Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Pauline ließ volle vierzehn Tage ins Land gehen, ehe sie der Aufforderung von Komtesse Ida, sie im Schlosse aufzusuchen, nachkam. Sie wäre möglicherweise überhaupt nicht dorthin gegangen, wenn nicht ihre Mutter sie unausgesetzt dazu angetrieben hätte.
Eines Nachmittags also zog sie ihr Kirchenkleid an, und setzte den neuen Hut auf, den sie sich von Gustavs Gelde angeschafft hatte. So ging sie, in ihrem Feiertagsstaat, nach dem Schlosse.
Die Herrschaft Saland lag ungefähr eine halbe Stunde Wegs von Halbenau entfernt. Ein eigentliches Dorf war nicht vorhanden; aber das Schloß mit seinen Nebengebäuden bildete an sich einen stattlichen Häuserkomplex. Ein ausgedehnter Park, mit Rasenplätzen, Teichen, Gebüschen und Baumgruppen umgab das Herrenhaus. Die eigentlichen Grenzen dieses Parkes waren kaum festzustellen, da er sich in die ausgedehnten Wälder der Herrschaft verlief.
Pauline ging auf der großen Heerstraße, die unfern vom Schlosse vorüberführte, hin. Sie bog nicht in den breiten Fahrweg ein, der sich in Schlangenlinien durch den Park zog, und schließlich über einen jetzt trocken gelegten Wallgraben vor das Portal des Schlosses führte. Sie wählte vielmehr einen schmalen Seitenpfad. Das Mädchen war mit den Gebräuchen und Sitten des gräflichen Haushaltes bekannt. Sie wußte, daß gewöhnliche Leute vom Kastellan garnicht erst zum vorderen Portal eingelassen wurden. Für ihresgleichen gab es einen besonderen Eingang durch das Hinterportal. Sie wollte auch zunächst nur die gräfliche Wirtschafterin besuchen, Mamsell Bumille, die mit ihrer Mutter gut bekannt war, und die sie selbst auch kannte von jener Zeit her, wo sie auf dem Hofe gearbeitet hatte. Mit Mamsell Bumille wollte sie erst Rücksprache nehmen, und hören, ob Komtesse Ida überhaupt anwesend und ob sie allein sei. Das Mädchen war sich noch gar nicht im Reinen darüber, ob sie den Besuch bei der Komtesse nicht schließlich doch unterbleiben lassen solle.
So näherte sie sich auf Seitenpfaden dem Schlosse, einem mächtigen Steinviereck mit hohen, kahlen Wänden, kleinen weißeingerahmten Fenstern und einem klobigen Turm, der jäh aus einer Ecke aufsprang, wie ein schützender Riese. Von geschmackvoller Gliederung war an diesem Bau nichts zu spüren, aber das Ganze wirkte durch seine Masse und Wucht imponierend.
Dem Mädchen klopfte das Herz gewaltig. Der Anblick des Schlosses hatte immer etwas Erdrückendes für sie gehabt. Daß es auch nur ein Bau sei, von Menschen aufgeführt, zur Behausung für Menschen bestimmt, nur größer und fester als ihre armselige Hütte, ein solcher Gedanke war ihr noch nie gekommen. Das Schloß war eben das Schloß für sie. Seinesgleichen gab es nicht auf der Welt, und seine Bewohner waren höhere Wesen, die, mit gewöhnlichen Sterblichen zu vergleichen, ihr nicht im Traume eingefallen wäre.
Der hintere Thorweg war offen. Pauline gelangte durch eine gewölbte Einfahrt in den viereckigen Schloßhof, der mit großen Steinplatten ausgelegt war. Die Innenwände des Schlosses waren von hundertjährigem Epheu bis zum dritten Stockwerk dicht überzogen. Nur die Fenster wurden freigelassen von dem dunkelgrünen Geranke. Dicht am Erdboden zeigten diese Epheustücke einen Durchmesser von Armesstärke. Über Thüren und Fenstern waren Hirschgeweihe von beträchtlicher Endenzahl angebracht. Ein Paar dorische Säulen, die das Portal flankierten, trugen einen steinernen Löwen, der in aufrechter Haltung dräuend das gräfliche Wappen in seinen Vorderpranken hielt.
Pauline kreuzte diesen Hof. Sie wagte nicht links noch rechts zu blicken, ihr war zu Mute, als sei sie auf verbotenen Wegen. – Gott sei Dank, niemand begegnete ihr! Dann schlüpfte sie durch eine kleine Pforte in einer Ecke des Hofes, die, wie sie wußte, auf den Küchengang führte. Hier stand sie nun klopfenden Herzens und wartete, bis jemand von dem Gesinde sie bemerken würde.
Ein Mädchen, das aus der Küche kam, sah sie stehen und forschte, was sie hier wolle. Pauline fragte in schüchternem Tone nach Fräulein Bumille. Die Bedienstete klopfte an die nächste Thür. »Mamsell, hier is jemand, der zu Sie will!« Die Wirtschafterin erschien in der Thür, die Öffnung mit ihrer stattlichen Figur nahezu ausfüllend.
»Katschners Pauline!« rief sie. »Sieh eins an! Na Mädel, läßt Du Dich auch mal wieder blicken. Ich sagte noch gestern – oder war's vorgestern – sagte ich: was nur mit der Pauline sein mag. Und Komtesse Ida hat auch schon befohlen, wenn Pauline Katschner kommt, soll sie gleich zu ihr geführt werden, nämlich zur gnädigen Komtesse. Na, da komm' mal rein zu mir, Mädel!«
Die Dame faßte Pauline ohne weiteres an der Schulter und schob sie in das Zimmer, dessen sich Pauline von früher her recht gut entsann; es war die »Mamsellstube«. Pauline mußte sich setzen und erzählen. Für die Bumille war der Klatsch Lebensbedürfnis. Sie interessierte sich mit seltener Weitherzigkeit für die intimen Verhältnisse von jedermann; am liebsten freilich hörte sie Liebesgeschichten.
In der herrschaftlichen Küche stand tagein, tagaus eine Kaffeekanne am Feuer. Die Mamsell wußte nur zu gut, welch zungenlösende Wirkung dieser Trank besonders auf ihr Geschlecht ausübt. Auch vor Pauline wurde heute eine Kanne aufgesetzt, nebst Kuchen, der ebenfalls für solche Gelegenheiten stets vorrätig war.
Nun wurde das Mädchen ausgefragt. Vor allem mußte sie über ihren Gustav berichten, ihren »Bräutigam«, wie die Mamsell sich gewählt ausdrückte. Was er treibe und ob er viel an sie schreibe. Die Bumille ging in ihrer Teilnahme so weit, zu forschen, ob Pauline etwa Briefe von ihm bei sich habe, und schien zu bedauern, als Pauline das verneinte. Ob sie denn auch sicher sei, daß er sie heiraten werde, fragte sie schließlich. Pauline errötete und meinte mit gesenkter Stimme, sie glaube es.
Die Bumille war eine große, wohlbeleibte Frauensperson. Ihren grauen Scheitel deckte eine weiße Haube mit lila Bändern. Das meiste an ihr und um sie, von diesen Bändern anzufangen, trug das Gepräge des Hängenden. Die Säcke unter den runden Augen, die schlaffen Lippen zwischen bauschigen Wangen, das Unterkinn, der Busen – kurz alles an dieser Person zeigte das Bestreben, sich in schlaffer Fülle bodenwärts zu senken.
Übrigens wiesen ihre Züge den Ausdruck ungemachter Gutmütigkeit auf. Sie sprach mit etwas schwerer Zunge, was ihren Redeeifer aber keineswegs beeinträchtigte. Mit erstaunlicher Gedächtnisstärke, besonders für unwichtige Dinge, schien sie begabt, und von ungewöhnlichem Interesse für die Geheimnisse anderer erfüllt.
Nachdem sie aus Pauline alles wissenswerte herausbekommen, rief sie das Küchenmädchen herbei. »Von dem Dessert einpacken! Mandeln und Rosinen, Schokolade kann auch dabei sein!« befahl sie. »Für den kleinen Gustav was zum knabbern,« fügte sie in leutseligem Tone hinzu.
Die Bumille war bekannt für ihre Freigebigkeit. Für Bettler und Landstreicher war Schloß Saland ein wahres Eldorado, oder wie es in der Vagabundensprache heißt: eine »dufte Winde«, wo anständig »gestochen« wurde. Es war bei Mamsell Bumille Gesetz, niemanden unbeschenkt von dannen ziehen zu lassen, so erforderte es die Ehre eines herrschaftlichen Haushaltes. »Almosengeben armet nicht!« war ihr Lieblingswort. Und da sie die Freigebigkeit nur auf Kosten ihrer Herrschaft ausübte, traf das Sprichwort bei ihr auch wörtlich ein.
Pauline wurde mit einer großen Düte, angefüllt mit Süßigkeiten, die sie in ihre Rocktasche versenken mußte – damit »die Herrschaften nichts merkten« – entlassen. Sie bekam auch Grüße für ihre Mutter mit, die sollte die Wirtschafterin doch bald einmal besuchen. Eine Zofe, von denen es in diesem Hause eine Menge zu geben schien, wurde angewiesen, Pauline zu der Komtesse zu führen, deren Zimmer sich im ersten Stockwerke befand.
Pauline folgte dem Mädchen. Zunächst ging es durch die geräumige Haushalle. Ein Raum, der mit Waffen, Jagdtrophäen und allerhand fremdartigen bunten und blinkenden Gegenständen ausgestattet war. Dann die Treppe hinauf! Pauline fühlte ihren Fuß in weichen Teppichen versinken. Das rief ihr mit einemmale ihre früheren Besuche mit wunderbarer Deutlichkeit ins Gedächtnis zurück: dieses leichte, wohlige Gefühl, das der unter den Füßen nachgebende Pfühl giebt, das sie seit der Kinderzeit nicht wieder gehabt hatte.
Sie stand schließlich im Zimmer der Komtesse, ohne recht zu wissen, wie sie dahin gekommen.
Ida hatte an ihrem Schreibtisch gesessen. Sowie Pauline eintrat, erhob sie sich und kam auf das Mädchen zu. Heute, wo sie in ihrem eigenen Heim war, ohne Zeugen, umarmte die Komtesse die ehemalige Spielgefährtin. Dann rückte Ida einen Rohrsessel heran, auf den sich Pauline setzen mußte, sie selbst nahm neben ihr Platz.
Pauline blieb scheu und fühlte sich befangen, vielleicht gerade wegen des freundlichen Entgegenkommens der Komtesse.
Früher, als sie beide noch kleine Dinger gewesen waren, die mit einander getollt und in den Büschen des Parkes Verstecken gespielt hatten, war Pauline der anderen entschieden überlegen gewesen, nicht blos durch Körperkraft und Geschicklichkeit, auch durch Findigkeit und Mutterwitz. Das Dorfkind, vor dessen Augen kein Geheimnis der Natur künstlich verborgen gehalten worden, war in tausend Dinge eingeweiht, die der Komtesse rätselhaft waren. Das hatte ihr jene natürliche Schärfe der Sinne und der Instinkte gegeben, wie sie etwa der Wilde vor dem zivilisierten Menschen voraus hat.
Dieses Verhältnis hatte sich nun freilich in den letzten Jahren verschoben.
Wer die beiden Mädchen jetzt neben einander sah, Pauline, in ihr Konfirmationskleid gezwängt, mit plumpen Schuhen, unter ihrem neuen Hute, dessen aufdringlicher Blütenschmuck ihre bräunliche Hautfarbe schändete, dazu die schlechte Haltung des Oberkörpers, der an das, wahrscheinlich viel zu enge, Korsett nicht gewöhnt war, die Haltung der Arme, die wohl zur Arbeit kräftig waren, die sich aber hier im Boudoir ihrer eigenen Kraft zu schämen schienen – und dieser ländlichen Schönheit gegenüber nun die andere, mit ihrem stolzen Gesichtsschnitt, der edlen Kopfform, den verfeinerten, wie gemeißelten Zügen, dem unbewußten Ausdruck von Überlegenheit in Blick und Lächeln, mit durchsichtigem Teint und schlanken, weißen Händen, alles gepflegt und gleichsam von Vornehmheit duftend, wie sie sich leicht und sicher bewegte, – wer diese beiden Gestalten verglich, mußte die Überlegenheit erkennen, welche alte Kultur dem edel Geborenen, von Geburtswegen, über den Menschen der großen Masse giebt.
Die Umgebung paßte zu Komtesse Ida. Dieses Zimmer mit seiner diskreten Besonderheit schien ein Abdruck ihres Wesens zu sein. Da war nichts Prunkhaftes, Kokettes oder Flatterhaftes; und doch war es das Zimmer eines jungen Mädchens. Dem Blumentische, den Wandbildern, den Photographien auf dem Schreibtische sah man den gewählten Geschmack und die wertende Liebe an, mit der die Besitzerin alles verschönte, was zu ihr in Beziehung stand.
Allmählich wirkte auch auf Pauline der beruhigende, erwärmende Einfluß dieser Persönlichkeit. Die teilnahmsvolle Erkundigung der Komtesse nach ihren Schicksalen löste ihr die Zunge. Ida schien mit ihren Worten, die durchaus einfach und ohne jede Feierlichkeit waren, viel mehr zu sagen, als andere Menschen, weil ihre ernsten, milden Blicke jedem Worte noch eine besondere Bedeutung gaben. Pauline war es zu Mute, als säße sie vor dem alten Geistlichen, der sie konfirmiert hatte. Dem hatte man auch alles sagen müssen, man hatte wollen mögen, oder nicht.
Sie hatten von der Kinderzeit gesprochen, von gemeinsamen Erlebnissen, von den anderen Gespielen. Ida hatte niemanden vergessen. Sie fragte eingehend nach den alten Spielgefährten aus dem Dorfe. Fast alle diese Mädchen hatten, wie es sich herausstellte, schon geheiratet, waren Mütter.
Dann sprang die Unterhaltung wieder zurück auf Paulinens eigenste Lebensweise. Ida meinte, es sei doch solch ein Glück für Pauline, daß sie jetzt das kleine Kind ihrer Base zur Pflege da habe. Ein Glück, erklärte die Komtesse, um das sie Paulinen beneiden könne. Kleine Kinder zu pflegen, das müsse doch das schönste sein auf der Welt. Freilich, fügte sie mit dem Schatten eines melancholischen Zuges um die Augen hinzu, dazu käme ein Mädchen selten.
Der anderen war das Herz schwer geworden, sobald Ida von dem Kinde zu sprechen begann. Sie kam sich auf einmal so schlecht vor. Die Komtesse ahnte ja nicht, wen sie vor sich hatte. Würde sie nicht aufspringen und sie aus dem Zimmer jagen, sowie sie erfuhr, was aus ihrer Freundin inzwischen geworden sei. Denn diese reine, feine Persönlichkeit konnte doch kaum etwas ahnen von all diesen Dingen und wie es in der Welt da draußen zuging.
Und das Geheimnis brannte dem Mädchen doch auf der Seele. War es denn nicht noch viel schlechter, vor jener, die so gut zu ihr war, eine solche Lüge aufrecht zu erhalten. Und schließlich war es doch das einfachste Ding von der Welt! Der Junge war ihr Kind, war denn darin ein Unrecht? Konnte denn das, was aus Liebe geschehen war, schlecht sein? Etwas, das so glücklich machte, durfte nicht böse sein! Und die Komtesse war eine Frau, wie sie. Trotz aller Vornehmheit mußte sie das verstehen! Sie hatte so liebe Augen und eine so freundliche Stimme. Daß sie böse werden, oder gar zanken könne, war ganz unmöglich, sich vorzustellen.
Aber es war so furchtbar schwer, den Anfang zu finden. Es klang so entsetzlich, ein solches Geständnis. Pauline dachte wie oft: jetzt wirst Du's sagen! sobald Ida einen Satz zu Ende gesprochen. Und sie verschob es doch wieder. So ging es eine ganze Weile fort, das Mädchen begriff immer deutlicher, daß sie fortgehen würde von hier, ohne ihr Herz erleichtert zu haben.
Ida begann davon zu sprechen, daß sie es nicht zu begreifen vermöge, wie eine Mutter ihr Kind von sich lassen und einer Fremden zur Pflege übergeben könne. Sie fragte Pauline, was denn die Mutter dieses Kindes für eine Frau sei, daß sie so etwas über's Herz gebracht habe.
Da fühlte Pauline, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, zu sprechen. Mit kaum vernehmlicher Summe kamen die paar Worte heraus, die der andern alles sagten.
Ida verlor für einen Augenblick die Fassung. Da merkte man auf einmal, was für leidenschaftlich jähes Frauengefühl unter dieser Decke von guter Erziehung und jahrelanger Gewöhnung verborgen lag. Sie war aufgesprungen von ihrem Sitze, stand da bis in die Lippen erblaßt, die Hand aufgestemmt auf die Tischkante mit den Knöcheln, atmete schwer und hastig, und die weiße Hand zitterte.
Keines sprach ein Wort. Pauline saß vor Ida, gesenkten Hauptes und blickte in den Schoß. Ida betrachtete diese Gestalt mit eigenartig leuchtenden Augen. Einen Augenblick kam es wie ein herber, selbstgerechter Zug in ihr Gesicht. Ihre Nasenflügel flogen, die Lippen schürzten sich verächtlich. Jetzt war sie das hochfahrende Edelfräulein, das die verworfene Bauernmagd richten wollte.
Aber das war schnell verschwunden. Thränen traten ihr auf einmal in die Augen, um die Mundwinkel zuckte es. Mitleid war es nun, was aus jedem Zuge sprach, Mitleid mit Pauline, Mitleid mit sich selbst, mit ihrem ganzen Geschlecht.
Ida stand noch eine Weile schweigend, mit wogendem Busen. Allmählich aber fand sie ihre Gemessenheit wieder. Sie setzte sich, legte ihre schlanke Hand auf Paulinens braunrote derbe. »Da hast Du wohl rechte Freude an Deinem Jungen, Pauline?«
Pauline konnte nichts sagen, sie nickte stumm.
* * *
Ein Brief von Gustav Büttner aus der Garnison war bei Pauline Katschner eingetroffen. Der Unteroffizier schrieb, daß er die Absicht habe, nicht weiter zu kapitulieren; so sehr ihm seine Vorgesetzten auch zuredeten, bei der Truppe zu bleiben. Die ganze Soldatenspielerei hänge ihm zum Halse heraus. Nach dem Manöver werde er abgehen und nach Halbenau kommen. Pauline möchte zu seinen Eltern gehen und ihnen seinen Entschluß mitteilen.
Pauline war überglücklich. Wie gut Gustav war!
Das Mädchen trug den Brief Tag und Nacht bei sich. In unbewachten Augenblicken nahm sie ihn vor und las darin. Jedes seiner Worte war ihr teuer.
Sie hatte sich doch nicht in Gustav getäuscht. Wie oft hatte ihr die eigene Mutter abgeredet, sich weiter mit ihm abzugeben, er sei ein Leichtfuß und werde sie ganz sicher sitzen lassen. Auch andere hatten sie gewarnt.
Gustavs eigenes Benehmen schien eine Zeitlang jenen Warnern Recht zu geben. Die häßlichsten Dinge waren ihr von Gustav Büttner hinterbracht worden. Sie hatte an ihm festgehalten. Sie konnte ja nicht von ihm lassen. Er war ja der Vater ihres Kindes!
Nun war ihr Vertrauen doch nicht umsonst gewesen.
In diesem Briefe war es ausgesprochen, zwar nicht mit Worten – das Heiraten war mit keiner Silbe erwähnt – aber zwischen den Zeilen lag es. Und Pauline wußte in den Briefen ihres Geliebten zu lesen. Das einfache Mädchen hatte von Natur jene weibliche Gabe mitbekommen, dort ahnend zu wissen, wo ihr Verstehen aufhörte.
Gustav verließ im Herbst die Truppe, kam nach Halbenau zurück. Das hieß soviel wie: sie wurde seine Frau. Sie wußte es. Alles Nachdenken darüber war unnötig. Es war so!
Und sie sollte zu den alten Büttners gehen und ihnen seinen Entschluß mitteilen. Sie hatte er zu seinem Boten ausersehen für diese Botschaft. Darin allein schon lag alles ausgesprochen. Die Familie sollte erkennen, daß sie ihm die Wichtigste sei, der er, zuerst von allen, seine Pläne mitteilte. –
Am nächsten Sonntag Nachmittag begab sich Pauline auf das Büttnersche Bauerngut.
Sie traf die Frauen allein. Der Bauer und Karl waren ausgegangen. Die Bäuerin hatte die Gelegenheit benutzt, wo ihr Eheherr abwesend war, um für sich und die Töchter einen Sonntagsnachmittags-Kaffee zu brauen. Der Büttnerbauer sah nämlich den Kaffeegenuß als Verschwendung an und hatte ein für allemal ein Verbot gegen solchen Aufwand ergehen lassen. Selbst zum Frühstück gestattete er nur Milch und Mehlsuppe, wie sie seit Urgedenken seine Vorfahren genossen hatten.
Die Frauen waren im Bewußtsein des verbotenen Thuns auf dem Lugaus. Pauline wurde daher schon von weitem erkannt. Vier Köpfe waren hinter den Fenstern des Wohnzimmers, als sie das Gehöft betrat. »Katschners Pauline!« hörte sie rufen, und darauf ein Getuschel von weiblichen Stimmen.
Jetzt wurde sie auf einmal zaghaft, beim Anblick dieser neugierigen Frauengesichter. Bis dahin hatte sie sich tragen lassen von der Begeisterung ihres Entschlusses. Erst in diesem Augenblicke fiel es ihr auf's Herz, daß sie hier ja mit Feinden und Nebenbuhlern zu thun haben werde.
Trotzdem pochte sie an, wenn auch zaghaft; denn jetzt war an eine Umkehr nicht mehr zu denken.
Therese öffnete ihr. Mit bloßen Armen und Halse stand die unschöne, hagere Frau auf der Schwelle und musterte Pauline mit mißgünstigen Blicken. »Willst De zu uns?« fragte sie in barschem Tone. Pauline erklärte schüchtern, daß sie zur Bäuerin wolle. »Se spricht, se wollte zu Sie, Mutter!« erklärte Therese, ihren kropfigen Hals nach rückwärts ins Zimmer drehend.
»Nu kimm ack rei, Pauline, kimm ack rei!« rief die Bäuerin, bei der die Gutmütigkeit die weibliche Ränkesucht um ein Gutes überwog.
Pauline trat mit niedergeschlagenen Augen und unsicheren Bewegungen ein. Daß auch gerade Therese sie hatte einlassen müssen! Die beiden waren ungefähr gleichalterig und hatten derselben Klasse angehört. Katschners Pauline hatte immer eine besondere Stellung gehabt, schon auf der Schule, ihrer Geschicklichkeit und ihres sauberen Aussehens wegen. Vor allem aber war sie beneidet worden von den andern um ihren vertrauten Umgang mit der Komtesse. Therese aber, die mit Hilfe anderer Eigenschaften, durch: Härte, Kraft und ein frühzeitig entwickeltes scharfes Mundwerk, eine Rolle unter den Gleichalterigen gespielt hatte, war stets Paulinens ärgste Widersacherin gewesen. Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich eher verschlechtert als gebessert, seit Therese den ältesten Sohn aus dem Büttnerschen Bauerngut geheiratet, und Pauline die Geliebte des jüngeren Sohnes geworden war. Therese hatte nicht wenig dazu beigetragen, die übrige Familie gegen diese Liebschaft einzunehmen und Paulinen jede Annäherung an Gustavs Verwandte bisher unmöglich zu machen.
Das Mädchen schritt zunächst auf die Bäuerin zu, die vor ihrer Tasse am Tische saß, und reichte ihr die Hand. »Guntag, Bäuern!«
»Guntag, Pauline, guntag!«
Darauf ging Pauline zu den beiden Mädchen, denen sie gleichfalls die Hand reichte. »Guntag Toni! – Guntag Ernstinel!« Die beiden sahen sie befremdet an, ohne etwas zu sagen. Toni war ohne Arg. Das schwerfällige, harmlose Geschöpf hatte keinerlei Stellung zu dieser Familienangelegenheit genommen. Die kleine Ernestine dagegen betrachtete die Geliebte des Bruders halb mit Spott, halb mit frühreifer Neugier.
Trotz ihrer Befangenheit hatte Pauline, mit dem jeder wissenden Frau in solchen Dingen eigenen schnellen Begriffsvermögen, sofort festgestellt, daß das Dorfgerücht wahr sei, welches behauptete, Büttners Älteste sei guter Hoffnung. Pauline kümmerte sich eigentlich wenig um den Dorfklatsch – sie ging nicht mehr zum Tanz, seit sie den Jungen hatte – aber Nachbarn und Freunde hinterbrachten ihr doch dieses und jenes. So war schließlich auch diese Neuigkeit zu ihr gedrungen.
Da niemand sie aufforderte, sich zu setzen, blieb Pauline stehen. Man wartete darauf, daß sie etwas sagen solle, denn, daß sie ohne bestimmten Zweck hierher gekommen sei, wurde nicht angenommen.
Das Mädchen hatte die ganze Zeit über die linke Hand unter der Schürze gehalten. Sie hatte dort Gustavs Brief, den sie vorlegen wollte, falls man ihr etwa nicht glauben sollte. Schließlich mußte sie sich entschließen, zu sprechen. Sie begann mit gedämpfter Stimme, ohne jemanden dabei anzusehen: »Ich komme, und ich soll och einen schönen Gruß ausrichten von Gustaven an Euch alle.«
Die Einleitung wurde mit Kühle aufgenommen von den andern Frauen.
»Und er würde och bald nach Hause kommen.,« fuhr Pauline fort.
»Uf de Kirmeß! Wenn se'n Urlaub gahn!« meinte die Bäuerin.
»Ne, ne! Er wird ganz nach Halbenau kommen.«
»Gustav! derhemde?«
»Er schreibt mir's dohie!« Damit zog sie die Hand unter der Schürze vor und hielt triumphierend den Brief in die Höhe. »Er hat mer's geschrieben.«
»Dos wäre. Gustav vun Suldaten wag!«
»Er hat sich zu sehre ärgern missen mit seinem Wachtmeister. Er will nischt nichmehr wissen vom Soldatenleben. Nach'n Manöver will'r nach Halbenau kommen.«
Die Nachricht verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Bäuerin vergaß auf einmal ganz, daß Pauline eigentlich als eine Verfehmte betrachtet wurde in der Familie. Sie holte das Mädchen heran und räumte ihr einen Platz neben sich ein. Gustav, ihr Lieblingssohn, würde nach Hause zurückkehren! Sie wollte darüber Näheres hören. Pauline mußte erzählen, was sie wußte.
Therese stand inzwischen bei den Schwägerinnen in einer anderen Ecke. Sie betrachtete Pauline mit wenig freundlichen Blicken, und murrte. Die Aussicht, daß Gustav auf den väterlichen Hof zurückkehren werde, war gar nicht nach ihrem Geschmacke. Sie war diesem Schwager niemals grün gewesen. Sie konnte ihm seine Überlegenheit über ihren Karl nicht verzeihen.
Pauline war jetzt darüber, der Bäuerin eine Stelle aus dem Gustavschen Briefe vorzulesen. Der Unteroffizier schrieb, daß es dem Vater wohl auch recht sein würde, wenn er zur Herbstbestellung ein paar Hände mehr auf dem Gute habe.
Da hielt sich Therese nicht länger. »Woas!« schrie sie dazwischen und trat an den Tisch, »Gustav soit und er will hier bei uns nei! dan grußen Herrn spiel'n, hier uf'n Gutte rimkummandieren! das mir andern uns glei verkriechen mechten! das kennte uns grade passen! Da mechten mir am Ende glei ganz verziehn, Karle und ich. – Und hier sei Mensch . . .« damit wandte sie sich gegen Pauline, der sie mit den Fäusten vor dem Gesicht herumfuchtelte, »die denkt am Ende, weil se a Kind vun'n hat, daß se schunsten zur Familie zahlte. Su schnell gieht das ne! Wenn mer dan sene Frauenzimmer alle ufnahmen wollten, dohie, da langte's Haus am Ende ne zu. Froit ack in der Stadt a mal nach, mit woas für welchen dar Imgang hoat. Oder denkst De etwan, daß der D'ch heiraten werd. Bis ack ne su tumm! Der wird a Madel mit an Kinde nahmen. Lehr' Du mich Gustaven kennen! – Ihr zwee kimmt ne hier nei, sovill sag'ch . . . vor mir ne!« . . .
Der wütenden Person ging vor Erregung der Atem aus. Das letzte war nur noch heiseres Gegurgel gewesen.
Pauline saß da, gänzlich erblaßt, mit weit offenen Augen starrte sie Therese an. Zu erwidern wußte sie nichts. Sie war immer so gewesen. Der Rohheit und Ungerechtigkeit stand sie waffenlos gegenüber.
Übrigens sollte ihr von anderer Seite Hilfe kommen. Der Bäuerin war die Geduld gerissen; besonders daß Therese es gewagt, Gustav schlecht zu machen, hatte ihren mütterlichen Stolz gekränkt. Sowie die Schwiegertochter sie zu Worte kommen ließ, wetterte sie los: Therese solle sich nur ja nicht einbilden, daß sie hier etwas zu sagen habe. Dem Bauern gehöre Gut und Haus und nicht den Kindern. Sie sollten gefälligst warten, bis die Alten gestorben wären, oder sich auf's Ausgedinge zurückgezogen hätten, ehe sie zu kommandieren anfingen.
Therese ließ sich den Mund nicht verbieten und redete dagegen. Die Bäuerin war, wenn einmal aus ihrer gewöhnlichen Ruhseligkeit aufgereizt, auch nicht die Sanfteste. So gab es denn ein Keifen und Zetern zwischen der alten und der zukünftigen Büttnerbäuerin, daß man es bis weit über das Gehöft hinaus hören konnte. Dabei hatte man ganz die Vorsicht außer acht gelassen, Ausschau nach dem Vater zu halten. Auf einmal ertönten schwere Fußtritte vom Hausflur her. Mit erschreckten Gesichtern sahen sich die Frauen an. Es war zu spät, das Kaffeezeug noch zu beseitigen; schon erschien der Bauer in der Thür, gefolgt von Karl.
Der Büttnerbauer war sowieso nicht in der besten Laune. Es hatte ärgerliche Verhandlungen gegeben mit dem Gemeindevorsteher wegen eines Geländers, das der Bauer an seiner Kiesgrube anbringen sollte. Heute war ihm nun von Seiten der Behörde Strafe angedroht worden, wenn er den Bau noch länger unterlasse. Das hatte den Alten in seiner Ansicht bestärkt, daß die Behörden nur dazu da seien, den Bauern das Leben sauer zu machen. In hellem Zorn war er zum Ortsvorsteher gelaufen und hatte dort eine halbe Stunde lang gewettert und getobt. Sein Groll war noch keineswegs verraucht, als er jetzt bei seinen Leuten eintrat.
Nach einigen Schritten ins Zimmer erblickte er die Kaffeekanne auf dem Tische. In den betretenen Mienen der Frauen las er das übrige.
Dann fiel sein Blick auf Pauline Katschner. Er stutzte. Was wollte das Frauenzimmer hier? Er zog die Augenbrauen zusammen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, an die Liebschaft seines Sohnes erinnert zu werden!
Die Bäuerin sah, daß die Lage bedenklich wurde. Erst wenige Tage war es her, da hatte der Bauer erfahren, daß seine älteste Tochter ein Kind erwarte. Der Auftritt, den es darüber gegeben hatte, lag den Frauen noch allen in den Gliedern. Die Bäuerin kannte ihren Eheherrn. Die Adern an der Stirn schwollen ihm; ein schwerer Sturm war im Anzuge. Es galt, den Ausbruch zu verhindern.
Sie kam zu ihm herangehumpelt und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Traugott!« sagte sie, und gab ihrer Stimme den sanftesten Klang, der ihr zu Gebote stand. »Mir han'ch ane Neege Kaffee gekucht; bis ack ne biese! Zu aner Tasse Kaffee an Sunntch Namittage langt's schun noche!«
Der Bauer räusperte sich. Sie kannte seine Gewohnheiten genau. Das war eine Art von Ausholen; wenn man ihn erst einmal losbrechen ließ, dann wurde es furchtbar. Die erfahrene Frau sah ein, daß sie jetzt einen Trumpf ausspielen müsse.
»Vater!« sagte sie. »Mir hau och ene gutte Nachricht fir Dich, ane sihre gutte Nachricht von Gustaven. Denk der ack, ar hat geschrieben, und ar will vun die Suldaten furt. Schun ufn kinftgen Herbst will er nach Halbenau zuricke kimma, dar Gustav! Was sagst De denn anu, Mann! Freist De Dich ne? Nu warn mer unsern Jung'n bale wieder ganz in Hause han.«
Die Bäuerin hatte sich nicht verrechnet. Diese Nachricht wirkte bei dem Alten wie ein Tropfen Öl auf erregte Wogen. Gustav nach Halbenau zurück! Die Hoffnung, die er solange im Stillen gehegt hatte und die sich doch nicht erfüllen wollte bisher, weil der Junge zu sehr am bunten Rocke hing – und nun wurde es doch endlich! Einen solchen Arbeiter auf das Gut und einen so anschlägigen Kopf obendrein, wie sein Gustav war, da mußte doch alles wieder gut werden! Die tief gesunkenen Hoffnungen des alten Mannes stiegen mit einemmale lustig in die Höhe, als er diese Kunde vernahm.
Der Büttnerbauer machte zwar ein mißmutiges Gesicht, und brummte etwas, was gar nicht nach Freude klang. Aber das war nur zum Scheine. Vor der Familie wollte er sich seine Gefühle nicht anmerken lassen. Darum blieb er auch nicht lange im Zimmer. Nur zum Vorwande stöberte er in einer Ecke, als habe er dort etwas zu suchen, dann ging er zur Stube und zum Hause hinaus. Unter Gottes freiem Himmel, wo niemand ihn beobachtete, wollte er sich seiner Freude hingeben.