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Vierzehntes Kapitel

Seit achtzehn Jahren saß nun die Stadt bemitleidenswert wie Hiob da. Dieser Vergleich ist nicht ganz treffend – vielleicht noch weniger treffend, als Vergleiche im allgemeinen zu sein pflegen; aber es ist etwas angenehm Handgreifliches bei der Vorstellung, diese Fürstin unter den Städten sich ihre Wunden schaben zu sehen, eine erlöschende Hoffnung im Blick, der gequält und angstvoll in die Welt hinausstarrt, hinausstarrt nach andern Gemeinden in ebenso erniedrigter Lage, nach Hilfe spähend, ob sie auch genau weiß, daß sie Bettler anbettelt, ihre Verzweiflung hinausschreiend, trotz der Gewißheit, daß die einzig mögliche Antwort ein hundertfältig wiederholtes Echo von Verzweiflung sein kann.

Über den meisten Haustürpfosten waren beschwörende Symbole zu sehen: das Sonnenrad der Mithrasgläubigen mit den charakteristischen Speichen, die heiligen Insignien der Isisgläubigen, bei den Juden verschwenderisches Bestreichen der Pfosten mit Blut, bei den Christen das Kreuz und über Tausenden von Türen bei den konventionell Gläubigen die kurze Formel, die Alexandras von Abonoteichos geoffenbart worden war und von seinen Agenten überall im Reiche verkauft wurde. Wenn eine Gottheit Propaganda für ihr System zu machen wünschte, hätte man meinen sollen, es gäbe hier eine wunderbare Gelegenheit, das einzig durch Beschützung der Auserwählten zu tun. Aber keine von allen dachte daran. Die Pestkarren (sie waren vierräderig und wurden von vier Maultieren gezogen) hielten vor den Häusern der Gläubigen aller Sorten, und es gab keine Sekte und keine Abart einer Sekte, deren Gläubige nicht ihren Jammer mit dem Trommelton und dem knirschenden Stöhnen der Karren gemischt hätten.

Vom Sonnenuntergang, oder ein wenig früher schon, bis zum Sonnenaufgang und noch lange nachher kamen diese Karren mit ihren schwarzgeteerten Regalen für die Leichen dahergerumpelt. Die Mannschaft trug Uniform und Kapuzen, die den Kopf vollständig einhüllten und mit einem Visier aus Marienglas versehen waren. Viele davon waren Verbrecher oder sonst Leute, die sich lästig gemacht hatten; und da sie meistens ziemlich rasch starben, standen die Gefängnisse häufig leer. Diese Anordnung war einem rohen Sinn für das Praktische entsprungen. Dennoch war sie weder so roh, noch so praktisch, wie es hätte scheinen können, denn auch in den Gefängnissen starben die Leute. Bald war man genötigt, Bettler und Invaliden zwangsweise auszuheben. Das machte das Grausige grotesk und häßlich. Um einige Kontrolle über sie zu haben, wurden sie zu zwei und zwei zusammengekettet; aber zuweilen fiel der eine von ihnen zu Boden, ohne daß die Peitsche des Aufsehers imstande war, ihn zur Vernunft zu bringen. Geschah es dann – und es geschah öfters –, daß sein Genosse einen Anfall von heulendem Wahnsinn bekam, so ließ man die beiden zusammengekettet, trieb den Verrückten vor dem Karren her, und der Tote wurde über die Gassen mit ihrem tieflöcherigen Pflaster mitgeschleift. Traf man einen schlafenden Vagabunden, so band man ihn gelassen an den freien Arm des Leichenträgers. Auf diese Weise starben die für sich Lebenden im gleichen Verhältnis zu dem übrigen Teil der Bevölkerung.

Unter diesen Umständen erließ der Papst Soter einen Hirtenbrief, der den Christen ihre Pflicht einschärfte, den Brüdern und Schwestern in jeglicher denkbaren Not beizustehen, ihnen Nahrung zu bringen, sie zu pflegen – und mit Liebe zu pflegen – und die Toten zu begraben. Rab Chanina, der ein mittelmäßiger Versammlungsleiter und ein lauer Prediger war, ging noch weiter und beschwor seine Gemeindemitglieder, keinen Unterschied zwischen Heiden und Christen zu machen und da zu Hilfe zu eilen, wo Hilfe not tat. Dieser Priester, der so wenig Prälat war, entwickelte selbst übernatürliche Gaben, wo es galt, einem Kranken das Sakrament zu reichen, die Heimgesuchten zu ermutigen und Nahrung und Kleidung hervorzuzaubern. Er wurde ein Virtuos darin, Pestbefallenen den letzten Kuß zu geben, die schon lange mehr stinkendes Aas waren als lebende Geschöpfe, die man lieben konnte.

Wie begreiflich ist, wirkte sein Beispiel anspornend auf die, die er zu leiten gesetzt war. Sie verziehen ihm, daß seine Predigten noch schlechter wurden als gewöhnlich, und daß ihm der Unterschied zwischen Täuflingen, Bußfertigen und Erlösten gleichgültig wurde. Ab und zu entschloß sich aber doch der eine oder andere von den Ältesten, ihm eine Ermahnung zuteil werden zu lassen. Wenn dann aber Rab Chanina hohläugig, hustend und reif für den Schlaf direkt von seinen Nachtwachen kam, den Gottesdienst zu leiten, wurde dann doch nie etwas daraus.

Sulpicia war unter denen, die sich am schönsten entwickelten. Obgleich ihre Jahre sie noch nicht dazu berechtigten, führte sie doch den Titel Schwester, und sie gab sich alle Mühe, ihn zu einem Ehrentitel zu machen. Tag und Nacht saß sie bei unvernünftigen und schmutzigen Sterbenden wie eingemauert – oftmals in Räumen, die zugleich Platz für allerhand Leben und Halbleben bieten mußten. Und sie beklagte sich nicht. Höchstens schilderte sie einmal vertraulich ihre Ehetragödie, vor nun schon vielen Jahren, wo ihr Schurke von Mann unter Mitnahme von dreitausendeinhundertsiebenundfünfzig Denaren und einem zahmen Raben in einem Käfig verschwunden war.

Und da war die gesprächige Schwester Petra, die ganz gewiß und zweifellos ungemischten Wein trank. Sie roch danach; aber ihre Entschuldigung lautete, die Kranken röchen jedenfalls schlechter.

Und da waren andere – viele andere –, deren einziges Bestreben es war, das Unmögliche zu tun: gegen das Überwältigende zu kämpfen und die Pestbefallenen dem Tod aus den Klauen zu reißen oder ihnen doch zu helfen, daß sie mit etwas stürben, was einem Lächeln glich. Das waren Menschen, die lernten, regelmäßigen Schlaf und regelmäßiges Essen als einen Luxus zu betrachten.

Da war auch Caecilia, die dem Marcellus eines Tages einen Brief schickte, worin kurz stand: »Komm einmal zu uns heraus, wenn du Zeit hast!«

 

Es geschah am Anna-Perenna-Tag, dem fünfzehnten März, daß Jon den Brief abgab, nachdem er ihn eine Woche lang zerknüllt in der Tasche herumgetragen hatte.

Der Hof der Alta Semita und die nähere Umgebung klirrten am Morgen von einem Kinderlärm, der über das Alltägliche hinaus durch Beiträge derer vermehrt war, die wegen des Feiertages schulfrei hatten. Marcellus überlegte eben, ob er den Tag mit einigen Kameraden in einem oder dem andern Wirtshause feiern oder zu dem Kinderfest hinausgehen solle. Beides hatte sein Anziehendes, das Kinderfest unter anderem die große Wahrscheinlichkeit, daß er draußen Elina treffen würde, die er nun absichtlich vierzehn Tage lang gemieden hatte. Sich die Wahl zu erleichtern, entschloß er sich, ein Asstück entscheiden zu lassen, und warf es in die Luft. Es war ein grünspanüberzogener Glückspfennig, den er sich bei dem blinden Bettler mit dem kurzhalsigen Hunde am Volkstor eingetauscht hatte, und der sich nach allen Regeln der Kunst ein paarmal in der Luft überschlug, bevor er sich zugunsten der Gastwirte gerade vor dem Rattenloch am Fußende des Bettes niederlegte. Marcellus schaute einen Augenblick verdrießlich vor sich hin. Ein heftiger Widerwille gegen sämtliche Gastwirte stieg in ihm auf. Er hatte es eigentlich gründlich satt, um »Gegenstände« zu würfeln und schlechtgeschminkten Kellnerinnen den Hof zu machen. Und so ging es zu, daß er eine Stunde später, geschrubbt und poliert, ein reines Taschentuch in seine Hemdtasche steckte, frische Farbe auf die eine etwas mitgenommene Sandale strich und sich auf den Weg machte.

Der Anna-Perenna-Tag wurde in einem Hain von Obstbäumen beim ersten Meilenstein an der Flaminischen Straße gefeiert, und der einzige Grund, warum er die Richtung nach der City einschlug, war, daß er Nig' und Elina zu der Zeit abholen wollte, wo er sicher sein konnte, sie zu treffen. Und vielleicht spielte das Schicksal ein wenig mit bei diesem Entschluß.

 

Rom war an diesem Tag mehr als sonst die Stadt der kleinen Leute, und die kleinen Leute waren vergnügt. Es war einer von den merkwürdigen Tagen, wo man die Atmosphäre als angenehm empfindet – ein Tag, da die Sonnenstrahlen gleichsam von Zikadenflügeln zur Erde getragen werden, und an denen es satten Leuten leicht fällt, an die Götter zu glauben. Marcellus schlenderte in die Stadt hinein, ohne sich zu beeilen und ohne auf seine Umgebung zu achten, bis er das Argiletum erreicht hatte. Hier wurde er von einer Isis-Prozession aufgehalten, die eben am Isis-Halteplatz Rast machte. Daran war wenig Bemerkenswertes, und man hätte Glück haben müssen, wenn man durch die Stadt kommen wollte, ohne von der einen oder anderen Priesterschaft aufgehalten zu werden. Das Merkwürdigste bei dieser Prozession war ein kleiner Kerl mit weißer Perücke und der Halbmaske, wie sie Pagen zum Schutz gegen die Sonne tragen. Dieser winkte Marcellus diskret und nachhaltig, und Marcellus, der zuerst meinte, er habe sich geirrt, ging schließlich hinüber.

»Domine!« sagte der Junge mit Jons Stimme. »Ich habe einen Brief an dich – hier, nimm ihn, ohne daß es jemand sieht. Ich soll von Rhod' grüßen!«

»Um Himmels willen! Bist du Theologe geworden?« fragte Marcellus.

Jon gebot ihm ungeduldig Schweigen. »Geh, geh, Biquesa sieht dich. Ich bin in der Prophetenlehre. Sag Rufus nichts davon!«

Und so bekam Marcellus den Brief, den Jon acht Tage lang bei sich getragen hatte, und der die Schritte des Marcellus anstatt nach der Sandalenmachergasse gegen das Appische Tor lenkte. Am Tor nahm er eine Droschke und fuhr zum Landhaus der Caecilier hinaus.

Auf der Appischen Straße war es nie lange Zeit still und ruhig. Reiter, Kutschen, Arbeitswagen und Fußgänger wetteiferten, wer den solidesten Beitrag zu dem brausenden Spektakel liefern könne. Bettler schrien Segnungen und Flüche und grüßten die Herrschaftskutschen mit Handküssen, gegen die Mietwagen aber streckten sie die Zunge heraus. Die weichverpackte Jugend der Oberklasse schickte vielsagende Blicke und noch mehr sagende Repliken von Fahrzeug zu Fahrzeug. Und wenn alles andere schwieg, streckten unfehlbar die Hunde ihre Schnauzen in die Luft und tauschten Gedanken aus, solange man einander hören konnte.

Aber im Garten hinter der Hecke, die das Anwesen der Caecilier von der lärmenden Landstraße trennte, herrschte große Stille. Der Gegensatz zwischen diesem Lärm und dieser Stille war sehr auffallend, und so wurde es einem nicht schwer, sich einen überirdischen und unsichtbaren Verkehrspolizisten vorzustellen, der unter dem breiten Eingangstor stände und beschwörend die Hände gegen die Straße und gegen den Lärm erhöbe, der da draußen tobte – ja selbst gegen die Zeit; denn es schienen nicht allein die wenigen Laute hier (Vogelgezwitscher und der Schiebkarren eines Gärtners) bewußt mit den Bäumen und Blumen zusammengestimmt zu sein, sondern man hatte das Gefühl, als habe sogar die Zeit hier endlich ein Freiquartier gefunden und könne stillsitzen und vergessen.

Stellt man sich vor, daß die Zeit wirklich einmal in menschlicher Gestalt auftreten könnte, so vermöchte sie sich keine seltsamere zu wählen, als die auf einer Bank in der Allee saß, die gegen den Haupteingang führte. Es war ein großer Mann mit konvexem Bauch, auf seiner einen Schulter saß ein Papagei und leckte ihm das Gesicht. Der Mann war armselig gekleidet, er trug eine Art Kutte und hatte nackte Beine. Als er Marcellus erblickte, sagte er, als wäre dies das Natürlichste von der Welt:

»Sei gegrüßt, junger Mann, und der Höchste segne dein Kommen! Ich wußte, daß wir dich heute erwarten durften!«

Marcellus, der es nicht mehr gewohnt war, »junger Mann« tituliert zu werden, schaute den andern fragend an, und der große Kuttenmann stellte sich nachlässig vor:

»Ich bin Urban, der Vikar des Papstes, des obersten Priesters der Christen. Wart einen Augenblick, bevor du unsere liebenswürdige Patronesse aufsuchst.«

Bisher hatte er mit halb abgewendetem Gesicht dagesessen; jetzt drehte er sich mit geschlossenen Augen ganz zu Marcellus hinüber, und diesem gelang es nicht, einen Schauder zu unterdrücken.

Ob man sich wohl im ganzen genommen etwas Fürchterlicheres denken konnte als Urbans Kopf? Es hätte denn ein vom Aussatz ganz zerfressenes Gesicht oder das eines boshaften Idioten sein müssen. Urbans Gesicht wirkte schlimmer, viel schlimmer, als das des Pedanius je ausgesehen hatte. Es war groß, und die Stirn zeigte eine merkwürdige Schiefe, wie sie bei einem Auftreten in nicht so ausgeprägter Form Männer veranlaßt, den Hut schräg zu setzen, was ihnen ganz ohne Absicht ein flottes Aussehen verleiht. Die Nase, ein poröser Klumpen von unmäßiger Größe, ragte weit aus dem Gesicht heraus und versuchte umsonst, die gedunsenen Lippen zu verbergen, die die mattblaue Farbe reifer Blaubeeren aufwiesen. Niemand hätte sich bedacht, dieses Gesicht auch so schon fürchterlich zu nennen, und doch wurde es erst wirklich abschreckend, als die Lider, wie Rolladen an einem Haus, die Augen freigaben. Männer, die Übung in der Beurteilung von Gesichtern haben, stoßen sich selten an der Schiefe einer linken Stirnhälfte, noch an einer Nase, noch an Lippen, sondern sie wenden sich sofort den Augen zu, und so hätten sie sich hier notiert, daß die Pupillen von verschiedener Größe waren. Und doch war das Entsetzliche an diesen Augen weder dieser Umstand, noch ihre wechselnde Farbe, sondern der unruhige Wechsel von Bosheit, Spott und Entsetzen in ihnen. Es war ein Blick ohne Ruhe. Wie ein Windstoß über einen Gebirgsee, flackerten Haß, Furcht und viele damit verwandte Gefühle über diese Augen hin, nur niemals Freundlichkeit oder Fröhlichkeit. Man verstand, daß selbst in den Christengemeinden nur sehr wenige diesen Mann kannten, und daß vielen, die mit ihm zusammentrafen, schlimm zumute wurde und sie sich wünschten, diese Augen möchten ihnen zulächeln. Sie ahnten nicht, daß ein Lächeln in diesen Augen das Allerentsetzlichste wäre, was man sehen könnte.

Erst als Marcellus sich gesetzt hatte, öffneten sich die Lider des anderen halb, und ein Blick, halb spöttisch und halb um Nachsicht bittend, sah ihn an. Wie um den Fremden erst an sich zu gewöhnen, wartete Urban einen Augenblick, ehe er wieder sprach. Dann sagte er:

»Ich weiß alles von dir – auch wer dein Vater ist!«

Marcellus nickte und sagte: »Ich bedaure, nicht das gleiche von dir sagen zu können. Es ist aber möglich, daß ich Jon von dir habe reden hören.«

»Danke, ich kann mir denken, auf welche Art!« sagte Urban mürrisch. »Bedauernde Worte, Phrasen ... Nein, aber hör: Ich weiß auch, warum du gekommen bist. Du meinst, nun einen neuen Gegenstand der Unterhaltung gefunden zu haben. So seid ihr ja ... Behagen, Geselligkeit, Unterhaltung, alle diese milden Lügen, alle diese dichten und blattreichen Gebüsche, in die die Menschen wie Strauße ihre Köpfe gesteckt haben, um nichts von der Wirklichkeit zu sehen ... Oh, alle diese Köpfe, die drinnen im Dickicht flüstern ... Schmeicheleien und Witze und Tiefsinnigkeiten ... alle diese wehenden Schwanzfedern, die feierlich Gott zugekehrt werden.«

Marcellus entgegnete nichts, sondern schaute ungeduldig gegen das Haus hin.

Urban fuhr fort: »Ich lasse dich gleich frei, ich bin im Augenblick fertig. Ich weiß, ihr jungen Menschen werdet sagen, wir Alten nützten die Räder mehr durch das Bremsen ab als durch das Fahren. Vielleicht habt ihr recht. Ihr sagt, vor allen Dingen wolltet ihr leben. Wir sagen dasselbe. Und ihr und wir, wir sprechen von zwei Formen des Lebens. Lieber junger Freund, es gibt ein ewiges Leben. Wenn du mit reinem Herzen darauf hörst, was dir das junge Mädchen hier sagen wird, wirst du es finden, und es wird vielleicht noch ein großer Domini canis aus dir, ein großer Hund des Herrn; aber ...«

Er schien vergessen zu haben, was er hatte sagen wollen. Als er wieder anfing, griff er auf den Anfang seiner Betrachtung zurück: »Das reine Herz, Herr! Das ist alles! Ich weiß, ihr sagt ebenfalls, daß ihr sucht, und die besten unter euch haben das jedenfalls auch getan. Aber sonst ... Hören wir nicht, daß ihr diskutiert um der Diskussion willen, wie ihr eßt, um zu essen, und nicht um der Nahrung willen? Also lebt ihr wohl auch ausschließlich, um da zu sein, und nicht, um zu wachsen. Nachdem ihr euch den Glauben an eine Entwicklung zurechtgemacht habt, sitzt ihr wie melancholische und wissende Affen um ein Feuer der Zwecklosigkeit herum – ein Feuer, das raucht, aber nicht wärmt. Und was euch aufrecht erhält, ist die Hoffnung, eure Erbärmlichkeit dadurch zu beenden, daß es euch glücke, in dieses Feuer zu fallen und von dessen kalten und qualmenden Flammen verzehrt zu werden.«

Auf der Bank unter den jungen Olivenbäumen war es schattig, aber es schien auch kalt zu werden, während der Alte sprach. Er saß wie ein Unglücksvogel da, als er so seinen abscheulichen Kopf an dem Papagei rieb, dessen Kopf dieser Bewegung antwortete. Es war, als tastete er mit seinen häßlichen, aber feinfühligen Händen nach dem Schicksal des Marcellus, das bisher wie ein dahintanzender Fluß mit gelegentlichen kleinen Stromschnellen und sonst nichts gewesen war ...

»Meine liebe Caecilia erwartet dich«, sagte Urban schließlich. »Oder würde dich doch erwarten, wenn sie wie ich wüßte, daß du heute kommst. Sie hat ihre kleinen Eigenheiten. Sie wird dir wohl selbst mitteilen, daß sie den Geburtstag des Erlösers auf heidnische Weise feiert. Einzelne unter uns tun das; aber laß es nur dafür gelten, was es ist. Niemand könnte dich besser zu der Wahrheit leiten als sie, die selbst in Wahrheit eine Braut Christi ist! Geh in Frieden! Du triffst sie in der Backstube.«

 

Wenn die Frauen im allgemeinen wüßten, welche Gefühle in einem Mann aufsteigen, der die Angebetete zum erstenmal in ihrer Küchenarbeitstracht sieht, dann würden viel mehr von ihnen Veranlassung suchen, sich in dieser vorteilhaften Gestalt zu zeigen. Vieles kann sich verändern, aber das uralte Festhalten des Mannes am Haushaltungsideal ist augenscheinlich unvergänglich, und die Ruhe des Marcellus mußte beim Anblick Caecilias eine gewaltige Probe bestehen.

Die kleine Dame stand auf einer leeren Olivenkiste, damit beschäftigt, in einem dreibeinigen Trog, der von einer muskulösen Sklavin festgehalten wurde, Teig zu kneten. In kurzen Zwischenräumen und ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, sagte sie: »Wasser, Mirjam!« worauf das Mädchen sofort die eine Hand vom Trog nahm und eine kleine Dosis lauen Wassers über die Masse goß. Oder es hieß »Essig, Mirjam!« und dann wurde dieses Fluidum zugesetzt. Beide waren von der Hitze und der Anstrengung rot im Gesicht – am meisten Caecilia, und auf beiden Seiten des festen, schlanken Halses spielten kleine Muskeln unter der Haut im Takte der Arbeit. Namentlich diese kleinen tanzenden Muskeln zwischen dem Rand des Arbeitskimonos und dem Haarknoten griffen die Selbstbeherrschung des Buchhalters stark an. Als sie ihn erblickte und die Knethandschuhe abzog, wie geübte Leute einem Aal die Haut abziehen, und ihm entgegeneilte, ihn zu bewillkommnen, stieg die Reaktion in ihm zu einem so gewaltigen Beben an, daß ihm seine eigenen Worte von außen her zu kommen schienen, wie voneinander abgeschnitten, ohne Sinn und Verstand. Und als er später wieder zu sich kam, befand er sich auf einer Bank im Garten auf dessen der Landstraße abgewandter Seite.

Es war eine Bank aus Marmor, aus ausgesuchtem grüngeädertem Marmor, und die Abnützung durch mehr als zwei Jahrhunderte hatte sie so blank geschliffen, als wäre sie lackiert. Der Tradition zufolge war sie von dem bekannten Wucherer Quintus Caecilius aufgestellt worden, den Seneca offenherzig »durus fenerator« genannt hat. Zu seinen Lebzeiten war ihm von niemand etwas Gutes nachgesagt worden, dagegen ließ ihm Atticus, sein Neffe, an der gegenüberhegenden Seite der Straße ein Grabmal setzen, mit einer Aufschrift, die noch nach zweihundert Jahren die Welt über seine Tugenden unterrichtete, unter denen doch nur die eine präzisiert war, daß er dem genannten Atticus zehn Millionen Sesterzen hinterlassen hätte. Geht man langsam weiter in der Geschichte, so wird man alsbald diesen selben Atticus damit beschäftigt finden, dem landflüchtigen Cicero die Heimkehr vorzubereiten. Etwas später feiert er Hochzeit mit einer Dame, von der wir nicht viel mehr wissen, als daß sie Pilia hieß und ihm eine Tochter, Pomponia Caecilia Attica, schenkte. Diese machte Atticus zum Schwiegervater des berühmten Agrippa und brachte seine Enkelin als die erste Frau des Tiberius dem Thron der Cäsaren nahe.

Ja, das war der Zweig der Caecilier, der von jenem Q. Caecilius Metellus Numidius abstammte, der den König Jugurtha besiegte, und es waren diese Caecilier, die sich später so benahmen, daß diese kleine Caecilia bei einer besonderen Gelegenheit ihre christliche Demut vergaß, sich mit ihrer kleinen Faust vor die Brust schlug und bezeugte: »Das Blut der Eroberer rinnt in meinen Adern!«

Sie war selbst ein Eroberer.

Es waren aber nicht Taten ihrer Vorfahren, die sie beschäftigten, als sie auf der ehrwürdigen Bank saßen, sondern der schreckliche alte Mann, der sich den Stellvertreter des Oberpriesters der Christen genannt hatte.

»Es ist schrecklich ärgerlich, daß du ihn getroffen hast, ehe ich dich vorbereitet hatte!« sagte sie. »Wenn jemand von ihm spricht – von seinem Gesicht, verstehst du –, dann sage ich immer: warum sollen wir die Füße des Pfaues ansehen, wenn er doch ein so schönes Gefieder hat?«

»Es sind besonders die Augen«, warf Marcellus ein, der anfing sich selbst wiederzufinden.

»Die Augen – ja, auch die Augen«, gab Caecilia zu. »Namentlich die Augen; aber das war es gerade, was ich dir gesagt hätte, wenn ich dir zuerst begegnet wäre. Er hat ein goldenes Herz, und er brennt nach dem Martyrium.«

»Wonach brennt er?«

»Nach dem Martyrium; du weißt: danach, für unsern großen Lehrer zu sterben!«

»Na, ja selbstverständlich!« antwortete Marcellus begreifend. »Warum will er für ihn sterben?«

»Ach, das alles werde ich dir ein andermal erklären. Aber du verstehst doch: nur Märtyrer gehen bei ihrem Tode gleich zu Gott ein. Ich werde dir ein Buch von Justin geben. Es handelt von dem Kim-Logos. – Du hast doch wohl von Justin gehört?«

»Von welchem Justin?« fragte Marcellus.

Caecilia schlug vor Erstaunen die Hände zusammen. » Das hätte ich doch für unmöglich gehalten! Unser Märtyrer Justin selbstverständlich ... Er fand den Tod für ... Es ist wohl neun Jahre her, damals, als Junius Rusticus Polizeidirektor war!«

»Der ist vor jetzt acht Jahren abgegangen!« sagte Marcellus, froh darüber, daß er doch etwas wußte.

Caecilia sah gedankenvoll vor sich hin, während sie sagte: »Du, Marcellus, es ist fürchterlich: ich laufe mit einer großen Sünde herum, einer entsetzlichen Sünde. Hast du jemals einen Menschen gehaßt?«

Marcellus nickte ermunternd. »Ja, eine Menge!« sagte er.

»Ach nein!« erwiderte sie. »So darfst du nicht sagen! Denk dir, es gibt einen Menschen, den ich hasse. Das ist Crescens, der Hund, der sich zum Friedenstempel hält. Er hat Justin angezeigt, unsern geliebten Justin, und daraufhin wurde diesem im Hof des Zentralgefängnisses der Kopf abgeschlagen!« Die Tränen rannen ihr über die Wangen: »Ich kann auch den Oberbibliothekar dort nicht leiden. Er ist ein Spötter, namentlich gegen Rab Chanina. Liebst du Rab Chanina nicht auch?«

Marcellus war in Wirklichkeit eine reinliche Natur, die sich der Genauigkeit befliß. Er antwortete: »Ich kann ihn recht gut leiden.«

Sie sagte: »Unser großer Meister hat uns geboten, unsere Nächsten zu lieben. Das ist eigentlich das ganze Christentum. Willst du da nicht auch gern Christ werden?«

Marcellus umging die Antwort und fragte: »Damals im Bethaus – vor vierzehn Tagen – hast du etwas gesagt, was irgendwo geschrieben steht ... Du sagtest: ›Es stehet geschrieben!‹ Wo steht das geschrieben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht. Aber jetzt bekommst du zwei heilige Bücher nach Hause mit. Die wirst du lesen, und dann sprechen wir darüber, und ...«

Marcellus klopfte das Herz bei dem Gedanken, daß diese Zusammenkünfte eine Institution werden könnten.

»Und willst du es dann nicht versuchen, Vater Urban zu lieben?«

Marcellus versprach, daß er es versuchen wolle. Es war so leicht zu versprechen, wenn dieses kluge und schöne Kind einen um etwas bat. Sie wieder versuchte, ihm die Arbeit dadurch zu erleichtern, daß sie ihm ihre Ansicht entwickelte.

»Wenn wir Menschen ansehen, gibt es doch Situationen, in denen es uns nicht einfallen wird, über ihre Tracht nachzudenken oder über die kleinen Äußerlichkeiten, die sie kennzeichnen«, fing sie an. »Wenn eine Frau verunglückt, und die Herbeieilenden entblößen sie, um ihr einen Verband anlegen zu können, ist es ja nicht eine Frau, die sie sehen, sondern einfach eine Hilfsbedürftige, und niemand wird später darüber nachdenken, ob sie schön war wie eine Marmorgöttin oder ... oder nicht so schön. Und, lieber Marcellus, kannst du denn nicht einsehen, daß alle Menschen Hilfsbedürftige sind? Daß alles, was wir sehen: Kleider, Schmuck, Perücken, Goldzähne – daß der ganze Körper nichts ist? Dann ist es nicht so schwer, einzusehen, daß Vater Urban schöner ist als alle andern.«

Er versprach wieder, er wolle versuchen, den päpstlichen Vikar liebzuhaben, und sie dankte ihm mit einem Lächeln. Nach einer Pause sagte sie:

»Es gibt drei Menschen, die du sehr liebhaben solltest. Das sind Urban, Rab Chanina und dann ein Mann, der Tatian heißt. Er ist als Wanderlehrer durch die ganze Welt gezogen. Jetzt ist er in Pisidien, wo er daheim ist. Ich habe eben einen Brief von ihm erhalten. Hier, sieh einmal ... ja, da ist er!« Sie fischte den Brief irgendwo aus ihrem Busen und reichte ihn Marcellus. »Du darfst ihn gern lesen«, sagte sie. »Man kann von Bruder Tatian immer sehr viel lernen!«

Also las Marcellus den Brief, der hochtrabend war und allerlei Drohungen für jeden, der Fleisch und Wein genoß, zu enthalten schien. Aber namentlich legte er es Caecilia ans Herz, niemals zu vergessen, daß sie eine Braut Christi sei.

»Was meint er damit?« fragte Marcellus.

Sie schaute ihn mit hellen Augen an und sagte mit frohem Ernst: »Ganz einfach: Mein Leben ist Christus geweiht!«

Marcellus kniff die Augen zusammen und schaute noch einmal in den Brief, ehe er ihn zurückgab. Er hatte kein Vertrauen zu diesem Christus – von Bruder Tatian ganz zu schweigen.

 

Es gibt Wahrheiten, die leise daherkommen und sich gleichsam auf eine Stuhlecke setzen, den Kapotthut auf dem Kopf, schwarze Zwirnhandschuhe an den Händen und mit einem Regenschirm, und andere, die in Umstürzleraufmachung auf einen zutreten, mit aufgekrempelten Hemdärmeln, gespannten Muskeln und ein Priemchen im Mund. Es gibt bleichnäsige Wahrheiten und rotwangige und schiefe und krummbeinige – diese ganze proletarische Sippschaft, die nur Registrierungen ohne Perspektive sind. Und dann gibt es ja auch die gelassene, mit der Toga bekleidete Wahrheit, die jedem Menschen die ausgestreckte Hand auf die Brust legt und sagt: » Dies ist das erste und größte Gebot!«

Eine Wahrheit von soviel Karat wie diese ist eine große Ausbeute für einen einzigen Tag, und es war darum kein nennenswertes Unglück, daß gerade jetzt, wo diese Quintessenz des Christentums dem Marcellus in die Hände gelegt worden war, Caecilias Vater, der Gutsbesitzer Caecilius, erschien. Der ausgezeichnete Ritter und Senator, kurz zuvor aus der Stadt heimgekehrt, war betrübt darüber, daß sein uraltes Wiesel – ein auf den Rattenfang dressiertes Tier – an der Pest gestorben war. Selbst wenn es einem vertraut ist, daß die Pest rund um einen her blüht – diese Tatsache gewinnt doch mehr Leben, wenn man unumstößlich erfährt, daß sie einem jetzt in das eigene Revier dringt, selbst wenn es beim erstenmal nur Ratten und ein alter treuer Diener von einem Wiesel sind, die sie überfällt. Nichtsdestoweniger war aller Kummer aus dem Gesicht des Gutsbesitzers wie weggeblasen, als Marcellus ihm vorgestellt wurde. Er strahlte in einem breiten Lächeln, drückte den Gast herzlich an sich und sagte:

»Auch wenn ich nicht schon durch meine Tochter auf dein Kommen gespannt gewesen wäre, hätte ich mich ebenso gefreut, dich hier draußen zu begrüßen. Dein Geschlecht hat den Namen Papirius mit Ehren in die Geschichte der Stadt geschrieben; und ich habe deine Gedichte gelesen – im Senat, verstehst du. Man muß ein wenig Lektüre bei sich haben für die toten Tage. Eros gab mir die deinen, als ich ihn um etwas von dem Neuesten bat.«

»Und was hältst du von ihnen?« fragte Marcellus.

»Sie gehören zu denen, die ich gut leiden kann«, erwiderte Caecilius. »Ich sehe, du rechnest dich nicht zu den verdächtigen Gesellen, die sich zu groß dünken, ein Morgengebet zu sprechen, und die schläfrig dasitzen und in den Zähnen stochern, während sie Götter für sich schwitzen lassen.«

Er lächelte wieder, und Marcellus quittierte den Beifall – soweit es Beifall war – mit einer Neigung des Kopfes. Jedenfalls kam ihm die Ausbeute etwas ungewöhnlich vor. Caecilius fügte hinzu: »Ich schätze Gottesfurcht in jeder Form. Man muß sein Gesicht dem einen oder andern zuwenden, und die moderne Art, dem Glauben – dem Glauben im allgemeinen – den Rücken zu kehren, ist mir eine Pestilenz. Ich hasse alles Negative. Negation ist Feigheit – darin sind wir uns gewiß einig!« Wieder lächelte Caecilius, und Marcellus gab zu, daß er die Negation als ein Kind der Feigheit betrachte.

Zu lächeln war für Caecilius keine natürliche Sache. Diese begehrte Kunst hatte ihm seine Frau in einem Jahrdutzend mühsam beigebracht. »Nicht so verdrießlich, Alter!« pflegte sie zu sagen. Oder: »Nur eine Messerspitze voll Freundlichkeit, wenn ich bitten darf!« Oder wenn er besonders weit davon entfernt war: »Positiv, Max (er war als Maximus eingeschrieben), sei positiv!« Der Erfolg war ein Weltmanns-Standardlächeln, das liberal und ohne Unterschied angewendet wurde. Den Höhepunkt der Befriedigung erreichte seine Frau, als sie dieses Lächeln an ihm selbst im Schlafe feststellen konnte. Sie lächelte selbst, als sie es sah, etwas spöttisch lächelte sie. Und kurz darauf starb sie. Aber obgleich dies schon lange her war, lebte sie dauernd weiter unter diesem Dach im Lächeln ihres Max, in seinen Gewohnheiten und den kleinen Eigenheiten, die sie ihm abgewöhnt hatte, und deren Narben er beständig spürte.

»Aber die größte Freude wirst du uns an dem Tage machen, wo du erkennst, daß der göttliche Logos in all seiner Fülle sich im Christentum geoffenbart hat!« schloß Caecilius seine Rede. »An dem Tag, wo du dich entschließest, ein großer Hund des Herrn zu werden!«

Das war derselbe Ausdruck, den der Stellvertreter des Oberpriesters gebraucht hatte, und Marcellus fragte: »Ich dachte, es gäbe keine Hunde unter den Christen?«

»Lauter Hunde!« eiferte der Gutsbesitzer. »Oder wir sollten es wenigstens sein. Vielleicht keine Hunde mit Kutte und Bettelstab, aber dennoch Hunde. Und wir erwarten dich!« Er lächelte aufmunternd.

 

Sie trafen Caecilia, die sie verlassen hatte, um die Mahlzeit anzurichten, zusammen mit Urban an einem gedeckten Tisch in der Pergola vor dem Hauptgebäude. Der häßliche alte Priester hatte die eine Hand auf den Tisch gelegt, und eine von Caecilias Händen lag darauf. So glichen die Hände einem Büschel wilder roter Bananen, geziert durch ein kleines herbstbraunes Blatt. Augenscheinlich waren die beiden in einem tiefsinnigen Gespräch begriffen; aber als sich die zwei Männer näherten, wendete sich das junge Mädchen ihnen freudestrahlend zu und rief: »Vater Urban sagt, es ist wohl denkbar, daß es einen Himmel für Wiesel gibt!« Lächelnd spendete Caecilius diesem Gedanken seinen Beifall, und Marcellus brachte es nicht übers Herz, mit dem herauszurücken, was Euphemus gesagt hätte: daß der alte Rattenfänger möglicherweise einen Rattenhimmel vorziehen würde. Und mit dieser einstimmigen Annahme ging man zu Tisch.

Die Mahlzeit verlief friedlich und in der wohlerzogensten Weise. Einmal stand Caecilia auf, um mit einem Star, der sie zu kennen schien, um die Wette zu pfeifen, und etwas später huschte sie an einen Graben in der Nähe, um mit einer Schildkröte zu plaudern, die herbeikam, wenn man sie rief. In der Zwischenzeit widmete sich Urban der Nahrungsaufnahme – er schien sehr hungrig zu sein – wogegen Caecilius nur ein wenig Obst genoß. Er ließ seinem Wohlbefinden gern dadurch eine Aufmunterung angedeihen, daß er die Hauptmahlzeit überschlug; und er bemerkt zu Urban gewendet: »Es ist vergnüglich, zu beobachten, welchen Nutzen man von einer Mahlzeit haben kann, die man nicht bekommt!«

Es war Marcellus, der in erster Linie die Unterhaltung in Gang hielt. Die Gepflogenheiten dieses Hauses waren den gewöhnlichen gesellschaftlichen Gewohnheiten so vollständig entgegengesetzt, daß man, weit davon entfernt, religiöse Gespräche zu meiden, sie vielmehr mit Vorliebe pflegte – sogar bei Tisch. In diesem Falle forderte Urban den Marcellus geradezu heraus, seine Ansicht über den Mithraskult zu entwickeln, dem Marcellus nahestand. Und Marcellus tat es gründlich und mit Begeisterung. Der Mithraskult stand in seinen Augen über allen andern Systemen, und er verbarg seine Auffassung durchaus nicht. Es wurde ein Lobgesang für die Sonne, die Körperkraft und alle männlichen Tugenden, ja es wurde beinah ein Gedicht. Und die ganze Zeit, während er sprach, saß Caecilia mit geschlossenen Augen da, und ein schwaches Lächeln spielte um ihren Mund. Sie fühlte sich wie das arme Kind, das ein reiches Kind von seiner Familienvilla in den Bergen erzählen hört und nachsichtig lächelt, weil es vor einem Augenblick drunten im Hinterhof mit Hilfe von drei Stöcken und einem Stück Sackleinwand den Palast Sultan Solimans aufgebaut hat und dieses Experiment wiederholen kann, so oft es will. Als Marcellus schließlich schwieg, machte sie die Augen auf (»Wie Silberschwingen!« sagte Marcellus zu sich selbst), und fragte ernsthaft:

»Wenn du so begeistert für Mithras bist, warum bist du dann in Rab Chaninas Bethaus gegangen?«

Er hatte das Gefühl, als wäre sie, so lange er sprach, verschwunden gewesen und jetzt zurückgekommen, und er schwieg überrumpelt. Dann beugte er sich, während Caecilius Brotkugeln drehte, entschlossen zu ihr hinüber und flüsterte:

»Um dich zu sehen!«

Sie runzelte einen Augenblick die Stirn und wurde rot. Dann lachte sie und schüttelte den Kopf. »Das war ein schlechter Grund!« sagte sie. »Ungefähr der allerschlechteste, der sich denken läßt!«

Nach einem und dem andern Richtweg gelangten sie über dieses Intermezzo hin zu dem Thema Jon. Möglicherweise hatte Marcellus geradeheraus gesagt, daß er von Jon in Versuchung geführt worden war – jedenfalls aber kamen sie auf ihn zu sprechen. Urban saß da und summte vor sich hin (Jon pflegte zu sagen, er lutsche an einem Lied), und der Gutsbesitzer sah eine Mappe mit Regierungsdokumenten durch.

»Wo hat er dir den Brief gegeben?« fragte Caecilia.

»Im Argiletum«, antwortete Marcellus wahrheitsgemäß.

»Das verstehe ich nicht recht. War er allein?«

Marcellus zog die Wahrheit etwas in die Länge und sagte: »Dessen bin ich mir nicht ganz sicher – ich glaube beinah nicht.«

»Also war er mit den Isisleuten zusammen?« sagte sie.

Marcellus war verblüfft. »Wie kannst du das wissen?« fragte er. »Ach, er erzählt mir alles. Er hat noch niemals gelogen. Nicht wahr, Vater Urban?«

»Das ist der einzige Fehler, den er nicht hat. Er lügt nicht!« bezeugte der Priester.

»Da hörst du!« sagte sie triumphierend. »Wenn ich nur wüßte, was er da bei diesem verdächtigen Prophet-Agenten treibt! Er war es, der den Kaiser Marcus veranlaßte, die Löwen in die Donau zu werfen – die Barbaren haben sie dann mit Knüppeln totgeschlagen.«

»Etwas Gutes lernt er dort nicht«, warf Urban ein. »Aber er hält sich am liebsten in schlechter Gesellschaft auf.«

»Nein, ich bin ihm die liebste Gesellschaft!« sagte Caecilia gelassen. Sie saß wie eine Statue der Gelassenheit da, und ihre Ruhe teilte sich allen den andern mit. Sie sagte: »Er wird schon recht werden. Es gibt wirklich Menschen, denen alles mögliche gelingt – anscheinend ohne Anstrengung. Sie haben es in den Fingerspitzen, in ihrer Art, sich zu bewegen, in der Technik, nach der sie sich die Nase schneuzen ...!«

»Und in den Augen!« warf Marcellus lächelnd ein und suchte mit den seinen die Augen Caecilias.

Gleich darauf entdeckte Marcellus, daß ein dumpfes Schweigen eingetreten war, und als er aufsah, begegnete er einem Blick von Urban – einem so haßerfüllten Blick, daß es ihm war, als gerinne ihm das Blut in den Adern.

»Ja, die Augen!« schnarrte Urban, und seine entsetzlichen Augen flammten dabei wild. Caecilia legte ihm die Hand auf den Arm; aber er schüttelte sie ab, lief wie vor Kälte zitternd in die Sonne hinaus und verlor sich in einem Piniengehölz.

»Du hast das doch nicht mit Absicht getan?« fragte das junge Mädchen mit Tränen in den Augen. Marcellus schaute sie vorwurfsvoll an, und sie ergriff seine Hand und küßte sie.

»Vergib mir! Ich wußte es«, sagte sie beruhigt. »Aber begreifst du nun, wie notwendig er Liebe braucht?«

Caecilius, der nicht gehört hatte, was vorging, blickte dem Verschwundenen flüchtig nach und sagte gutmütig:

»Ja, habt ihn ein wenig lieb, Kinder! Er hat es schrecklich nötig.« Und zu Marcellus gewendet, fuhr er fort: »Überleg dir nun, was ich gesagt habe: daß du ein Hund des Herrn werden sollst!« Zwei Stunden später hielt ein Kutscher in der Livree der Caecilier mit seinem Gefährt vor der Tür, und Marcellus, mit Justins Abhandlung über Kim-Logos und einem Werk, das das Buch Daniel hieß, unter dem Arm, nahm Abschied von Caecilia.

»Und du kommst, sobald du die beiden Bücher richtig in dich aufgenommen hast?« fragte sie zum fünftenmal.

Er versprach es bereitwillig.

»Und vielleicht hast du auch Lust, wieder einmal zu den Versammlungen bei Rab Chanina zu kommen?«

Er hatte wirklich große Lust dazu.

»Und ...« sie scharrte ein wenig mit dem rechten Schuh in der Erde, ehe sie die Augen aufschlug (»wie Silberschwingen!«), »... du tust es, weil du die Wahrheit suchst?«

»Auch darum – ja!« sagte er. Und als sich der Wagen nun in Bewegung setzte, rief sie ihm nach:

»Dann grüße ich alle meine Kindlein von dir!« Sie hatte ihm von den achtundzwanzig kleinen Kindern erzählt, die sie in einem Kinderheim dicht bei dem väterlichen Besitztum betreute. Als der Wagen in die Landstraße einbog, winkte sie zum letztenmal und lief ins Haus.

Und Marcellus fuhr nach der Stadt mit dem Eindruck, daß das Christentum darin bestehe, in einem Märchenpark mit einem jungen Mädchen spazierenzugehen, das da sagte: »Es stehet geschrieben!« und dabei jedesmal zwei beispiellos klare graue Augen auf ihn richtete.

Man kann wohl sagen: Mag das Christentum sein, was es will, eine Schäferszene in einem Märchenpark ist es bestimmt nicht!

 

Gerade an jenem Abend wurde jedenfalls an einem Ort in der Stadt darüber diskutiert, was das Christentum sei.

Beinahe jedes Wort wird wohl individuell aufgefaßt. Ein brauchbares Beispiel dafür ist »Sozialist«. In den Ohren gewisser Menschen steht es in der hintersten Kirchenbank neben den Begriffen Wanzen und Vermögenssteuer. Aber im Ohr eines reinherzigen Arbeiters hat es vielleicht seinen ursprünglichen Klang bewahrt und wird noch als Bezeichnung für einen Menschen verstanden, der praktisch seine verpflichtende Zusammengehörigkeit mit der übrigen Menschheit anerkennt.

Das gleiche ist es mit dem Begriff »Christ«, der – weiß der Himmel, zum wievielten Male – im Kontor des Oberbibliothekars am Friedenstempel diskutiert wurde. Die Ursache war der alte Hund Orbilius, der, unterstützt von dem Wirt Maës aus dem »Weißen Walfisch«, den verprügelten, verwirrten und vergnügten Rab Chanina aus einem Volkshaufen gerettet hatte, der die redlichsten Anstrengungen machte, ihn zu lynchen. Vom Standpunkt des Maës aus gesehen, war der ganze Erfolg in Anbetracht der Menge Leute mager: ein ausgeschlagenes Auge, ein paar blaue Flecken und sonst noch einige Kleinigkeiten; aber Rab Chanina war unschuldig daran.

Der Name Rab Chanina war ein Kosename, den die Bewunderer – oder vielleicht auch die Nicht-Bewunderer – des Rabbi der Erzählung von »Rab Chanina und Rab Oschaja« entnommen hatten, den beiden, die in einer wegen ihrer Liederlichkeit bekannten Stadt im Heiligen Lande der Schuhmacherei obgelegen hatten. »Dort machten sie Schuhe für die Huren, erhoben aber nicht die Augen, sie anzuschauen, wenn sie ihnen Schuhe brachten.« Genau so verhielt es sich mit Rab Chanina, soweit ihn sein Weg an unnennbare Orte führte – weniger jedoch, um Schuhe hinzubringen, als um die Christen, die er kannte, noch auf der Schwelle dieser Häuser aufzuhalten. Abend um Abend konnte er da auf und ab gehen, ausschließlich mit dem Zweck, Menschen von der Versuchung fernzuhalten. Eine undankbarere Arbeit läßt sich kaum denken – die Inhaber der Betriebe behandelten ihn schlecht, weil er ihren Geschäften zu schaden suchte, die betroffenen Christen wurden böse und zornig, weil er sie nach ihrer Meinung lächerlich machte, und die Polizei behielt ihn scharf im Auge, weil er die öffentliche Ordnung störte.

Die Störung dieser wertvollen Ordnung war in diesem Fall vor dem Marcellustheater geschehen, zu der Zeit, wo zwanzigtausend Menschen hineinspazierten, bestrebt, so viel Vergnügen wie möglich aus der neuen Marullus-Revue zu ziehen. Man sollte meinen, Rab Chanina hätte keine großen Aussichten gehabt, einige von seinen Christen aus dieser Menge herauszufinden. Indessen ist es eine Tatsache, daß er den Bandteppichfabrikanten Commodus und dessen Frau faßte, als sie gerade einem Billettverkäufer zwei von den besten Plätzen abgenommen hatten. Der ertappte Sünder zeigte sich wenig bußfertig, und seine Frau noch weniger. Sie ergingen sich beide in Äußerungen von der Art, durch die es Neureiche gelegentlich ihren vergeßlichen Bekannten in Erinnerung bringen, daß sie Neureiche sind. Besonders ließ die Frau mit schmetternder Stimme einige Aussprüche darüber vom Stapel, wie absurd es wäre, diese Schwefelbande erst zu füttern, um nachher von ihr verunglimpft zu werden! Selbstverständlich rührte das Wort »Schwefelbande« Rab Chanina ebensowenig, wie daß er als ein träger Schmarotzer hingestellt wurde. Er war zu dem bestimmten Zweck hergekommen, und so fuhr er unangefochten in seinen Bemühungen fort, das Ehepaar zur Umkehr zu veranlassen. Als Orbilius mit dem vorhin erwähnten Wagenlenker ankam, waren die wohlwollenden Helfer aus der Menge eben dabei, dem eifrigen Priester den Mantel abzureißen und ihn anzuspucken, und als ihn die zwei Freunde in der Richtung der Fabriciusbrücke davonschleppten, ihn durch die Äskulapbruderschaft verbinden zu lassen, blinkten die Polizeisäbel festlich über einem beginnenden Tumult, aus dem heraus man Jammer, Geschrei und heftige Flüche gegen die Christen hörte.

»Wirst du denn niemals klüger?« fragte der Hund vorwurfsvoll. Rab Chanina schüttelte traurig den Kopf und erzählte unzusammenhängend davon, wie hoffnungslos seine Arbeit zuweilen erscheine. Er verglich sich selbst mit einem Mann, der Schweine aus einem brennenden Stall heraustreiben soll, aber sehen muß, wie die Tiere sich immer wieder in das Feuer stürzen, aus dem sie eben gerettet worden waren. Für ihn war die Hölle etwas Unumstößliches, Handgreifliches und Entsetzliches, und trotzdem wäre er zweifellos gerne durch die Hölle gewandert, seine armen Schweine wieder herauszujagen.

Maës schnaubte verächtlich. Er war ein großer Freund seelischen Naturschutzes und einzig und allein aus sportlichen Gründen eingeschritten, und weil ihn Orbilius darum gebeten hatte.

» Wollen die Leute den Marull ein paar Lieder säuseln hören oder ein Dutzend Mädchen in langen Schleiern die Beine schlenkern sehen, so laß ihnen doch ihr Vergnügen!« sagte er, und das war seines Herzens Meinung. Er selbst hatte dieses kindliche Stadium hinter sich gelassen.

»Aber könnt ihr denn nicht einsehen, daß es Seelen sind, die brennen und zugrunde gehen?« so drang Rab Chanina noch einmal auf ihn ein, als sich Maës von ihnen trennte, um an dem Bollwerk entlang zu seiner Negerfrau zurückzukehren. Der Wagenlenker prustete ungehemmt.

Als sie über das Kapitol gingen, um in die Bibliothek des Friedenstempels zu kommen, versuchte Orbilius es noch einmal, dem Priester Vernunft zu predigen.

»Eile mit Weile!« sagte der erfahrene alte Hund.

»Aber die Seelen, Orbilius!« seufzte Rab Chanina eigensinnig und durchaus nicht dankbar dafür, daß man ihn aus dem Auflauf gerettet hatte. Und das Sonderbare bei den beiden Seelsorgern war, daß wenig daran fehlte, und sie wären sich einig gewesen. Beide konnten sagen, wie ein berühmter Rabbi, Nechunja Ben Hakana mit Namen, gesagt hatte:

»Ich danke dir, Herr mein Gott, daß mir mein Platz unter denen angewiesen ist, die die Synagoge besuchen, und nicht unter denen, die an den Straßenecken beschäftigt sind. Denn ich stehe zeitig auf, und sie stehen zeitig auf; ich wende mich den Worten der Thora zu, sie aber eiteln Dingen; ich arbeite und sie arbeiten; ich arbeite und empfange Lohn, sie arbeiten und empfangen keinen; ich laufe, und sie laufen; ich laufe dem ewigen Leben entgegen, sie laufen dem Abgrunde zu.«

»Sprich zu den Seelen in der Stille!« sagte Orbilius sanft.

 

»Diese ewigen Mysterien!« sagte der Bibliothekar am Friedenstempel spöttisch. »Macht es doch wie mein Freund Lukian und seine Herrlichkeit Galen: begnügt euch mit einem soliden Skeptizismus! Wir wissen nichts!«

Er saß in einem breiten Sessel, und ihm gerade gegenüber, drei Meter über den Fußboden erhoben, wuchs der Hausgott anscheinend aus der Wand heraus. Es war ein Elefantenkopf; aber jeder Stoßzahn war zum riesig-ragenden Phallus ausgestaltet. Der Hund Crescens neigte sich ehrerbietig vor dem Gott, deutete auf den Elefantenkopf und sagte:

»Etwas glaubt also doch auch dein skeptisches Haupt!«

Der Bibliothekar schaute mit seinen Vogelaugen hinauf zu den kolossalen Stoßzähnen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich begnüge mich mit der Urreligion«, sagte er.

»Und wie fassest du die Urreligion auf?« fragte der Hund Theagenes. Der Bibliothekar zitierte:

»Einstmals gab es nur die zwei Ur-Götter, Himmel und Erde, oder Uranus und Gäa, wie die Griechen sie nennen, das heißt, den Geist, oder das lebenspendende Prinzip, das die Erde befruchtete und zur Mutter aller Dinge machte. Und die ersten Menschen, die besser waren als wir, und klüger, und unschuldiger, hatten keine Tempel und keine Altäre; aber sie bauten einen Phallus, der größer war als alles, was sie bisher gebaut hatten. Und alles Lebendige fiel nieder und betete an, was die Menschen seither allezeit angebetet haben und immer anbeten werden, nämlich das Symbol der Fruchtbarkeit, ob sie es nun Phall oder Baal, Osiris oder Uranus nennen.«

Da in dem Schweigen, das darauf eintrat, sonst niemand das Wort ergriff, sagte der Bibliothekar zu Rab Chanina:

»Seid denn ihr Christen so beispiellos über andere erhaben, daß ihr es euch herausnehmen dürft, ehrbaren Menschen entgegenzutreten, die den Wunsch haben, den harmlosen Marull zu hören?« Rab Chanina seufzte wie ein Blasebalg. »Selbstverständlich sind wir Christen nicht, wie wir sein sollten«, sagte er. »Wir sollten unverkennbar wie der Löwenzahn in der Wiese dastehen. Und doch sind wir im allgemeinen nichts anderes als Gras unter anderem Gras!«

»Eure Hilfsbereitschaft wird allgemein anerkannt«, wendete Orbilius gutmütig ein.

»Aber die ist nicht unsere Erfindung. Sie war schon vor Christus da, und die Art, wie sie mißbraucht wird, führt dahin, daß die Quellen der Liebe in unsern Herzen verdorren.«

»Ihr besucht die Pestkranken, die sogar von ihren eigenen Angehörigen gemieden werden.«

»Aber die meisten von uns tun es, weil der Meister es uns befohlen hat – nicht aus Liebe zu den Kranken. Außerdem gibt es manche Hunde, die von einem Totenbett ans andere wanken und den Geängstigten Festkleider von sanften und beruhigenden Worten anziehen. Weshalb tun sie das?«

»Wenn das Leben irgendeine Verlockung für uns hätte, wäre das heldenhaft; aber wir haben keinen Teil daran und können darum kein Opfer bringen. Ihr dagegen ... Ich sehe Leute, die den Mysterien der Christen huldigen, aber zugleich Geschäfte machen und sich mit heimlichen Bequemlichkeiten einrichten, genau wie die Anbeter der Isis und der alten Götter!«

»Einige unter uns!« seufzte Rab Chanina.

»Einige unter euch – ja! Und ich sehe, wie eure Frauen, ausgenommen die alten und häßlichen, sielt putzen und schminken und Schmuck anlegen!«

»Viele von ihnen!« gab Rab Chanina zu.

»Und noch am heutigen Tage, an diesem strahlenden Anna-Perenna-Tag, habe ich einen gewissen Rabbi vor dem Eingang zu einem der flammenden Feuer der Liederlichkeit Wache stehen sehen, um, wie er sagte, seine Schweine wegzutreiben, wenn sie sich wieder einmal ins Feuer stürzen wollten!«

»Meine armen, verblendeten Schweine!« schluchzte Rab Chanina.

»Und nun komme ich dazu, was ich sagen wollte: ich sehe bisweilen Menschen, die dies alles lieben – Schmuck, Schauspiel, das Aufspeichern von Geld und Zwietracht zwischen den Menschen –, die aber dem allen den Rücken kehren, weil ihr Meister es ihnen befohlen hat, und weil sie glauben, daß seine Worte die Wahrheit sind!«

»Ja, der Herr sei gelobt!«

»Das ist nichts Geringes. Einmal, in vielen, vielen Jahren, in Tausenden oder Zehntausenden von Jahren, werden auch sie dem entsagen, weil sie es verachten, und nicht trotz ihrer Liebe dazu.«

»Und dann?« fragte Rab Chanina.

»Frag den Bibliothekar, wie dann die Welt aussehen wird!« sagte Orbilius mit einem Lächeln.

»Die Welt!« spottete der Bibliothekar. »Fangt lieber mit dem heiteren Durcheinander an, das die Sandalenmachergasse genannt wird. Wieviel Menschen wohnen darin?«

»Wir wollen sagen: viertausend!« schlug Orbilius vor.

»Gut. Wieviel Christen sind darunter?«

»Hundert in der Gasse selbst«, meinte Rab Chanina.

»Und wieviel Hunde?«

»Fünf Bettelstäbe – höchstens!« berechnete Orbilius.

»Das ist ja vorläufig kein hoher Prozentsatz!« stellte der Bibliothekar fest.

»Er kann höher werden!« sagte Rab Chanina.

Der Bibliothekar räusperte sich und hielt einen von seinen Miniaturvorträgen und fügte mit Hilfe eines Papiermessers Ausrufungszeichen hinein: »Ich nehme an, jede Zeit hat einen gewissen Vorrat an Frömmigkeit und Weltentsagung zu verwalten und verfügt desgleichen über eine ständige, wenig wechselnde Menge von dem, was Orbilius Torheit und Rab Chanina Sünde nennt! Laßt nun mich auch einmal ein wenig prophezeien: Es sollte mich gar nicht wundern, wenn es nach tausend oder zehntausend Jahren von Christen und von Hundekutten wimmelte. Aber ich will ein Schelm sein, wenn dies die Art der Menschen irgendwie verändern sollte. Je mehr Christen, desto dünner das Christentum. Und je mehr Bettelstecken, desto zweifelhafter die Demut!«

»Und dann?« fragte Rab Chanina kampflustig.

»Dann schließt die Bibliothek!« sagte der Bibliothekar, indem er auf die Wanduhr unter dem Elefantenkopf sah, während die von seinen Händen, die nicht mit dem Papiermesser beschäftigt war, ein Gähnen verhüllte.

Orbilius und Rab Chanina schritten miteinander der Sandalenmachergasse zu, und sie gingen schweigend Seite an Seite. Vor der Tür des Priesters trennten sie sich ohne viele Worte, und der alte Hund schlich sich heim in seine Wohnung. Das war eine enge kleine Kammer ohne alle Bequemlichkeiten. Hier legte er sich auf seine Pritsche und breitete seinen Mantel über sich.


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