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Als vor vier Jahren mein Roman »Ein Verhältnis« erschien, hat die Kritik demselben vorwiegend eine freundliche Aufnahme bereitet. Diese Freundlichkeit war aber nicht von solcher Art, daß ich ihr den Erfolg meines Werkes zuschreiben müßte. Ich darf daher getrost behaupten, daß das Buch sich vorzugsweise selber seinen Weg gebahnt, daß das deutsche Publikum an demselben ein unbeeinflußtes Gefallen gefunden hat. Mittelbare und unmittelbare Wahrnehmungen haben mir in deutlicher Weise bestätigt, daß es insbesondere auch verständige Frauen gewesen sind, welche gesund genug waren, sich von dem Gemütsinhalte desselben so, wie es meine Absicht war, berühren zu lassen, ohne zimperlich vor den im Gegenstande gelegenen Offenheiten zurückzuschrecken.
Ich richte mein Schaffen nicht darauf ein, meine Werke bei diesem oder jenem Familienblatte vorteilhaft unterzubringen, und ebensowenig richte ich es darauf ein, als Bannerträger irgend eines »Ismus« zu gelten oder die Welt mit einer neuen Kunst zu beglücken. Ich habe mich bemüht, von Meistern zu lernen, und von menschlichen Dingen habe ich manches erfahren, weil ich ihnen mit neugierigem Eifer nachgegangen bin, wohl wissend, daß man die Menschen erst kennen muß, ehe man sie schildert. So wie mir die Menschen in den Weg gekommen sind, verwechsle ich sie nicht mit Göttern, aber ich halte sie auch nicht für eine Sammlung von Bestien und Verrückten. Vieles scheint mir thöricht und vom Übel an unserer Zeit, aber daß sie nur der Vernichtung wert sein soll, das will mir nicht in den Sinn. Zum Weltverbesserer fühle ich mich nicht gescheit genug, und da es an solchen in unseren Tagen nicht fehlt, so habe ich nie darauf studiert. Mir würden auch die Freunde fehlen, die mich gleich als Genie proklamierten, denn ich gehöre keiner Koterie an, bin niemandes »Genosse.«
Nachzugestalten, was so das Leben in den Kreis des Denkens und Empfindens gebracht hat, dazu reicht es vielleicht aus.
Wer nun, aus den engsten Zunftanschauungen des litterarischen Lebens heraustretend, in weiteren Kreisen Bescheid weiß, kann sich darüber gar nicht täuschen, daß nicht nur jene kannibalischen Roheiten der jungen deutschen Naturalisten, sondern jede Berührung erotischer Verhältnisse vom Großteile des Publikums mindestens mit einer gewissen Scheu aufgenommen wird. Die Ursachen dieser Scheu pflegt man meist mit dem allgemeinen Ausdruck »Prüderie« zu bezeichnen. Man trifft damit die Sache aber nur halb.
Wenn auch zuzugeben ist, daß man in Deutschland und besonders im protestantischen Norddeutschland die Prüderie scheinbar häufig findet, so ist doch das deutsche Publikum als Ganzes an sich nicht prüde. Jene orthodoxen Leute beider Bekenntnisse, welche mit barbarischer Folgerichtigkeit jede Erinnerung an die sinnliche Natur des Menschen verdammen, kommen für die Kunst überhaupt nicht in Betracht, und ebensowenig jene stillen Kreise, die sich in den Großstädten, wie auf dem flachen Lande finden und, unberührt von dem stärkeren Wellenschlage des großen Lebens, ein idyllisches Dasein weltfremder Alltäglichkeit führen, das nur durch unvermeidliche Ereignisse wie Krankheit, unglückliche Zufälle und endlich den Tod aus seiner sanften Friedsamkeit aufgestört wird. In allen anderen Kreisen ist die Prüderie nur eine scheinbare, auf Gewohnheiten und Mißverständnissen beruhend. Das deutsche Publikum ist seit Jahrzehnten gewohnt, erotische Motive in der Litteratur völlig vermieden, höchstens leise angedeutet zu wissen, und hat aus dieser Gewöhnung eine Art Anstandsgesetz für den Schriftsteller gebildet, daß er alles vermeide, was Vater und Mutter Ungelegenheiten mit den »Mädels« verursachen könnte, mit denen man ja ohnehin schon Plage genug hat, damit sie keine Dummheiten machen.
Dieselbe Gewöhnung hat eine bequeme Gedankenlosigkeit gezeitigt. Es ist zu umständlich und erfordert zu viel eigenes Denken, zu unterscheiden, was berechtigte Heranziehung natürlicher Lebenserscheinungen und was verwerfliche, unsittliche Schlüpfrigkeit sei. Da ist es einfacher, man legt dem Schriftsteller die Verpflichtung auf, ungefährliche, nicht mißzuverstehende Erzeugnisse zu bieten. Thut er das nicht, dann muß er es sich gefallen lassen, wenn man unmutig wird und eben kurzweg unsittlich nennt, was nicht harmlos ist, denn es ist ja keine Notwendigkeit für solche Schöpfungen vorhanden, man kann sie entbehren. Der Einwand der mangelnden Notwendigkeit ist es aber, der regelmäßig zum Vorschein kommt, sobald man gewisse Leute durch Fragen in die Enge treibt. Sie müssen zugestehen, daß es wahnwitzig wäre, als ästhetisches Axiom aufzustellen, ein Kunstwerk sei unsittlich, wenn es sich nicht für junge Damen eigne. Sie meinen aber: »Es giebt ja genug andere Stoffe!«
Dieser pädagogische Klugheitsstandpunkt ist jedoch nur ein Beweis dafür, wie verlottert im Laufe der Zeit die Kunstbegriffe unserer Gebildeten geworden sind, mit welch seichter Oberflächlichkeit man von Zweck und innerem Wesen des Kunstschaffens denkt, seitdem die Litteratur ein Mädchenspielzeug geworden ist.
Daß die Erotik für die Erzählungskunst sehr wichtig sein muß, beweisen uns schon zahlreiche Familienromane, die von Mädchenverführern, Ehebrecherinnen, dämonischen Abenteuerinnen u. dergl. Gebrauch machen. Freilich geschieht dies mit einer gewissen Vorsicht, welche nur den reifen Leser die eigentlichen Absichten des Verfassers erraten läßt. Da aber gerade die entscheidenden psychologischen Momente fehlen, so wundert sich der reife Leser nicht selten, mit welcher Leichtigkeit in solchen Romanen verführt und die Ehe gebrochen wird, oder aber er kann mit bestem Willen nicht finden, was denn gar so Dämonisches an irgend einer Dame sein soll, die sich gern den Hof machen läßt.
Selbstverständlich kann ein vortrefflicher, künstlerisch musterhafter Roman erdacht werden, der nicht die geringsten Beziehungen zur Erotik enthält. Ich will auch niemanden zu der thörichten Meinung zwingen, als ob der zur künstlerischen Erbauung jüngerer Familienglieder dienliche Roman überhaupt ein künstlerisch wertloses Produkt sein müsse. Ganz im Gegenteil halte ich es für eine wertvolle Kunst besonderer Art, einen echten, tiefgründigen Familienroman zu schaffen. Es giebt deren trotz aller Betonung des Familienzweckes der Litteratur außerordentlich wenige. Man denke an den schönen alten » Vicar of Wakefield«. Sonderbarerweise ragt aber gerade in diesen Musterroman im Schicksal der Olivia die Erotik schon ziemlich deutlich herein.
Je mehr wir, wozu der ganze Charakter der Zeit ersichtlich drängt, auf das romantische Ausnahmeschicksal, auf die sonderbare Begebenheit als Kern der Erzählung verzichten, je mehr wir bestrebt sind, der Wirklichkeit des Lebens die bemerkenswerten Thatsachen abzugewinnen, mit desto eindringlicherer Macht wird das Verhältnis der Geschlechter sich uns als der mächtigste Stoff darbieten.
Eine lebenskundige Frau wird bei kurzem Nachdenken finden, daß in der That diese geschlechtlichen Beziehungen in den mannigfachsten Wendungen und Färbungen das Einzelleben, wie das gesellschaftliche Treiben durchziehen und durchweben und sich viel stärker als irgend welche andere Eindrücke und Erfahrungen der Erinnerung, der Nachdenklichkeit aufdrängen. Wir stoßen immer wieder auf sie, sobald wir das Labyrinth des Menschenlebens durchwandern. Wir finden, daß dabei die unsere Litteratur beherrschende, zur Verlobung und Hochzeit führende Mädchenliebe wohl eine nicht unwichtige Abstufung bildet, die sich der Dichter in ihrem Werte als menschliche Urkunde nicht wird entgehen lassen dürfen, zugleich aber auch, daß sie in unserer Litteratur durch allerlei künstliche Mittel zu einer Bedeutung aufgebauscht wird, die sie im wirklichen Leben nicht hat, ja, daß ihr der eigentliche Charakter als Übergangskrisis des Lebens, als Einleitung in die eigentlichen Verwickelungen des Daseins ganz genommen wird.
Wenn man nun recht gebildete Leute hört, welche nicht nur diese Verliebtheit, sondern das ganze Gebiet des Geschlechtsverhältnisses nicht wichtig genug erachten, um die Erzählungskunst zu beherrschen, dann hat man es eben mit jenen gerade in Deutschland sehr häufigen Menschen zu thun, welche bei großer Gescheitheit von naiver Unwissenheit in allen Dingen des Lebens sind und daher dieses Gebiet in der Einfalt ihrer Weisheit gar nicht zu überschauen vermögen. Diese einseitig gelehrte Bildung hat auch auf anderen Gebieten Verwirrung angerichtet. Die Malerei hat sich erst in neuerer Zeit von ihrem Einfluß befreit. Weil sie das Leben nur in den einfachsten Formen und obenhin kennt, schiebt sie auch der Kunst ganz andere, als die eigentlichen Zwecke unter. Nach Auffassung dieser guten und doch so gefährlichen Leute ist die Kunst nicht die eigenartige Spiegelung zeitgenössischen Lebens, die Nachempfindung von Eindrücken der Erscheinungswelt, sondern ein Ding, das in einer Art Adoptivverhältnis zur Wissenschaft steht.
Wie aber die Liebe nicht bloß in jener duftigen Mädchenverliebtheit besteht, so geht auch das erotische Element über die Motive der sogenannten »schönen Sünde« hinaus. Es ist bezeichnend, daß das eheliche Element im deutschen Roman eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Eine tiefe Betrachtung der Ehe, der Stellung der Gatten untereinander, der Ursachen ehelichen Unglückes, der Stellung des Weibes als Mutter, wichtiger Elemente des Familienlebens, wie Kinderlosigkeit und allzu reicher Kindersegen, ist eben nur bei einer intimeren Betrachtung des Verhältnisses der Geschlechter möglich; ebenso können die tiefsten Gemütsregungen sowohl, wie die bewundernswertesten Zeugen sittlicher Kraft nur in einer näheren Beleuchtung dieses Verhältnisses zu voller Würdigung gelangen. Eine Reihe anderer wichtiger Fragen des modernen Lebens steht hierzu in mittelbaren Beziehungen, so daß man sagen kann, von allen künstlerischen Erwägungen abgesehen, bildet das Geschlechtsverhältnis auch in unserem reichen modernen Leben den Mittelgrund, den Kräfteaccumulator aller Bewegungen und Strömungen des menschlichen Treibens. Es erscheint hiernach geradezu als widersinnig, wenn man für die Kunst des Erzählens eben dieses kräftigste, mächtigste Element der Lebenssphäre des Menschen als nicht vorhanden erklären will. Diesen Widersinn sucht man, von den Familienrücksichten abgesehen, damit zu rechtfertigen, daß man die Berührung geschlechtlicher Verhältnisse als das Schamgefühl verletzend, daher mindestens sittlich bedenklich darstellt. Diese Verhältnisse sollen eine Naturerscheinung sein, deren Vorhandensein im Namen der guten Sitten ignoriert, übersehen werden müsse, wie irgend welche, in das geistige, sittliche und gesellschaftliche Leben viel weniger übergreifenden, ihrer Art nach mit dem Begriffe des Häßlichen, Ekelerregenden verbundenen Natürlichkeiten. Man verknüpft damit zugleich den Gedankengang, daß Dinge in der öffentlichen Wirkung der Kunst nicht statthaft sein können, welche das wirkliche Leben geheimnisvoll verschleiert und deren Enthüllung daher als unschicklich gilt. Für die bildende Kunst wird teils widerwillig, teils mit kasuistischer Phrasenhaftigkeit eine Ausnahme gemacht, weil man sonst in Widerspruch mit der uns eingeimpften, aus der Antike entnommenen Kunstweisheit geraten würde.
Sehen wir uns zunächst das tatsächliche Leben auf diesen Punkt hin an. Wir sehen hier, daß, von allen mehr oder minder frivol angehauchten Freiheiten abgesehen, die sich die Gesellschaft als eine Lockerung des Konvenienzzwanges gestattet, in hundert- und tausendfacher Form die ernstesten Umstände zwingen, dieses undurchführbare Gesetz des Ignorierens der tiefstwirkenden Lebenserscheinungen aufzugeben. Es ist einfach undenkbar, daß der Mensch und zumal das in allen seinen Daseinsbedingungen darauf hingewiesene lebensreife Weib seine Gemütsregungen, die Thätigkeit seines Gehirnes davon völlig sollte ablenken können, davon in seinem Seelenleben nicht mehr berührt würde als von dem Gedanken an Essen und Trinken wenn auch immerhin je nach der Verschiedenheit der Lebenslage diese Einwirkung mehr oder weniger stark sein mag. Es ist ebenso unleugbar, daß diese ernsten Lebensgeheimnisse, wie zum Gegenstande einsamer Erwägungen, auch zum Gegenstande des vertraulichen Gedankenaustausches sich nahestehender Personen gemacht werden, denn die stärksten seelischen Erregungen, die schwierigsten äußeren Verwicklungen, namenlose Schmerzen, höchstes Glück, Sehnen und Hoffnung, Enttäuschungen und Hülfsbedürftigkeit, sie drängen in den mannigfaltigsten Formen hierzu. Es sind nicht die feinfühligsten, nicht die auf der Höhe menschlichen Gemüts stehenden Leute, welche kühl behaupten, daß diese gewaltigen Lebensgeheimnisse in ihrem Denken und Fühlen eine nur nebensächliche Rolle spielen. Von einem Ignorieren kann also im wirklichen Leben nicht die Rede sein, sondern nur von einer durch die Natur der Sache von selbst gegebenen zartfühlenden Diskretion, einer Vertraulichkeit derselben.
Ich erlaube mir aber weiterzugehen. Ich sehe gar nicht ein, warum eine namentlich im protestantischen Norden ängstlich verpönte Sinnenfreudigkeit im Widerspruch mit dem Sittengesetze stehen soll. Warum soll der Mann ein Hehl daraus machen, daß er in den körperlichen Reizen eines Weibes ein entzückendes Naturwunder erkennt und daß ein solcher Anblick für ihn einen Genuß bedeutet? Warum soll das Weib, allerdings in jenen Grenzen, welche die natürliche Schamhaftigkeit auferlegt, sich nicht seiner Schönheit rückhaltlos freuen und sich selber das Glücksgefühl verhehlen, das ihr die Erfüllung ihres Lebensinhaltes bietet? Sobald wir aber erkennen, daß die Sittlichkeit nicht in einer naturwidrigen und darum unhaltbaren Selbstflucht beruht, sobald wir uns nicht mehr zwingen, was wir als schön, als beglückenden Lebensinhalt finden, für häßlich zu nehmen, sondern mit klarem Bewußtsein unsere ehrliche Sinnenfreudigkeit der vernünftigen Notwendigkeit des Sittengesetzes beugen, liegt auch kein Grund vor, das natürliche Interesse, das wir an den nächstliegenden Daseinsfragen haben, nicht auf die künstlerischen Darstellungen des Lebens zu übertragen und die Wandlungen und Färbungen der in uns wohnenden Naturkraft bemerkenswerter, Geist und Gemüt ergreifender zu finden, als irgend eine andere, dem Einzelnen weniger nahegehende Frage der Zeit, die subjektive Meinung über abstrakte Begriffe oder gar die politisierende Pfuscherei, die aus dem Dichter ein Mittelding zwischen Staatsmann und Journalisten machen will.
Was nun die Kunst angeht, so liegt es in ihrem innersten Wesen, daß sie das menschliche Dasein im Zusammenhange mit der gesamten Erscheinungswelt durchdringt und widerspiegelt. Sie steht nicht auf der Höhe ihres Wesens, wenn sie nur auf dem Gebiete der einfachsten, harmlosesten Erscheinungen sich spielend herumtreibt. Das ihr innewohnende Gesetz schreibt ihr die Art dieser Widerspiegelung vor, nicht aber die Grenze. Im Gegenteile ist sie durch ihre eigene Natur bestimmt, gerade so, wie der Erkenntnistrieb der Wissenschaft, ihren Flug nach Höhen und Tiefen zu richten, alles zu durchdringen, was den Menschen beseelt. Sie kennt kein Geheimnis, sondern ihr Triumph ist es, den Schleier zu ziehen von allem Geheimen, und dem bewegten, erschütterten Menschen das Isisbild seiner tiefinnersten Natur in tagheller Nacktheit zu offenbaren.
Im Zusammenhange damit kann sie auch nicht einer vollen, nicht einmal vor den Schranken des Sittengesetzes haltenden Sinnenfreudigkeit entbehren. Wo uns das Sittengesetz von »Sünde« spricht, ruft sie: »Hier ist mein Lebenselement, hier ist das Schöne!« und, was »unschicklich« sei, das kennt die Himmelstochter erst recht nicht.
Das klingt bedenklich revolutionär, nicht wahr? Doch dem Leser braucht nicht bange zu sein. Wenn auch die Kunst selbst die freie Himmelstochter ist, die keine Ketten trägt, so zerbricht sie doch auch nicht die Ketten, die der Mensch tragen muß, wenn er Mensch bleiben soll. Sie ist nicht, wie leider sogar falsche Kunstfreunde mit den kunstfeindlichen Zeloten behauptet haben, eine höhnende Gegnerin des Sittengesetzes, sondern, wird nur dieses richtig verstanden, eine rücksichtsvolle Begleiterin desselben.
Die Kunst giebt nur Widerspiegelung, Reflexe der Wirklichkeit, nicht die Natur selber. Darin liegt die Ursache, daß die psychologische Wirkung des die Natur nachgestaltenden Werkes eine ganz andere wird, als die der Natur selber. Die Dinge erhalten in der Kunst eine völlig andere Perspektive.
Und nicht darum kann sich der Streit drehen, ob die Kunst alles reflektieren darf oder nicht, sondern darum, unter welchen perspektivischen Voraussetzungen sie es thut. Der Künstler muß das Maß kennen, in welchem die Widerspiegelung deutlich genug das Wesen bezeichnet, es nicht bloß nach den Umrissen, sondern auch nach seinen feineren Farbenabstufungen darstellt, aber doch nicht zu einem Vexierstück wird. Dann ergiebt sich für unsern Fall, daß wir Erscheinungen, Zustände wie in der Wirklichkeit sehen, aber doch nicht die besonderen Wirkungen ihrer Körperlichkeit verspüren. Wegen dieses Unterschiedes kann die Kunst vieles geben, was in der Wirklichkeit unschicklich, unerlaubt wäre. In der bildlichen Darstellung des Nackten ist diese Verschiedenheit von Wirklichkeit und Spiegelung dem Publikum schon geläufiger geworden. Und doch ist die Wirkung auf das Auge von viel intensiverer Sinnlichkeit, als die nur mittelbare Wirkung auf die Phantasie, die das Buch übt; doch kann die sichtbare Thatsächlichkeit des Bildes, der Statue viel eher in einer Ausstellung, in einem Zimmer etwa für eine Dame, die sich davor in Gegenwart von Herren befindet, etwas von Beschämung erzeugen, was bei einem papiernen, mit Buchstaben bedruckten Buch nicht der Fall ist. Dazu kommt der wichtigste Umstand, daß den Gewohnheiten unserer Kultur gegenüber die Darstellung des nackten Menschen immer etwas Fremdartiges hat, zu unseren Lebensverhältnissen in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht. Dagegen stehen die aus dem Buche aufsteigenden Gestaltungen nur dem Geiste des einsamen Lesers gegenüber und haben einen unmittelbaren Zusammenhang mit den allgemeinen Lebensbedingungen. Das Buch kann daher wesentlich kühner in der Entschleierung von Geheimnissen sein als das Bild. Seltsamerweise aber hat man in Deutschland nie den Mut gehabt, gegen bildliche Darstellungen des Nackten ernstlich zu Feld zu ziehen, wohl aber das Buch in Fesseln gelegt. Es tritt da ein besonderer Umstand in Geltung, welcher die Scheu vor der Erotik in der Litteratur einigermaßen zu rechtfertigen geeignet ist. Man hat niemals eine rein objektive Darstellung des Verhältnisses der Geschlechter im Auge, sondern denkt an gewisse sittlich fragwürdige Tendenzen solcher Darstellungen. Von der schlüpfrig scherzenden galanten Litteratur abgesehen, denkt man immer an solche Schriften, in welchen die erotische Verschuldung von den Dichtern verteidigt wird, entweder als das Recht des Genies, sich über die Spießbürgermoral zu erheben, oder als das Walten einer übermächtigen, den sittlichen Willen lahmlegenden Naturkraft. Die neueren naturalistischen Leistungen auf diesem Gebiete erhöhten das Mißtrauen dadurch, daß sie die dunkelsten, abstoßendsten Seiten dieses Gebietes ans Licht zogen und mit besonderem Behagen recht grell beleuchteten. Es ist gar nicht einzusehen, warum auf dem Boden der allgemeinen sittlichen Anschauungen, ohne revolutionäre oder sophistische Tendenzen, diese Lebenserscheinungen nicht ebenso wie andere als objektive Thatsachen mit bestimmten Ursachen und Folgen dargestellt werden könnten. Nach meiner Ansicht ist dies sogar im realistischen Sinne eine unabweisbare Grundbedingung. Die Kunst hat gar nicht den Zweck, zu moralisieren, Änderungen des Sittengesetzes anzustreben, sondern nur die Thatsachen in ihren feinsten Zusammenhängen zu schildern.
Nach dem vorher Ausgeführten wird diese Schilderung ein Spiegelbild des Lebens in bestimmten perspektivischen Wirkungen sein. Diese Perspektive ohne Mißgriffe herzustellen, ist für den Künstler nicht ganz leicht, Irrungen sind sehr wohl möglich, aber es lassen sich dafür doch bestimmte Regeln finden.
Die Grundregel ist, daß erotische Situationen zwar einen Teil ihrer Berechtigung aus dem Begriffe der künstlerischen Sinnenfreudigkeit, aus dem Gedanken des dabei zur Geltung kommenden sinnlich Schönen schöpfen, aber ihre tiefere Berechtigung doch nur in der psychologischen Bedeutung ihres Wesens finden können. Die sinnlichen Vorgänge an sich sind nicht der Hauptzweck der Darstellung, sondern sind die unerläßlich notwendige Folge oder Grundlage einer charakteristischen Darstellung seelischer, sittlicher, gesellschaftlicher Vorgänge. Sie müssen daher mit innerer Notwendigkeit aus dem Gesamtbilde des Kunstwerkes hervorgehen und genau in dem richtigen Verhältnis ihrer Bedeutung für dasselbe sich in ihrer Wirkung verhalten. Sie dürfen nicht mit unverhältnismäßiger Grellheit hervorspringen. Damit ist gesagt, daß sie niemals das Endziel, der Zweck eines Kunstwerkes, sondern nur ein Teil seiner bewegenden Kraft sein können und vor allem, daß sie niemals als überflüssige Ausschmückungen erscheinen dürfen, die für den eigentlichen Gang der Handlung entbehrlich wären. Da, wo sie sich als Notwendigkeit des Kunstwerkes ergeben, darf der Künstler ohne Ängstlichkeit in voller Entschleierung der Natur alle jene Elemente entwickeln, die ihm für die bezeichnende Herstellung des psychologischen Bildes nötig erscheinen. Er wird aber auch in solchen Einzelheiten alles vermeiden, was etwa als selbstverständlich in den Umständen gelegen überflüssige Breite erzeugt, denn er muß sich davor hüten, die Perspektive zu nahe zu nehmen und auf den Leser einen Zwang zu üben, daß dieser aus der Widerspiegelung Empfindungen gewinne, die eigentlich der Wirklichkeit allein angehören. Der Leser darf nicht das Hauptziel des Werkes im Verweilen bei solchen Scenen aus den Augen verlieren. Da aber im Wesen solcher sinnlicher Scenen eine besondere plastische Kraft und bei vielen Lesern, aus menschlicher Schwäche eine besonders willige Aufnahmefähigkeit vorhanden ist, so wird er nicht, die erstere mißbrauchend, auf die letztere freventlich sündigen, sondern die Perspektive in solchen Fällen erst recht vorsichtig berechnen. Es stehen ihm dazu gewisse sichere Mittel zur Verfügung in der äußeren Form des wörtlichen Ausdruckes, die nicht mit süßlich lüsternem Lächeln verhüllen, nicht in schwüler Extase verzückt sein soll, sondern den Charakter einer klaren, taktvoll das Wort wählenden Offenheit hat, welche zwar dem Schönheitsgedanken gerecht wird, aber eher nach dem schlicht bezeichnenden, als nach dem prunkvoll Malenden greift. Eine Erzählung »besingt« nicht, sondern »berichtet«, deshalb muß es auch der Künstler verstehen, gewissermaßen geschlechtslos zu erzählen, d. h. solche Scenen niemals aus dem einseitigen Gesichtspunkte männlicher Anschauungen vom weiblichen Geschlechte darzustellen, sondern objektiv aus der Seele des Weibes ebensogut, wie aus der des Mannes die Strömungen und Regungen zu lösen. Selbstverständlich ist es, daß ein Künstler nie die Auffassungen eines Physiologen oder Arztes sich zu eigen macht.
Einige persönliche Bemerkungen, die ich auf Wunsch meines Verlegers der neuen Auflage meines Buches mit auf den Weg geben wollte, haben sich zu einer Abhandlung ausgewachsen. Vielleicht kommt der eine oder der andere Leser in einer müßigen Stunde doch auf den Einfall, diese etwas lang geratene Vorrede zu lesen. Er wird dann erkennen, daß ich mich keineswegs jenen »starken Geistern« beizähle, die mit leichter Miene und genialischem Selbstbewußtsein sich über die Spießbürgermoral wegsetzen, sondern daß ich recht ernstlich, ernster noch, als in einer solchen Abhandlung möglich ist, das Problem bedacht, gewendet und gedreht habe. Ich bin in der That der Meinung, daß alle ästhetischen Erörterungen über diesen und jenen »Ismus« ziemlich gleichgültig sind neben der Kernfrage unseres litterarischen Lebens, ob es ein Axiom sein soll, daß die deutsche Litteratur sich ausschließlich auf das Familienbedürfnis einrichten müsse, oder ob es dem Dichter gestattet sein kann, auch den der Jugend entrückten Problemen der menschlichen Natur näher zu treten. Ich glaube allerdings, daß sich die Stimmen täglich mehren, die sich für letzteres entscheiden, und eine Kunst um der Kunst willen höher schätzen, als das einträgliche Handwerk, das mit dem Profite in der Tasche klimpernd und lachend sein Zeugnis » echter, sittlich gesunder Kunst« vorweist. Das Schicksal des vorliegenden Buches hat mich in dieser optimistischen Meinung bestärkt. Ich hoffe daher, daß auch die neue Auflage dieser Menschenschilderung eine freundliche Aufnahme im deutschen Publikum findet.
Köln, im September 1891
Karl von Perfall.
Auf Wunsch meines Verlegers habe ich den vorliegenden Roman einer Textrevision unterzogen, die sich aber nur auf kleine stilistische Ausfeilungen und Druckfehlerverbesserungen bezieht.
Im Aufbau der Handlung und der Charakteristik der Personen eines Werkes, das in unserer der litterarischen Mode huldigenden Zeit nach sieben Jahren noch einen Neudruck erfordert, Änderungen vorzunehmen, schien mir überflüssig.
Der Verfasser.