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Dreizehntes Kapitel

Glücklich der Mann, der kein Glück bei Frauen hat.

Alter Pessimismus

Wenn in Rom der erste März nahte, nahmen die Gesichter der Jungen ein Gepräge von verbissenem Leiden an, das Bekümmernis hätte hervorrufen können, wenn man nicht die fröhliche Ursache für dieses Unbehagen gekannt hätte, nämlich die Vorbereitungen für den Muttertag. In den allerletzten Tagen zeigten sich andere Symptome: Finger, Blusen und einzelne Stellen der Gesichter erschienen mit Tinte von verschiedenen Farben verziert, aber niemand schalt deswegen. Im Gegenteil, Kuchen und Aufmunterungen quollen in einem Umfang hervor wie sonst selten, und doch hatte niemand geglaubt, die Eltern wüßten irgend etwas davon, daß ein Gedicht an die Mutter geboren werden sollte, dessen Geburtswehen ihre Schatten über die jugendlichen Züge warfen.

Praktisch gesprochen, sind Jungen immer ehrliche Kerle. Allerdings können sie sich zuweilen Sachen aneignen, die ihnen von Rechts wegen nicht gehören. Ferner erzählen sie Dinge, die sich unmöglich zugetragen haben können. Aber auf irgendeine Weise sind sie imstande, das reinen Herzens zu tun. Und kaum ein Junge wird fähig sein, sich das Gedicht an seine Mutter zu stehlen, und wäre die Versuchung auch noch so groß. Es ist in der Tat immer vollständig original, ob es auch unweigerlich mit den Worten beginnt: »Und ging ich bis an dieser Erde Ende ...«, ob es weiterhin auch die altbekannte Feststellung enthält: Was Ost, was West! Daheim das best'!, und ob es auch in die Worte ausklingt: »Herzliebes Mütterlein!« Die Mütter vergießen auch immer aufrichtige Tränen darüber und bewahren diese Verse von einem Jahr zum andern auf, in der unerschütterlichen Überzeugung, ihr warmherziger kleiner Junge werde sich eines Tages auszeichnen und die großen verstorbenen Dichter bei weitem in die Pfanne hauen: Vergil, Horaz, Catull und so weiter, ihnen doch jedenfalls mehrere Punkte vorzugeben haben.

Aus zwei Gründen gehörte Jon, was Ehrenhaftigkeit auf diesem Gebiet betrifft, zu den Ausnahmen. Erstens floß seine dichterische Ader ziemlich knapp. Das hing einigermaßen damit zusammen, daß er am liebsten schrieb, wie er sprach, und er sprach keineswegs metrisch. Zweitens wollte ihm der Kioskmann, der ganz im Gegensatz zu Jon stets geneigt war, seine Harfe zu stimmen, äußerst wohl. Denn das Gedichtemachen – Hochzeitsgedichte, Begräbnisgedichte, Konfirmationsgedichte (beim Anlegen der männlichen Toga) und Gedichte beim Abschluß und der Aufhebung einer Verlobung, Gedichte zu den Saturnalien und zu Handwerkerfesten – war ein besonderes Departement seines Geschäfts. Übrigens ein umfassendes Departement. Und für Fabius bedeutete es nicht mehr Mühe, ein Gedicht an eine Mutter zu verfassen, als sich im Nacken zu kratzen. Er erklärte sich bereit, es so lang zu machen wie die Straße von Rom nach Ostia. Aus praktischen Gründen einigte man sich endlich auf zwölf achtzeilige Strophen, die später von Jon in der Mitte auseinandergeschnitten wurden – Paul bekam die ersten sechs für seine Mutter, während Jon selber die letzten sechs für Pomona behielt. Auf diese Weise ausgerüstet, trat man dem fünfzehnten März, dem Muttertag, entgegen.

Der Tag kam – oder stieg herauf, wie man wohl bei derartigen festlichen Anlässen sagt – so gut man sich's nur wünschen kann: dicke Luft, solange es noch dunkel war, grauer Nebel eine oder anderthalb Stunden nach Tagesanbruch, danach vagabundierender Schleiernebel eine Viertelstunde lang, und endlich die Sonne, glühend von der Bemühung, so stark wie möglich auf ein paar Legionen Mütter hinabzuscheinen, die im Begriff waren, die Huldigungen ihrer Söhne entgegenzunehmen, und auf ebensoviel Väter, die für diesen Tag aus dem Spiel gesetzt waren, und auf zwei- bis viermal so viele Söhne mit Herzen, zum Bersten voll von Vorsätzen für gute und große Taten, die auf irgendeine Weise ihren Müttern Steine und Beschwernisse aus dem Wege räumen sollten – jedenfalls an diesem außerordentlichen Tage. – Ja, ja, erklärte Jon feierlich, soweit es von ihm abhänge, solle es ein Merktag im Dasein seiner Mutter sein.

»Du, Pomona, darfst mir den Kopf abschneiden, wenn du willst«, sagte er.

»Das kann man wirklich ein Anerbieten nennen!« versetzte Pomona. »Indessen wollen wir den Kopf vorerst lieber stehen lassen. Aber tu mir die Liebe und hol mir rasch eine Kanne Milch!«

Jon rümpfte heftig die Nase, ließ sie aber schnell wieder glatt werden. Dies war eine Reflexbewegung, von der er selbst keine Ahnung hatte. »Kann nicht Onkel Phil' gehen?« fragte er probeweise. »Ich wollte mich eben waschen. Du hast doch gestern gesagt, daß ich eine gründliche Säuberung nötig hätte.«

Pomona gab keine Antwort. Die Jahre hatten sie gegen Jons Versuche abgehärtet, in bezug auf die Ausführung häuslicher Pflichten Akkorde zu schließen. Einige Minuten blieb Jon stehen, einen sonderbaren Klumpen zu beobachten, der sich auf dem Dach des Affenhauses niedergelassen hatte. Er war weich und lebendig, wie brennendes Papier im Verkohlen. Es waren fünf Sperlinge, die in einer Wasserpfütze saßen, und mit einemmal tauchten sie alle unter und schüttelten sich, daß die Tropfen weit herumspritzten. Dann ergriff er die Kanne, steckte das Geld unter die Zunge und spazierte zur Tür hinaus. Als ein gellender Schrei verkündete, daß er dem Lehrling des Kuchenbäckers einen handgreiflichen Gruß hatte zuteil werden lassen, zog seine Mutter eine elegante Pergamentrolle hervor und las sie durch. Dabei runzelte sie die Stirn, und der Anflug eines herben Lächelns keimte um ihren Mund. Es war das Gedicht an die Mutter, mit Jons schönsten Buchstaben geschrieben. Es begann mit der sonderbaren Zeile:

»Doch alles ist vergessen, wenn wieder heim wir wandern!«

Pomona hatte im Laufe der Jahre allerlei Gedichte gelesen, und viele waren mit Überraschungsstoff befrachtet gewesen. Trotzdem erinnerte sie sich nicht, daß je eines mit »doch« angefangen hätte. Ferner waren da einige Gedanken, von denen man nicht gerade sagen konnte, daß sie gänzlich verkehrt seien, aber sie waren auch durchaus nicht ganz richtig, und namentlich sahen sie Jon keineswegs ähnlich. Sie steckte das Dokument in eine Schachtel, die schon fünf – unzweifelhaft originale – Gedichte von hebevollem und plumpem Inhalt enthielt.

»Er fängt an erwachsen zu werden!« sagte sie mit einem Seufzer der Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Unvermeidlichen.

 

Rufus hatte seine Tätigkeit als Zahnarzt aufgegeben und war der Kompagnon des Maecius geworden. Das Schild mit dem Neandertalmenschen war von einer großen Leinwand mit einer stahlblauen Äskulapschlange abgelöst worden, die zusammengerollt auf zwei rostroten Mäusen lag. Daraus ersahen die Vorübergehenden, daß hier Ärzte von der Zunft der Pestärzte wohnten, und das Geschäft entwickelte sich immer besser – besonders nachdem Rufus die Entdeckung gemacht zu haben glaubte, daß die Pest nur selten Leute befalle, die früher einmal oder erst kürzlich eine Bleivergiftung gehabt hätten. Er behauptete, die beiden Krankheiten führten sich auf wie zwei wilde Hunde, die in ein verschlossenes Kloakenrohr gesperrt seien; und der Bleihund sei weitaus der stärkere von ihnen. Also strengte man sich an, so rasch wie möglich eine Bleivergiftung herbeizuführen; und nach dem, was es zu tun gab, hätte gut noch ein dritter Arzt mit in der Firma sein können.

Aber sie hatten allerdings Jon, der nicht zu verachten war, wenn sich auch seine Wirksamkeit bisher mehr in der pharmazeutischen Abteilung entfaltet hatte, wo er und Onkel Phil', sein getreuer Sklave und Führer, Absude, Pillen und Salben herstellten.

Jon hatte sich im Laufe seiner Lehrzeit einen Jargon eingeübt, in dem warme Diathesen, kalte Säfte, Ventrikel und Probemahlzeiten mit nachfolgendem ranzigen oder sauren Aufstoßen noch die am wenigsten verwirrenden Elemente waren. Auf eine Art, die in ihrer Bescheidenheit anmaßend war, setzte er seine Theorie über die Heilung des Erysipels auseinander, die – wenn sie in größerem Ausmaß befolgt worden wäre – ihm die Ehrenmitgliedschaft des Fach Vereins der Leichenträger hätte einbringen müssen. Er arbeitete pathologische und therapeutische Methoden von großzügiger und barbarischer Genialität aus, und seine fachliche Entwicklung beschrieb im Lauf einiger Monate eine Kurve, die ihn bald in den Stand gesetzt hätte, auf gewöhnliche Talente wie Hippokrates und Plato aus der Vogelperspektive herabzusehen –, auf alle miteinander, wenn er sich nicht an dem erwähnten Muttertag vom Teufel hätte reiten lassen und eine kleine Privatpraxis angefangen hätte. Er hatte einfach Pech damit; aber die Sache zog weitgehende Folgen nach sich.

Die Patientin war niemand anders als Julia. Dieses Mädchen, das er seiner wichtigeren Beschäftigung wegen eine Zeitlang vernachlässigt hatte, wurde nach Frauenart von der Gleichgültigkeit angezogen, die er bei ihren zufälligen Begegnungen auf der Straße oder in den Vergnügungslokalen des Stadtviertels an den Tag legte. Mit einer Diskretion, die sie über ihren allzeit vorhandenen Vorwitz zu drapieren verstand, hatte sie ein paar Annäherungsversuche gemacht. Diese waren teils in der Bude des Mannes vor sich gegangen, der Leckerstengel verkaufte (das waren in eine Art von steifem Honig mit Walnußstückchen darin getauchte Hölzchen), teils beim Schuhmacher Lukas, bei dem sich Jon in einem akuten Anfall von Jungenhaftigkeit eingefunden hatte, um in einem unbewachten Augenblick einige Nägel mit dem aktiven Ende nach oben in den Stuhl des Schuhmachers zu treiben, während dieser Kunden bediente. Julia war dort, ein Paar vergoldete Sandalen abzuholen, die vier Monate zuvor für Jon der Gipfelpunkt weiblichen Raffinements gewesen waren und gewisse Reaktionen in seinem Herzen hervorgerufen hatten, von denen seine später erworbene Weisheit jetzt als von ungleichen Palpitationen sprach. Jon erinnerte sich ziemlich deutlich, daß auch Tulia unter denen gewesen war, die ihn an jenem Abend ausgelacht hatten, als Sergius Felix bei dem Tempel der Venus und Roma von seiner Göttin erzählte. Er grüßte mit freundlicher Uninteressiertheit und gab sich von neuem dem Studium eines kleinen griechischen Werkes über »Herzentzündungen bei Gladiatoren« hin.

Auf dem Heimweg, mit den vergoldeten Sandalen an den Füßen und den in ein Papier gewickelten alten unter dem Arm, nahm Julia eine nüchterne Analyse des Seelenlebens dieses jungen Arztes vor. Das Resultat wurde mit einigen offenherzigen und unsentimentalen Worten festgelegt, und sie entschloß sich, ihn in Zukunft als tote Ratte zu betrachten, was sie auch durchführte, bis sie zwei Tage später – am Nachmittag des Muttertages – bei einer Diskusvorführung des Germinius im Hof des Puffbohnenhändlers mit ihm zusammentraf.

Anscheinend hatte sich mit Jon inzwischen nichts verändert. Als sie eine Theorie über den Ausfall der bevorstehenden Rennen im Zirkus vorbrachte, antwortete er mit dürrer Höflichkeit. Mit ihrem lustigen Spott über den Ägypterjungen Horus ging es ihr nicht besser; bei Licht besehen, fand sie diesen oberflächlich, unintelligent und parvenühaft. Ton ließ sich herbei, darauf mit einem müden Wohlwollen zu erwidern, Horas habe manches Gute und Anerkennenswerte an sich. Seine Fehler fielen ja in die Augen: das Rattengesicht, die falsche Überlegenheit und die nationale Feigheit seien Eigenschaften von ihm, die abzuleugnen wohl sehr gesucht wäre. Aber seine Tugenden seien nicht weniger groß – trotzdem fand sich Jon nicht veranlaßt, diese aufzuzählen. Er begnügte sich damit, ihn einen tapferen Burschen zu nennen.

Ganz zufällig gelang es aber dem Mädchen doch, Jons Interesse zu wecken, und zwar gerade in dem Augenblick, wo sie sich abwendete, um ihn zu verlassen. Sie entschuldigte sich mit Unpäßlichkeit, und zu ihrem Erstaunen stieg seine gute Laune, wie eine Katze auf den Baum klettert. Als sie vom Zirkus sprach, hatte er gegähnt, und andere Fragen von für das Vaterland vitalem Interesse hatten vergebens versucht, den Panzer seiner Müdigkeit zu durchdringen. Aber einer zufälligen Bemerkung, daß sie sich unpäßlich fühle, vermochte er nicht zu widerstehen. Das rüttelte ihn auf und entzündete in seinen Augen die Glut professioneller Leidenschaft.

»Wo tut es dir weh?« fragte er, und nun war er so wach wie ein Legionär, der das Aufbruchssignal gehört hat.

»Ach – überall!« sagte das Mädchen. »Es ist nichts Schlimmes. Es vergeht wohl von selbst wieder.«

Jon lächelte mit überlegener Verachtung und ergriff ihr Handgelenk, runzelte die Stirn, und seine Lippen bewegten sich leise. »Beschleunigter Puls!« warf er bekümmert hin. »Hab' mir's doch gedacht! Es steht nicht sehr gut mit dir, Alte!«

Julia schaute ihn ängstlich an und fragte: »Meinst du, ich muß zum Arzt?«

Als ob nicht ein Arzt zur Stelle gewesen wäre! Jons Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick, während er düster antwortete: »Ich kann dich im Handumdrehen kurieren; aber selbstverständlich: wenn du lieber einen oder den andern Quacksalber haben willst – meinetwegen gern.«

»Aber du kannst doch nicht wissen, was mir fehlt.«

Diese Unterschätzung seines Talentes berührte Jon nicht. Seine Seele war in diesem Augenblick von aller Selbstsucht frei, und er fuhr fort: »Wir nennen das Plethora – eine Form von Plethora. (Dieses Wort hatte Jon am Abend vorher aufgeschnappt, als er in einem Raum neben dem Sprechzimmer des Maecius damit beschäftigt war, Papageienpflaster herzustellen. Ein asthmatischer Viehhändler wurde gerade untersucht.) Schwarzes, dickes Blut, verstehst du?«

»Bah!« prustete Julia. »Woher sollte ich dickes Blut haben!«

»Frauen haben das oft – sehr oft! Und auch Krokodile! (Dies war eine Inspiration und völlig seine eigene Erfindung.) Aber ich kann dich ja nicht zwingen, mir zu erlauben, dich zur Ader zu lassen, obgleich das die einzige Möglichkeit ist – wenn du nicht lieber einen Kranz von fünfzehn Blutegeln auf dem Leib haben willst.«

Julia schauderte bei diesem Gedanken, und so begleitete sie – noch widerstrebend – Jon auf seinem Heimwege. Im letzten Augenblick kamen ihr wieder Bedenken, und sie wollte lieber zu Rufus hinauf; aber Jon fertigte sie mit den Worten ab: »Er ist ganz gut für die Pest; aber seine Augen fangen an schwach zu werden, und er sieht nicht mehr gut genug für solch eine Kleinarbeit. Und es muß heute geschehen. Morgen ist es zu spät; da ist das Blut zu Grütze geronnen. Es ist auch gar nicht der Rede wert. Da sieh einmal den alten Affen«, sie waren inzwischen im Doktorhof angelangt, »der alte Kerl, da sitzt er mit dem Arm in der Binde, den habe ich gestern zur Ader gelassen. Siehst du, wie er lächelt? Da komm her, alter Affenjunge!«

Er ging hin und wollte einem alten Schimpansen auf den Rücken klopfen, aber dieser zog sich vorsichtig in den hintersten Winkel zurück. Wenn das, was er zur Schau stellte, ein Lächeln sein sollte, dann war es nicht leicht, sich seinen Gesichtsausdruck bei düsterer Stimmung auszumalen. Jon gab ihn auf und geleitete Julia in den alten, finsteren Speicher, der als Lagerraum und Laboratorium diente. Sie sah sich neugierig um, während er sich mit einem Mörser zu schaffen machte und unnötig laut mit dem Stößel hämmerte, wie das Männer zu machen pflegen, wenn sie von einer Frau beobachtet werden. Endlich trat er mit einigen verdächtig aussehenden Geräten, die sich dann aber als der Inhalt eines Aderlaßbestecks aus der Zeit der Republik identifizierten, auf sie zu. Jon hatte dies Besteck in einem Haufen von altem Plunder auf dem Boden gefunden und hatte es der gestrigen Anzapfung des schwermütigen Affen wegen geputzt und geschliffen. Selbstverständlich hatte er nicht mit einer so gewaltig wachsenden Praxis gerechnet; aber da es nun doch geradezu auf einen Ansturm hinauszulaufen schien, war es ja ein Glück, daß er die Sachen in Ordnung hatte. Er nahm sich vor, seine Sachen jederzeit in Ordnung zu haben, ja seine Gedanken streiften sogar die Möglichkeit, er könnte die Erlaubnis bekommen, das Mädchen am Stein zu operieren, als sie plötzlich fragte:

»Gibt es in der Bude hier nichts zu essen?«

Er tadelte sie nicht um dieser Frage willen. Er kannte das Interesse der Frauen für die praktische Wissenschaft, und seine private Erfahrung war, daß Mädchen, wenn sie (bei Abwesenheit des Rufus!) in die Nähe des Laboratoriums kamen, dies nur in der Hoffnung taten, etwas Eßbares zu ergattern oder mit Parfüm besprengt zu werden. Er lächelte ihr beschützend zu, bestrich ihren Unterarm mit einem nassen Lappen – eine antiseptische Veranstaltung, durch die der Arm nicht wesentlich schmutziger wurde, als er zuvor gewesen war – und antwortete:

»Wir haben da drinnen eine Kiste Feigen. Ich geb' dir einige und Zimt dazu, wenn wir fertig sind. Das schmeckt hervorragend gut.«

Und nun leitete er die Operation dadurch ein, daß er, bevor das Mädchen Zeit hatte, sich zu bedenken, eine Schlinge fest um ihren Arm legte und das Venennetz an der Unterseite des Ellbogengelenks untersuchte. Da er weder die innerste noch die äußerste Vene fand, nahm er entschlossen die mittlere, die (wie er ihr umständlich erklärte) »in zwei Äste geteilt ist, die sich im Handgelenk vereinigen«; von den zwei Zweigen wählte er sich die Ader, die er vena mediana basilica nannte (sein Lehrmeister hätte sie cephalica genannt), öffnete sie und zapfte durch einen schmutzigen Katheter ein wenig Blut daraus ab. Das nahm weniger Zeit in Anspruch als ein Hahnenschrei. Dann löste er die Binde und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißbedeckte Stirn.

»Das war der Anfang!« sagte er. »Jetzt mußt du hier dieses Honigwasser mit Essig und Öl trinken!« Er reichte ihr einen Becher, aus dem er kurz zuvor eine Kolonie von sieben Blutegeln beseitigt, und den er mit dem versprochenen Honig gefüllt hatte. »Dann warten wir ein wenig, bevor wir zum zweitenmal darangehen. Eigentlich sollten wir dir in drei Tagen viermal Blut abzapfen; aber in diesem Fall eilt es. Es wäre dir gewiß nicht lieb, mit Grütze statt mit Blut in den Adern herumzulaufen. Hast du bemerkt, wie schwarz es ist?«

Julia meinte auch, es sei ungewöhnlich schwarz gewesen. Sie hatte trotz allem die richtige wissenschaftliche Einstellung und suchte mit Sympathie und Einbildungskraft in dieses neue Gebiet einzudringen, übrigens war sie es nicht gewohnt, anderes Blut aus der Nähe zu sehen als das der jungen Hähne, die ihr Vater zuweilen bei festlichen Gelegenheiten opferte.

Während sie für den letzten Teil des Dramas Kraft sammelte, machte sich der rastlos energische Jon von neuem über den Mörser her, mit dem er vor der Operation gelärmt hatte und worin er Fliegenköpfe zerstieß. Als diese den gewünschten Grad von Feinheit erreicht hatten, schmolz er Talg, Wachs, Harz, Schweinefett und einige andere Ingredienzien zusammen, tat die Fliegenköpfe und eine Muschelschale voll Grünspan hinein und ließ die Mischung unter eifrigem Rühren erkalten. Als ihm die Salbe die richtige Konsistenz zu haben schien, verteilte er sie in eine Reihe kleiner Salbentöpfe mit der verlockenden Aufschrift:

 

Junge Hunde des Apollonius
das heißt Falkensalbe gegen Verhärtungen,
auch Phönix genannt.

 

Jetzt aber bekam er Anfechtungen, denn es fiel ihm ein, dies wäre am Ende

 

Das berytische Mittel, das Straton aus Berytus
gegen heftige Anfälle gebrauchte.
Hilft sofort.

 

Aber da er nun einmal ins Spekulieren hineingekommen war, hatte er einen Augenblick das Gefühl, als sei die Salbe keines von beiden, sondern das berühmte Mittel

 

Schmerzfrei,

 

auf dessen Etikette zu stehen hätte:

 

Mit Nutzen gebraucht von Pamphilos in Rom
während der Mentagra-Epidemie.

 

Deshalb, und weil er keine Pharmakopöe bei der Hand hatte, ließ er die Aufschrift gelten und konnte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Privatklinik zuwenden.

Diesmal war Julia keine Nervosität anzumerken. Man hätte sie beinah übermütig nennen können, und Jon erwog ernsthaft, ob er nicht den psychologisch günstigen Augenblick benützen und um Erlaubnis bitten solle, sie tags darauf am Stein zu operieren. Das Leben kam ihm wie eine Sinnlosigkeit vor, wenn es ihm nicht als Einfassung einer kleinen raschen Steinoperation diente. Geleitet von einem schätzenswerten Instinkt, entschloß er sich aber doch, erst einmal den Ausfall des bevorstehenden Aderlasses abzuwarten, zu dem er nun die letzten Vorbereitungen traf. Julia sah ihm bewundernd zu, selbst als er eine Wanne daherschleppte, groß genug, das Blut eines Nashorns aufzunehmen. Als er die Binde aufs neue um ihren Arm legte, lachte sie und sagte: »In meinen ausschweifendsten Gedanken wäre es mir nicht eingefallen, daß du so tüchtig sein könntest.« Und er schleckte ihr Lob in sich hinein, wie ein Wickelkind Honig schleckt. Sie sollte bald klüger werden.

Wie bekannt, hat Jupiter aus der Haut der Ziege Amalthea, die seiner Amme gehörte, eine Tafel gemacht, auf der er zu notieren pflegt, was die Menschen Gutes und Böses treiben, um bei Gelegenheit daran sein Gedächtnis wieder aufzufrischen. Vermutlich hat Jon wegen des Leichtsinnes, mit dem er die Tochter des Kleiderhändlers behandelt hatte, auf dieser Tafel ein Minus bekommen – obgleich er heftig dagegen protestieren würde. Aber da die Handlung nun einmal gestartet war, mußten, die Dinge ihren Gang gehen, und der erste, in dessen Schicksal sie eingriffen, war Marcellus.

Marcellus machte nach vollbrachter Arbeit einen Spaziergang über das Marsfeld. Das Wetter war ganz so schön, wie es am Morgen zu werden versprochen hatte, und das Marsfeld war voll von jungen Menschen, die herausgekommen waren, den milden Abend zu genießen. Marcellus wurde guter Laune, als er alle diese Liebespaare dekorativ auf den Bänken des Parkes verteilt sah – meist einzelne Paare, zuweilen zwei, selten auch drei auf einer Bank. Sie saßen da gerade so selbstverständlich und reizend und ohne Interesse dafür, was um sie her vorging, wie Vögel, und Marcellus fühlte sich mit der Zeit etwas überflüssig zwischen all dieser gehorsamen Unterwerfung unter das ewige Gesetz. Er fühlte sich nicht gerade wie der einzige Nüchterne bei einem Saufgelage, sondern eher wie der einzige nicht passend Gekleidete in einer Gesellschaft. Oder am allerbesten: er empfand die beherrschte Freude, mit der sich einer ganz allein zu einem wohlkomponierten Festmahl niedersetzt.

Seine Füße wußten besser als er selbst einen Weg, sich die Freude abzurunden. Sie trugen ihn auf einem Pfad durch Rosenhecken am Neptuntempel vorbei nach der Hauptstraße, die zur Aeliusbrücke führte, am Bellonatempel und am Flaminischen Zirkus vorbei und durch das Zentrum der Stadt in die Sandalenmachergasse. Sie hatten ihn seit jenem Abend, da der Ägypterpriester gefeiert wurde, nicht mehr zu Nigidius getragen. Elina hatte ihm am Tag nachher, wie versprochen, ein Briefchen geschickt – süß duftend und Süßes versprechend; da aber unaufschiebbare Geschäfte dazwischengekommen waren, hatte er mit einigen Zeilen um Aufschub gebeten.

Es war ein dummer Gedanke seiner Füße gewesen, ihn gerade an jenem Abend dorthin zu befördern. Eine Stunde vorher war Julia heimgebracht worden, bleich und in Tränen aufgelöst. Rufus und Philetus trugen sie, und als sie ihre Mutter sah, stieß sie einen gellenden Schrei aus, der sofort in ein heftiges Schluchzen überging, worin das Wort »Jon« herumplätscherte wie ein Hund in einem Wirbelstrom. Sie fiel ihrer Mutter um den Hals, und der gelang es mit der Zeit, sie so weit zu beruhigen, daß sich Elina fragend an Rufus wenden konnte. Und was sollte der unglückliche Mann antworten? Na, es wäre also Jon gewesen.

»Jon, der Dingsda?«

»Ja, er hat also ... und Gott gnade ihm, wenn er heimkommt – vorläufig ist er vor meinem Zorn ausgerückt ... Ja, so unglaublich es auch klingt, er hat irgendwo ein altes Aderlaßbesteck erwischt und ...«

Elina konnte nicht gleich Worte finden. »Barmherziger!« seufzte sie endlich.

»Aber es ist nicht so schlimm, wie es aussieht!« tröstete Rufus.

»Nicht so schlimm ...!« Elina sprach wie im Traum.

»Außerdem«, beeilte sich Rufus, den Augenblick auszunützen, »muß man gerechterweise einräumen, daß sicher keine Verletzung vorgekommen wäre, wenn sie ihm ihren Arm nicht weggerissen hätte. Die Abbindung ist vollständig korrekt!«

»Er hat es mit Fleiß getan!« wimmerte Julia, die anfing zu Kräften zu kommen. »Er haßt ...!« Der Rest ertrank in einer großen Überschwemmung, und das Mädchen wurde zu Bett gebracht.

Gerechtigkeit ohne Liebe ist ein steifbeiniger und grämlicher Kavalier. Diese Beobachtung, die Elina sonst ganz vertraut war, war nicht zur Hand, als sie wieder zu dem äußerst beunruhigten Rufus herauskam. Der Arzt war bereit gewesen, mit in das Schlafzimmer zu gehen, aber dort bedurfte man seiner nicht. Die gekränkte Mutter setzte ihm den Grund auseinander, als sie herauskam.

»Du mußt entschuldigen, aber ich will den Polizeiarzt dort am Nervator holen. Er ist ein alter Bekannter, und ...«

»Ich glaubte, ich wäre nicht nur euer Arzt, sondern auch ein alter Freund von euch!« wendete Rufus ein. Strenggenommen war Maecius der Hausarzt; aber die Freundschaft war jedenfalls alt.

Elina schlug ihn kühl auf den Arm. »Wir wollen jetzt vernünftig sein!« sagte sie. »Mein Platz ist bei Julia, und der deine ... Meinst du nicht, daß er bei Jon ist? Meinst du nicht, daß dem ausführliche Prügel gehören?«

Rufus machte dem Auftritt ein Ende und sagte hochfahrend: »Wir wollen uns nicht aufspielen! Dem Mädchen kann so eine kleine Anzapfung nur gut tun!«

»Vale, domine!« sagte Elina. »Adjö, mein Herr!«

In den »Vier Säften« angekommen, erinnerte sich Rufus eines dünnen und schmalen Brettes, das ihm für einen bestimmten Zweck sehr geeignet zu sein schien. Er fühlte sich ungewöhnlich gut aufgelegt und ganz frei von Sentimentalität. Aber auf der andern Seite war Elina zu nachsichtig gegen das hysterische Mädchen.

 

Wenn eine Frau anziehend auf die Männer wirkt, werden ihr selbst ihre Fehler zum Gewinn. Bei Elina wirkte ihr Anstoßen mit der Zunge, wie wenn es mit ihren Ohrenklunkern aus rotem Bernstein und der einschmeichelnden Trägheit ihrer Hände bewußt zusammengestimmt wäre. Stimme, Bewegung und Auftakelung vereinten sich zu einer glücklich durchgeführten Harmonie. Doch galt das mit einem Vorbehalt: sie mußte »auf der Höhe« sein, und das war sie nicht, als sie Marcellus begrüßte.

Listillus mit dem Nachtauge – der Taubenhändler – hatte in der Küche gesessen und sich gewärmt, und Elina hatte ihn ausnahmsweise gebeten, zu gehen. »Die kleine Julia ist sehr krank!« hatte sie gesagt. »Komm aber bald wieder!« Listillus hätte es selbstverständlich nicht nötig gehabt, Marcellus aus diesem Grund böse anzuschielen, als sie vor der Tür zusammentrafen. Er tat es aber, und Marcellus wurde es dabei so unbehaglich zumute, daß er das schützende Feigenzeichen machte, während er in den Korridor trat.

Elina hatte ihr Gesicht gebadet, doch war es noch geschwollen, was ihr schlecht stand. Zugleich lispelte sie stärker als gewöhnlich – in der Erschlaffung, die dem erlittenen Schreck gefolgt war.

»Die Salzhändlerin Priscilla ist eben hiergewesen«, sagte sie zu Marcellus. »Sie hat Julia im Doktorhof schreien hören. Sie sagt, der Schrei sei ganz entsetzlich gewesen, nicht für zehn Sesterzen möchte sie ihn noch einmal hören.«

»So ein kleiner Spitzbube!« sagte Marcellus und meinte Jon; aber Elina schien es, als liege mehr Bewunderung als Tadel in diesen Worten, und sie merkte sich das.

»Nig' ist in den Isistempel gegangen, dem Anubis einen gelben und einen weißen Hahn zu opfern. Wenn das nicht hilft, dann kann uns selbst die Kunst des Herrn Polizeiarztes nicht helfen!« sagte sie mit einem Lächeln, dem ersten seit der Katastrophe, zu diesem Manne hinüber, der in der Stube saß, nachdem er das Mädchen verbunden hatte. Der Arzt war der große Mann mit dem kleinen Kopf und mit dem rollenden Baß, der bei jenem Saturnalienfest, an dem Abend, wo Jon zur Welt kam, im Hause des Marcellus zu Gast gewesen war. Jetzt lächelte er beschützend und sagte unter Anwendung eines Zitates aus dem Talmud: »Der beste unter den Ärzten ist reif für die Hölle!« Aber er fügte hinzu und strich dabei Elina übers Haar: »Es wird schon recht werden. Es sah allerdings nicht gut aus; aber ich habe etwas Schmerzstillendes draufgelegt. Nur Mut!«

Sie gingen zusammen ins Zimmer hinein, und nun machte Elina einen Fehler. Vielleicht hätten sich die Dinge nicht wesentlich anders entwickelt, wenn diese kleine Komödie nicht aufgeführt worden wäre. Immerhin ließ sie Marcellus einige Entdeckungen machen. Elina machte dem Polizeiarzt den Hof, und Marcellus wußte, daß sie das mit einem Seitenblick auf ihn tat. Er beobachtete, wie sie dem großen beehrten und überraschten Mann zulächelte – mit dem bekannten offenen Grübchenlächeln. Ab und zu wurde auch Marcellus ein Lächeln zuteil; aber es diente gleichsam nur als eine Briefmarke, womit sie eine ihrer kleinen Spitzfindigkeiten frankierte. Wie merkwürdig! Sie kam Marcellus heute etwas verblüht vor.

Der Polizeiarzt war zum Oberarzt befördert worden, und man gratulierte. Elina tat das in übertriebener Weise, und das bestätigte, was Marcellus schon zum voraus wußte, daß sie urteilte, wie alte oberflächliche Bürgersleute zu urteilen pflegen: wenn ein Mann einen Haufen Geld verliert, oder seine Liebste, oder seine Handschuhe, oder die bürgerlichen Ehrenrechte, so ist das ein Unglück. Und umgekehrt: gewinnt einer in der Lotterie, bekommt er eine haushälterische Frau und wird er befördert, so ist das ein Glück. Lieber Himmel, theoretisch weiß man wohl, daß »der Weg der Götter auch durch Krankheit und Not führt«; aber praktisch ... Über Elinas Gesicht breitete sich eine Lage von grober Freundlichkeit; diese kristallisierte sich gewissermaßen und wurde zu einer Schicht, die keine organische Verbindung mit dem Menschen selbst aufwies. Merkwürdig, wie verblüht sie war!

Sie sprachen von anderen Dingen. Der Oberarzt gehörte zu der Sekte, die ein Pentagramm als ersten Gruß über ihre Briefe setzte. Elina benützte das auf plumpe Art als Ausgangspunkt für einen Streifzug durch die Felder der Pythagoreer und ihre tiefsinnige Unterscheidung zwischen dem Guten, das die Einheit ist, das Bestimmte, das Bleibende, das Notwendige, das Viereckige, das zur Rechten Stehende und das Helle ... und dem Bösen, das die Zweiheit ist, das Unbestimmte, das Wechselnde, das Krumme, das Überflüssige, das Ungleiche, das zur Linken Stehende und das Dunkle.

Marcellus hörte die Maschinerie knarren. Er hörte die Sätze daherrollen, beladen mit Volksweisheit und moralischer Belehrung – jener Diskussionsphilosophie, die, wenn es hoch kommt, zu einer Art seelischer Kosmetik führt.

Und während die zwei einander zu überbieten suchten, betrachtete Marcellus sich den Oberarzt. Seine geistigen Stiefelsohlen waren verschwenderisch mit Eisen beschlagen, was seinem Auftreten einen soliden, aber keineswegs einen lautlosen Charakter verlieh. Wie ein Kuchen, der im Ofen nicht gewendet worden ist, war er Pythagoreer, bevor er Mensch war, und als Soldat war er über alle Abgeschliffenheit erhaben und nur darauf aus, recht zu behalten. Er witschte um Ecken in der Konversation, legte Hinterhalte, triumphierte. Er triumphierte auch über Marcellus, als Elina, die das von der Salzhändlerin Priscilla wußte, erzählte, daß der im Bethaus gewesen war.

»Ehe wir es uns versehen, haben ihn die Galiläer gefangen!« prophezeite sie lachend.

»Warum die Sache so schwarz ansehen?« fragte Marcellus lächelnd.

»Ja, ja!« sagte der Oberarzt warnend. »Es ist leichter, einen Hund dazu abzurichten, daß er Leder frißt, als es ihm wieder abzugewöhnen!«

Seine Zitate waren mit nüchterner Sorgfalt gewählt, was ihm Marcellus zugute schrieb; aber darüber hinaus gab es nicht viel, was ihm hätte zugute geschrieben werden können – sprachlich gesehen. Eine Eigentümlichkeit hatte er: er brauchte gern Wörter mit einem Sicherheitsventil, Vielleicht-Wörter. Wörter, die auf einen Stoß hin nachgaben, sich jedoch gleich darauf wieder aufrichteten. »Vermeintlich!« sagte er. Oder er stattete seine Rede mit »Puffern« aus wie »ungefähr« oder »einigermaßen in dieser Richtung«. Zuweilen geschah dies auf überraschende Weise, zum Beispiel, wenn er gefragt wurde, ob er zu Mittag gegessen habe, und darauf antwortete: »Ja – so ungefähr!«

Marcellus suchte nach den Phrasen, die sich bei einer solchen Gelegenheit von selbst einzustellen pflegen; aber die einzige, die er an die Angel bekam, war ein Sprichwort aus der Fabrik des Euphemus. Dieser hatte gesagt: »Achte immer darauf, ob deine Nebenbuhler auch von anständiger Qualität sind!« – Seine Blicke suchten den kleinen Kopf auf dem großen Körper, aber da meldete sich sofort eine Reaktion. Er erinnerte sich, daß es Menschen gibt, die, geistig gesprochen, mit einem Kapital geboren werden, während andere darauf angewiesen sind, sich jeden Pfennig zu erkämpfen. Zu den letzteren gehörte der Arzt, das wußte Marcellus, und so begann er Wohlgefallen an ihm zu finden. Aber Elina ...! Beim Anblick eines leeren Schmuckkastens hatte er einmal ein ähnliches Gefühl gehabt. Das Seidenpolster hatte sich ein wenig aus dem Rahmen gelöst und schrie es jetzt in die Welt hinaus, daß das feine Etui im Innersten aus dickem eingetrockneten Leim und schmutziger Makulatur bestehe. Von da an sah er in Etuis überhaupt keine Seide mehr. Wie sehr hatte sich Elina doch verändert! Und wie stark ahnte er auch hier Leim und Papier!

Später, als Elina einmal drinnen bei Julia war, sie besser zuzudecken, wendete sich der Oberarzt an Marcellus und sagte: »Soll ich gehen?«

Marcellus sah ihn verblüfft an.

»Ich meine: wenn sie mich so kräftig dazu benützt, dich in Hitze zu bringen, müßt ihr doch etwas miteinander zu besprechen haben!«

»Wir wollen lieber beide gehen!« erwiderte Marcellus lächelnd. »Du irrst dich, wir haben nichts miteinander zu besprechen.«

Als Elina wieder hereinkam, erklärte der Oberarzt, er habe noch mehr Besuche zu machen. Elina bedauerte die Notwendigkeit, eine angenehme Stunde abzubrechen, und bat ihn, sobald als möglich wieder vorzusprechen. Marcellus machte sich indessen klar: jetzt gibt es eine Szene mit nachfolgender Versöhnung, ehe Nig' heimkommt. Ich mache mir aber gerade heute nichts aus Versöhnung. Er sagte:

»Komm, ich begleite dich eine Strecke. Ich habe nur hereingesehen, um guten Tag zu sagen und mich für neulich zu bedanken.«

Sie gingen, begleitet von Elinas unverändertem Lächeln; aber in ihren Augen lag eine leichte Verwirrung ob dieses Unerwarteten. Beim Sandalenmacher-Apollo trennten sich die beiden Männer. Vorher aber faßte der Polizeiarzt Marcellus am Arm und sagte: »Ich muß mich bei dir entschuldigen. Ehrlich gesagt, ich war vollkommen überzeugt, daß zwischen dir und Elina eine Liebschaft im Gang wäre. Verzeih mir!«

Marcellus verzieh ihm und fragte: »Hast du den Eindruck, daß dies eine allgemein verbreitete Annahme ist?«

»Ich glaube, dein Vater hat so was angedeutet«, antwortete der Arzt offenherzig. »Wenn nur Papirius nicht alt zu werden anfängt!«

Marcellus machte sich auf den Heimweg nach Alta Semita. In tiefe Gedanken versunken, wanderte er dahin; aber als er am Tor des Doktorhofes vorüberging, drang ein Laut zu ihm heraus – oder richtiger: eine Reihe von energisch hervorgebrachten Lauten. Es klang täuschend so, wie wenn sich eine Herde Schwäne auf einen See niederläßt.

Rufus hatte Jon zu fassen gekriegt.

 

Zwei Stunden später kroch die Dämmerung in einen leeren Affenkäfig hinein, wo Jon zusammengekrochen saß und grübelte. Er malte sich aus, wie Pomona kommen und ihn tot finden würde – hartnäckig tot. Er sah sich selbst bleich und mit einem Ausdruck von fossilem Frieden daliegen. Diese Idee war ihm gekommen, als er wenige Tage vorher in der Klinik eine Leiche gesehen hatte, die genau diesen Ausdruck von versteinerter und verzeihender Liebenswürdigkeit gehabt hatte. Pomona würde sich jammernd über ihn werfen, sich die Haare raufen, ihn rufen, ihn beschwören, ihn mit den unglaublichsten Versprechungen locken. Aber nein! Jon würde allen Versuchungen widerstehen und tot bleiben. Der Höhepunkt würde erreicht sein, wenn Rufus dazukäme und das Opfer seiner verbrecherischen Brutalität erblickte. Seine Reue würde grenzenlos sein, sein Kummer so gewaltig, daß seine Haare in einer einzigen Nacht schneeweiß würden. Dies geschah ja in den Fabeln des Volkes in einem fort. Auch Philetus würde kommen, der ganze Hof kam und die halbe Straße. Alle würden sie den kleinen Märtyrer noch einmal sehen wollen ...

Auf einmal wurde diese Dichtung durch eine nichts Gutes weissagende Stimme zerstört, die sagte: »Nun hab' ich doch in meinem ganzen Leben noch nicht ...! Bist du denn noch nicht zu Bett marschiert?«

Aber bevor Rufus noch den Arm hereinstecken konnte, war Jon schnell wie ein Wiesel an ihm vorbeigeglitten und die Treppenleiter zu seinem Zimmer hinaufgeklettert. In der Kammer daneben hörte er Philetus schnarchen, und er fühlte keine Bitterkeit gegen den Sklaven, obgleich dieser Rufus bei der Exekution beigestanden hatte. Im Bett kam er dann zu dem Ergebnis, es sei wohl nur wenig Aussicht da, daß er diesmal an der Mißhandlung sterben werde; aber vielleicht könnte es recht zweckentsprechend sein, für eine Weile zu dem Prophet-Agenten im Isistempel überzusiedeln.

 

Da also die Nacht diesem Muttertag ihren Lutschbeutel in den Mund steckte, machte sich das achtungswerte Rom zum Schlafen bereit.

In einem Zimmer auf Alta Semita saß Marcellus auf der Bettkante und faßte einen Entschluß. Da war die junge Dame Cornelia Stella Attica, die von der Olivenkiste in Rab Chaninas Bethaus herunter gesagt hatte: »Es stehet geschrieben!« und noch irgend etwas. Als er das Licht ausblies, hatte er sich entschlossen, sich Aufklärung zu verschaffen, was da eigentlich geschrieben stand.

Und in der Sandalenmachergasse drapierte sich Dämmerung um das Anwesen, worin Nigidius seinen Kleiderhandel betrieb. Das Haus sah aus wie eine Vergrößerung der Kommoden, mit denen die dänischen Dienstmädchen seit einem Menschenalter an den Ziehtagen vom Lande hereinkommen. Wenn die Möglichkeit denkbar wäre, die oberste Schublade herauszuziehen, fände man in ihrer hintersten Ecke eine Schachtel, darin sich Tausendschön befand. Er lag angekleidet auf dem Bett, festlich von zwei Bronzelampen beleuchtet, spuckte in kleinen Zwischenräumen an die niedrige schiefe Decke hinauf und sagte: »Ich bin hinausgeschmissen worden, weil ihr euch schnäbeln wolltet. Aber paß nur auf, liebe Frau Lachgrübchen!«

Und drunten bei Nigidius beugte sich Elina über das Bett, worin Julia lag und im Schlafe lächelte – vielleicht in dem gesündesten Schlaf, den sie jemals gehabt hatte. Dann ging Elina mit der Lampe ins Schlafzimmer und begann sich auszukleiden. Nig' streckte die Nase unter der Decke aus germanischen Kaninchenfellen hervor und folgte ihr mit den Blicken, ohne den Kopf zu drehen.

»Wie geht's ihr?« fragte er, um das Schweigen zu brechen.

»Ich glaube, es fehlt ihr nichts Besonderes«, erwiderte Elina gleichgültig.

»Es war doch gut, daß ich die zwei Hähne geopfert habe!« sagte er befriedigt und vergaß, unter welch heftigem Protest von seiner Seite er in den Isis- und Serapistempel hineingehetzt worden war. Elina hielt es nicht für nötig, ihn darauf aufmerksam zu machen. »Einen gelben und einen weißen«, fuhr er fort.

Sie schwieg. Was soll man auch auf so etwas antworten, wenn einem das Herz weh tut? Die Herzen der römischen Frauen waren nackt und unbeschwert von dem Tapetenpapier, womit sogenannte psychologische Romane die Herzen der Frauen in späteren Zeiten überkleistert haben. Eine Art Angst bedrückte sie; sie kleidete sich langsam aus und löste dann ihre Haare. Nig' beobachtete sie beständig, und nach einer Weile sagte er:

»Du, was ich schon lange sagen wollte ... Ich glaube, es wäre das gescheiteste, das Geschäft verkrachen zu lassen!«

Sie schwieg.

»Ich fürchte, es gibt keinen andern Ausweg!« fuhr er eigensinnig fort.

Sie schwieg ausdauernd weiter.

»Es kracht schon!« schrie er beinah.

»Dann kracht es eben!« gähnte sie, und wieder möblierte sie die Stube mit einem Stück Schweigen.

»Ich habe vierzigtausend Sesterzen auf deinen Namen geschrieben!« sagte er vertraulich.

»Und wovon willst du denn leben?« fragte sie und stülpte den kupfernen Auslöscher über die Lampe.


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