr stets die eheliche Treue gehalten habe und so weiter. Thekla bekam einen Vorschmack von dem zu kosten, was der Scheidungsprozeß für Anforderungen an sie stellen würde.

Zum Schluß gab Arthur seiner Schwester den Rat, jetzt zur Mutter zu reisen und ihr alles zu erklären. Von Wichtigkeit sei es, daß die Familie unter sich einig sei. Er werde dorthin nachkommen, sobald Gabriels Begräbnis, das in Selzbad stattfinden sollte, vorüber sei. Dann werde es Zeit sein, sich nach einem tüchtigen Rechtsanwalt umzuthun.

Thekla sah ein, daß der brüderliche Rat gut sei. Am Abend dieses Tages saß sie bereits im Schnellzuge.

Selten ist der Mensch so zur Nachdenklichkeit angeregt wie bei solch einsamer Nachtfahrt. Ist es der Rhythmus der Bewegung, das Gefühl, wie im Blitz über weite Flächen zu fliegen, ist es die Nacht draußen mit ihren rätselhaften Formen und Lichtern, sind es all diese Eindrücke zusammen, die jene seltsame Wirkung hervorbringen? Der Geist ist wacher wie sonst, in großen Zügen bewegen sich die Gedanken; es ist als sei die Seele der Alltags-Schwere 275 entfesselt, als bewege sich das Denken ohne Hindernisse frei über Zeit und Raum.

Thekla saß in ihrer Ecke mit weit geöffneten Augen. Passagiere kamen und gingen, sie merkte es kaum. Eine Dame fragte sie, ob der Vorhang über die Lampe gezogen werden dürfe. Natürlich! Es war ihr alles recht.

Das Stampfen der Räder unter ihr glich einer dumpfen Begleitung zu ihren Gedanken.

Wo kam sie her, wo flog sie hin? Es war, als ob sie herausgerissen sei aus allem, was zu ihr gehört hatte; als ob sie kein Haus, keine Familie, nichts mehr besitze, als ob sie ruhelos fortan durch die Welt zu wandern habe, ein armer, heimatfremder Passagier! – Was hatte sie denn noch, dessen sie wirklich sicher gewesen wäre? Ein paar Gräber am Wege, das war ihr ganzes Eigentum.

Wie der Gedanke an den stillen bleichen Mann, über den sich der Sargdeckel noch nicht geschlossen hatte, sie zurückversetzte in alte Zeiten! Glücklich war man doch nur als Kind! Glücklich war man nur, so lange man unbewußt lebte. Von dem Augenblicke an, wo man nachzudenken, etwas zu hoffen, etwas zu erstreben begann, fing all das Unglück an. Denn das Leben hielt ja doch keine von all den vielen Versprechungen, die es einem in der Jugend verschwenderisch zuwarf. O, das Leben war ein unberechenbares, sinnloses, falsches Ding! Es zeigt einem allerhand Ziele, Güter, Schönheiten. Den Schimmer davon im Auge, achtete man nicht auf den Weg, bis man sich in einem Irrgarten wiederfand. All die Sterne, die einem vorher gewinkt hatten, waren verschwunden. Und man war nicht allein in der Irre gegangen; andere hatte man ahnungslos verlockt zum Folgen. Alle fanden sich wieder, und keiner konnte in der Dunkelheit nun Führer sein. Zwist entstand unter den Wegegenossen, drohend erhoben sich 276 Hände, die hätten leiten sollen, einen in noch tieferes Elend zu stoßen.

Und dann zerreißt plötzlich ein Vorhang; hell leuchtet ein Stück Vergangenheit durch die Lücke. Das ist das Land, das du verlassen hast, das ist das Glück, das dir bestimmt gewesen. Nun liegt die Kluft der Zeit zwischen dir und deinem Eigentum. Du siehst dich selbst da drüben stehen, möchtest dir zurufen: wo gehen! Irrtum über Irrtum! Es ist zu spät, du bist den falschen Weg gegangen, der dich zum Anfange zurückgeführt hat. Jetzt stehst du an der nämlichen Stelle, älter an Jahren, klüger, gewitzigter, aber geschwächt im Hoffen. Du stehst mit Schuld beladen, mit Erfahrung beschwert, im Glauben schwach.

Alles kommt einmal zum Austrag. Das Leben läßt eine Summe von Handlungen und Gedanken auflaufen zu einer langen Rechnung, dann wird von unsichtbarer Hand ein Strich darunter gemacht und man steht bestürzt vor einem Fazit, in dem kein Posten fehlt. Dabei ist alles mit rechten Dingen zugegangen; nachträglich sieht man, wie es so hat kommen müssen.

Weiter sauste der Zug und sang zu Theklas düsteren Gedanken die passende Grundmelodie. Gespenstisch aus der Dunkelheit auftauchend und wieder verschwindend, flogen Häuser, Bäume, Schornsteine, Städte, Stationen vorüber. Unheimlich gellte der Ruf der Lokomotive durch die Nacht, wie ein Angstruf.

Ihr Geist wurde immer wacher, immer reger. Tief drang ihr Blick in das eigene Innere; klarer und klarer erkannte sie ihr Geschick. Zum ersten Male durchschaute sie auch die geheime Verbindung, die zwischen ihrem Charakter und ihren Erlebnissen bestand, die Notwendigkeit, die Gesetzmäßigkeit sogar ihres Schicksals, das zuletzt doch nur eine Folge war ihres Wesens.

277 An ihr hatte sich ja nun erfüllt, was Tante Wanda ihr hellseherisch einstmals prophezeit hatte: sie werde getäuscht, sie werde gemißbraucht werden. Gewarnt war sie worden. Im eigenen Inneren hatten sich oft genug Stimmen der Warnung erhoben. Und doch hatte sie so thun müssen, wie sie gethan, so lieben müssen, wie sie geliebt. Ihr Herz war immer dem Kopf voraus gewesen. Ihr Herz war der Verführer; ihr unkluges, ewig unbewehrtes Herz!

Nun, wo sie die Schwelle der dreißig überschritten hatte, in einem Lebensalter, wo andere klügere Frauen sich gemächlich eingerichtet haben mit Mann und Kind, ihren Besitz mit Verständnis genießen und der kommenden Zeit in Ruhe entgegensehen, mußte sie aufgeben, was sie besaß, mußte trennen, auflösen.

Sie, eine geschiedene Frau! – Ihr Name in aller Welt Munde! Tausend schadenfrohe Augen auf sie gerichtet. Ihr Familienleben an die Öffentlichkeit gezerrt. Von fremden, kalten Leuten abgewogen, wer Recht habe und Unrecht. Würde sie das überleben?

O, sie ging einer dunklen Zukunft entgegen; einer Zukunft, in der sie für ihre Schritte keine Leuchte sah. Der Anfang ihres Pfades war eitel Licht gewesen, von Liebe geschützt und geleitet, von Hoffnung bestrahlt. Immer ernster war das Leben geworden und rauher. Das Ende würde einsam sein.

Sie schloß die Augen, wollte nicht sehen, was sie jetzt sah, das traurige Bild: sie selbst, Thekla Lüdekind, als Matrone, verwelkend, verbittert, trauernd um das, was gewesen, fruchtlos sich grämend um das, was hätte sein können.

Sie öffnete die Augen wieder. Es half ja doch nichts, sie zu schließen. Aus dem Inneren kam die Stimmung, unser eigenes Denken verlieh den Dingen Farbe und 278 Beleuchtung. Besser, man sah dem Leben mit geöffneten Augen in's Gesicht!

Und besaß sie denn wirklich so ganz und gar nichts mehr, wofür sie hätte leben mögen?

Sie wußte schon; es gab noch eines, das Letzte, was ihr geblieben war, aber vielleicht auch das Kostbarste: ihr Kind! Wenn sie in all dem Herzeleid nicht ganz verzagte, so war's dem Bewußtsein zu danken, daß Gerd lebe.

Den Jungen konnten sie ihr doch nicht nehmen! Welche Macht der Welt hätte das vermocht? Sie war die Mutter; Leib und Seele ihres Kindes stammten von ihr. Und wenn Gerd jetzt schon ein kleiner Mensch erschien in Gebärden und Äußerungen, so war das ihr Verdienst, ihres allein.

Wenn sich aber das sogenannte Recht eindrängen wollte zwischen sie und ihr Kind, dann würde sie es bekämpfen mit ihrem besseren Rechte, sie, die Mutter.

Ihre Hoffnung erwachte, erfrischte sich an dem Bewußtsein, Zweck und Ziel zu haben auf der Welt. Ja, sie wollte kämpfen! Ihr bisheriges Dasein hatte unter dem Zeichen der Hingebung gestanden. Die allzu sanften Gefühle mußten nun Platz machen herberem Empfinden. Ihre Schuld war es nicht, wenn sich ihr Gemüt wappnete mit einem Gewande von Stahl. Wer sein Recht verfechten wollte, mußte hart sein. 279

 


 


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