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Achtes Kapitel.

Nach einer Nacht der Qual, in welcher heiße Thränenströme die Kissen genetzt hatten und ununterbrochenes Schluchzen durch das Schlafgemach geklungen war, erwachte Karoline geistig und körperlich gebrochen. Ihr Elend war so groß, daß sie an das, was nunmehr werden sollte, gar nicht zu denken vermochte, sondern nur, kaum daß sie sich angekleidet hatte, auf das Sofa sank und neuerlich weinte. In ihren unversiegbaren Thränen lebte auch nicht der Schmerz um die ihr angethane Schmach der Ausweisung. Das dämmerte nur in ihrem Gehirn wie ein ferner, wüster Traum, wie etwas, was nebenher ging neben dem einen, einzigen großen Unglücke, der Treulosigkeit Bertrams. Sie fühlte eine brennende Sehnsucht nach ihm, er war ihr teurer als je, und dabei zu wissen, daß diese heißen Gefühle vergeblich waren, daß er nie, nie wiederkommen würde, das war der Inhalt ihres Leides.

Betreten sah die schon frühzeitig kommende Aufwartefrau das Fräulein in so jammervollem Zustande. Als Karoline sie mit verwunderter Miene an der Thür stehen sah, sprang sie von ihrem Sitze auf, stürzte auf sie zu, und die beiden Hände in wilder Bewegung auf ihre Schultern legend, klagte sie: »Er hat mich verlassen, er hat mich verlassen!«

Die blasse, junge Frau trat einen Schritt zurück. Ein unfreundlicher Zug legte sich auf ihr Antlitz, und aus ihren Augen blitzte es gehässig auf, als sie, halb sich umwendend, Karoline mit einem Seitenblick maß und sagte: »Das also ist's! Ei nun, mein Fräulein, das hat einmal so kommen müssen, und ist der erste Sturm nur vorbei, wird sich auch wieder Trost finden!«

»Trost, Trost! Das giebt's für mich nicht mehr!« rief Karoline.

Das Weib zuckte die Achseln und sagte mit leisem Lächeln: »Das meint man so! Ihnen, einer feinen, schönen Dame, wird's an Liebhabern nicht fehlen können!«

Karoline sah das Weib, das sich indessen abgewandt und eine Beschäftigung begonnen hatte, an und sagte: »So sprecht Ihr zu mir, eine junge Frau? Kennt Ihr denn nicht, was Liebe ist?«

Jene hielt in der Arbeit inne und erwiderte mit seltsam erregter Stimme: »Nein, nein, Fräulein, unsereins kennt nicht so gut, was Liebe ist, als Ihresgleichen! Wir haben wohl auch unsere Männer lieb und möchten gern uns schön machen und uns herzen und küssen lassen. Aber der Mann muß arbeiten und fällt des Abends, wenn er nach Hause kommt, schwer wie Blei vor Müdigkeit ins Bett, muß dann wieder heraus beim ersten Morgengrauen. Unsereins das schindet sich auch ab, daß der Jugendreiz gar schnell vergeht, so daß der Mann, der ein sauberes Mädel heiratete, nach ein paar Jahren ein verfallenes Geschöpf neben sich hat, an dem nicht viel Verlockendes ist. Zuweilen ja, da findet's sich, daß er bei Laune ist und daran denkt, daß sein Weib nicht bloß zum Kochen und zum Kindergebären da ist. Da bekommt unsereins dann eine Ahnung, wie's wäre, wenn man nicht arm wäre und, wie andere Leute, sich putzen, lachen, zierlich sein und sein bißchen Körper jung erhalten könnte. Wir haben keine Zeit zur Liebe, Fräulein, nur so im Vorüberhuschen bekommen wir einen Geschmack davon. Euresgleichen hat's ja anders! Das hält sich säuberlich schön, weiß mit allerlei Schnickschnack noch der Natur auszuhelfen und ist so thöricht nicht, einen armen Mann zu heiraten. Da hat man dann Zeit genug zu Liebelei und kann seine Freude am Leben haben. Ich schelte Euch nicht darum Fräulein, wie es andere Leute thun. Wie's mit dem Lohn aussieht, den unsere ehrbare Plackerei einmal eintragen soll, das ist ohnehin ein zweifelhaftes Ding, und Ihr mögt vielleicht recht gut thun, es so zu halten. Aber Gerechtigkeit muß doch sein, und so könnt Ihr's wohl auf Euch nehmen, wenn ein Tröpfchen Wermut in das lustige Sündenleben hineinfällt.«

Karoline hatte die Kraft nicht zu zorniger Abwehr und auch nicht dazu, in sanfteren Worten der Frau zu erklären, wie falsch ihr gehässiger Neid angebracht sei. Sie schwieg und warf der Dienerin nur einen wehmütig verweisenden Blick zu.

Diese wurde dadurch doch etwas beirrt. Fragend sah sie erst auf. Dann sagte sie einlenkend: »Nichts für ungut, Fräulein! Ich will nur Geld verdienen und seh' und höre nichts, schwatze auch nicht bei den Leuten herum. Ist mir auch nicht ums Reden zu thun. 's war nur so, weil Sie da sagten – – von der Liebe – – Da hat eben unsereins auch seine Gedanken.«

Karoline achtete nicht mehr aus sie, sondern kehrte zum Sofa zurück, wo sie dann brütend, seufzend saß. Allmählich entwickelte sich aus dem Jammer um vergangenes Glück, aus dem selbstquälerischen Festhalten entschwundener Bilder die Frage nach der Zukunft. Eines Entschlusses unfähig, sah sie nur neuen Jammer vor sich. Sie war gebrandmarkt; mit Schimpf beladen, hülflos und allein mußte sie scheelsüchtigen Blicken, verächtlich schadenfrohem Lächeln und vielleicht noch Schlimmerem Trotz bieten, um den Weg zu finden zu verborgener Einsamkeit, die ihr ehedem so schrecklich gedünkt hatte, und die jetzt noch schrecklicher war. Und würde es ihr gelingen, dort Ruhe für ihren Schmerz zu finden, würde nicht das allezeit geschäftige, windschnelle und auf unsichtbaren Spuren einhereilende Gerücht sie auch in der tiefsten Verborgenheit auffinden und zischelnd und flüsternd dafür sorgen, daß das Brandmal nimmer von ihr weicht, sie aufscheuchen aus jedem Asyle und sie Hetzen von Ort zu Ort, bis sie sich dem Fluche ergeben würde, zu sein, was sie den Leuten schien und was diese, lebte sie wie eine Nonne, fest halten würden mit zähem Glauben, als hänge die Seligkeit davon ab, schlecht zu denken vom lieben Nächsten? Sie wußte, daß, was verloren war, nicht wiederkam. So roh, so gewaltthätig hatte Bertram sich von ihr gerissen, daß keine Hoffnung blieb, ihn wieder als Reuigen zurückzuführen. Deutlich war es sichtbar in seiner Art, daß nicht plötzlicher Unwille seinen Ausbruch fand, sondern, was schon lange in ihm gegärt hatte, sich des Vorwandes bemächtigte. Aber sie fühlte es auch, daß zu viel Lebenskraft in ihr wohnte, daß sie zu heiß, zu innig sich dem Daseinsdrange, dem Bedürfnisse nach voller Befriedigung ihres Wesens hingegeben hatte, um nunmehr eine entsagende Einsamkeit anders denn als Qual empfinden zu können. Sie war nicht gestimmt zur reuigen Magdalena, sie empfand ihren Jammer nicht als Sühne begangener Schuld. Indem sie Verlorenes beklagte, begehrte sie nach dem Leben, und doch schauderte ihr vor dem Gedanken, dieses Begehren zur That werden zu lassen, denn Bertram war nicht mehr, und mit ihm auch die echte, über die Sünde hinausstrebende Liebe nicht. Die That konnte also nur die Sünde sein, die verzichtet auf jeglichen edleren Inhalt, auf jede reinigende Zukunft.

Um die Mittagszeit trat der Hausherr zu ihr in den Laden, den sie, wie Sonntags üblich, erst um elf Uhr geöffnet hatte. Er näherte sich ihr mit etwas verlegener Höflichkeit.

Ich komme, ein vernünftiges Wort mit Ihnen zu reden, Fräulein Pauer!« sagte er. »Gestern abend – – da – – das ist eine recht fatale, dumme Geschichte gewesen! Ich habe mir die Sache überlegt. Der Regierungsrat hat mich mit seinem Geschrei ganz toll gemacht, der Skandal im Hause war auch keine Kleinigkeit – – nun ja – – man überlegt in solchen Fällen nicht gerade immer, was man spricht. Na – – also – – ich meine nur – – lassen wir's beim alten! Was ich gesagt habe vom – – Ausziehen – – es soll ungesagt sein!«

Hierauf nahm er einen humoristischen Ton an, indem er, ihr die Hand entgegenstreckend, sagte: »Wollen wir gute Freunde sein?«

Karoline erwiderte mit erregter Stimme: »Sie haben mich gestern so schwer beleidigt, Herr Barthel, daß ich nicht wüßte – –«

»Ich sagte es Ihnen ja schon«, erwiderte der Hausherr, »der Regierungsrat hat mir die Hölle heiß gemacht mit seinem Gezeter, und jetzt, jetzt sagte er mir eben, seine Frau Gemahlin sei heute morgen abgereist, er werde das Kind in eine Klosterpension bringen und selber längeren Urlaub nehmen. Inzwischen aber wolle er um seine Versetzung angehen, denn hier könne er nicht wohl bleiben, nachdem sich auch noch der Offizier, den er gestern so schwer mißhandelte, sobald er nach Hause gekommen war, entleibt hat. Ich aber verliere bei der ganzen Mordgeschichte zwei Mietsparteien.«

»Ich verstehe!« versetzte Karoline mit bitterem Lächeln. »Sie haben aber nicht bloß der albernen Anschuldigung, ich stände mit jener Frau im Einverständnisse, Erwähnung gethan, sondern von ganz anderen Dingen, die Sie gehört haben wollten – –«

»Nun ja, nun ja! Hausgeschwätz, Hausgeschwätz! Der Regierungsrat aber brüllte und schrie, ich müßte Sie aus dem Hause schaffen, er verlange das u. s. w., u. s. w. Jetzt – –«

»Jetzt hat sich die Sache geändert, Sie wollen nicht zwei Mietsparteien verlieren, und darum bin ich, die man gestern beschimpft hat, gut genug – –«

»Aber, Fräulein, das kam ja vom Regierungsrat. Der ist an allem schuld!«

»Der ist heute der Sündenbock, wie ich gestern! Nur daß ich ein alleinstehendes Mädchen bin, das sich wehrlos beschimpfen lassen muß, während der Regierungsrat unterstützt wird, obwohl seine Frau den ganzen Skandal veranlaßt hat.«

»Aber, Fräulein, nehmen Sie doch Vernunft an, Sie wissen doch – – Ich widerrufe alles – –«

»Jetzt unter vier Augen, jawohl! Werden Sie mich auch schützen gegen die Schwatzereien und boshaften Nachreden im Hause?« fragte Karoline, nachdem sie sich eine Weile besonnen hatte.

»Wird geschehen! Verlassen Sie sich darauf! Soll Ihnen niemand lästig fallen, werde die Mäuler schon stopfen!« erwiderte der Hausherr.

»Na«, setzte er hinzu, »sind Sie jetzt zufrieden? Bleibt es beim alten?«

Karoline zögerte mit der Antwort.

»Von mir aus sind Sie ja ganz ungeniert! Ich bin ein Mann, der zu leben weiß!« fuhr jener fort und berührte ihr Kinn.

Sie trat zurück und erwiderte: »Ich bedarf Ihrer Nachsicht durchaus nicht, Herr Barthel! Aber ich will vergessen, was geschehen ist – –«

»Nun sehen Sie! Da sind wir ja endlich am Ziele! Sie sind ein vernünftiges Mädchen, Fräulein Pauer! Das lass' ich mir gefallen! Wie gesagt, war eine dumme Geschichte gestern abend – – sehen ganz angegriffen aus – – der Regierungsrat, bin froh, daß ich ihn loshabe. Wären mir schöne Geschichten! Also, wie gesagt, werde schon sorgen, daß es kein Geschwätz giebt. Hat man schon gesehen, wo was zu schwätzen gewesen wäre. Soll jeder vor seiner Thür kehren! Vergnügten Sonntag, Fräulein! Empfehle mich!«

Unter einer höflichen, lächelnden Verbeugung verschwand der Hausherr. Als er fort war, bereute Karoline beinahe die Nachgiebigkeit, mit welcher sie eingewilligt hatte, da zu bleiben, wo man sie in solchem Lichte betrachtete. Die kecke Gebärde des Hausherrn, seine anzügliche Bemerkung waren deutliche Zeichen für die Ansicht, welche er von ihr hegte, und nur heute des Vorteils halber anders verwertete, als gestern. Auch sein Machtgebot, das wohl nicht allzu energisch ausgefallen wäre, konnte nicht erzwingen, daß die Hauseinwohner anders dächten, als er selber. Schwäche war ihre Nachgiebigkeit gewesen. In dem Gedanken an das Ungewisse, dem sie entgegenging, war ihr der kleine Halt willkommen erschienen, den sie hatte, wenn sie in ihrer täglichen Gewohnheit beharrte. Wäre doch mit dem raschen Umzuge so mancherlei Sorge verknüpft gewesen, so manches, was ernster Überlegung bedurfte, zu der sie jetzt wenig geeignet und geneigt war. Bei weiterem Nachdenken beschuldigte sie sich aber nicht mehr der Schwäche, sondern fand in dem Geschehenen eine Eingebung der Klugheit. Mochten die Leute im Hause denken, was sie wollten, die sichtbare, handgreifliche Schmach des gezwungenen Umzuges, die Verweisung aus dem Hause war von ihr genommen, und damit auch die Gefahr, daß böse Nachrede sich mit ihr, wie ein Ansteckungsstoff, verschleppte und ihr neues Ungemach an neuem Ort brächte. Was hatte sie denn zu hoffen? Die scheelsüchtigen Mienen ihr schon bekannter Leute zu ertragen, war immer noch weniger schmerzlich, als wieder bei Fremden in böses Licht zu geraten. Sich aber ganz rein zu machen, ganz die häßlichen Flecke, die an ihr hafteten, wegzuwaschen, das wäre wohl schön gewesen, aber sie mißtraute dem Gelingen. So wollte sie bescheiden sein und dulden, was sie seither geduldet hatte, wenn auch ohne den Trost, den sie bislang gefunden hatte. Eine weichmütige Stimmung überkam sie, die wilden Kämpfe, der heiße, brennende Schmerz, sie lösten sich in sanfte Wehmut auf, und ohne Reuegefühl, ohne Zweifelfrage tauchte vor ihrer Seele das Bild ihrer Mädchenvergangenheit auf. Sie sah sich wieder in der Klenzestraße in der einförmigen Alltäglichkeit ihres früheren Lebens, und die Gestalt der verstorbenen Mutter stand deutlich vor ihr. Ein Heimweh ergriff sie nach jener armseligen Zeit, eine Sehnsucht nach der Mutter. Sie besann sich darauf, daß sie die Tote arg vernachlässigt, seit langem nicht mehr die Grabstätte besucht habe. Um zwei Uhr schloß sie das Geschäft und schickte sich an, nach dem Friedhofe zu gehen. Ihr Blick fiel auf das hellfarbige Kleid, das sie trug. Ungesäumt legte sie es ab und holte aus dem Schrank das Trauerkleid, das sie Bertram zu Gefallen abgelegt hatte. Die Thränen brachen im Anblick desselben wieder hervor, zum erstenmal tauchte der Gedanke einer Vergeltung auf, und mit einem abergläubischen Schauder, als spürte sie die Rache der um ihr Todesrecht betrogenen Mutter, zog sie es an.

Es war ein sonnenhell leuchtender Herbsttag, und in dichten Scharen begegneten ihr auf dem weiten Wege nach dem Friedhofe die der Sonntagsfreude zuwandelnden Menschen. So manches glückliche Pärchen war darunter, das scherzend und lachend an der einsam Dahinschreitenden vorüberging. Nicht neidvoll, mitleidig sah sie auf die Mädchen, die sich so glücklich am Arme des Liebsten fühlten, und dachte: »Wie lange wird es dauern, und Du erfährst, was ich erfahren mußte!«

Der heitere Sonnenglanz, das frohe Treiben wirkten aber doch auch noch anders. Sein Bild trat ihr neuerdings vor die Seele.

»Wo wird er sein? Was wird er treiben? Wird er mich doch vielleicht vermissen?« fragte sie sich, und die Sehnsucht, die Lust am Leben wurden lebendig. Sie fühlte sich so allein, so verlassen unter der Menschenmenge, und ihr war's, als wäre sie eine Fremde in der Stadt, in der sie geboren war, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte.

Als sie aber vor dem Grabe der Mutter stand, ward ihr wieder anders zu Mute. Kein weich in Thränen sich lösender Schmerz, keine wehmütige und doch tröstende Stimmung überkam sie, sondern ein Gefühl der Bangigkeit, der Furcht. Der Lebenden war sie damals bei der Entdeckung ihres Liebeshandels so entschlossen entgegengetreten, vor der in tiefer Grube schlummernden Toten fühlte sie sich schuldig. Vergebens suchte sie andere Gedanken zu gewinnen vergebens sprach sie ein Gebet für die arme Seele der Dahingeschiedenen. Leise, ganz leise flüsterte es ihr vom Grabe her: »Du, Du selber bist die arme Seele! Bete für Dich, Du hast es nötiger als ich!« Vergebens bemühte sie sich, das Bild der Entschlafenen in einer milderen Gestalt aus der Zeit des einsamen Zusammenlebens wachzurufen, die unbotmäßige Phantasie zeigte ihr die alte Frau schmerzlichen Blickes mit dem Kopfe nickend, als wollte sie sagen: »Ich hab's gewußt, daß Du verderben wirst!« Es wich nicht, dieses unheimlich mahnende Bild, es wurde vielmehr immer deutlicher, schreckhaft deutlich, wie eine Vision. Karoline wurde so bange, daß sie mit der Erscheinung Zwiesprach hielt und versprach, mit Beteuerungen versprach, sie werde nicht tiefer sinken, sie werde nicht weiter auf sündigem Wege wandeln, sondern bereuend künftighin ein ehrbares, entsagendes Leben führen. So zerknirscht war sie, so von Reue und Schuldgefühl durchdrungen, daß sie verabscheute, was in ihr vor wenigen Minuten noch als sehnsüchtiger Lebensdrang sich geregt hatte. Da klangen vom nahen Leichenhause her die langgezogenen Töne von Trauerposaunen. Ein Leichenzug bewegte sich dort her die Gräberreihen entlang. Näher und näher kam die bald wie drohend aus der Tiefe klingende, bald in weinerlicher Klage weithin gellende Todesmelodie. Jetzt trug ein leiser Luftstrom den süßlichen Geruch von Weihrauch zu ihr herüber, leise erst, dann stärker. Der Geruch war ihr so schaurig, wie Verwesungsdunst, die Musik aber drang ihr durch die Glieder. Ein warmer, goldiger Sonnenstrahl zog jetzt über den Grabstein und glitt wärmend über ihren Körper. Sie sah dem Lichte entgegen, und ihr Blick wanderte hinauf zum blauen Himmel mit den weißen, leuchtenden Wolkenballen und zu der hoch oben glitzernden Sonnenscheibe. Wieder dröhnten die Posaunen in den tiefen, grollenden Tönen, und wieder wandelte sich der drohende Groll in die wimmernden Wehlaute der Klage. Karoline aber sah auf das Sonnenlicht, riß sich mit rascher Bewegung vom Grabe los und eilte durch den schmalen Pfad dem Ausgange des Friedhofes zu. Fort war die Reue, fort die Zerknirschung, nur aus dem Bereiche des Todes wollte sie kommen, nicht gemahnt werden an das Ende der Dinge. Dem Geiste der Mutter hatte sie sich gebeugt, den Posaunen, die so laut, so grell an die Schauer des Grabes mahnten, und dem Weihrauchdufte, der so recht der Totengeruch ist, wollte sie nicht standhalten. Die Sonne hatte ihr Liebes gethan. Sie hatte sie gemahnt an das Leben, an das warme, helle Leben, und dem goldnen Strahl, der ihre Seele erwärmt hatte, war sie dankbar. Er hatte sie herausgerissen aus der Atmosphäre des Todes, er hatte sie aufgerafft zu neuem Lebensdrange. Das wußte sie jetzt, der Gang zum Friedhof war nicht der rechte Gang gewesen. Dazu war es noch zu früh, den letzten Dingen nachzugehen und mit Gräbern Umgang zu pflegen. Daraus kam ihr kein Trost, keine Führung für die Zukunft. Sie gehörte dem Leben, soviel war gewiß. Wie dieses Leben beschaffen sein würde, das allerdings war ihr noch unklar.

Während Karoline so mit der neugeschaffenen Lage rang, suchte Bertram die Gewissenslast, die ihn bedrückte, in frohem Zeitvertreibe am Starnberger See von sich zu wälzen.

Richtig hatte sich um sieben Uhr morgens die ganze Gesellschaft am Bahnhof eingefunden. Lilienfelder, dem man auf den ersten Blick ansah, daß er sich nicht sehr wohl befand, leugnete seinen Zustand nicht, erheiterte vielmehr die Freunde durch seine wehmutsvollen Klagen. Fräulein Rieder war, wenn auch die Augen etwas angegriffen erschienen, frisch und guter Laune. In einer ganz weißen Toilette mit breiter schwarzer Schärpe, dazu schwarze, bis an die Ellbogen reichende Handschuhe, einen phantastisch geformten, mit mächtigen schwarzen und weißen Federn aufgeputzten Hut auf dem Kopfe, sah sie ebenso hübsch als originell aus. Mit dem großen weißen Spitzenschirm tändelnd und die zierlichen, spitz zulaufenden Schuhe mit den großen Metallschnallen und Atlaskokarden zeigend, neckte sie bald den traurigen Geliebten, bald scherzte sie in erwartungsvoller Laune mit anderen Herren. Nur Bertram ließ sie abseits stehen, ohne ein Wort an ihn zu richten. Seinen Gruß hatte sie mit einem kühlen Kopfnicken beantwortet. Er beobachtete sie wohl zuweilen mit einem forschenden Blick, gab sich aber keinerlei Mühe, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während der Eisenbahnfahrt blieb er in sich gekehrt und nahm, ebenso wie Lilienfelder, an der allgemeinen Unterhaltung keinen Teil, welche Fräulein Rieder leitete. Je länger die Fahrt aber dauerte, desto häufiger senkte sich sein Blick auf das ihm schräg gegenübersitzende Mädchen.

Rechtzeitig erwacht, hatte er sich noch bis zum letzten Augenblick besonnen, ob er an dem Ausfluge teilnehmen sollte. Er wollte nicht mit Fräulein Rieder zusammentreffen. Der Ausgang des verflossenen Abends lastete auf ihm, nicht wegen der sicheren Erwartung, daß die Courtisane ihm grolle, sondern darum, weil sie ihn wahrscheinlich wieder reizen und damit doch nicht sein Gewissen betäuben, sondern erst recht wecken würde; denn Karoline trat immer zwischen ihn und sie. So wollte er das Mädchen meiden, sich nicht in immerwährende Unruhe zu versetzen. Schließlich entschloß er sich doch auf den Bahnhof zu gehen, weil er vor dem Alleinsein Scheu trug. Jetzt grübelte er darüber nach, wie thöricht es für einen Mann seines Alters sei, so empfindsam sich zu quälen, statt mit entschlossener Kraft die Folgerungen aus dem Geschehenen zu ziehen. Ein gelöstes »Verhältnis!« Was war daran für ihn, den erfahrenen Lebemann? Was war es auch gar so Schlimmes für Karoline, die alt genug gewesen ist, zu wissen, was sie thut, und die er ja nicht im Elend, hülflos zurückließ? Er schämte sich vor sich selber seines Schwachmutes, der ihn nicht loskommen ließ von solcher Empfindelei, welche immer meinte, Karoline sei doch kein so gewöhnliches »Verhältnis« gewesen, ein braves Mädchen sei da um Ehre und Zukunft betrogen worden, echte, reiche Liebe habe da gemeinen Undank geerntet. Er rief seine kräftige Selbstsucht zu Hülfe, ihm zu sagen, kein verlassenes Mädchen halte dem Ungetreuen eine Lobrede, aber es wurde ihm schwer um die Brust, wenn er daran dachte, Karoline könne ihn einen Schurken heißen. Das Eine war gewiß, daß es so nicht weiter gehen konnte, daß diese Stimmungen und Verstimmungen ein Ende nehmen und zwar bald nehmen mußten.

Man brauchte nur der Empfindelei des eigenen Herzens Trotz zu bieten, um, wie man gestern in einem heftigen Anpralle alle Bedenken und Hindernisse über den Haufen gerannt hatte, eine fertige Thatsache zu schaffen. Dann gab es keinen Rückweg mehr, dann war es auch vorbei mit dem Schwanken und Zaudern, dann war ein neues Leben angefangen, zu dem man sich stellen mußte und wohl auch leichter stellen konnte, als zu der Halbheit des Augenblickes. Immer öfter richtete sich sein Blick auf das lachende, scherzende Mädchen, dessen ausgelassene Lebenslust wuchs, je länger die Gesellschaft beisammen war. Sie bemerkte die Blicke wohl, wich ihnen aber mit deutlich betonter Absicht aus. Als Bertram sich schließlich in die Unterhaltung mischte, überhörte sie seine Bemerkungen völlig, selbst wenn er sich unmittelbar an sie wendete. In ihm aber wurde gerade durch diese Abweisung die kluge Erwägung, die vorbedachte Absicht zur wachsenden Begierde. Als sie in Starnberg den Zug verließen und sich nach Tutzing zu fahren auf das Dampfboot begaben, suchte er eifrig in ihre Nähe zu kommen. Sie wich ihm wiederum aus, und einen neuen Versuch, den er auf dem Dampfboote machte, wies sie mit einer entschieden zornigen Miene zurück. Erst bei dem gemütlichen Frühschoppen in Tutzing schien das Mädchen in seiner Sprödigkeit nachzulassen, wenigstens schenkte es jetzt Bertrams Worten ebensoviel Gehör, als denen der anderen, und stieß auch mit ihm mehrmals an, wobei sie ihm zweifelnde Blicke zuwarf, die zuletzt von einem leichten, schmollenden Lächeln begleitet waren. Bertram benutzte diese Wahrnehmung, um, als man später auf das jenseitige Ufer nach Leoni fuhr, dort zu Mittag zu speisen, neben sie zu treten und ihr zu sagen: »Sind wir jetzt wieder gute Freunde?«

»Sind wir's denn einmal nicht gewesen?« meinte Fräulein Rieder. »Sie sollen mir nur nicht so auffällig nachlaufen!« setzte sie hinzu, als sie seine verwunderte Miene wahrnahm.

»Sie verübeln mir also nicht, daß – –«

»Was soll ich Ihnen denn verübeln?« entgegnete sie und verließ zugleich ihren Platz.

Bei Tisch kam er ihr gegenüber zu sitzen. Sie unterhielt sich nicht nur mit ihm sehr unbefangen, sondern er spürte auch gelegentlich ihre Fußspitzen an den seinen, und als man zuletzt ein Glas Sekt trank, drehte sie Brotkügelchen und bewarf ihn damit. Nach Tisch brach man zu einer Waldpromenade auf. Man war noch nicht weit in das Bereich der herbstlich sich rötenden Buchen gekommen, als Lilienfelder erklärte, er wolle sich hier ein schattiges Plätzchen suchen und schlafend die Rückkehr der Gesellschaft erwarten. Da ein Blick auf seine schlaffe Gestalt, die den Kopf nicht mehr aufrecht tragen konnte, und auf die müde zwinkernden Augen bewies, daß er aus innerstem Bedürfnisse sprach, so ließ man ihn lachend gewähren. Fräulein Rieder neckte ihn noch mit der Frage, ob sie ihm etwa die Fliegen abwehren solle. Er würdigte sie keiner Antwort, sondern zog den Rock aus, breitete ihn auf ein weiches Moosplätzchen und streckte sich dann darauf, während die andern waldeinwärts zogen. In zwanglos wechselnden Gruppen ging man durch die rauschenden, von der Nachmittagssonne hier und dort mit leuchtendem Golde bestrahlten, hochstämmigen Buchen, die mit düsteren Fichtenschlägen wechselten, und ließ sich weder durch hohes Riedgras noch durch kleinere Dickichte stören. Je weiter man ging, desto mehr lockerte sich der Zusammenhang der kleinen Gesellschaft. Da man die Pfade verlassen hatte, so bahnte sich jeder seine Wege über die größeren und kleineren Hindernisse, wie es ihm gut dünkte, und auf solche Weise bildeten sich oft ziemlich große Zwischenräume zwischen den Einzelnen. Ein Paar hatte sich in einem eifrigen Gespräche zusammengefunden und eilte den andern weit voraus; unter diesen befand sich ein sangesfroher Geselle, der, unbekümmert um die Genossen, sein »Wer hat dich, du schöner Wald« mit merkbarem, wenn auch nicht eben vollgelingendem Kunsteifer sang. Fräulein Rieder pflückte allerlei Herbstblumen und Gräser und kam dadurch oft weit ab von der Gesellschaft, die sie springend wieder einholte. Wieder einmal hatte sie sich soweit entfernt, daß man nur noch den weißen Hut der gebückten Gestalt aus dem hohen Riedgrase einer mit kleinem Buschwerk durchsetzten Lichtung hervorschimmern sah. Nur Bertram hatte acht darauf. Er löste sich aus dem Gespräche mit zwei andern Herren, verlangsamte seine Schritte, und als die Vorausgehenden gleich darauf in einen dichten Jungholzbestand eintraten, welcher ihnen jede Aussicht verschloß, wandte er sich durch die Lichtung Fräulein Rieder zu, die ihn nicht zu bemerken schien, bis er wenige Schritte von ihr entfernt war. Dann richtete sie sich auf und wartete seine Annäherung ab, während ihre Blicke suchend über die Lichtung streiften.

»Wo sind denn die andern?« fragte sie ihn.

»Dort drinnen im Jungholz!« erwiderte Bertram, nach der Richtung weisend, woher er gekommen war. »Hätte ich Sie nicht im Auge behalten, so wären Sie ganz verloren gegangen.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!« erwiderte das Mädchen. »Rufen Sie einmal, daß die andern auf uns warten.«

»Das thue ich nun wieder nicht!« sagte Bertram lachend und einen heißen Blick auf sie werfend. »Wir werden schon ohne die andern zurückfinden, und der Wald ist groß genug, daß wir unsern eigenen Weg gehen können.«

Fräulein Rieder sah ihn zweifelnd an, und ihre Lippen schürzten sich zu einer wegwerfenden Miene, der eine nicht eben freundliche Antwort folgen mußte.

Bertram faßte sie mit kräftigem Arm um die Taille. Sie sah ihm dreist in das funkelnde Auge, und an seinem Arme zerrend, sagte sie: »'s ist gut! Ich will mit Ihnen gehen! Aber lassen Sie mich los!«

Er lockerte seinen Arm, den er aber an ihrer Hüfte behielt, und so schritten sie zusammen in einer ganz andern Richtung, als diejenige, welche ihre Gefährten eingeschlagen hatten, durch die Lichtung. Bertram begann sein Verhalten am vorigen Abende zu rechtfertigen. Sie unterbrach ihn, indem sie mit heftiger Gebärde sagte: »Reden Sie nicht, reden Sie nicht!«

Er verstummte und sah sie von der Seite an. Sie wandte ihr Gesicht nach der entgegengesetzten Richtung. Als er sie fester an sich ziehen wollte, wich sie ihm aus und schob seinen Arm von sich. Verwundert fragend sah er sie an, indem er stehen blieb. Auch sie hielt in einer Entfernung von einigen Schritten inne und sah mit suchenden Blicken über die Lichtung. Dann gingen sie einige Schritte voneinander getrennt ihres Weges weiter. Fräulein Rieder zog, des hohen Grases wegen, ihr Kleid hoch in die Höhe, der weiße, gestreifte Unterrock rauschte in gleichmäßigen Tönen durch die Halme, während sie mit weiten, etwas mühsamen Schritten sich Bahn machte. Bertram folgte ihren Bewegungen mit gierigem Blicke. Endlich standen sie vor dicht bewachsenem Jungholze, das keinen Durchlaß zeigte. Fräulein Rieder blieb stehen und sah ihren Begleiter fragend an. Dieser blickte eine Weile umher, dann entdeckte er in weiterer Entfernung einen schmalen Streifen, durch welchen das helle Sonnenlicht in den Schlag fiel.

»Hier geht es durch!« sagte er, nach der Richtung weisend, und als das Mädchen keine Bewegung machte, schritt er voraus. Sie folgte dicht hinter ihm, am Saume des Gehölzes entlang gehend. So kamen sie an einen Durchlaß, der zwar mit einem regelrechten Pfade wenig Ähnlichkeit hatte, aber doch den Bestand des jungen Holzes so locker zeigte, daß man sich mit einiger Vorsicht Bahn brechen konnte nach dem dahinter aufsteigenden Hochwald.

»Geben Sie mir die Hand!« sagte er. Fräulein Rieder folgte seinem Geheiße, und vorsichtig, oft sich bückend, oft die Zweige mit einiger Anstrengung zurückbiegend, gelangten sie schließlich an eine Stelle, wo das schwachstämmige Gezweige ein kleines moosiges Plätzchen kreisförmig umgab und gegen den Hochwald mit dichtem Gestrüpp absperrte.

»Wie sollen wir da durchkommen?« fragte Fräulein Rieder unwillig.

Bertram sah sich um.

»Wir sind gefangen!« sagte er dann munter und betrachtete mit deutlichem Behagen die lauschige Waldstelle, in deren laubumkränztes Versteck selbst der Sonnenstrahl nur auf gewundenen Pfaden dringen konnte.

Der Hochwald rauschte, aus weiter Ferne tönte Vogelgezwitscher. Fräulein Rieder sah auf den irrenden Sonnenstrahl, der auf dem Laube glänzte, blickte empor zu dem kleinen Fleckchen blauen Himmels, und langsam kräuselte sich ihr Mund zu einem Lächeln. Dieses verschwand aber, als Bertram ihren Arm faßte. Wie eine Gefangene, widerwillig, wenn auch nicht allzu heftig widerstrebend, fügte sie sich in die unausweichbare Lage, das Auge lauernd auf Bertram gerichtet, den Mund unmutig geschürzt. Bertram aber fühlte neben der Begierde in seinem Innern etwas wie Grimm aufsteigen, etwas, was seinen Atem hörbar machte und dem Griffe seiner Hand eine eiserne Kraft verlieh, als haßte er das Mädchen und wollte es mißhandeln. Ihr lauernder Blick wandelte sich dann auch in einen ängstlich fragenden, ihr Widerstand wurde stärker. Plötzlich aber schlang sie die Arme um seinen Hals, gab ihm einen wilden Kuß und sah ihn lächelnden Mundes, mit sündhaft heißem Blick an.

Längst hatten die Freunde sich wieder zu dem in tiefem Schlafe liegenden Lilienfelder gefunden und waren, nachdem sie ihn aufgerüttelt hatten, in das Gasthaus zurückgekehrt. Die Mitteilung, daß sie Bertram und Fräulein Rieder verloren hätten, war von diesem anfangs sehr gleichgültig hingenommen worden. Als aber Viertelstunde um Viertelstunde verstrich, als dann einer der Genossen einen Scherz machte, verfinsterten sich Lilienfelders Mienen, immer unwilliger sah er nach dem Eingange des Wirtschaftsgartens. Endlich kamen nach mehr als einer Stunde die Vermißten heran. Sie sagten die Wahrheit, als sie von einem weiten Umwege erzählten, den sie gemacht hätten. Da sie jenes Gestrüppe, welches sie vom Hochwalde trennte, nicht hatten durchschreiten können, hatten sie versucht, den alten Weg wieder zu gewinnen, waren aber irre gegangen. Erschöpft und erhitzt kamen sie zu den Freunden. Gleichwohl war Fräulein Rieder bester Laune, und als einer der Herren eine neckende Anspielung machte, lachte sie lustig und sah mit herausforderndem Blicke der feurig glänzenden Augen auf Bertram.

»Hast Du ausgeschlafen?« wandte sie sich dann an Lilienfelder, ihm kräftig auf die Schulter klopfend, und setzte sich neben ihn, dabei Bertram zuwinkend, an ihrer andern Seite Platz zu nehmen. Dieser folgte ihrem Geheiße. Er war schweigsam und in sich gekehrt. Lilienfelder hatte die beiden immerwährend forschend betrachtet. Eine plötzliche Stille war in der Gesellschaft eingetreten. Bertram blickte verwundert auf und sah umher.

Lilienfelder raunte dem Mädchen zu: »Warum bist Du nicht bei den anderen geblieben?«

Sie lachte hell auf, und sich zu Bertram wendend, sagte sie so laut, daß sie es alle hörten: »Er ist eifersüchtig!«

Die anderen lachten ebenfalls, nur Bertram verzog keine Miene, sondern glitt mit der Hand durch seinen Bart.

»Sorge, daß ich was zu trinken bekomme! Ich habe Durst!« fuhr das Mädchen fort.

Bertram rief im selben Augenblicke den Kellner, der unweit stand.

»Bertram ist ja schon um Dich besorgt!« meinte Lilienfelder bitter.

»Ich war's zunächst für mich!« versetzte dieser. »Doch, wenn Du es gestattest, wird es mir eine Freude sein, auch für das Fräulein zu sorgen!«

Fräulein Rieder warf ihm einen zärtlich dankenden Blick zu. Lilienfelder sah dies nicht, wohl aber bemerkte er, daß zwei Herren der Gesellschaft Blicke austauschten und ihn dann spöttisch lächelnd betrachteten.

Indessen war der Kellner herangekommen. Bertram bestellte für sich und sah dann das Fräulein Rieder fragend an.

»Was willst Du, was willst Du?« drängte Lilienfelder hastig.

Fräulein Rieder richtete ihre Antwort unmittelbar an den Kellner.

Die allgemeine Unterhaltung der Gesellschaft nahm ihren Verlauf. Lilienfelder beteiligte sich nicht daran. Er beobachtete das neben ihm sitzende Paar mit anhaltender Aufmerksamkeit, hatte aber wenig Entgegenkommen für Bertram, der ihn wiederholt in ein Gespräch zu ziehen suchte. Es konnte ihm nicht entgehen, daß seine Geliebte in der auffälligsten Weise mit diesem kokettierte. Bertram wich diesen Koketterien aus, so gut er konnte, aber er schien damit das Mädchen nur anzueifern, das ihm schließlich mit ungezügelter Verliebtheit ins Gesicht sah, sich plaudernd an ihn schmiegte, mit den Knöpfen seines Rockes, ja sogar mit seinem Barte spielte und dabei Lilienfelder den Rücken wandte. Dieser hatte ihr schon mehrmals zornige Worte zugeraunt, sie aber hatte nur mit einem verächtlichen Blick und mit Achselzucken geantwortet. Ihr Benehmen fing endlich an, der Gesellschaft peinlich zu werden. Man erriet, daß sie einen Streit herbeiführen wollte und flüsterte und winkte dem immer erregter werdenden Lilienfelder zu, sich zu mäßigen und die Sache nicht jetzt zum Ausbruche kommen zu lassen. Zugleich fehlte es nicht an Mienen und halblauten Bemerkungen, aus denen Fräulein Rieder hätte entnehmen können, daß ihr Betragen Anstoß erregte und als Störung des allgemeinen Behagens empfunden wurde.

Endlich benutzte einer der Herren eine günstige Gelegenheit, Bertram unter vier Augen zu sagen: »Es geht uns ja nichts an, was vorgefallen ist. Machen Sie das mit Lilienfelder aus. Vermeiden Sie aber jetzt einen Auftritt, der nicht ausbleiben kann, wenn es so fortgeht.«

Bertram war selber von dem Wunsche beseelt, jeden Zank zu vermeiden, und empfand Fräulein Rieders absichtsvolle Verliebtheit unbequem genug. Allein die Vermahnung des viel jüngeren und auch nicht allzu nahe befreundeten Herrn reizte ihn. Er erwiderte auffahrend: »Was unterfangen Sie sich denn, mich zur Rede stellen zu wollen? Ich verbitte mir das!«

Der so Behandelte antwortete nicht minder schroff, und streitend kamen die beiden wieder zur Gesellschaft heran. Damit war der Auftritt, der vermieden werden sollte, herbeigeführt. Zuvor suchte man die Herren, die in der Wahl ihrer Worte immer unbedenklicher wurden, zu beschwichtigen, aber man konnte doch nicht verhindern, daß die Ursache des Streites besprochen wurde. Lilienfelder blieb seiner Erregung nicht länger Meister und machte Bertram Vorwürfe, von anderer Seite wurden abfällige Urteile über Fräulein Rieders Benehmen laut. Letzterer Umstand veranlaßte Bertram, sich des Mädchens anzunehmen und zu fordern, daß man doch nicht wehrlose Damen angreife. Dagegen fand Lilienfelder, daß Bertram gar keinen Beruf habe, seine Geliebte in Schutz zu nehmen.

»Ich will nicht Deine Geliebte sein! Ich will nichts mehr mit dir zu schaffen haben!« Mit diesen Worten mischte sich jetzt Fräulein Rieder, zornbebend, in den Streit. Lilienfelder entgegnete ihr in brutaler Form; sie war um die Antwort nicht verlegen. Ein wüstes Geschimpfe erhob sich zwischen den beiden, in dessen Verlauf das Mädchen, dessen Wut Bertram zu beschwichtigen suchte, in der schamlosesten Weise ihr Geheimnis vor allen Anwesenden preisgab.

Bertram empfand zwar einen heftigen Widerwillen, aber die Lage zwang ihn jetzt erst recht, das Mädchen in seinen Schutz zu nehmen und gegen Lilienfelders Schmähungen zu verteidigen. Er that dies erst in gemessener, beschwichtigender Weise. Dann aber gewann ein schadenfroher Haß, ein Gefühl befriedigter Rache über ihn Gewalt, das er in höhnender Weise zum Ausdrucke brachte. Die meisten anderen Herren mischten sich jetzt in den Streit, und zwar vorwiegend zu Gunsten Lilienfelders, nur ein kleiner Teil war der Ansicht, die beiden Herren sollten die heikle Angelegenheit unter sich ausmachen und den anderen nicht das Vergnügen stören.

Der Wirtschaftsgarten, in welchem man sich befand, lag dicht am See. Der laute Ton einer Schiffsglocke klang durch den Streit hindurch, und die nach der Wasserfläche sich wendenden Blicke sahen das Dampfboot herannahen.

»Komm, laß uns mit dem Schiffe fahren! Hier ist doch kein Vergnügen mehr zu holen!« mahnten einige Lilienfelder. Andere aber sprachen sich sofort dahin aus, daß sie bis zu späterer Stunde am Orte bleiben wollten.

»Ich bleibe auch hier!« sagte Fräulein Rieder, sich gegen Bertram wendend.

»Du gehst mit mir!« rief Lilienfelder mit befehlender Handgebärde.

»Fällt mir gar nicht ein!« erwiderte das Mädchen, boshaft lachend.

Er wollte auf sie zustürzen, wurde aber zurückgehalten.

»Was willst Du denn? Laß sie doch! sagte man ihm. Nach einigem Widerstreben wandte er sich mit einem kleineren Teile der Gesellschaft zum Gehen.

»Wir reden noch miteinander!« wendete er sich an Bertram mit zornbebender Stimme, und warf einen drohenden Blick auf Fräulein Rieder. Dann ging er, eifrig redend und mit den Händen gestikulierend, mit seinen Freunden ab. Unter dem zurückgebliebenen größeren Teile der Gesellschaft bedauerten die meisten den Vorfall. Sie waren nur geblieben, weil ihnen der Aufenthalt behagte und sie sich darin keinen Abbruch thun wollten. Nur einige wenige sahen den Fortgehenden mit spöttischem Lächeln nach und fanden es spaßhaft, daß der Jude so geprellt worden sei. Sie tauschten hierüber aber nur vorsichtig miteinander flüsternd ihre Meinung aus. Eine deutliche Mißstimmung blieb in dem Kreise zurück. Fräulein Rieder, die fragende Blicke umherwarf, gewahrte sehr wohl, daß sie keine Sympathieen für ihre Handlungsweise fand. Es konnte ihr nicht entgehen, daß Bertram selbst übler Laune war. Sie beobachtete ihn eine Weile, dann sagte sie leise: »Ich habe Dir Unannehmlichkeiten gemacht. Das thut mir leid!«

»Bitte, bitte!« erwiderte dieser sehr kühl. »Ich habe meine Schuldigkeit gethan. Es wäre freilich besser gewesen, Sie hätten es nicht so weit kommen lassen!«

Einen Augenblick ruhte sie, dann sah sie ihn mit zärtlicher Glut an und sagte: »Du bist mir böse? Und doch trägst Du allein die Schuld!«

Er beschwichtigte sie, indem er ihr leise die Hand streichelte. Allmählich überwand die Gesellschaft die Verstimmung. Der Vorfall wurde ignoriert und man fand sich erst stockend, dann lebhafter im Gespräche zusammen, wobei allerdings dem Mädchen gegenüber eine deutliche Zurückhaltung beobachtet wurde. Auch diese verschwand aber im Laufe der Zeit, da Fräulein Rieder sichtlich bemüht war, die ihr entzogene Gunst wieder zu gewinnen. In der leisen Bescheidenheit, mit der sie sich der Gesellschaft näherte, in dem stummen Dankesblicke, mit dem sie vielsagend jede ihr zugewandte freundliche Miene belohnte, lag ein Zauber, dem sich die Männer willig Hingaben. Es war eben doch ein schönes Kind, und diesen Augen, diesem anmutig lächelnden Munde, diesem eigenartigen Reize ihrer Gebärden konnte man nicht lange gram sein; man entschuldigte Bertram und fand sogar, daß ihre Sündhaftigkeit einen prickelnden Reiz habe. So kam es, daß schließlich Bertram der wenigst Wohlgelaunte in der Gesellschaft war. Ihn schien mancherlei zu bedrücken, wenn er es auch unter einer künstlichen Heiterkeit zu verbergen suchte und der lebhaften Zärtlichkeit des Mädchens mit lächelndem Wohlwollen entgegenkam. In sicherer Steigerung machte sie sich schließlich wieder zum Mittelpunkte der Gesellschaft, die immer heiterer und ausgelassener wurde, je länger sie die Führung hatte. Man kam sogar so weit, das Ereignis, das vorher so viel Ärgernis gebracht hatte, in höchst schlüpfrigen Scherzen und Neckereien zu verwerten, welche Fräulein Rieder sehr vergnügten. In solcher Stimmung war man nach Starnberg gekommen und hatte lachend und scherzend in dem letzten nach München fahrenden Zuge noch gemeinsamen Platz gefunden, nachdem man sich durch das lärmende Gedränge der zahlreichen Fahrgäste glücklich hindurch gearbeitet hatte. Es hinderte die Heiterkeit der Gesellschaft nicht, daß man sich in einem durchgehenden Waggon befand, der auch vielen anderen Fahrgästen Platz bot. Fräulein Rieder saß getrennt von Bertram auf der andern Seite des den Waggon durchschneidenden Mittelganges zwischen drei Herren, mit denen sie lachte und schäkerte, während das klirrende, rasselnde Geräusch des endlos langen Zuges, der sich in mäßigem Tempo durch die Mondnacht wälzte, selbst die besonders laut gesprochenen Worte kaum den Nächstsitzenden verständlich machte. Bertram hatte schon in Leoni die Wahrnehmung gemacht, die sich ihm jetzt im Waggon noch deutlicher zeigte, daß die Gesellschaft keineswegs geneigt war, ihn nunmehr kurzweg als den Nachfolger Lilienfelders zu betrachten, daß man vielmehr aus dem Geschehnis ganz andere Folgerungen zog, denen Fräulein Rieder in ihrem Benehmen zwar keine direkte Unterstützung lieh, aber auch keine deutliche Zurückweisung gab. Bertram wußte, daß das Mädchen keineswegs daran dachte, dieser Auffassung der Herren thatsächliche Bestätigung zu geben, daß dasselbe die feste Absicht hatte, ihn als Karolinens Nachfolgerin zu fesseln. Der Schein aber, der aus ihrer Nachsicht für manche Freiheit des einen oder andern hervorging, war ihm eine sehr willkommene Handhabe, erleichterte ihm die Ausführung des gefaßten Entschlusses, ihre Hoffnungen möglichst rasch zu zerstreuen. Nicht erst bei dem Ausbruche des Streites mit Lilienfelder, als das Mädchen das volle Wesen der Dirne enthüllte, sondern schon vorher war bei ihm die gründliche Ernüchterung eingetreten. In früherer Zeit hätten wohl die Reize eines solchen Weibes länger auf ihn gewirkt, jetzt aber sah er, was Karoline gewesen war, jetzt unterschied er die Liebe von dem Taumel der Begierden, die Leidenschaft eines zärtlichen Weibes von dem wollüstigen Rausche der lüsternen Buhlerin. Ein solches Geschöpf war mit der ganzen Fülle seiner blühenden Reize nur gut genug für eine erregte Stunde, aber dem Taumel, den es erzeugte, folgte mit der Ernüchterung der Ekel vor der schamlosen Art, mit der sie sich hingab. Er lehnte sich unwillig gegen den Gedanken eines Lebens auf, wie er es ehedem geführt hatte, er sehnte sich nach der Liebe, der echten Liebe, die er in falschem Freiheitsdrange von sich gestoßen hatte. Um der Freunde willen hatte er roh und herzlos Karoline gekränkt, um jener Freunde willen, die seine Liebe verhöhnt hatten und jetzt ihm böse Mienen machten, weil er einem von ihnen eine Dirne abspenstig gemacht hatte, und eben dieser Eine, der sich wild erzürnte, weil ein solches Mädchen ihm die Treue brach, war es vor allen gewesen, der seine Liebe zu Karoline vergiftet hatte. Das war die Freundschaft, die ihm so kostbar geschienen hatte, eine Freundschaft, die eine Dirne hatte vernichten können! Wer waren sie, diese Freunde, wer war dieser Lilienfelder? Jetzt sah er sie in anderem Lichte, jetzt meinte er, daß die Leute nicht wert waren, daß man ihnen ein Wesen, wie Karoline, opferte. Karoline! Dort drüben schäkerte das üppig schöne Mädchen, das er in wildem Sinnesrausche, im Drange nach Betäubung an ihre Stelle gesetzt hatte. Er schämte sich vor sich selber bei dem Gedanken, daß er gestern Karoline roh mißhandelt hatte, um heute den Ritter einer solchen Dirne zu spielen. Warum hatte er sie nicht sofort beim Ausbruche des Streites verleugnet, abgeschüttelt? Weil sie ein Recht, das ekle Recht der Mitschuld an ihm hatte, weil er so treulos als Freund, wie sie als Geliebte, so gemein als Mann, wie sie als Weib gehandelt hatte. Karoline aber hatte nur das Recht der Liebe, das Recht der Ehre auf ihn, und solche besseren Rechte werden weniger streng genommen, als die aus trüberen Quellen stammenden. Ein braves Mädchen verführt man und verläßt es treulos, das heißt dann Mannesmut, vor einer Dirne ist man feige, und das nennt man Anstandspflicht. So beschämend, so erniedrigend all das Geschehene war, es hatte doch das Gute, daß es die Einkehr brachte und, wie die Verhältnisse lagen, die Umkehr erleichterte. Die Freunde waren dahin, denn gerade die vertrauteren waren es gewesen, die sich Lilienfelder angeschlossen hatten. Des Mädchens sich zu erwehren, konnte für den nicht schwer sein, der Karoline abgeschüttelt hatte. Dann zurück zu der Verlassenen, ihre Verzeihung erbitten und ihr als schönste, beste Buße die Erfüllung ihres tiefsten Herzenswunsches zu Füßen legen! So sollte es geschehen. Man hatte eben Pasing, die letzte Station vor München, verlassen. Der Zug hatte dort längere Zeit gewartet, bis das Zeichen zur Einfahrt in die viel verschlungenen Geleise gegeben war, die, nach dem Münchener Hauptbahnhof führend, kurz hinter der Station begannen. In den Waggons fing schon jene Unruhe an, die sich der Reisenden kurz vor dem Ziele zu bemächtigen pflegt. Bertram überlegte noch in raschem Denken, was er mit Fräulein Rieder zu beginnen habe. Da ertönten rasch hintereinander drei laut gellende Pfiffe, so gewaltsam, so wild klagend, daß es den Insassen des Wagens durch Mark und Bein schreckenerregend drang.

»Ein Unglück!« rief jemand, und eine lebhafte Bewegung ging durch die Reihen. Im selben Augenblicke aber, ehe noch der Versuch einzelner, aus dem Fenster zu sehen, zur Ausführung gekommen war, verspürte man ein heftiges Schwanken. Ein donnerndes Getöse, wie das Abfeuern einer ganzen Batterie, klang noch an den Ohren. Dann war es einige Sekunden still.

Ein entgegenkommender Zug war infolge eines unseligen Mißverständnisses in München zu früh abgelassen worden, und mit aller Wucht, da die Bremsen nicht mehr wirken konnten, fuhren die beiden aufeinander.

Ein einziger gräßlicher Weheschrei, so furchtbar, als hätte die Erde sich geöffnet und die Stimmen der Verdammten würden aus der Hölle hörbar, machte der kurzen Stille ein Ende, und ein schauriges Treiben begann. Aus jenen Wagen der beiden Züge, welche das Unheil nicht erreicht hatte, sprangen die Fahrgäste in. wilder Hast, sich drängend und niederwerfend. Bleich und zitternd standen die meisten erst da und blickten mit stierem Auge nach dem vom Monde beschienenen Chaos zertrümmerter, übereinander gewälzter Wagen, aus denen hier und dort etwas hervorragte, was aussah, wie ein Kopf, ein Arm, ein Körper. Einzelne aber dieser Geretteten, sie rannten wahnsinnig die Geleise entlang und schrieen: »Hülfe! Hülfe!?« Andere kletterten in wilder Angst, als ginge das Verderben hinter ihnen her, über die Böschungen hinauf und warfen sich dort erschöpft zu Boden. Ohnmächtige Frauen lagen auf dem Geleise hingestreckt, andere gaben sich Lach- und Weinkrämpfen hin, Fremde umarmten und küßten sich, starke Männer weinten. Nicht wenige waren auf die Kniee gesunken und beteten zum nächtigen Himmel mit wilden, wahnsinnigen Blicken und Gebärden. Eine alte Dame hielt eine Telegraphenstange umschlungen und mit brünstigem Blick sprach sie dieselbe als »heilige Maria« an, für ihre Rettung dankend. Eine junge Frau sprang und tanzte lachend umher und trieb im Freudenwahnsinn die tollsten Possen. Schreiende Kinder liefen hin und her, die ihre Eltern in der Hast des Aussteigens verloren hatten. Dieses Wahnsinn, Angst und Rührung mischende Getriebe der Geretteten, es war unablässig begleitet von den Schmerzensschreien der unter den Trümmern Begrabenen. Oft tönte aus dem schauerlichen Chorus, ihn überholend, ein bestialisch wildes Gebrüll. Die Bahnbeamten gingen, sich gegenseitig zurufend, die Fahrgäste beruhigend, zur Mitarbeit anspornend, durch die Reihen. Unter ihnen befand sich ein Schaffner, der taumelnd, mit blutüberströmtem Gesichte seine Pflicht that, und ein anderer, der den Arm in den Rock gesteckt hatte, aus dessen Öffnung das Blut hervorsickerte. Dann kamen auch die Ersten der Verunglückten, die sich selbst hatten herausarbeiten können aus den Trümmerwerken, furchtbare Gestalten, verwundet zumeist, oft so schwer, daß sie sofort zusammenbrachen, aber auch wenn sie heil waren, mit zerfetzten Kleidern und wirrem Haar, das wahnsinntolle Auge weit geöffnet hervorquellend, mit aschfahlem, verzerrtem Antlitz und bebend an allen Gliedern. Einige krochen auf allen vieren vorwärts, andere jammerten und wimmerten, sich erschöpft dem nächsten Besten an die Brust werfend, gar viele achteten nicht Schmerz, nicht strömendes Blut und rannten weiter und weiter, bis sie hinsanken, und immer wieder wiederholten sich die Thränen, die wahnsinnigen Ausbrüche der Freude, wenn auch verstümmelt oder mit Schmerzen dem Verderben entronnen zu sein. Wenn einmal eine solche zerfetzte, blutende, den Wahnsinn kündende Gestalt aus dem Trümmerhaufen hervorkroch, blöde um sich sah, dann sich aufrichtete und unter die Menge taumelte, ging ein Schrei des Entsetzens durch diese. Der Unglückliche stutzte und schrie darauf selber mit. Die Stärksten hatten sich allmählich soweit erholt, daß sie sich am Rettungswerke zu beteiligen versuchten. Sie wichen aber zurück, als das Grauenerregende ihnen näher kam und sie Hand anlegen sollten am Entsetzlichen. Man konnte ihrer missen, denn schon kamen in eiligem Laufe, von den Bahnwächtern herbeigerufen, Leute aus der nächsten Umgebung der Unglücksstätte, und wenige Augenblicke darauf gellte der Pfiff einer Lokomotive durch die Nacht und brauste ein Zug heran. Als dieser Pfiff ertönte, als man das hellleuchtende Augenpaar der Lokomotivlaternen sah, da erhob sich ein neues markerschütterndes Angstgeschrei, und aufs neue begann die Flucht der furchtdurchzitterten Menge. Die Beamten riefen beruhigend, es sei der herbeigerufene Hülfszug, der Rettungsmannschaft und Ärzte bringe. Der Zug aber blieb eine gute Strecke von den Geängsteten entfernt stehen. Ihm entstiegen zahlreiche Mannschaften. Beile blinkten im Mondlichte, Tragbahren wurden aus den Wagen gehoben, rotflammende Pechfackeln entzündet. Ärzte und Heilgehülfen mit größeren und kleineren Verbandkästen in der Hand gesellten sich dazu, und die düster ernste Schar schritt eilenden Ganges der Stätte ihres schaurigen Wirkens zu.

Die Ärzte wandten sich zunächst den bereits aus den Trümmern geborgenen Verwundeten zu und jenen, deren Benehmen eine kürzere oder länger andauernde Geistesstörung befürchten ließ. Sowohl letztere, wie die Verwundeten, wurden alsbald zu dem harrenden Zuge gebracht. Man forderte auch die Gesunden auf, sich in die Waggons zu begeben, aber nur wenige waren es, welche dieser Aufforderung sogleich Folge leisteten. Nach längerem Zureden und besonders durch den Hinweis daraus gespornt, daß bei fernerem Verbleiben ihrer eine furchtbare Nervenerschütterung durch den Anblick der aus den Trümmern Gezogenen harre, entschloß sich die Mehrzahl der übrigen, den Zug zu besteigen, der dann langsam nach München fuhr. Nicht wenige aber, die ortskundig genug waren, zogen es vor, zu Fuß den eine Stunde betragenden Weg nach der Stadt zurückzulegen. Indessen hatten die Rettungsmannschaften, auf den Trümmern der ineinandergeschobenen Wagen stehend, ihr Werk begonnen, in dem sie oft schaudernd innehielten. Vorsichtig wurden die Trümmer gehoben. Da traf man Blutspuren, dann zeigte sich ein Arm. Entsetzen ergriff die Männer, als der Arm sich leicht aufheben ließ, weil der dazu gehörige Körper fehlte. Diesen fand man unfern davon. Es war noch Leben, wenn auch kein Bewußtsein, in dem Verstümmelten. Hierauf rollte unter einem aufgehobenen Gebälke ein blutiger Kopf davon. Man fing ihn auf. Es war der eines Weibes. Bald fand man auch eine unkenntliche Masse von Fleisch und Kleiderfetzen. Es mochte der zum Kopfe gehörige Rumpf gewesen sein. Das laute Wehegeschrei war längst verstummt, und nur selten hörte man noch ein Stöhnen, dessen Spur um so eifriger verfolgt wurde. Die Unglücklichen, die man dann fand, hatten kein Bewußtsein mehr. Wohl aber sahen sie mit scheußlich sich drehenden Augen ihre Retter an, und die unsäglichen Schmerzen entpreßten ihnen immerfort leise wimmernde Tone. Hier und dort mußte die Axt mit kraftvollem Hiebe Bahn brechen, und wenn das Hindernis wich, beleuchteten die Fackeln einen Knäuel blutiger Körper, die sich in wilder Verzweiflung umklammert hielten, daß die krampfhaft geschlossenen Hände gewaltsam auseinandergebogen werden mußten, ehe man das Gewirr von Armen, Köpfen und Beinen lösen konnte, um dann in der Tiefe solche zu finden, die erstickt oder durch Fußtritte getötet waren. Neben diesen mit eingedrückter Brust oder mit zerschmetterten Schädeln, deren Gehirn ringsum an den Kleidern der anderen klebte, sah das entsetzte Auge zerrissene Leiber, denen die Eingeweide entquollen. Die Hand eines starken Mannes hatte sich in die Augenhöhlen eines jugendlichen Weibes gebohrt, ein anderes Weib war an den Haaren festgehalten von zusammengekrallten Fingern, an einem Körper hing der Kopf nur noch mit einem schmalen Streifen Haut, ein anderer zeigte sich zusammengekrümmt, daß die zerschmetterten Beine über dem Gesichte lagen, und Leben, atmendes Leben verriet sich nicht selten noch da, wo der Körper nur mehr einer zerschundenen Masse glich. Der frische Lufthauch, der den Unglücklichen die kurze Befreiung aus dem Grabe ankündigte, ließ manchen Bewußtlosen aufatmen und brachte ihm den Schmerz in Erinnerung, von dem er ächzend Kunde gab. Männer und Weiber, letztere zumal, waren oft fast völlig nackt, da ihre Kleider nur in losen Fetzen an ihnen hafteten. Im Fackelschein thaten die Ärzte das unmittelbar Notwendigste, lösten ein eben nur noch locker haftendes Glied ab, zogen die Kleiderfetzen aus den Wunden, stillten das rinnende Blut und legten Notverbände an, wo noch schwache Aussicht auf Erhalten des Lebens war. Die Sterbenden wurden abseits gelegt, in Decken gehüllt und ihrem Schicksal überlassen. Decken oder Stroh verhüllte auch jene Leichen, deren Anblick allzu grauenerregend war. Manche merkwürdige Rettung gab es wohl auch. In einem Haufen Toter und Schwerverwundeter fand man ein junges Mädchen, das, nachdem es sich erst erholt hatte und durch belebende Mittel zum Bewußtsein gebracht war, aufrecht stand und sich nur über Schmerz in einem Bein beklagte, das verstaucht war; ein junger Mann hatte nichts davongetragen, als zerfetzte Kleider und eine starke Schramme im Gesichte. In diesem Greuel von Blut, entsetzlicher Verstümmelung, stöhnenden Klagelauten und Todesröcheln ertönte hier und dort neben lauten Aufschreien ein Fragen nach dem Kinde, nach der Gattin, dem Gatten, der Schwester, der Geliebten, oft nur gehaucht oder hervorgepreßt aus schmerzlich verzerrtem Munde, ein angstvoller Blick aus irrem Auge folgte, wenn keine Antwort kam. »Wasser! Wasser!« klagte es dort, ein letzter Gruß oder auch der Wehruf: »Meine armen Kinder!« kam von der anderen Seite. Wilde Todesangst reckte die Arme, ballte die Fäuste, der kühne Griff des Arztes erpreßte laute Schreie. Blutüberströmte Männer rafften sich auf und suchten, wo die Gattin, die Geliebte hingeraten sein mochte, um endlich in einem einzelnen Arme ein Erkennungszeichen zu finden oder in einer gräßlichen Fleischmasse an den Fetzen des Kleides zu erkennen, daß verloren war, was sie suchten. Ein junges Weib kroch, nachdem es zum Bewußtsein gelangt war, mit zerschmettertem Bein umher, lüftete mit zitternder Hand die Decken, unter denen die Leichen ruhten, und fand endlich, mit einem wilden Schrei in die Nacht der Bewußtlosigkeit zurücksinkend, ihr Kind mit zertrümmertem Schädel. Immer lauter wurde es, je mehr die aus den Trümmern Gezogenen unter der Einwirkung der freien Luft das Bewußtsein erlangten, und noch immer nahm die blutige Ernte kein Ende. Die Ärzte selbst erblaßten im Anblicke dieses Jammers und schauderten zurück vor der Qual, die diese Menschen zu dulden hatten. Bleich wankte der Priester durch die Reihen, der vom nahen Nymphenburg gekommen war, im weißen Chorhemde, die letzte Wegzehrung an einer Schnur über die Brust gehangen. Neben ihm taumelte zitternd der Küster, mit dem Glöckchen klingend, dessen zartes, aber lautes »bim, bim!« durch Schmerzensruf und Todesstöhnen klang. Halb ohnmächtig kniete der Priester nieder vor Gestalten, die die Hand nach ihm streckten und mit rollenden Augen um den Trost der Kirche flehten. Er mußte es schaudernd dulden, daß ein blutiges Haupt sich ihm zur Beichte näherte und das Blut auf sein weißes Gewand niederrieselte. Aus einem Trümmerhaufen hatten sie tote und schwerverwundete Männer hervorgehoben, darunter Bertram mit zerschmettertem linken Bein und einer schweren Kopfwunde. Das Bein wurde sofort abgenommen. Die Kopfwunde nannten die Ärzte gefährlich und sie meinten, er würde spätestens in einigen Tagen sterben. Als sie Bertram hervorgehoben hatten, fanden sie auch Fräulein Rieder. Das Mädchen war aufgespießt an einen zersplitterten Balken. Blutüberströmte weiße Fetzen hingen an ihrem Körper herum. Als man sie vorsichtig aus ihrer Lage befreit hatte, quollen die Eingeweide aus dem Unterleibe hervor, ein dumpfer Schmerzenslaut kam von ihren Lippen, und als sie auf Stroh gebettet lag, machte ihr schöner Leib, dessen üppige Reize fast völlig entblößt waren, noch einige krampfartige Zuckungen, die blauen Augen drehten sich in ihren Höhlen, zwischen den aufeinandergepreßten Zähnen kam ein seltsam schnarrender Ton hervor. Dann war sie tot.


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