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Dieser gedrängte Bericht über die Gerichtsverhandlung aus Veranlassung der Anzeige gegen hundertsiebenundfünfzig Mitglieder der Sekte, die Galiläer genannt wird, wegen Geringschätzung der Mysterien und des Kaisers Marcus Aurelius fußt auf einem Protokollauszug, der von dem vereidigten Stenographen Umbricius Primigenius an den Vater Hyazinth verkauft wurde, sowie auf den Kommentaren, die dem Referat in einem Briefe Hyazinths an den Deklamator und Sektenvorsteher Tatian in Pisidien beigelegt waren.
Amachius zu dem Juden Rab Chanina: »Siehst du diese Säcke! Im ersten sind zehntausend Sesterzen, im zweiten zehntausend, im dritten zehntausend – im ganzen sind es hunderttausend Sesterzen. Steck deine Hände tief hinein, ganz bis auf den Boden – so, ja – oh, du kühle Wollust des Geldes! Fühlst du die Säfte des Geldes in dich hinübersickern, Rab Chanina? Empfindest du die blendende Berauschung des Goldes? Sag es mir, du Hund des Herrn, fühlst du die Seligkeit?«
Rab Chanina: »Warum dieser Spott, hoher Richter!«
Amachius: »Spott, sagst du? Nein, du begreifst noch nichts. Aber hör nun: so wenig wie diese Hunderttausend will ich dir nicht bieten – was sind schon hunderttausend von diesen kleinen runden Teufeln! Man erzählt überdies ringsum in den Winkeln, in Trinkstuben und Handelsbuden, daß das Geld des Marcus Aurelius nur sechs Siebentel des Nennwertes hätte – wie rechnest du es, Marcellus?«
Mit einer raschen Kopfbewegung hatte er sich an Marcellus gewendet, und dieser antwortete so laut, daß es auch von den am fernsten Stehenden vernommen werden konnte: »Fünf Sechstel ist richtiger, hoher Herr! Der Wert müßte denn gestiegen sein, seit du uns ins Gefängnis geworfen hast!«
Amachius brach als erster in das Gelächter aus, mit dem diese Antwort begrüßt wurde, dann fuhr er fort: »Lassen wir also diese Säcke als Repräsentanten für zehnmal hunderttausend dienen. Hör zu: bei meiner ritterlichen Ehre, bei meiner Würde als Diener des Gerichts, bei den Laren meiner unsterblichen Väter und in Gegenwart dieser Leute hier verspreche ich dir eine Million Sesterzen. Hast du mich verstanden: eine Mil–li–on Sesterzen!«
Man konnte hören, wie die Anwesenden den Atem anhielten, und man glaubte zu hören, wie sich die Sehnen in den Hälsen, die vorgestreckt wurden, strammten.
Amachius: »Zehnmal hunderttausend, die du dazu verwenden kannst, die aufgesperrten Mäuler dieser Armen zu füllen, eure Toten zu begraben, damit sie der Verbrennung entgehen, oder auch sie in Grundstücken oder sonst etwas anzulegen. – Unter – einer – Bedingung!« schloß er gedehnt.
Rab Chanina sah ihn mit einem Blick an, der von etwas gefärbt war, was wie Spott aussah, aber Mitleid war.
Amachius: »Unter der Bedingung, daß du dem Kaiser hier in Gegenwart deiner Gemeinde ein kleines Opfer darbringst!«
Es muß eine erwartungsvolle Stille entstanden sein; denn Vater Hyazinth schreibt, man hätte gehört, wie einer der Beisitzer einen Nagelreiniger fallen ließ. Die Stille wurde von Rab Chanina unterbrochen, der mit leiser Stimme sagte: »Niemals!«
»Niemals ist ein Wort, das in der Übereilung geboren und von der Unmündigkeit adoptiert wird! Noch einmal gebe ich dir Gelegenheit, es gegen ein anderes zu vertauschen.«
Und mit lauterer Stimme als vorher wiederholte Rab Chanina: »Niemals!«
Amachius: »Es heißt, daß die Galiläer mit der Errichtung von Schulen beschäftigt sind, in denen christlich agitatorischer Unterricht erteilt wird.«
Rab Chanina: »Einige von uns wünschen, daß die Kinder aus christlichen Familien darin unterrichtet werden, was die Ansichten dieser Familien sittlich und moralisch unterstützt.«
Amachius: »Das ist dasselbe, mit andern Worten gesagt. Es wird also daran gearbeitet, den römischen Einheitsstaat zu unterminieren. Bist du unter denen, die diese Idee unterstützt haben?«
Rab Chanina: »Ich habe davor gewarnt, aufrührerische Verhältnisse zu schaffen, wo es sich vermeiden läßt.«
Amachius: »Ich glaube dir, weil ich aus den Rapporten der Curiosa ersehe, daß du wahrheitsliebend bist. Aber laß mich dir hier, von wo aus es in der ganzen Stadt gehört werden kann, eines sagen: Wenn die Galiläer beschließen, Schulen einzurichten zu dem Zweck, den Schülern eine Ansicht beizubringen, die sie von dem großen gleichartig denkenden Block der Bewohner des Landes, in dem sie leben, trennt, dann greifen sie damit die Interessen des Staates an, und dann wird der Staat nicht zögern, sich zu verteidigen. Eine andere Frage: Hochverdiente Männer, unter ihnen der verstorbene ehrwürdige Fronto, der Freund und Lehrer unseres kaiserlichen Vaters Marc Aurel, hat bei vielen Gelegenheiten die Christen beschuldigt, sie feierten Mysterien, bei denen Kinder geopfert würden. Es heißt, euer hingerichteter Lehrer habe selbst gesagt: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen!‹, und ihr gehorchtet ihm auf diese Weise.«
Rab Chanina: »Wir bringen keine anderen Opfer dar als unsere sündigen Herzen; die Kindlein aber weihen wir der Lehre, zu der wir uns bekennen. Nichts anderem.«
Amachius: »Ich glaube dir abermals, weil nichts anderes festgestellt werden konnte, und weil du noch auf keiner Lüge ertappt worden bist.«
Amachius: »Du hast den Sklaven gekannt, der durch seine Beschwörung das Unglück über den ›Vogel‹ gebracht hat – das Pferd, das der gottgewordene Lucius Veras liebte?«
Rab Chanina: »Ich habe ihn gekannt.«
Amachius: »Du leugnest nicht, daß er Christ war?«
Rab Chanina: »Warum sollte ich leugnen, was alle wissen?«
Amachius: »Also einer von deinen lieben Brüdern?«
Rab Chanina: »Mein armer irregeleiteter Bruder!«
Amachius: »Wir wollen statt ›irregeleitet‹ lieber ›ruchlos‹ sagen. Das ist besser.«
Rab Chanina: »Wenn du ihn gekannt hättest wie ich, edler Amachius ...! Ich sage dir: ›irregeleitet‹ ist besser als ›ruchlos‹!«
Amachius: »Gut. Du machst also geltend, daß er einer deiner liebsten Brüder war?«
Rab Chanina zögerte wie ein Tier, das an dem Köder in einer Falle schnuppert.
Amachius: »Zauberei und Mord sind also das, was man von den ›liebsten‹ unter den Galiläern erwarten kann?«
Rab Chanina schwieg, er schwieg lange, er schwieg, bis Amachius ungeduldig rief: »So antworte doch, Mann, wenn der Stadtpräfekt von Rom dich im Namen des Kaisers fragt!«
Da antwortete er: »Der Sklave, von dem du sprichst, hat seine Strafe erlitten; aber ehe er den Querbalken auf seinen daraufgenagelten Händen nach dem Tarpejischen Felsen trug, lange vorher, noch ehe jemand etwas von seiner Schuld wußte, war sein Herz krank vor Reue über das Schreckliche, das er getan hatte.«
Amachius: »Sparsamkeit kommt zu spät, wenn man auf dem Boden des Geldbeutels angelangt ist.«
Rab Chanina: »Er hat sich selbst angezeigt, um einen Unschuldigen vor der Strafe zu retten.«
Amachius lachte unbeherrscht, und seine Munterkeit löste ein dröhnendes Gelächter unter den Zuhörern aus.
»Wie edel ihr doch seid!« spottete er. »Es gibt wohl kaum einen unter den Zuhörern hier, der nicht im Licht einer solchen Tugendorgie seine eigene Erbärmlichkeit fühlte.« Und in das Protokoll diktierte er: »Der Beklagte gibt zu, daß der Mörder des ›Vogels‹ der Gemeinde in der Sandalenmachergasse auf vollkommen normale Weise angehört hat. Übrigens versucht er, das Bild des Verbrechers zu retuschieren, der durch seine Missetat innerhalb der Sekte nichts von seinem guten Ruf eingebüßt zu haben scheint.«
Amachius: »Es heißt, du hättest bei verschiedenen Gelegenheiten gewisse Teile deiner Gemeinde als Schweine bezeichnet, die sich einmal ums andere in ... in das lodernde Feuer der Liederlichkeit gestürzt hätten – so nennst du es wohl? Ist das richtig?«
Rab Chanina: »Es ist richtig.«
Amachius: »Und du wärest der edle Retter gewesen, der sie wieder herauszureißen suchte?«
Rab Chanina: »Ich habe versucht, ein schwaches Werkzeug des Höchsten zu sein.«
Amachius: »Ihr seid tüchtig im Bildermalen.«
Rab Chanina schwieg.
Amachius: »Ich bin weder Dichter noch Prophet, sondern nur ein schwacher Diener meines Herrn und Kaisers. Du erlaubst wohl, daß ich mir dein Bild zu leihen nehme? – Gut. Für mich nehmen deine ›Brüder‹ und du sich gleich Schweinen aus, die sich unverständig und mit ermüdender Einförmigkeit in das große und alles vernichtende Feuer stürzen, das wir Tod nennen. Und ich habe, ohne Nutzen für mich selbst, versucht, euch zurückzureißen.«
Rab Chanina: »Gott im Himmel belohne dich für deine Langmut!«
Amachius: »Ich habe dich gewarnt.«
Rab Chanina bestätigte das mit einer Handbewegung.
Amachius: »Ihr seid viele Male verwarnt worden.«
Rab Chanina: »Viele Male – ja!«
Amachius: »Aber ihr wollt sterben. Es ist eine Verrücktheit bei euch, daß ihr sterben wollt.«
Rab Chanina: »Wir wollen nicht sterben; aber wenn der Tod der Lohn dafür ist, daß wir den Willen des Höchsten erfüllen, dann ist die Wahl, vor die ihr uns stellt, keine Wahl mehr.«
Amachius: »O heilige Perfidie! Immerhin: sag mir mit wenigen Worten den wahren Grund für eure Anbetung der Libitina. Warum wollt ihr sterben?«
Rab Chanina: »Mit wenigen Worten, ja: wir wollen sterben, um zu leben.«
Amachius (lachend): »Liebenswürdige Einfalt! Und was geschieht dann mit mir, der dem Leben opfert und jederzeit ihm gedient hat?«
Rab Chanina sah den Fragesteller mit klaren, mitleidigen Augen an, sagte aber nichts.
Amachius: »So antworte doch! Ich befehle dir, zu antworten!«
Rab Chanina: »Edler Amachius, du befiehlst mir, zu antworten. So höre denn meine Antwort: du lebst, um zu sterben.«
Amachius: »Wie soll ich es auffassen, daß du leben wirst? Von welchem Leben sprichst du?«
Rab Chanina: »Von dem ewigen Leben, edler Herr.«
Amachius: »Und der Tod – welcher Tod erwartet mich?«
Rab Chanina: »Der ewige Tod, Amachius!«
Amachius: »Das ist ja trostreich! Aber sag mir einmal: unser gnädiger und weiser Vater, Seine Kaiserliche Majestät Marcus Aurel, sowie Faustina, die Mutter der Legionen, und unser künftiger Kaiser Commodus – welche Art Tod und welche Art Leben erwarten sie nach deiner Anschauung?«
Rab Chanina: »Unsere Gemeinde versammelt sich nie, ohne sich im Gebet für die Vortrefflichen zu vereinigen.«
Amachius: »Hörst du nicht gut? Danach hab' ich dich nicht gefragt!«
Rab Chanina: »Mögen sie sich dem wahren Evangelium zuwenden, und sie haben einen unverlierbaren Anteil am ewigen Leben.«
Amachius: »Du spielst mit dem Feuer, Jude!«
Rab Chanina erwiderte nichts.
Amachius: »Nun, mehr braucht es nicht! Schreib in das Protokoll: Der Beklagte erklärt es als seine Überzeugung, daß sowohl der Kaiser Marcus Aurelius als auch die Kaiserin Faustina und der kaiserliche Prinz zu einem langen Leben im Hades verdammt seien, es sei denn, sie ließen sich in die Mysterien der Galiläer einweihen. Wenn es nicht so vollkommener Wahnwitz wäre, könnten dich meine sämtlichen zehntausend Untergebenen nicht vor der Wut der Stadt schützen.«
Man erkennt aus dem Brief des Hyazinth, daß die Stimmung in diesem Augenblick am Überkochen war. Er schreibt, verblümte Drohworte hätten ringsum in der Luft geschwirrt; aber offenbar hätte nach dem dreitägigen Verhör unter den Zuhörern allmählich eine allgemeine Schlaffheit geherrscht. Er sagte geradeheraus: die Mitglieder des Gerichts hätten dagesessen, wie sonnenmatte Hühner auf ihrer Stange kleben. Amachius allein sei anscheinend unermüdlich gewesen. Nachdem er das Verhör der Hauptzeugen beendet hatte, rief er die übrigen vor – einzeln oder in Gruppen. Wenn sie weitschweifig wurden, machte er sie darauf aufmerksam oder schnitt ihnen die Gelegenheit zu längeren Erklärungen ab. Selbst die Eßpausen schränkte er auf das Notdürftigste ein. Das ergibt sich daraus, daß ihm selbst Vibia das Essen brachte, das sie dann in dem Privatzimmer des Gouverneurs zu sich nahmen. Es herrschte ein Tempo von militärischem Zuschnitt, und das wurde bis zum letzten Satz der dreistündigen Rede durchgeführt, mit der Amachius die Gerichtsverhandlung schloß. Diese Rede war es, die ihm bei der ganzen Bevölkerung Popularität eintrug, eine Popularität, die er eiligst wieder verscherzte, weil er wieder scharf gegen jede heraufziehende Unordnung auftrat.
»Popularität wird nur durch Unfähigkeit und Korruption erreicht«, behauptete Amachius, und er fügte hinzu: »Die einzige Hochachtung, nach der ich strebe, ist die meiner Frau, aber um sie zu erlangen, müßte ich größer sein als Jupiter.«
Rufus war nicht der einzige, der sich seine Frau mit Überlegung ausgesucht hatte.
Diese Rede schloß mit einem Resümee folgenden Inhalts:
»Wie ich in allen Einzelheiten begründet habe, erwartet der Staat, daß sich jedermann seiner Verantwortung wirklich bewußt sei. Daß jeder suche, jeglichen Bruch der Lebensregeln zu vermeiden, die uns von den Vätern überkommen und auf tausendjähriger Erfahrung aufgebaut sind. Und daß jeder von uns anerkenne, wie sehr er mit jeder Tat der Allgemeinheit verpflichtet ist. Der Staat sieht zu seinem Bedauern, daß Leute sich in der eitlen Einbildung absondern, sie könnten ihr Leben verbringen, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern und ohne von dieser beachtet werden zu wollen, denn der Staat weiß, daß jeder, der um sich selbst als Zentrum einen Kreis zieht, ein Stein ist, der sich aus dem Staatsgebäude herausbricht. Ich weiß, ihr werdet sagen, solches sei nicht eure Absicht, und euer hingerichteter Lehrer habe euch sogar geboten, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Nun wohl, tut so, wie er gesagt hat! Bringt vor dem Bilde des Kaisers das geringe Opfer dar, durch das ihr eure verpflichtende Zusammengehörigkeit mit dem römischen Staate anerkennt – mit diesem Lande, das von euren Vätern errichtet wurde, oder« – er warf einen flüchtigen Blick auf Rab Chanina – »das sich euch als gastfreies Asyl aufgetan hat.«
Einige der Beklagten beantworteten dieses letzte Angebot mit dem Zeichen des Kreuzes. Andere machten das schützende Feigenzeichen. Viele brachen in Jubel und Danksagungen aus. Und obgleich die Angst jetzt sehr groß gewesen sein muß, wurde keiner abtrünnig.
Als sie nach der Gerichtsverhandlung ins Gefängnis zurückgeführt wurden, waren sie von den bis an die Zähne bewaffneten Mannschaften der dritten und fünften Abteilung wie in einen Panzer eingeschlossen.
Es war kalt, und es war noch früh am Tage.