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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Das Volk verlangt Sündenböcke. Das Volk verlangt immer Sündenböcke. Wenn man ein Schafott errichten sieht, erleichtert das einem gleichsam für einen Augenblick die Last, die man trägt; es ist, als höbe man sie von dem einen Arm auf den andern hinüber. Eine kleine unterernährte Hoffnung steht dahinter – nicht der Keulenschwinger einer Überzeugung, aber ein kleines Armenhauskind von einer Hoffnung, es würde, wenn nur soundso viele Köpfe in den Korb fallen, irgendeine Besserung eintreten. Das Ganze kann ebensowenig nützen, wie wenn man sich gegen Warzen einen roten Wollfaden mit vier darauf gereihten Hundezähnen um den Hals hängt. Aber aus menschlichen Gründen tut man wohl daran, diese schwache kümmerliche Hoffnung nicht zu übersehen, ob auch das Schreckensmoment, der Mordinstinkt und das Rachegefühl ganz anders in die Augen fallende und baumstarke Männer sind; denn die Hoffnung überlebt sie alle.

Die Römer, die sich nun seit vielen Jahren zusammengedrängt hatten wie Küchlein, wenn der Habicht über ihnen kreist, wären unter den unablässigen Heimsuchungen durch Pest, Krieg und Überschwemmungen vor Schrecken und Mutlosigkeit gestorben, wenn sie ihre Fähigkeit, die Hoffnung durch Dick und Dünn festzuhalten, nicht bis zur Virtuosität ausgebildet gehabt hätten. Und ihre letzte Hoffnung, die von allen Seiten Nahrung erhielt, bestand darin, daß alles wieder gut würde, wenn erst die Gottlosen eine Lektion bekämen.

Die bekamen sie denn auch.

Und zwar war es die ehemalige Lagerlaus Tausendschön, die auf den Knopf drückte.

 

Wie man weiß, hatte Elina bei einer besonderen Gelegenheit eine Vorliebe für die »Heilige Mutter« im Isistempel gefaßt, und seit mehreren Jahren wohnte sie nun den Mysterien mit zurückhaltender Freundlichkeit bei. Die Anziehungskraft auf die Frauen war der Hauptgrund für den zunehmenden Erfolg dieses Kultus, und dieser Umstand wurde denn auch kaltblütig und bewußt ausgenützt. Gerade wie das Christentum, zielte der Isisdienst zunächst auf die Frauen als auf den schwächeren Teil, um sich nachher deren Stärke für die Besiegung des Mannes zunutze zu machen. Schon allein aus diesem Grunde mußte Mithras mit seiner männlichen Robustheit in diesem riesenhaften Kampf um die Weltseele schon zum voraus gehandicapt werden.

Infolge von Nigs religiöser Appetitlosigkeit – und vielleicht auch wegen ihres eigenen Mangels an Liebe – war es Elina nie gelungen, ihren Mann davon zu überzeugen, wie vernünftig es wäre, wenn er seine alten himmlischen Verbindungen löste. Als Ersatz dafür hatte sie ihre materielle Überlegenheit dazu benützt, Listillus zum Ägypter zu machen. Und Listillus war in so hohem Grad Ägypter geworden, daß er es sich erlauben konnte, dem Personal des Isistempels kleine gleichgültige Unterhaltungsbrocken hinzuwerfen, wenn sie dicht vor dem Heiligtum an seinem Liebestaubenstand vorüberkamen.

Auf dieses Vertrauensverhältnis baute Listillus seinen Plan. Schon einmal hatte es ihm Zugang bei Biquesa verschafft – allerdings ohne merkliche Ausbeute; aber man darf keine Wunder verlangen. Listillus wollte es von neuem versuchen, und nach langen Unterredungen mit dem Bettler Parsus war alles zum Losschlagen bereit.

Ursprünglich hatte Listillus die Absicht gehabt, zu Nigidius zu gehen und ihm einiges über das Verhältnis zu stecken, das seine Frau mit Marcellus hatte; aber mit der Schlauheit, die seine Intelligenz kennzeichnete, hatte er die Unklugheit eines solchen Unternehmens bald eingesehen. Wahrscheinlich würde ihm Nigidius wohl Glauben schenken, aber das einzige Sichere wäre doch, daß er so oder so zur Tür hinausgeworfen würde. Außerdem war ihm diese Methode nicht gerissen genug. Hierauf traf zu, was ihm der tüchtige kleine Träumer Parsus in einem wachen Augenblick gesagt hatte: »Es ist mit der Rache wie mit dem Essen – roh genossen ist beides nicht gut. Rache muß zuerst ein bißchen gespickt und abgehängt werden – vor allem aber gehört einmal Überlegung und Schlauheit her.« Überlegung und Schlauheit hatten ihn dann den Schützengrabenkrieg zwischen Isis und Jesus erfinden lassen, was mit der Tatsache zusammenhing, daß Marcellus das Bethaus des Rab Chanina eifrig besuchte. Auch wußte er, daß der Ton dort in letzter Zeit etwas eindringlicher geworden war. Als nun noch der Schrei nach Sündenböcken immer lauter wurde, fand Listillus selbst, daß eine Rechenaufgabe vor ihm lag, die ungewöhnlich glatt aufging.

In der Absicht, dem Oberpriester einiges hierüber mitzuteilen, begab er sich eines Tages um die Mittagszeit in den Isistempel, wo er Pabek eifrig damit beschäftigt fand, das Horuskind auf eine Tafel aus präpariertem Lärchenholz zu malen.

»Der Gesegnete segne deinen Pinsel, Pabek!« sagte der Taubenhändler. »Ich möchte gern mit dem Oberpriester reden.«

»Das möchte ich auch«, erwiderte Pabek, dessen Wohlbeleibtheit ein bißchen vorlaut von der Art sprach, wie sich die Ägypter kasteiten. »Aber selbst hier im Tempel müßte man den leibhaftigen Typhon Seth zum Onkel haben, um hoffen zu können, daß man seine Heiligkeit allein antreffen könnte.«

»Das tut mir außerordentlich leid«, sagte Listillius. »Ich habe einen weiten Weg gemacht, um ihm eine wichtige Nachricht zu bringen.«

»Bist du sicher, daß sie wirklich so wichtig ist?« fragte Pabek zweifelnd. Es wurde ihm schwer, das »Nachtauge« mit etwas Wichtigem in Verbindung zu bringen. Listillus aber ließ so unbemerkt wie möglich einen Sesterz auf das Tischchen mit den Malutensilien gleiten. Pabek schielte nach der Münze hin, änderte aber seine Taktik und brach in ein so schallendes Gelächter aus, daß er sich beinah nicht mehr fassen konnte. Noch während der letzten Gluckser nahm er das Geldstück und gab es Listillus zurück, drohte dabei mit dem Finger und sagte: »Sei vorsichtig, alter Freund, und dank dem Osiris, daß du das nicht bei Pankrates versucht hast. Wenn die Sache aber wirklich von so großer Bedeutung ist, will ich dir trotzdem helfen.«

Er rief nach dem Cellagebäude hin: »Pet, mein Junge!«

Von tief drinnen gab eine Stimme Antwort, und gleich darauf erschien Petosiris.

»Führ diesen Mann sofort, noch vor dem Gottesdienst, zu dem Oberpriester!« sagte Pabek, und so gelang es Listillus zum zweitenmal, eine Audienz bei dem Vortrefflichen zu erhalten; aber Pabek lachte noch lange, nachdem sich die Tür hinter Listillus geschlossen hatte.

 

Wenn es einen Menschen in Rom gab, der nicht zu Scherzen ermutigte, so war das der Oberpriester am Isistempel. In seiner seelischen Mechanik wäre so etwas fast so unvorstellbar gewesen wie ein Haar auf seinem handgreiflichen Menschen. Listillus machte also gar nicht erst den Versuch, als Humorist aufzutreten. Während er berichtete – stehend natürlich –, starrte er unausgesetzt des Priesters Hinterkopf an, der ebenso gelb war wie sein Gesicht und unten mit einem Fettwulst wie mit einer Signatur versehen war. Der Oberpriester saß mit halb abgewendetem Kopf, den Blick auf ein Riesengemälde gerichtet, das die bekannte Szene zeigte, wie Osiris nach seiner Heimkehr hinterlistigerweise dazu verlockt wird, in die verdächtige Prunklade zu kriechen. Hie und da einmal warf er »Ach so!« oder »Weiter!« ein, und Listillus wurde mehr und mehr von dem Gefühl überrannt, daß er mit einem ungewöhnlich mageren Opfer dahergekommen sei. Schließlich konnte der Bericht nicht noch mehr in die Länge gezogen werden, und Listillus schwieg. Wenn es mehrere Abstufungen des Schweigens gibt, schwieg er im höchsten Grad.

»Ist das alles?« fragte der Oberpriester kalt.

»Das ist alles – ja.« Bei Listillus brach der Schweiß aus.

Biquesa sprach, im wesentlichen, wie wenn er mit sich selbst spräche: »Unser Tempel muß die Grenze zwischen Last und Ballast, Strafe und Zurechtweisung scharf einhalten. Wir wollen am liebsten nicht strafen. Es ist also dein Eindruck, daß Elina die beste Zurechtweisung erhält, daß sie am stärksten getroffen wird, wenn ihr Geliebter getroffen wird?«

Listillus bestätigte dies.

»Dieser Marcellus, der dich vermutlich irgendwie gekränkt hat, muß doch wohl einen Familiennamen besitzen.«

»Papirius«, antwortete Listillus und wischte sich mit dem Zipfel seiner Toga den Schweiß von der Stirn.

»Ist er mit dem Bäcker auf Alta Semita verwandt?«

»Sein Sohn, das heißt, der alte Papirius ist sein Vater.«

Der gelbe Kopf drehte sich um und sah Listillus prüfend an. »Ja, und was weiter?«

»Nein, selbstverständlich«, stammelte Listillus unglücklich.

Das Antlitz einer Mumie müßte, verglichen mit der Ruhe dieser Elfenbeinkugel, nervös genannt werden. Niemand wäre imstande gewesen, zu entscheiden, ob Biquesa nachdachte, oder ob er überhaupt etwas tat; aber sein Mund öffnete sich abermals und sagte: »Ist es dir nie eingefallen, daß wir – wenn es das ist, worum es sich dreht – heutigen Tages noch zwanzig Bethäuser anzeigen könnten?«

Nein, das war Listillus nicht eingefallen. Er begriff, daß er danebengehauen hatte.

»Oder daß die Polizei selbst eingreift, wenn sie es für nötig hält?«

Der Taubenhändler trippelte vor Jämmerlichkeit.

An diesem Punkt der Verhandlungen angelangt, drehte sich der Oberpriester endlich ganz zu Listillus hinüber und fragte: »Sag mir: wen hält das Volk im allgemeinen für den Führer der Curiosa?«

Wenn er gefragt hätte, wer der Thronprätendent der Jazygen sei, hätte er ebensoviel Aussicht auf eine vernünftige Antwort gehabt. Aber von der Hoffnungslosigkeit seiner Lage gequält, reagierte Listillus wie ein Mensch, der sich in einer Zwangsjacke wälzt. Er sagte: »Das weiß ich nicht. Und selbst wenn ich es wüßte, müßtest du mir die Finger einzeln ausrenken, ehe ich den Mund öffnete, es zu sagen.« Damit drückte er die tödliche Angst des Volks vor dem furchtbaren Manne aus.

Schließlich sagte der Oberpriester: »Mein Sohn, ich schätze das Interesse, das du für unser Heiligtum an den Tag legst. Unternimm vorerst nichts weiter. Vielleicht hörst du Näheres, ehe du es dich versiehst. Geh hin in Frieden!«

Der Elfenbeinkopf veränderte weder seinen Ausdruck noch seine Stellung, während Listillus sich rückwärts gehend unter kriecherischen Grüßen zur Tür zurückzog. Gleich danach veränderte der Oberpriester zwar seine Stellung, nicht aber seinen Ausdruck, als er sich nun vorbeugte und an einer Schnur zog, die mit einem Alarmapparat in der Wachtstube des Dieners verbunden war. In dieser Stellung verharrte er, bis die Tür wieder aufging und einer der Tempelsklaven erschien. In einem Ton, der jedes Wort zu einer Versteinerung machte, sagte er: »Geh zum Viehhändler Calvisius in der Sandalenmachergasse und sag ihm, er soll herkommen; ich will ihn sprechen.«

Andere hätten gesagt: »Geh sofort!« und »Sag ihm, er soll sofort kommen!« Bei Biquesa war es nicht nötig, daß er das eigens betonte.

Der Viehhändler wußte darüber gut Bescheid. Der Umfang seiner Beine war von einer Art, daß man sie sich unmöglich in rascher Bewegung vorstellen konnte. Trotzdem folgte er dem Sklaven auf dem Fuße, als dieser in den Tempel zurückkehrte, und er wurde auch gleich bei dem Oberpriester vorgelassen. Dieser fragte ihn kurz: »Wie steht es mit dir, Calvisius; liebst du die Christen?«

Calvisius antwortete: »Nein!« Aber er meinte: »Nein!!!« Wenn es etwas gab, was er wie die Pest verabscheute, waren es die Christen.

»Sie sind wohl keine guten Kunden für Opfertiere?« fuhr der Oberpriester unschuldig fort.

»Sie opfern nicht einmal einen Star!« seufzte der Viehhändler.

»Merkt ihr in eurem Viertel etwas von ihnen?«

»Das Pack ist bald überall. Sie haben ein Bethaus in der Sandalenmachergasse. Der Priester ist ein Jude mit Namen Rab Chanina. Er wütet wie ein Wilder gegen die Opfer und gegen alle wahre Gottesfurcht. Im übrigen geht es bei ihren Mysterien ja nett zu!«

Die Augen des Oberpriesters, die bis jetzt nur schmalen Strichen geglichen hatten, wurden unter den haarlosen Bogen der Stirnknochen plötzlich groß, klar und kalt: »Vergeude deine Zeit nicht mit verblümten Redensarten! Wenn du was weißt, sag es!«

»Ja, so richtig wissen ... Was weiß man, wenn man nicht hinkommt! Es heißt, sie beten einen Esel an!«

»Hm!«

»Und sie opfern kleine Kinder!«

»Das mag Gott wissen! Wer sagt es?«

»Ich glaube, das haben Jungen aufgebracht.«

»Dann lassen wir es beiseite! Weißt du, ob besonders notable Leute in dieses Bethaus kommen?«

»Darüber weiß ich auch nicht genau Bescheid. Jedenfalls geht der Bandteppichfabrikant Commodus hin und eine junge Dame aus einer von den Villen an der Appischen Straße. Sonst sind es wohl hauptsächlich arme Leute.«

»Besinn dich einmal! Kennst du einen Mann von etlichen dreißig Jahren, mit Namen Marcellus? Er war in einer Bank am Flusse angestellt.«

Der Viehhändler legte den Kopf auf die Seite wie eine nachdenkliche Krähe. Der Oberpriester fuhr fort: »Er ist auch Dichter. Aber du liest wohl keine Gedichte?«

Calvisius grinste, als sei das ein Witz, fiel aber dem Priester nicht ins Wort, und der sprach weiter: »Er soll der Sohn eines Mannes sein, der bei Tibur Perlhühner und bei Centumcellae Austern züchtet und auf Alta Semita eine Bäckerei hat.«

»Papirius!« brüllte der Viehhändler verständnisvoll.

Der Oberpriester nickte: »Kennst du ihn?«

»Jawohl, alle beide, was man so kennen nennt, aber nicht näher. Mit dem jungen bin ich kürzlich zusammen gewesen. Ein angenehmer Mensch; übrigens grad auf dem Punkt, heilig zu werden. Was ist mit ihnen?«

Des Oberpriesters Knochenkopf neigte sich zu Calvisius vor, und es war, als leuchte ein gelber Schein um ihn. Er sprach langsam und wie immer alle Silben sorgfältig betonend: »Besinn dich: wer ist der Chef der Curiosa?«

»Die Götter sollen meinen Mund bewahren!« wünschte Calvisius fromm. »Es gibt Dinge, denen man nicht nachforschen soll.«

Das Gesicht des Oberpriesters zeigte weder Enttäuschung, noch Ärger. In demselben ruhigen Ton wie vorher sagte er: »Wir sind auf dem Punkt angekommen, wo man etwas Ernstliches tun muß, den Gottlosen einen Hemmschuh anzulegen. Da die Polizei beständig zögert, etwas von sich aus zu unternehmen, muß sie einen Anstoß von außen bekommen. Und merk dir, was ich jetzt sage. Der Isistempel trägt dir auf, diesen Rab Chanina und, insbesondere, den jungen Papirius wegen Verachtung der Mysterien sowie wegen Verhöhnung des Bildes unseres Kaisers förmlich anzuzeigen. Verstanden?«

Der Viehhändler, der sich bei seinem Eintritt sofort gesetzt hatte, stand nun mit feierlichem Ausdruck auf. Er antwortete nicht gleich, weshalb der Oberpriester fortfuhr: »Die Anzeige darf aber nichts anderes enthalten, besonders nichts von Eselsköpfen oder Kinderopfern.«

»Glaubst du nicht daran?« fragte Calvisius leicht gekränkt.

»Glauben oder nicht ... Die Polizei ist gegen unbeweisbare Beschuldigungen besonders empfindlich geworden. Und das andere genügt auch. Verstanden?«

Calvisius nickte: »Hab' schon verstanden.«

»Damit du nicht allein stehst, soll dafür gesorgt werden, daß ähnliche Anzeigen auch von anderer Seite eingereicht werden. Diesmal sollen sie nicht frei ausgehen.«

Calvisius sah bedenklich aus und fragte: »Was wird ihnen geschehen?«

»Wenn sie sich rechtfertigen können, geschieht ihnen nichts«, antwortete der Priester vorsichtig.

»Wenn sie sich aber nicht rechtfertigen können?«

»Sardinien!« sagte der Priester leidenschaftslos.

Als die gewaltigen Beine des Viehhändlers durch den Korridor nach dem Tempel zustapften, blieb der Oberpriester, die Hände hart um die Armlehnen des Sessels gepreßt, unbeweglich sitzen. Den gelben Kahlkopf mit den von den gesenkten Lidern fast ganz verborgenen Augen stützte er mit dem Kinn gegen die Brust. Das der Lichtöffnung zugewendete Ohr war fein und durchsichtig wie Wachs, oder wie das Ohr eines Toten. Der Alarmapparat machte das Haus erzittern, brachte aber an dieser Gestalt keine Veränderung hervor. Ein Priester klopfte ungeduldig an der Tür, es gelang ihm aber nicht, diese pyramidenhafte Ruhe zu stören. Eine Fliege spazierte von einem Ohr zum andern über den Schädel hin, aber kein Zucken verriet, daß dies bemerkt wurde.

Der Oberpriester war dabei, das Christentum auszurotten.

 

Der nächste Tag war der letzte der Woche, und Marcellus saß gegen Abend allein in seinem Zimmer. Ein Laufbursche hatte ihm soeben den Aktienkurszettel gebracht, und er überflog ihn zerstreut. Dies war eine seiner spießbürgerlichen Angewohnheiten, und er fand es behaglich, ihr weiter zu frönen. Als er den Zettel weglegte, ertönten auf dem Flur draußen rasche Schritte, und Papirius trat ein. Er sah sich ängstlich um und sagte kurz angebunden: »Gehst du mit mir spazieren? Ich brauche frische Luft.«

Sie wanderten durch das nächstgelegene Tor zur Stadt hinaus. Es war November, und der Westwind hatte sich aufgemacht. Doch wehte er nur gerade so stark, daß bei gleichmäßigem Gehen mit dem Wind das Gefühl für diesen aufgehoben wurde und es keiner Anstrengung der Stimme beim Sprechen bedurfte. Als die Häuser allmählich weniger dicht standen, sagte Papirius sachlich: »Ich habe vom Polizeidirektor persönlich eine Warnung für dich: zeig dich morgen nicht bei den Mysterien des Rab Chanina! Zeig dich überhaupt lieber nicht außer dem Hause, bevor dich Amachius eventuell zu einer Unterredung gebeten hat. Vielleicht wäre es auch zweckmäßig für dich, wenn du auf einige Zeit verreistest – nach Griechenland vielleicht. Aber jedenfalls: duck dich bis auf weiteres! Auch in meinem Interesse.«

»Was soll denn dem Rab Chanina morgen geschehen?« fragte Marcellus erregt.

»Die ganze fünfte Abteilung ist morgen nach dem Argiletum kommandiert«, antwortete Papirius. »Die Sandalenmachergasse wird abgesperrt, und die Festgenommenen werden vom Bethaus in die Gefängnisse übergeführt, die für sie bereitstehen. Gleich morgen wird auch das Gerichtsverfahren seinen Anfang nehmen, und um die Mitte des Monats werden die Widerstrebenden in den sardinischen Gruben an des Kaisers Eisen geschmiedet sein. Amachius hat lange gezögert; aber wenn er zuschlägt, schlägt er hart.«

»Warum soll es denn gerade den Rab Chanina treffen? Es gibt ja noch andere Bethäuser in der Stadt?« fragte Marcellus.

»Weil er angezeigt worden ist«, antwortete Papirius mit verbissener Wut. »Und du bist auch angezeigt. Nette Wirtschaft! Na, bis jetzt ist noch nichts verloren. Zeig jetzt nur etwas mehr Überlegung als in der letzten Zeit, dann wird es schon gehen.«

Marcellus dachte an Caecilia, und er dankte im stillen dem Gott der Galiläer dafür, daß sie nicht da war.

»Das wird den Rab Chanina sehr schwer ankommen – er ist ohnehin krank vor Überanstrengung«, sagte er.

»Daran ist er doch wirklich ganz allein selber schuld«, wendete Papirius ein. »Und dann hängt es auch von den Gewohnheiten und der Erziehung ab. Man hat ja Leute gesehen, die am besten auf Nägeln und Glasscherben schlafen, während andere Eiderdaunen vorziehen. Sardinien oder Rom. Die Bleigruben oder das Marsfeld. Du, lieber Junge, eignest dich jedenfalls am besten für die Daunen!«

Als Marcellus heimkam, schrieb er einen langen Brief an Caecilia. Er erklärte ihr das Unglück der Galiläer, streifte auch die schwierige Stellung der Polizei und riet ihr dringend, zu bleiben, wo sie war. Über Rab Chanina schrieb er: »Seine innere Kraft scheint ins Ungemessene zu wachsen, je mehr sein Körper zusammenbricht. Es ist, als wollte seine Seele so große Kraft wie nur immer möglich erlangen, damit sie, so schnell es sein kann, zu Gott gelangt, wenn sein magerer, ermatteter Leib unterliegt. Und es wird schon so sein, daß er es ist, der zuerst von allen in die Herrlichkeit eingeht. Ich denke daran, wie selten man Rab Chaninas Stimme in dem Chor vernahm, der den Allmächtigen um das Martyrium anflehte, und wie wenig er sich würdig fühlte – im Vergleich zu andern. Liebstes Kind«, schloß Marcellus, »es ist gewiß ein ewiges und allgemeines Gesetz, daß die letzten die ersten werden sollen, aber die allerletzten werden gewiß die, deren Glauben in einer Scheide, aus der er nie herausgezogen wurde, eingerostet ist. Bete für meine Seele.«

In diesem halberstickten Seufzer lag das letzte, was er ihr von seinem Innersten auslieferte; aber in sein Tagebuch schrieb er am gleichen Abend: »Manchmal muß man seine Liebe dadurch beweisen, daß man ihr entsagt.«

 

Wer nicht aus eigener Erfahrung das Gefühl kennt, zu einem Tag zu erwachen, an dem etwas Verhängnisvolles geschehen soll, weiß nicht, mit welchen Gefühlen die Möbel im Schlafzimmer den Marcellus anstarrten, als er die Augen öffnete und sich dessen erinnerte, was bevorstand. So sieht der Aufwärter in einem fremden Restaurant einen Gast an, wenn nach Vorlegung der Rechnung dessen Hände, ohne große Überzeugung, in einer Reihe Taschen herumsuchen, deren Leere den Gast zu überraschen scheint, worauf er, jetzt ohne die Spur von Überzeugung, in noch ein paar Taschen hineinschaut. Die Augen eines kultivierten Aufwärters sagen selbstverständlich nicht: »Danke, das kennen wir!«, aber sie überziehen sich gleichsam mit Eis – einer dünnen Schicht, die sehr rasch schmelzen kann, aber auch die Möglichkeit in sich birgt, bald dicker zu werden. Schlittschuhlaufen hätte man können auf dem Blick, womit der Tisch, die Stühle, der Wecker den Marcellus anschauten. Dieselbe Einrichtung hatte ihm an so manchem Morgen hell zugeblinzelt, wenn ihn ein Tag voller Versprechungen und Einladungen erwartete. Aber heute morgen war alle Teilnahme aus der Luft hinweggenommen. Das Rechenexempel lag klar und unlösbar vor ihm: auf der einen Seite Sardinien und das, was Caecilia Liebe nannte, und auf der andern Seite weiterhin die Bequemlichkeiten von Rom, aber zugleich der endgültige Verlust der Geliebten. Seine Gedanken fuhren noch einmal in den Taschen umher, den Betrag zu finden, der die Sache ins reine bringen könnte; aber das war nur ein Scheinmanöver. In dieser Lage fühlte er einen aufsteigenden Groll gegen das junge Mädchen, das sein Schicksal in den starken, feinen Händen hielt, und es tat ihm fast wohl, diese Ungerechtigkeit zu begehen. In dieser Gemütsstimmung stand er auf, sich für den großen Tag anzukleiden.

 

Oh, diese Kanonisierung des Rab Chanina – diese peinliche zunehmende Verherrlichung, die sich zurechtsetzte und sich an seinen Nerven gütlich tat, wie wenn der Schlachttag schon herbeigekommen wäre.

Eines Tages, kurz vor diesem Tag, war einer der Brüder aufgestanden und hatte es der Gemeinde ans Herz gelegt, den Feiertag ja immer heilig zu halten. Er hatte nach dem bekannten Rezept gewoben, ohne daß ein deutliches Muster entstand. Während des Gespräches, das sich daran schloß, erhob sich Rab Chanina und sagte ziemlich lieblos: wenn er wählen sollte, so zöge er Menschen vor, die sich lieber befleißigten, die sechs Werktage heilig zu halten, was, soweit er beobachtet hätte, sehr viel schwerer sei. Die Zuhörer schauten ihn wie ernsthafte Kinder an, und er empfand es fast körperlich, wie jeder einzelne im Saal zu einem Blumentopf wurde, aus dem mit zäher Eile eine Ranke der Vergebung emporwuchs, sich um ihn schlang und ihn zu ersticken drohte. Ja, sie quälten ihn mit Vergebung und fesselten die Kraft seiner Autorität mit Verständnis. Machte er einen verzweifelten Ausfall, dann begriffen sie das genau als verzweifelten Ausfall. Die Diagnose, die sie stellten, lautete kurz: mangelndes Gleichgewicht als Folge von Überanstrengung und Schlaflosigkeit. Oh, sie verstanden ihn ausgezeichnet! Es war eine Schwelgerei in Verständnis.

In dieser Krise griff das Schicksal zu rechter Zeit ein. An diesem Morgen zog Marcellus Rab Chanina vor dem Gottesdienst beiseite und verriet es ihm, daß das Bethaus unter Aufsicht stünde, und daß die Generalrazzia heute morgen stattfinden würde. Die beiden Gefängnisse in der inneren Stadt stünden bereit, mehr Gefangene aufzunehmen, als das Bethaus Menschen fasse. Die Gerichtsverhandlung würde in einem noch nie dagewesenen Tempo vor sich gehen.

Rab Chanina reichte ihm schweigend die Hand und sagte: »Hab Dank, daß du es mir mitgeteilt hast! Ich frage nicht, woher du dein Wissen hast; aber – warum sagst du es mir? Meinst du, wir könnten uns retten wollen?«

»Selbst wenn ihr wolltet, könntet ihr es nicht«, antwortete Marcellus. »Die aktiven Glieder der Gemeinde stehen seit Jahren in den Akten, und die männlichen werden da festgenommen, wo sie wohnen; aber es gibt auch Menschen, die nicht fest sind und deren Abfall dem Ansehen der Gemeinde schaden wird.«

»Ach so, aus Eitelkeit sollten wir ihnen keine Gelegenheit geben, ihren Glauben zu bekennen?« sagte Rab Chanina mißbilligend.

Marcellus aber unterbrach ihn kurz: »Es ist jetzt keine Zeit, die Beweggründe zu untersuchen. Wenn wir schließlich von Eitelkeit sprechen wollen, so hat das Martyrium auch seine Eitelkeit. Folge meinem Rat und laß den Ungetauften eine Warnung zukommen!«

Rab Chaninas Zögern dauerte ein paar Augenblicke. Dann sagte er fast fröhlich: »Ich glaube, ich tu' es. Aber du – wie willst du dich verhalten?«

»Ich bleibe, um zu sehen, wie sich die Sache entwickelt.«

»Es wäre mir lieber, du entferntest dich vor dem Gottesdienst.«

»Dazu habe ich eben keine Lust. Willst du übrigens wissen, durch wen die Curiosa euch hat beobachten lassen?«

Rab Chanina überlegte wieder ein Weilchen, ehe er antwortete, dann erklang ein hartes und klares »Nein!« Gleich darauf aber flog ein Lächeln über sein Gesicht, und er wiederholte seine Lobpreisung: »Heil der Stunde, deren Ankunft ich so innig herbeigesehnt habe, dem Tag, der mir lieber ist als irgendein Festtag.« Seine Gestalt drängte sich durch die Schar der Ungetauften und der Bußfertigen hindurch und hinein zu der nach Alter und Geschlecht getrennten Gemeinde. Er ging aufrechter und hatte einen gebieterischeren Ausdruck als seit lange, und bevor er niederkniete, wendete er sich der Gemeinde zu und sagte: »Ehe der Gottesdienst beginnt, möchte ich es den Ungetauften und jedem, der außerdem Zweifel an der Wahrheit der Sakramente und der Mysterien hegt, anheimstellen und raten, sofort dies Haus zu verlassen. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß bald, vielleicht heute noch, Dinge geschehen, die eine feste Überzeugung und einen unverbrüchlichen Glauben an die Auferstehung Christi verlangen.«

Und von der Gemeinde zurück ertönte es brausend: »Ja, er ist in Wahrheit auferstanden!«

 

Rab Chanina brauchte nur über die Schar hinzusehen. Er sah sie, wie eine Mutter jedes einzelne aus ihrer Kinderschar sieht; und jedes von ihnen ist ja zu seiner Zeit das kleinste und hilfloseste gewesen. Wahrscheinlich hatte er sie alle in Freude und Feststimmung gesehen; aber das alles war ihm nun entschwunden. Zurückgeblieben war nur die Erinnerung an die Tage und die Nächte, wo sie ihm händeringend und mit zerkratzten Gesichtern von der Not ihrer Seelen berichtet oder in seine Obhut das Bekenntnis ihrer Sünden gelegt hatten, von rührend kleinen und phantasielosen an bis zu solchen von der durchtriebensten Häßlichkeit. Mit vielen von ihnen hatte er angstvoll gewacht, auf daß ihr Verstand nicht zerstört würde, und andere hatte er auf dem Wege zu denen aufgehalten, die von dem Verkauf ihres Körpers leben. Wenigstens die Hälfte von ihnen hatte bei der oder jener Gelegenheit seine Augen und seinen Kopf verflucht, und einige hatten ihn angespuckt; aber es waren vielleicht nicht zwanzig unter ihnen, die nicht seine Hand mit Tränen genetzt hatten.

Als der Lektor den vorgeschriebenen Abschnitt aus den Schriften der Propheten vorgelesen hatte, stand Rab Chanina auf und redete. Seine Rede war an diesem Tag von einer Gewalt wie nie zuvor. Sie gab das Vollkommene, und das konnte geschehen, weil es hier einem Menschen endlich gelungen war, sich selbst bis auf den Grund auszuschöpfen, sich in diesen Minuten mit dem schweren, glühenden und funkelnden Wein zu füllen und sich wie ein aufgehobener Kelch den durstigen Lippen entgegenzustrecken.

»Wir eilen dem Ende zu!« sagte er, und es klang prophetische Unerschütterlichkeit daraus hervor. »Nicht wir, die wir in diesem Saal versammelt sind. In seiner Barmherzigkeit hat Gott beschlossen, uns vor dem Schrecken hinwegzunehmen. Aber die Welt, die närrisch hochmütige und bitter unglückliche Welt! Ach, es gibt fast keine Grenzen für den eingebildeten Mut der Menschen, wenn sie in dichtem Beieinanderwohnen zusammengedrängt sind. Wenn sie viele Lichter angezündet haben und nach allen Seiten hin beschützt sind, oder wenigstens meinen, beschützt zu sein, wenn der Schwache einen Starken aufwägt und die Stimme der Feigheit die der Stärke übertäubt – da fürchten sie weder die Dämonen der Unterwelt, noch die der Oberwelt, auch nicht die der Finsternis, die ferne ist, noch den brutalen Geist, den sie gebunden glauben. Da wachsen Spott und Hochmut und Gottlosigkeit. Aber dann ist Gottes Geißel bereit, sie, die demütig und weich ist. Und Gottes Langmut, die eine gewaltige Langmut ist und die äußerste Grenze ihres Bettes erreicht hat. Seit vielen Jahren sind die Geißelhiebe dicht auf das römische Volk herabgefallen. Heimsuchungen von fast unerträglicher Gewalt sind über das Volk hingeflutet, und nichts hat es dabei gelernt, als zu rufen: ›Vor die Löwen mit den Christen!‹ Noch haben sie es nicht verstanden, daß für uns die Löwen der königlichste Lohn unserer gebrechlichen Treue sind. Aber das will ich dem römischen Volke zurufen: die Geißelhiebe werden noch dichter fallen, und die Menschen werden sich etwas von der Finsternis, die sie überwunden haben, zurückwünschen, sich darin verstecken zu können. Eines Tages werden sie es lernen, zu rufen: ›Herr, Herr, du Allmächtiger! Warum strafst du deine Kinder also?‹ Aber die Geißel wird über ihnen sausen und nicht ablassen, zu sausen, bis zu der Stunde, da sie den Blick nach innen richten – auf ihre eigene Bosheit, ihren Hochmut und ihre Eitelkeit!«

In diesem Augenblick ertönte draußen ein durchdringendes Pfeifensignal, und die Atemlosigkeit im Saal machte dem Beginn einer Unruhe Platz. Augen, die noch eben feucht und auf den Priester gerichtet gewesen waren, wurden trocken und wendeten sich zur Tür. Der Ton von gedämpften Kommandoworten und von Hufschlägen auf dem Basalt der Straße wurde laut, und dahinter hörte man unklar das Murmeln vieler Stimmen. Mehrere Leute im Saal standen ratlos auf, und von einer unbestimmbaren Stelle her machte sich ein Weinen bemerkbar. Aus der Gruppe der Jungfrauen erhoben sich zwei junge Mädchen und stellten sich dicht aneinandergeschmiegt gerade vor dem Haupteingang auf. In diesem Augenblick war es, als stürze der Gottesdienst über ihnen zusammen und begrabe sie.

Doch alles übertönend erklang die Stimme des Rab Chanina: »Lasset uns beten!« Und überall im Saal stand die Gemeinde auf und kehrte dem Altar den Rücken und wendete sich mit ausgebreiteten Armen der Türe zu. Dann erhob Rab Chaninas tiefe Stimme sich in diesem Raum zum letztenmal im Gebet für die leidenden christlichen Brüder – für die afrikanischen Brüder, die bei Sigus in Numidien in den Gold- und Silberbergwerken arbeiteten, für die ägyptischen Brüder in den Porphyrbrüchen der Thebais und für die Brüder in den Kupfergruben des Phaenos bei Petra. Und als er zuletzt den Lobgesang wiederholt hatte: »Gegrüßet sei die Stunde, auf die wir so innig gewartet haben!«, da wurde die Tür mit fester Hand aufgemacht, und herein trat Statius Florus, der Chef der fünften Polizeiabteilung. Er trug eine Rolle in der Hand. Während die Luft im Bethaus sich mit den Ausstrahlungen von Soldaten füllte – von Waffen, knirschendem Leder, Nägelbeschlag und dem Reiben der Uniformen gegen stramme Glieder –, ging er hin und legte sein entblößtes Schwert auf den Altar, öffnete die Rolle und verlas sie. Knisternd und bruchstückweise drang der Inhalt zu den bebenden Menschen im Saal: im Namen des Kaisers ... Verhöhnung der Götter ... Verhaftung ... bei Widerstand augenblickliches Niederhauen!

Als er schwieg und das Dokument Rab Chanina reichte, sagte dieser mit starker Stimme: »Wir begeben uns ruhig unter den Schutz der Polizei! Gott verleihe jedem von uns einen Teil seiner Stärke!«

Und die Gemeinde antwortete einstimmig: »Amen!«

Sie wurden in das Gefängnis über dem alten Brunnenhaus am Fuße des Kapitals gebracht, einige aber, und unter ihnen auch Marcellus, in das Gefängnis am nördlichen Hang des Kapitals, wohin hauptsächlich Geiseln in Arrest kamen. Marcellus wanderte mit hartnäckig gesenkten Augen dahin, und als er vor dem Kleidergeschäft des Nigidius Vaccula seinen Namen rufen hörte, schloß er sie einen Augenblick ganz, während seine Lippen von selbst ein Wort formten: »Elina.«

An diesem Tag plünderte die Menge das Bethaus, während die Polizei machtlos zusah. Namentlich wütete der Hund Crescens wie verrückt, und der Gemüsehändler Nazarius, der Eigentümer des Hauses, den man im Keller unter einem Netz voll Trüffeln versteckt fand, konnte sich nur mit einer Kopfwunde durch schnellste Flucht über die Dächer retten. Der Schullehrer Paulus aber, der, durch Krankheit verhindert, nicht an dem Gottesdienst hatte teilnehmen können, meldete sich zwei Stunden später auf der Hauptwache, von wo man ihn kopfschüttelnd ins Gefängnis schickte.

An diesem Tag verlegte der Wurstverkäufer Egrilius sein Geschäft in die Aventinregion hinunter. Es war eine rein sanitäre Maßnahme: die Luft kam ihm dort gesünder und beruhigender vor als in der City, wo ein sechster Sinn dem zurückgebliebenen Gläubigen die Umrisse von dem Anteil gezeigt hatte, der bei der Festnahme des Rab Chanina und der übrigen Brüder und Schwestern auf ihn entfiel. Er hatte sich überdies in den »Vier Säften« selber seiner Taten gerühmt – aber natürlich, ohne die Curiosa zu erwähnen.

Geschäftlich gesehen war das ein schlechter Tausch. Er hatte früher schon diese Gegend abpratrouilliert und sich damals eines guten Absatzes erfreuen können, diesmal aber wurde er von Tag zu Tag geringer. Der Strohmarkt, der Kohlenmarkt, der Viehmarkt, die Fischbollwerke, die Staatsmagazine, die Logierhäuser – alles miteinander schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Sichere alte Wurstveteranen, wie die Prahmmannschaften und die Schauerleute, wendeten ihm den Rücken, die Blumenmädchen, die ihm sonst immer pro Kopf eine Wurst abnahmen, gingen verächtlich an ihm vorbei, ja selbst die Bauernfrauen, die mit den Milchprahmen hereinkamen, lutschten hartnäckig an ihren Melonenscheiben und taten, als sähen sie ihn nicht. Sein magisch veränderlicher Körper schrumpfte ein und wurde zu einem Böses ahnenden Individuum, das gleichsam aus runzligem Leder bestand.

Egrilius grübelte. Egrilius grübelte vergebens. Er konnte ja nicht wissen, daß ein olivenhäutiger Junge zwischen den Tavernen und den Arbeiterspelunken, den Trinkstuben und den Blumenmädchen umherhuschte und das Gerücht verbreitete, die Würste des Egrilius, die einen pikanten Zusatz von Ratten (Pestratten! sagte er) hätten, würden jetzt noch dazu durch Kinderleichen fettgemacht, die Egrilius sich mit einem Bootshaken aus dem Tiber fische.

Eines Abends erregte etwas Besonderes die Aufmerksamkeit der Polizei: das Wurstgestell stand Stunde um Stunde ruhig am Bollwerk, während der Sklave des Egrilius die Würste höchst unbefangen verschwinden ließ. Als man sich dann bei dem Sklaven erkundigen wollte, zeigte es sich, daß er taubstumm war und auch nicht schreiben konnte; aber es wurde festgestellt, daß ein Trupp Männer den Egrilius in den Fluß gestoßen hatte, aus dem er dann nicht mehr heraufgekommen war. Obgleich dort die ganze Zeit ein wahres Menschengewimmel geherrscht hatte, war der Vorgang doch von niemand bemerkt worden. Man begnügte sich also damit, Egrilius auf das Verlustkonto zu schreiben. Den Nachruf hielt ihm Papirius, als Sergius Felix ihm die Nachricht brachte.

»Das war wirklich seine erste gute Idee«, stellte er fest, während er in der Kartothek des Archivs herumsuchte. »Sehen wir einmal zu – es ist wohl am besten, wenn Maës seine Nummer bekommt. Wir müssen die jungen Leute befördern.«

[Kapitelnummerierung ab hier fehlerhaft. Text vollständig vorhanden. Re]


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