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Eine geraume Zeit hatte ich die Augen voll Salzwasser und Sand. Als ich sie einigermaßen geklärt hatte, schaute ich mich um, um zu sehen, wo wir waren. Hallo! die Gegend mußte ich doch kennen. War der Riesenkerl in Lee von uns nicht die Scharhörnbake, der komische Kranich luvwärts nicht die Klappmützenbake und das dicke rötliche Mastodon mit dem Kupferkessel überm Kopf nicht mein allerbester Freund, der Leuchtturm von Neuwerk, in dessen drei Meter dicken Mauern ich vier schöne sommerfrischliche Wochen mit meiner teuren Hamburger Freundin, Frau Paridom Dabelstein, und ihrem Anhang verlebt hatte? Gottlob! wollte ich rufen – aber ich ließ es nach. Denn wir saßen aufs allerschönste zwischen Steilsand und Scharhörnsand fest, mit anderen Worten: an einer Stelle, wo schon Hunderte von Schiffen mit Mann und Maus, Topp und Kiel vom Saugsand verschlungen worden sind. Da wich ein wenig voraus eine Hagelwand auseinander, und ich sah ein großes Segelschiff – eine Bark – ganz in unserer Nähe aufsitzen. Die Masten waren weg, die Betakelung schleifte im Wasser, der Schiffsrumpf war in der Mitte auseinandergebrochen. Die von Süden anschwappenden Seen hoben uns wieder und warfen den Kutter eine Strecke vorwärts. Jetzt lagen wir längsseit, und ich entdeckte auf dem Achterdeck der Bark eine lange, mit einem Unterrock, einer Nachtjacke und einem schottischen Plaid bekleidete merkwürdige Gestalt, die in jämmerlicher Weise auf englisch um Hilfe schrie. »Wait for a moment!« brüllte ich zurück. »Ich muß erst nach meinen Leuten sehn. Dann kommen Sie dran.«
Ich habe unlängst einmal sechsunddreißig Stunden hintereinander Kartoffeln gestanden. Diese Anstrengung war ein Kinderspiel gegen die Arbeit, die mir damals meine Seeleichen machten. Sie hingen wie ein Bündel frisch geangelter Schellfische zwischen Großmast und Want – zu ihrem Glück, denn hätte der Ruck sie nicht gerade dorthin geworfen, so wären sie sämtlich über Bord gespült, und ich wäre nicht nur Barkenbusch, sondern auch Frau, Hannis, Trina, Verleger, Freunde, kurz, mein ganzes Lebensglück bis auf den Kutter mit einem Schlage los gewesen und hätte, wie dazumals Johnny Aasbaas nach der großen Eifersuchtstragödie, ausrufen dürfen: »Nun kann ich wieder von vorn anfangen!« So aber glückte es mir, da der Kutter jetzt ziemlich hoch hinaufgeworfen war und sich infolgedessen nicht mehr wie die Katzen im Baldrian von der einen Seite auf die andre wälzte. Ich entwirrte den Schellfischhaufen und schleppte einen nach dem andern wieder nach unten, schloß die Kajütskappe und ließ sie dort einstweilen liegen. Glücklicherweise hatten wenigstens Hannis Ketelschraper, Johnny und Quäker-Oats den Gebrauch ihrer Kräfte und Sinne einigermaßen wiedergefunden, so daß wir jetzt zusammen Schiffsrat halten konnten.
Zuerst galt's natürlich die Engländerin zu retten. Aber wie? Der aufsitzende Engländer ragte mit seinem Bord himmelhoch über unseren niedrigen Kutter weg, zwischen beiden schoren mit Gebrüll die Wellen durch und, obgleich wir fast Bord an Bord lagen, schien es unmöglich, hinaufzukommen. Die Plaid- und Nachtjackendame berichtete, daß die ganze Mannschaft ertrunken, nur sie als einziges lebendes Wesen auf der Bark nachgeblieben sei, und jammerte vom Himmel bis zur Erde, wir möchten uns ihrer erbarmen. Wir warfen ihr eine Leine zu, forderten sie auf, den Tamp festzusetzen und sich herunterzulassen.
»O shocking, shocking!« schrie sie halb auf deutsch, halb auf englisch. »Mein Großvater war ein Baronet und meine Mutter die Tochter eines indischen Rädjäs – wuuie kann eine Lady like ich, in eine night-gown like diese, vor die Augen von gentlemen über vierzehn Juahren in ein Situation like das an einen Tau like diesen von ein Schiff nach das andere rueisen!«
»Dann ersaufen Sie, beste Miß«, brüllte ich ärgerlich zurück. »Rasmus hat Sie schon an der Kehle, jetzt ist keine Zeit für englische Zimperlichkeiten.«
»Giut!« erwiderte die Miß. »Ich wuerde tun so. Ehe ich prueiß gebe auch nur zwuei inches von meine legs an die eyes von wuiderliche, schmutzige Germans, wuerde ich untergehn mit dies Schiff.«
Diese Dickfelligkeit imponierte uns allen, und zwar weit mehr als die Beine der Miß. Denn auch ohne sie in pendelnder Form, an einem Seil heruntergleitend, »zollweise« zu genießen, konnte man bei dem scharfen Wind sehen, daß sie aus zwei mit Haut überzogenen Knochen bestanden.
»Owoooooo! Owooooo! Ooooo my poor father! Ooooo my poor mother! Ooooo my poor sisters, brothers, aunts, cousins! Oooooo my native country! farewell! farewell!« sang diese Zierde Oldenglands jetzt mit ergreifenden Tönen in die wilde Wasserwüste hinaus, Wogen- und Sturmgebrüll übertönend. »Ooooowowowowowowoooo!«
»Zum Donnerwetter«, schrie ich wieder hinauf. »Seien Sie kein Frosch, Miß. Machen Sie, daß Sie runterkommen. Der Kasten bleibt keine Viertelstunde mehr über Wasser.«
»Sso wuill ich es tun«, rief die Britin, ihren Entschluß umstoßend, herunter. »Aber die vier gentlemen ßollen ihnen umdruehn, ßo däß ßie nicht können beträchten meinen Beinen, wuenn ich mir lässe heräb an die Tau.«
»Beine hin, Beine her«, brüllte ich wieder, »wie können wir Ihnen unsere Schattenseiten zudrehn? Wir müssen das Tau stramm halten, sonst klappen die Seen Sie an der Schiffswand zu Muß.«
»Nononononono!« jammerte das Jammergestell zurück. »Ich bin eine chaste Mädchen, eine virginal Mädchen, ich will lieber rueisen als eine virginal Wueib in den Himmel wuie eine von wuiderliche, schmutige Germansaugen entwueihte Wueib an diese Tau nach unten. Ooooowowowowowooo!«
Hiermit war meine Weisheit erschöpft. »So laßt das verrückte englische Weibsbild ersaufen«, sagte ich, »wir haben keine Zeit mehr, Maaten, müssen an unsere eigne Rettung denken.«
In dieser eigenartigen Lage erkannte ich aufs neue die edlen in Quäker-Oats schlummernden Eigenschaften.
»Niemand soll vier deutschen Männern nachsagen dürfen«, sagte er schlicht, »sie hätten ein schiffbrüchiges weibliches Wesen, und sei es selbst eine Engländerin, auf einem sinkenden Wrack ihrem Schicksal überlassen. Freunde, ehrt den Willen dieses heldenhaften Weibes. Dreht euch um, schont ihre beinlichen Gefühle. Wer des Weibes weiblichen Sinn nicht ehrt, der ist auch Freiheit und Freund nicht wert. Schaut nach Neuwerk hinüber, aber nicht auf das Werk, das ich jetzt verrichten werde.«
Wir drehten uns um – ich aber so, daß ich mich voll Neugier gleichzeitig bückte, um zwischen den Beinen hindurch zu beobachten, wie Quäker-Oats diesen gordischen Knoten zerhauen würde. Es war das Ei des Kolumbus. Quäker-Oats kletterte am Want den Großmast hinauf, bis er in gleicher Bordhöhe mit dem Wrack war, ließ seine ungeheure Latte von Korpus als Laufplanke hinüberfallen und forderte die Miß auf, herüberzuspazieren. Sie tat es – nachdem sie vorher Quäker-Oats die Augen mit einem Tuch verbunden hatte – krabbelte auf Händen und Füßen über die lebendige Brücke – und war gerettet.
Zu großen Auseinandersetzungen mit der auf diesem etwas ungewöhnlichen Wege ihrer Nation wiedergeschenkten Dame war keine Zeit. An der Kajütskappe erscholl ein gewaltiges Ballern und die Rufe:
»Aufmachen! Sollen wir hier wie Heringe in der Pökel ersticken?«
Das waren unsre anscheinend dem Leben zurückgegebenen Freunde.
Gleichzeitig hallte es von Land her durch ein Sprachrohr:
»Paßt auf die Leine!«
Dort – wir hatten noch gar keine Zeit gefunden, recht hinüberzulugen – war inzwischen, gezogen von Pferden, das Neuwerker Rettungsboot aufgefahren. Daneben stand der Raketenapparat, und die gleiche Stimme – ich erkannte sie deutlich als die meines alten Freundes und ehemaligen Pensionsgebers, des Vogts Lüdemann – wiederholte den Ruf: »Paßt auf die Leine! Eure Märchen von Tausendundeine Nacht könnt ihr euch nachher weiter erzählen!«
Da zischte auch schon die Rakete herüber, und die wie eine ungeheure dünne Seeschlange hinter ihr her pfeifende Leine fiel, als hätte Lüdemann den Abstand vorher mit dem Zirkel gemessen, genau zwischen Großmast und Besan auf dem Kutter nieder, Quäker-Oats gerade auf den Kopf. Wäre sie statt von Hanf von Eisendraht gewesen, so hätte sie ihn in zwei, allerdings sehr dünne Hälften zerschnitten. Lüdemann erzählte mir nachher: eine so vorzügliche Ankornung wie Freund Greulich wäre ihm in seiner Rettungsraketenpraxis noch nicht vorgekommen. Da ich mich auf meinen zahlreichen Seefahrten stets durch den Raketenapparat habe retten lassen – ich ziehe ihn übrigens dem Boot weit vor, man wird bei der Geschichte nicht so naß –, so war ich mit der Handhabung vertraut, holte mit meinen Maaten an der Raketenleine die Hauptleine an Bord, setzte sie am Großtopp fest und forderte nun die Anwesenden auf, einer nach dem andern in die segelleinene Vorrichtung einzusteigen, durch die man als Schiffbrüchiger an Land geholt wird.
Zuerst natürlich die Frauen. Trina wurde als Versuchskarnickel voran auf Neuwerk losgelassen. Trina wog an sich – netto – schätzungsweise neunzig Kilo, brutto aber, das heißt, mit den Kleidern und dem Salzwasser darin, nicht unter hundertzwanzig. Kam sie gesund hinüber, so taten wir's alle. Sie landete in Klumpenform und wurde von dem Vogt, seinen Trabanten und den auf dem Watt aufmarschierten Gästen des Hotels »Meereswoge« mit entsprechenden Jubelausrufen begrüßt. Darauf folgte meine Frau. Und nun sollte Miß Honeysnake – das war der Name unseres englischen Zuwachses – hinüberreisen. Aber sie sträubte sich mit Händen und Füßen und mit solchem Geschrei, als sollte sie, statt an die Rettungsleine, an den Mast selbst gehängt werden.
»Oooowowowowowowohhh!!« schrie sie. »Oooowowowowohh!! Ich wuerde nicht einen Bein, nicht zwuei Beinen setzen in dieses impossible, unaussprechliche Ssäck. Mein Großvater wuar ein Baronet und meine Mutter die Tochter eines indischen Rädjähs, wuie kann eine Lady like ich steigen mit meine Beine in ein Paar of breeches gleich diese!«
Allmächtiger Himmel! Daß ich auch nicht daran gedacht hatte, durch meine Frau bestellen zu lassen, Lüdemann möchte eine zweite Leine mit einer anständigen Rettungsvorrichtung herüberschießen. Diese hatte die Form einer Hose! Hier half nichts: Hannis Ketelschraper mußte in die Kabelgatsluke kriechen und einen alten Wergsack leer machen. In den wurde Miß Honeysnake gesteckt – er ging ihr glücklicherweise bis zum Halse – und damit waren die Gebote der Schicklichkeit in weitgehendstem Maße erfüllt. Nicht der perverseste Seehundsjüngling hätte sich an Miß Honeysnake in dieser Verpackung einen Schaden sehn können – in jeder anderen, und wäre sie noch so luftig gewesen, allerdings auch nicht.
Nun folgten wir männlichen Mainachtsegler. Quäker-Oats wollte noch, gerührt, wie er in solchen Fällen stets wird, eine Abschiedsansprache an den Kutter halten, der ihm fast zum zweitenmal in seinen besten Jahren ein kühles Grab bereitet hätte, aber ich hatte inzwischen die Pumpe gepeilt und den ganzen Raum von vorn bis achtern durchkrochen. Der Kutter war heil und dicht – hätte die Riffpartie, in die er hineingebuttert war, nicht aus diesem schlupperweichen Saugsand bestanden, so wäre er natürlich sofort Kleinholz gewesen – wir desgleichen Knochen.
»Lassen Sie Ihre unsterbliche Seele singen, was Sie wollen, Quäker-Oats«, sagte ich, »meiner ›Scholle‹ brauchen Sie keine Leichenpredigt zu halten. Ich kenne die Neuwerker Strandverhältnisse. Der Oststurm hat die Sande trocken geblasen. Er flaut schon ab. In 'ner Stunde haben wir Flut. Dann wird der Kutter ganz von alleine flott und mit der Raketenleine an Land geholt. Glück muß der junge Mann haben, Quäker-Oats«, schloß ich, »und wir haben's gehabt. Ich nehm' dies kleine Intermezzo – allerdings haben wir ja den braven Barkenbusch verloren, aber der war moralisch längst für Rasmus reif – als gute Vorbedeutung für fernere frohe Fahrt. Heute feiern wir unsere Rettung. Morgen gehn wir wieder in See.«
Und so geschah es. Es wurde im Neuwerker Turm außerordentlich gemütlich, um so mehr, als der erste Mensch, der mir auf dem Neuwerker Strand in die Arme sank – mein alter Freund und teures Modell Barkenbusch war. Rasmus hatte diesmal noch ein Einsehn mit ihm gehabt – anscheinend war er ihm noch nicht »fett« genug gewesen. Er hatte in der See eine Spiere erwischt und war auf der an Land getrieben. Aber an unseren weiteren Fahrten und Wagnissen wollte er doch nicht teilnehmen. Er hatte soviel Salzwasser in den Hals bekommen, daß er sich, um die üblen Folgen zu beseitigen, zu einer Sommerfrische im Lokal des dicken Willem Lüdemann an den Hamburger Vorsetzen entschloß, wo es bekanntlich einen vorzüglichen Grog gibt.
Wie die Scholle der komischste Fisch ist, so ist die Seekrankheit die schnurrigste Krankheit. Man kann so seetoll sein, daß man weder Magen noch Lunge noch Leber mehr im Leibe zu haben glaubt – kaum hat man wieder festen Grund unter den Füßen, so kehren alle Lebensgeister mit verdreifachter Spannkraft zurück. Vor allem, wenn man sich dabei von einem saftigen Hamburger Beefsteak nebst entsprechenden trocknen und feuchten Zutaten unter die Arme greifen läßt.
So ging's auch meiner Frau. Sie wurde im Laufe des Abends vergnügt wie ein Kanarienvogel, unternehmungslustig wie ein Nordpolfahrer – sie faßte mich plötzlich um und rief:
»Schatz, ich muß dir etwas anvertrauen. Ich hab 'ne Klugheit – oder auch 'ne Dummheit, wie man will – auf eigne Faust gemacht. Dieser Zeitungsartikel hat mir 'nen riesigen Floh ins Ohr gesetzt. Ich glaube: so 'ne lustige Pensionatsmädelwirtschaft an Bord, das wäre für eine Gesellschaft wie wir eigentlich das Richtige. Bums heraus: der Würfel ist schon geworfen. Der Grundstock ist gelegt. Der erste Vogel ist gefangen.«
Gespannt wie ein Strom von zehntausend Volt erwartete ich das Weitere. Aber sie ließ mich noch eine Weile zappeln.
»Infolgedessen muß ich natürlich statt der ›Stütze‹ ein richtiges Dienstmädchen haben. Hannis Ketelschraper soll mir vornehmen jungen Damen nicht mit Servierkünsten die Kleider verderben, ganz abgesehn davon, daß weiße baumwollne Handschuhe von seiner Nummer im Bezirk des Deutschen Reichs bislang nicht angefertigt werden. Ich hab' Trina als Dienstmädchen, Köchin, Stewardeß, weiblichen dienstbaren Geist für alles engagiert.«
»Wo schläft sie?« fragte ich, lakonisch nach einem gewissen Papierbogen in meiner Jackentasche grabbelnd (ich trug ihn seit jener denkwürdigen Stunde, die die Wohnkutteridee gebar, ständig mit mir herum).
»In der Kabelgatsluke«, erwiderte meine Frau schnell. »Ich hab's ihr gleich als Bedingung gestellt, und sie war vollständig damit einverstanden. Wenn ich bloß mit mein Hannis ßusammensein darf, schnuckerte sie, denn is mich das ganz pattie egal, ob ich in die Kabelgatsluke oder bei die Rotten ins Keelswien slafen muß.«
»Und dieser erste Vogel? Mal raus damit!«
»Nämlich«, fuhr meine Frau fort, und sie weidete sich förmlich an meiner Spannung, »ich verbinde mit diesem Gedanken noch eine Nebenabsicht.« Sie neigte ihren Mund an mein Ohr und fuhr flüsternd fort: »Du weißt, seit Jahren ist es mein geheimes Trachten, unsern lieben Quäker-Oats passend unter die Haube zu bringen, 'ne vernünftige Frau muß dies verrückte Heft haben, sonst wird er noch mal reif für Friedrichsberg. Wenn wir ihn nun mit einer ganzen Kringelschnur von hübschen, netten jungen Mädeln zusammenbringen, an Bord unsres Kutters, wo er ja nicht ausreißen kann – das müßte doch mit Max und Moritz zugehn, wenn er nicht nach Jahresfrist mit so 'ner holden Seejungfrau versplißt wäre.«
»Jetzt will ich aber endlich wissen, wer die erste ist, die du ihm andrehn willst!« zischelte ich wütend zurück.
»Miß Honeysnake«, war die Erwiderung.
Wenn sie das ausgestopfte Seeweib unter Vogt Lüdemanns Decke genannt hätte: mehr hätte mich das auch nicht übermannt. Ich öffnete den Mund, sie aber legte mir schnell die Hand darauf und flüsterte weiter:
»Ich weiß, was du sagen willst. Daß ich verrückt bin. Und noch allerlei hinterher. Aber so greulich und abscheulich, wie du sie ausschreist, ist sie gar nicht. Sie ist im Gegenteil höchst originell. Ganz wundervoll englisch. Und Thimoteus schwärmt fürs Originelle. Außerdem hat er ihr das Leben gerettet und somit fast eine gewisse Verpflichtung, sie zu heiraten. Sie ist, vernünftig angezogen, auch gar nicht so häßlich. Sieh sie dir nur mal genau an. Wenn sie einen halben Kopf kleiner wäre und hätte ein bißchen kleinere Füße und nicht so knochige Hände und ein bißchen frischere Gesichtsfarbe und nicht so abstehende Ohren und so dünne Haare und statt des Schellfischmundes und der langen Pferdezähne eine 'n bißchen weniger markierte Mundpartie – dann wär's beinah 'ne Schönheit.«
»Ja, wenn!« stöhnte ich, noch halb ohnmächtig von dem Gedanken, daß ich mit diesem angelsächsischen Scheusal jetzt für Wochen und Monde die traulichen Planken meines schwimmenden idyllischen Wohnsitzes teilen sollte. »Wenn meine Großmutter Räder hätte, so wär's 'n Omnibus ...«
»Einerlei«, fuhr meine Frau hartnäckig fort, »sie ist ein Typus, sie ist als Engländerin sogar ein ganz wundervoller Typus ...«
»Stammt wahrscheinlich von Miß Pankhurst ab«, schob ich dazwischen.
»... und nicht alle Nationen können griechisch aussehen. Außerdem paßt sie nach der Länge und den Füßen und den Händen und auch nach ihren Charaktereigenschaften – auch Timotheus ist ein durchaus keuscher Mensch – zu ihm. Sie sind, denn warum hätte er sie sonst mit Lebensgefahr der See entrissen, für einander bestimmt. Ich werde das Meinige tun, daß sie sich kriegen!«
Ich kümmerte mich sonst nicht um die kleinen Heiratsintrigen meiner Frau. Aber diesmal entschloß ich mich doch, Quäker-Oats eine Warnung zufließen zu lassen. Diese langbeinige englische Wasserspinne in unserm Freundschaftsnetz war ein zu gräßlicher Gedanke. Du lieber Himmel, wenn's nur nicht schon zu spät war. Ich habe, wenn ich will, Ohren so scharf wie Rasiermesser. Mit denen lauschte ich nach dem Winkel hinüber, in dem – plötzlich wurde mir mit Schrecken klar, warum – Quäker-Oats, geschoben von meiner Frau, an Miß Honeysnakes karikaturistischer Seite saß. Mit einem Instinkt, wie ihn nur auf Heiratstiften versessene Weiber haben, hatte meine Frau, wie ein Brandstifter das Streichholz ans Petroleum, dasjenige in seine nächste Nachbarschaft gebracht, was seit Wochen seine dichterische Seele bewegte und dementsprechend auch seine menschliche in Flammen setzen würde: das Gräßliche. Sie sprachen über Mordgeschichten (mit mehr als acht Opfern). Quäker-Oats gestand Miß Honeysnake, daß er nichts lieber als solche schriebe oder doch demnächst schreiben würde; Miß Honeysnake verriet ihrem Nachbar, daß sie nichts lieber läse als solche. Quäker-Oats erzählte von Gesche Margarete Brockmann und anderen ruchlosen Menschern aus dem deutschen Pitaval; Honeysnake von den gräßlichen Gattenmördern Reverend John Selby Watson, der seine Frau mit Arsenik aus der Welt geschafft, Eduard William Price, der die seinige mit Antimon um die Ecke gebracht hatte, dem Dr. Crippen, dem es auf noch viel verschmitztere Weise gelungen war, und anderen männlichen Scheusälern aus dem englischen Pitaval. Von da kamen sie auf die Strafen: Köpfen, worin Quäker-Oats als guter Deutscher sein Ideal fand, Hängen, wofür Miß Honeysnake als Engländerin ihr Leben ließ, Zuchthaussachen und so weiter – und ich war geradezu erstaunt, daß Miß Honeysnake als Dame in den technischen Einzelheiten dieser unerquicklichen Einrichtungen so glänzend beschlagen war. Jeder Engländer hat bekanntlich seinen Privatspleen – bei ihr schien es aufs Kriminelle geschlagen zu sein. Es war also Gefahr im Verzuge. Es hieß also möglichst schnell eine Gegenmine legen. Unter einem Vorwand stahl ich mich von der Seite meiner Frau zu Johnny Aasbaas. Ich hatte mit ihm eine längere (anscheinend sehr harmlose und komische) Unterredung. So wenigstens meinte meine Frau, als ich mich wieder an ihre Seite setzte. Das bestätigte ich, vergnügt nickend, während ich in der Tiefe meiner Seele dachte: au corsaire corsaire et demi.
Allmächtiger: Quäker-Oats und die Honeysnake unterhielten sich den ganzen geschlagenen Abend von Mord und Totschlag, Köpfen und Hängen. Sie wurden immer lauter und eifriger. Es wirkte ansteckend, und schließlich war das Innere des alten Neuwerker Turms nur noch ein lebendiges Kompendium des Grausigen. Es roch förmlich nach Blut. Wie in den Hauffschen »Memoiren des Satan« der <em> </em> mit an der Tafel sitzt, ohne daß die übrigen es wissen, so schien zwischen uns ein unsichtbarer Scharfrichter zu thronen, um an einem gleichfalls unentdeckt unter uns weilenden Mörder oder Schwerverbrecher (möglicherweise auch mehreren; wer konnte dem andern ins Herz sehen?) nach Schluß des Konviviums das peinliche Urteil zu vollziehen. Auch ich wurde schließlich blutdürstig. Ich mußte an den Schurken denken, der mich um ein Haar um einen Kutter und einen Freund gebracht hätte (konnte es zum Beispiel nicht Giftnudel gewesen sein?). Ich brachte das Gespräch auf unentdeckt gebliebene Verbrechen. Es spitzte sich schließlich zwischen mir und Quäker-Oats – der natürlich kraft seiner Romanmakulatur als Fachmann gelten wollte – zu einer Wette zu. Quäker-Oats wettete: so sicher er selbst unvermählt in die Grube fahren würde, würde ich niemals den Frevler herausbringen, der meinen Kutter angebohrt habe. Ich dagegen wettete, daß mir das doch gelingen würde, und meine Frau fügte hinzu: so gewiß Sie sich in diesem Jahr noch verloben werden. Johnny brüllte mit seiner Aasbaas-Stimme: »Mir ahnt Schreckliches!« und Miß Honeysnake sang, mit einer Stimme, die sie anscheinend schnell mit einem Gemisch von Sirup und Worcestershiresauce eingeölt hatte, den Kopf schwärmerisch zu dem himmelhochragenden Haupte des kriminalverwandten Freundes und Retters emporgerichtet, sämtliche Strophen von »home sweet home«.