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Wie am folgenden Morgen die feuchten Nebel der gerade nicht breiten Bendergasse sich lichteten, und das Tageslicht die Finsternis allda durchbrach, entstand vor dem Wohnhause der Jungfer Wenkbach ein ganz ansehnlicher Zusammenlauf von handfesten Metzgerknechten, robusten Bäckermägden, flinken Barbiergesellen und puderbestäubten Perückenmachern. Alle hatten das Gesicht auf die noch wohlverschlossene Haustür der alten Jungfer gerichtet und alle – verzogen ihre Gesichtsmuskeln zu hämischem, schadenfrohem, ausgelassenem Gelächter.
Meister Haarwachs, der mit gestricktem, dickem Kamisole und einer grauen, spitzen Filzmütze auf dem kahlen Haupte, sowie einer weißen Schürze über den kurzen ledernen Beinkleidern in der Dunkelheit der Frühstunde sein Haus verlassen, deshalb nichts wahrgenommen hatte und ruhig an seine benachbarte Schirne gegangen war, sah von dort aus das lustige Treiben der stets sich mehrenden Menge. Neugierig und besorgt ging er endlich näher, da gewahrte er an der Wenkbachischen Haustür einen großen Zettel, den der Lehrjunge des Schusters Reinhart eben der begierig aufhorchenden Menge vorzulesen sich anschickte.
Haarwachs spitzte ebenfalls die Ohren und der Junge – während das Auditorium atemlos lauschte – las mit lauter, vernehmbarer Stimme:
»Der Jungfer Langnas', dem alten Drachen,
Tat gestern der Niklas Visite machen
Und hat, weil die Leute sie boshaft gequält,
Ihr derb mit der Rute was aufgezählt.
Damit nun zur Kunde es möge gelangen,
Was für eine Prügelsupp hier ist ergangen,
So hat man der Alten die Ehr' noch geschenkt,
Und ihr an die Tür diesen Zettel gehenkt.«
Ein wahrhaft homerisches Gelächter folgte diesem deutlichen, überall vernehmbaren Vortrage, das endlich in ein Schreien ausartete, welches die gesamte Metzgerzunft von den nahen Schirnen heranlockte, ja der Lärm wurde am Ende so arg, daß auch die Leute vom Römerberge herzuliefen und die Bendergasse die Menschenmenge kaum zu fassen vermochte.
Jetzt endlich, durch das Getöse aufgeweckt, wandte sich Jungfer Wenkbach aus den Armen des sie so fest und zärtlich umfangenden Schlafes. Besorgt schaute sie umher; dann schellte sie erschrocken ihrer Dienstmagd, die bei dem feuchten, nebeligen Winterwetter, gleich ihrer Herrin, den Tagesanbruch ebenfalls verschlafen hatte.
Die alte Dienstmagd Kathrine trat endlich, halb angezogen und die Nachthaube schief auf den ungekämmten Haaren, eiligst in die Stube. Sie war ein Erbstück der altjüngferlichen Herrin, und wurde von letzterer und deren zuweilen griesgrämigen Laune oft auf das heftigste gequält, wogegen sie sich aber durch wohlangebrachte bissige Worte gut zu verteidigen wußte.
Ein heftiges Schmälen war der Morgengruß, womit die Eintretende empfangen ward. Die Alte aber, ihren Grundsätzen getreu, blickte der aus dem Bette Belfernden trotzig in das Gesicht.
»Kann man denn früh aufstehen,« entgegnete sie kreischend, »wenn man abends so spät in das Bett kommt? – Als Sie mich gestern abend aussendeten, wurde hier allerhand Kurzweil getrieben – vielleicht haben Sie sich gar einen Niklos hierher bestellt. – Das hat denn Ihre alten Knochen so angegriffen, daß Sie Tee trinken mußten, und ich erst ganz spät in das Bett gekommen bin.«
»Halte Sie ihr ungewaschenes Maul,« rief Jungfer Wenkbach, indem sie ihre Hände, auf denen einige geritzte und blutunterlaufene Streifen zu bemerken waren, schnell unter die Bettdecke versteckte, »und sehe Sie einmal nach, was das für ein Lärmen auf der Straße ist.«
Kathrine wollte eben dem Befehle Folge leisten, da wurde der Klopfer an der Haustür heftig in Bewegung gesetzt.
»Es wird doch kein Feuer ausgebrochen sein!« rief jetzt die Herrin und war mit gleichen Füßen aus dem Bette. »Geschwind meinen Schlafrock!«
Vor Schreck in der Stube herumtaumelnd, fand die Magd endlich das geforderte Kleidungsstück, warf es der Verlangenden zu und eilte die Treppe hinab, um die Haustür zu öffnen.
Noch hatte die alte Jungfer sich nicht gänzlich in Zucht und Ehren verhüllt, als die Treppe herauf rasche Tritte nahten. Nachdem zwar an der Stubentüre geklopft, solche jedoch, noch ehe ein Herein gerufen, herzhaft geöffnet worden war, trat der nachbarliche Metzgermeister Haarwachs in das Gemach.
So entschlossen er jedoch gekommen war, so verlegen blickte er jetzt, da er die Unordnung des Schlafgemaches und des Anzuges seiner Nachbarin gewahrte, umher. Unter allerhand sonderbaren und sogar mit Bibelsprüchen durchwebten Entschuldigungen, sowie unter der ferneren Hinweisung auf seine grauen Haare, wonach ihm gewiß keine unlauteren Absichten beigemessen werden könnten, erzählte er endlich den vorgefallenen Skandal mit dem an die Haustür gehängten Zettel, und wie derselbe zur allgemeinen Belustigung von dem Lehrjungen des Reinhart vorgelesen worden, wonächst er sich der »Schandschrift« bemächtigt habe und solche hier der Jungfer Base überreichen wolle.
Zitternd nahm die Angeredete das ihr dargereichte abscheuliche Dokument, mit rollenden Augen las sie es durch und dann – fiel sie halb ohnmächtig auf ihr Bett. Erschrocken faßte sie der Nachbar alsobald in seine Arme und bestrich ihr mit Essig, den Kathrine schnell aus der Küche geholt hatte, die Schläfe, worauf sich die Hingesunkene wieder erholte.
Nach manchem Forschen und Hin- und Herreden, während dessen die alte Magd im Hintergrunde stand und neugierig, jedoch im tiefsten Schweigen den Mund aufsperrte, vertraute nun Jungfer Wenkbach dem bewährten Freunde als tiefstes Geheimnis folgendes.
Sie habe gestern abend ihre Kathrine in die Nachbarschaft gesandt. Wie sie nun allein in ihrer Stube gesessen, habe es an ihre Tür geklopft, und dann sei ohne weiteres eine vermummte Gestalt mit einer greulichen Larve vor dem Gesicht und einer mächtigen Rute in der Hand eingetreten. Da sie den Ankömmling sogleich als einen sogenannten Nikelos erkannt und, weil ja keine Kinder bei ihr wohnten, geglaubt habe, daß der Scherzmacher unrecht gegangen sei, so habe sie denselben hiernach unterweisen wollen. Die Gestalt aber habe sich an sie selbst gewandt, sie mit dem gewöhnlichen Gruß: »Guten Abend, guten Abend, ihr Kinder groß, ich bin der schwarze Nikelos« angeredet und sie dann gleich mit der Rute auf unbarmherzige Weise in der Stube umhergeprügelt, worauf die rätselhafte Erscheinung, unter der gemurmelten Erklärung, daß der Neffe Kanzlist diesen Nikelosenspaß bestellt habe, wie der Wind davongeflogen sei.
Mit Grauen und Entsetzen hörte Haarwachs diese Mitteilung, Kathrine aber trat ärgerlich, gewissermaßen beleidigt vor und rief:
»Und mir sagten Sie gestern abend, daß die Katze Sie an Ihren Händen so zerkratzt habe?«
»Was?« schrie die Herrin betreten, » Sie ist in der Stube?!«
»Durch den Zettel,« war die spitze Antwort, »weiß jetzt die ganze Stadt, daß Sie vom Nikelos die Rute bekommen, so darf ich es doch auch wissen. Aber es ist gut,« setzte sie dann wie tröstend hinzu, »daß ich auf diese Weise hinter die Wahrheit komme; denn ich kann Ihnen vielleicht doch sagen, wer jener verwegene Nikelos gewesen ist.«
Aufmunterungen des neugierigen Nachbars und Verheißungen der beleidigten, racheschnaubenden Jungfrau waren die Folge, worauf Kathrine erzählte:
»Als ich gestern abend ausging und an den Bogen nächst des Reinhartschen Hauses kam, trat mir in der Dunkelheit eine solche Gestalt, wie Sie mir diese beschrieben, entgegen. Ich denke, das gibt eine Kinderfreude und sehe dem Nikelos nach; aber da geht der zu meinem Erstaunen in Ihr – ja Herr Haarwachs, in Ihr Haus hinein.«
»In mein Haus?« rief der Metzgermeister und prallte erschrocken drei Schritte zurück. »In meinem Hause sind ja gar keine Kinder. Ich nehme durchaus keinen Mieter, der Kinder hat.«
»Und dennoch trat der Vermummte da hinein,« war die bestimmte Entgegnung. »Indessen ich ging weiter, und als ich nach einiger Zeit wieder heimkehrte, schritt dieselbe vermummte Gestalt mir von unserer Haustür her eilig entgegen. »Willst doch einmal sehen, wo der Nikelos jetzt hingeht?« dachte ich und schlich ihm nach, und da ging derselbe nach dem Plätzchen dahinten und verschwand in dem Reinhartschen Hause.«
Starr vor Überraschung blickten die Zuhörenden einander an. Nach längerem gegenseitigen Schweigen war es endlich Jungfer Wenkbach, welche tiefaufatmend das Wort nahm:
»Also in das Reinhartsche Haus hinein! – O, nun wird mir alles klar. Der alte Reinhart, dieser Narr, dieser Versemacher, der vor allem seinem sabbatschänderischen Sohne eine bessere Erziehung geben sollte, hat aus lauter Lust zu tollen Streichen, und um seinem Gelüst nach Rache zu frönen, diesen boshaften Streich ausgeführt. Er muß nämlich wissen, lieber Herr Vetter, daß ich bis vor wenigen Monaten bei diesem Schuster arbeiten ließ. Da er aber einmal bei dem Anmessen von Pantoffeln über etwas an mir lachte – ja, das bemerkte ich deutlich – so habe ich ihm meine Kundschaft entzogen, und deshalb hat der übermütige Mensch gestern abend den Nikelos gespielt und mich so unbarmherzig durchgeprügelt.«
Meister Haarwachs hörte diese rasch dahinfließende Erzählung unter bedenklichem Kopfschütteln an.
»Man könnte sich aber denn doch irren!« meinte er, indem er den Finger bedenklich an die Nase legte.
»Was,« rief die Base zornig aus, »will Er den auch noch verteidigen? Wer anders als dieser alte Hans Narr macht verrückte Reimereien? Wer anders als dieser agiert in den Wirtshäusern den Hanswursten und Lustigmacher und wer sollte es denn sonst aus seinem Hause gewesen sein? Etwa sein einfältiger Sohn – he? –«
Der Vetter ward allmählich gläubiger.
»Auch hat der Lehrjunge des Reinhart den Zettel vorgelesen,« bemerkte er endlich kopfnickend.
»Was will Er da mehr?« fuhr die Base eifrig fort. »Der Schuster ist der Verfertiger der Schmähschrift – der Pasquillant, wie man Leute solchen Gelichters nennt – und gegen ihn nehme ich gerichtliche Hilfe in Anspruch. – Kathrine«, hier wandte sie sich zur Dienstmagd – »Sie geht jetzt gleich auf den Römer und ruft mir meinen Neffen, den Herrn Kanzlisten, einmal her. Ich ruhe nicht, der Schuster und sein Lehrjunge müssen auf den Brückenturm in Verhaft. Wenn ersterer gefoltert und letzterer im Armenhause mit Ruten gepeitscht wird, dann werden sie schon gestehen und mir wird Satisfaktion für die ungeheure Beschimpfung, die ich sonst nicht überleben kann!«
Die alte Magd verließ nun die Stube und der Vetter suchte die wutschnaubende Base zu besänftigen. Als ihm dies einigermaßen gelungen war, kam, mit grauem Rockelor bekleidet und einen lackierten Dreispitz auf der gepuderten Haarbeutelperücke, in eiligen Schritten der heißersehnte Neffe Kanzlist.
In heftigen, sich allmählich immer steigernden Redefiguren erzählte sofort die Tante dem begierig aufhorchenden Neffen sowohl das abendliche Ereignis von gestern, als das frühmorgendliche von heute und den gegen den Schuster vorliegenden gegründeten Verdacht.
»Du bist ein Mann aus dem Römer,« fuhr sie dann fort, »du verstehst die Gesetze und weißt, wie für diese Hacke ein Stiel zu finden ist. Du wirst daher den Kriminalprozeß einleiten und dafür sorgen, daß der poetische Schuster samt Lehrjungen ans Halseisen kommen, und sie dann mit Ketten an den Beinen die Gassen kehren müssen!«
Der Neffe zuckte unmerklich die Achseln, war jedoch klug genug schnell eine wichtige Miene anzunehmen und, wie ein Beschützer und Gönner, vornehm zu lächeln.
»Die Sache wird zwar ihre Schwierigkeiten haben,« bemerkte er unter bedenklichen Stirnrunzeln, »vorzüglich der Beweis; denn der Malefikant wird leugnen. Allein lasse mich die Jungfer Tante nur gewähren. Der Herr Stadtschultheiß und die Herren Syndiker sind mir sehr gut bekannt. Wir verkehren viel in Schriftlichem miteinander. Mit deren und meiner Hilfe werden wir ein Exempel statuieren.«
Nach noch einigen viel versprechenden Reden verließ er das Haus und wandte die raschen Schritte wieder nach dem Römer, die Tante und der Vetter Haarwachs aber blickten ihm mit Stolz nach.
»Das ist ein Mann,« brach endlich erstere entzückt aus, »vor dem jedermann Respekt haben muß.«
»Da hat Sie recht, Jungfer Base,« fiel Haarwachs in gleichfalls gehobener Stimmung ein, »und darum soll er auch mein Tochtermann werden.«
Beide reichten einander hierauf die Hände, dann ging der Metzger an seine Schirne, die Tante aber, welche jetzt erst mit Schreck bemerkte, daß sie noch gar nicht ordentlich angezogen war, rief ihrer Kathrine und begann ihren Putz zu ordnen.