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Erstes Kapitel.

»Ich weiß auch, was ich mir schuldig bin, und würde in meinem Hause niemals ein Ärgernis dulden, aber einer jungen Dame, die bei mir mit ihrer Mutter wohnt, verwehren, daß sie einen Verehrer empfängt, das kann und werde ich nicht thun!«

»Sie wissen so gut und noch besser als wir, was es mit diesem Verehrer auf sich hat. Das Fräulein ist des Offiziers Maitresse. Mit solchen Leuten auf einem Flur zu wohnen, kann man aber einer anständigen Partei nicht zumuten!«

»Karoline hat recht! Das kann man uns nicht zumuten. Das Mädchen muß sich schämen, mit der Person auf der Treppe zusammenzutreffen.«

»So thun Sie doch nicht so zimperlich! Fräulein Karoline ist kein Backfisch mehr und mögen Sie die Dame da drüben nun des Herrn Grafen Maitresse nennen oder wie es Ihnen sonst beliebt, für die Tugend meiner Mieter habe ich nicht einzustehen, und Liebschaften kann ich nicht verbieten. Solange es bei dem Einen bleibt, – und ich weiß, daß es dabei bleibt, – hat niemand das Recht, sich zu beschweren. Sie sind eine langjährige Partei von uns, aber die Wahl kann ich Ihnen auch nicht lassen, wen Sie gerade neben sich wohnen haben wollen. Wenn sich Fräulein Karoline einen Liebhaber anschafft, der sie des Abends besucht, sage ich auch nichts dagegen!«

»Ich ersuche Sie recht ernstlich, Frau Sedlmayr, derartige Redensarten zu unterlassen! Sie beachten unsere Beschwerde nicht, damit ist auch jede weitere Unterhaltung überflüssig geworden!«

»Wie Sie wollen! Wie Sie wollen! Ich halte was auf alte Mieter, aber tyrannisieren lass' ich mich auch nicht!«

Nach diesen Worten ging Frau Sedlmayr von dem Hausflur, wo das Gespräch stattgefunden hatte, in ihre zu ebener Erde gelegene Wohnung, deren Thür sie sehr vernehmlich hinter sich schloß. Karoline Pauer aber führte ihre alte, an der linken Seite etwas lahmende Mutter die Haustreppe hinauf.

»Was wollen wir machen!« sagte Frau Pauer, in der Art Schwerhöriger überlaut sprechend. »Das Ausziehen würde mir doch recht beschwerlich fallen. Lieber hätten wir gar nicht davon angefangen.«

»Sie hat doch gehört, daß man sich nicht alles bieten läßt, und es wird wenigstens soweit helfen, daß das Dämchen die Sache nicht zu arg treibt und den äußeren Anstand wahrt!« meinte Karoline.

Frau Pauer hatte die Wohnung in der Klenzestraße schon vor langen Jahren bezogen, als noch ihr Gatte, der Appellationsgerichtssekretär, lebte und Karoline, die jetzt ihre sechsundzwanzig zählte, ein kleines Schulmädchen war. Die Pension und ein für kleinbürgerliche Verhältnisse ganz ansehnliches Vermögen, das sie in die Ehe gebracht, machten es ihr möglich, auch als Witwe die angenehme Wohnung beizubehalten, angenehm durch die bequeme Raumeinteilung der Zimmer. Die Lage im dritten Stockwerke wurde freilich zu einer ernstlichen Schattenseite, als Frau Pauer nach schwieriger Krankheit, wie sie Frauen in gewissem Lebensalter zuweilen treffen, eine einseitige Lähmung behielt. Aber Karoline war eine gute Pflegerin, und die Gewohnheit langer Jahre hob die Belästigung auf. Denselben Flur hatte fast ebenso lange ein älteres Ehepaar bewohnt. Der Mann war Unterbeamter in der städtischen Verwaltung gewesen. Nach dem Eintritte des pensionsfähigen Alters schied er aus dem Dienste und zog sich in seine oberpfälzische Heimat zurück. Ein volles Halbjahr hatte zum großen Jammer des Herrn und der Frau Sedlmayr die Wohnung leer gestanden, bis sich eine ältere Dame mit ihrer etwa achtzehn Jahre zählenden Tochter um dieselbe bewarb. Vor einigen Tagen waren sie eingezogen. Ganz neues und für die in dem Hause üblichen Verhältnisse ungewöhnlich feines Mobiliar wurde gebracht. Die Dame zeigte in ihrem Äußern eine deutliche Behäbigkeit, das Fräulein war sehr wertvoll nach der neuesten Mode in nicht gerade herausfordernder, aber doch etwas auffälliger Art gekleidet, und trotz des Jugendreizes ihres vollen, schönen Gesichtchens gepudert und an den Augenrändern leise gefärbt; zog man dazu das lebhafte, sehr ungezwungene Wesen in Betracht, so war die Mutmaßung nicht ungerechtfertigt, man habe es mit einer Schauspielerin zu thun. Frau Sedlmayr aber erklärte auf Befragen mit scharfem Nachdruck: »Das ist nichts vom Theater! Frau Rieder ist Privatiere aus Wien.«

In den ersten Tagen hielt sich die neue Partei ziemlich still. Die Damen waren viel außer dem Hause und kamen erst spät Abends zurück. Sie hatten kein Dienstmädchen und aßen auswärts. Karoline sah einmal am frühen Vormittag das junge Fräulein, wie es an der offenen Thür stehend selbst ein Kleid bürstete. Es trug bei dieser Hantierung einen rosafarbenen Schlafrock, reich mit Cremespitzen und dunkelblauem Sammet ausgeziert. Dichtes blondes Haar bildete am Hinterhaupt einen mächtigen Zopf und war tief in die Stirn gekräuselt. Große blaue Augen, ein kleiner Mund mit besonders vollen, roten Lippen, ein kurzes, leise gebogenes Näschen, dicke Wangen, milchweißer Hals und eine in dem eng anliegenden Schlafrocke auffällig hervortretende Fülle des Körpers bei geringer Größe, das waren die Kennzeichen, welche Karolinens weiblicher Scharfblick in der kurzen Zeit sich einprägte, die sie dazu brauchte, um des Fräuleins munteren Morgengruß mit einer höflichen Verneigung zu beantworten. War es der Blick jener schönen blauen Augen oder ein Zug um den Mund oder die Art, wie das Mädchen seine üppigen Körperreize durch die Haltung betonte, Karoline hatte bei dem gereifteren Urteile ihrer sechsundzwanzig Jahre eine Empfindung, der sie der Mutter gegenüber mit den Worten Ausdruck gab: »Das ist nichts Gescheites!«

Da, als sie eines Abends gegen neun Uhr von einer kurzen Besorgung beim benachbarten Kaufmann zurückkehrte, hörte sie vor sich auf der Treppe das Klirren eines Säbels und konnte wohl bemerken, daß, ehe sie das dritte Stockwerk erstiegen hatte, der Träger der Waffe in der Riederschen Wohnung verschwunden war. Sie pflegte zuweilen bei der Lektüre eines Buches bis in die späten Nachtstunden aufzubleiben, während die Mutter schlief. So that sie auch an jenem Abend, mit der besonderen Absicht, nicht zur Ruhe zu gehen, ehe sie wußte, wann der Offizier die Nachbarswohnung verließ. Die zwölfte Stunde war vorüber, als sie die Flurthür derselben auf- und zuschließen und ein leises Säbelklirren hörte. Am folgenden Tage knüpfte sich an diesen Vorfall die Unterredung mit der Frau Sedlmayr. Diese schien aber keineswegs, wie Karoline immerhin erwartet hatte, der neuen Partei wenigstens Vorsicht angeraten zu haben. Der Offizier ging nicht nur zu jeder Stunde des Tages aus und ein, sondern es kam auch zuweilen vor, daß er die Wohnung erst am frühen Morgen verließ. Die Stille und Zurückgezogenheit der ersten Zeit war also nur eine Vorsichtsmaßregel der neuen Partei gewesen, die Hauseinwohner nicht sofort aufmerksam auf ihr Treiben zu machen, die Neugierde einzuschläfern.

Frau Pauer verhielt sich ziemlich apathisch. Sie begnügte sich mit Ausrufungen des Abscheues und mit Kopfschütteln, aber die tiefe Entrüstung ihrer Tochter fand bei ihr ebensowenig ernsthaften Widerhall, als bei anderen Hauseinwohnern. Den Bewohnern des ersten Stockes war die Sache völlig gleichgültig, die beiden Parteien des zweiten schienen sie sogar pikant zu finden. Sie klatschten darüber, wie lange der Offizier an einem Abend geblieben war, was das Kleid, das Fräulein Rieder gestern getragen hatte, kosten mochte, fanden das schöne Mädchen aber freundlich und liebenswürdig und nahmen »das junge Blut« eher in Schutz, als daß sie in Karolinens moralische Entrüstung eingestimmt hätten. Sie sprach mit den Leuten gar nicht mehr darüber, nachdem die Frau Postsekretär Hubinger eines Tages Anspielungen gemacht hatte, als ob hinter ihrer Entrüstung sich ein dem Neide ähnliches Gefühl verberge. Ein durch die Preisgabe der jungfräulichen Ehre erkauftes Liebesglück oder gar die materiellen Vorteile, welche die Maitresse eines vornehmen Herrn genießt, zu beneiden, danach konnte der ehrbaren Karoline Sinn wahrhaftig nicht stehen. Eine um etliche Jahre jüngere Freundin hatte vor wenigen Monaten geheiratet, und selbst dieser gegenüber hatte sie nichts, was dem Neide glich, empfunden; aber sie war in der Blütezeit ihrer Jugend viel schöner gewesen, als dieses Fräulein Rieder mit dem Übermaße sinnlicher Weiblichkeit. Noch jetzt, da sich schon dunklere Schatten auf die regelmäßigen, feinen Züge legten und der ehedem wie Milch und Blut gefärbte Teint gelblich wurde, konnte sie in dem schlanken, die Formen in edlem Maße entfaltenden, hohen Körperbau, in dem klugen, seelenvollen Blick der Augen, so blau, aber nicht so dreistes Feuer blitzend, wie die der jungen Sünderin, mit der sie auch in der Fülle des aschblonden Haares wetteiferte, als ein zwar gereiftes, aber immer noch anziehendes Mädchen gelten. Der Zufall eines zurückgezogenen Lebens hatte ihr, wie den Schmerz, so auch das Glück der Liebe nie gezeigt, von einer flüchtigen, wie kaum begriffenen, so auch rasch verwehten kleinen Schwärmerei des sechzehnjährigen Herzens abgesehen. Je mehr die Jahre wuchsen, je schwerer bei aller Kindesliebe die Eintönigkeit des Lebens an der Seite einer kranken Mutter sich fühlbar machte, desto häufiger schlich sich in die Einsamkeit der Gedanken die Sehnsucht nach einem tieferen Lebensinhalte, desto bewußter wurde ihr der schmerzvolle Gedanke, als schöne Blume einsam geblüht zu haben, und einsam, spurlos zu verwelken, ohne irgendwen erfreut zu haben. Es mehrten sich die Anzeichen, daß die Leute schon mit ihr als mit einer angehenden »alten Jungfer« verkehrten. Das schmerzlichste Zeichen war wohl dies, daß weibliche Klatschsucht und Schwatzhaftigkeit in ihr nicht mehr das Mädchen sah, sondern, sie wie etwas Geschlechtsloses betrachtend, vor ihren Ohren alle jene Dinge auszukramen sich nicht scheute, die bei Frauen kleinbürgerlicher Leute ebenso beliebter, wie zwangloser Gesprächsgegenstand sind. Fühlte sie daher die Last ihres Zustandes ohnehin schon schwer genug, so bemächtigte sich ihrer der Gedanke einer Ungerechtigkeit, als sie sah, wie die Sünde ungeahndet nicht nur, sondern, von einer wohlwollenden Duldung begleitet, lächelnd und heiter im Hause aus- und einging, während sie selbst mit einer Miene angesehen wurde, als sei eine alte Jungfer etwas Tadelnswerteres als die elegante Maitresse eines vornehmen Herrn. Bei einem Besuche, den sie ihrer jungvermählten Freundin machte, die in der Vorstadt Haidhausen wohnte, fand sie für ihren Zorn über die neuen Mitbewohner auch keine rechte Teilnahme. Das junge Frauchen meinte, so etwas sei eben in Mietswohnungen unvermeidlich, wenn die Dame sich äußerlich anständig verhalte, könne man nichts dagegen thun. Man dürfe heutigen Tages froh sein, wenn man nicht noch schlimmere Ware in das Haus bekomme.

Karoline schwieg sich hiernach völlig aus, obwohl beim Kaufmann in der Nachbarschaft, wo alle Geheimnisse der ganzen Straße abgelagert wurden, über Fräulein Rieder bald die sonderbarsten Dinge erzählt wurden. Daß ihr Liebhaber der Lieutenant Graf Etterschlag, von den schweren Reitern war, hatte Karoline schon in den ersten Tagen gehört. Später erst erfuhr sie, daß das Fräulein Rieder in Österreich bei Verwandten des Grafen Bonne oder Kammerjungfer gewesen war. Dort hatte er sie während des Urlaubes kennen gelernt und beredet, ihm nach München zu folgen. Die angebliche Mutter aber war in keinerlei Weise mit ihr verwandt, sondern irgend eine Frau, die sie sich auf Wunsch des Grafen als Ehrendame, um den Schein zu wahren, mitgenommen hatte. Frau Sedlmayr kannte ohne Zweifel die Verhältnisse, aber Fräulein Rieder bezahlte eine viel höhere Miete, als die früheren Bewohner, und schickte auch zuweilen einige Flaschen feinen Weines oder Ähnliches zur Hausfrau.

Als Karoline wieder einmal ihre Einkäufe besorgte und mit der Frau des Kaufmannes sich über die schlimme Hausgenossin unterhielt, mischte sich ein Herr, der im Laden stand, sein Gespräch mit dem Geschäftsinhaber unterbrechend, ein und fragte: »Sie sprechen wohl von der dicken Österreicherin, die Graf Etterschlag jetzt hat?«

Die Frage war an die Frau gerichtet, Karoline aber wandte sich ärgerlich über die frivole Redeweise um und sah nun einen großen, elegant gekleideten Mann vor sich, dem ein langer schwarzer Vollbart, nur von wenigen grauen Haaren durchzogen, über die breite Brust herabfiel; das schwarze Haar war schon stark gelichtet, dicke Brauen wölbten sich in schönem Bogen über klar und freundlich blickenden braunen Augen, und aus dem Bartungetüm, das der Besitzer mit einiger Eitelkeit zu tragen schien, ragte ein volles Wangenpaar und eine kräftige, aber wohlgebildete Nase. Nicht nur durch seine Bartfülle fiel der Fremde auf, sondern auch durch den herkulischen Körperbau, dem die elegante Kleidung einen kavaliermäßigen Anstrich verlieh. Seine reine, der bayrischen Art fremde Sprachweise erhöhte noch diesen Eindruck für Karolinens Anschauung. Zu ihrem Ärger gesellte sich daher eine deutliche Neugierde. Der Fremde sprach noch etwas von Graf Etterschlags Schulden und davon, was das Dämchen kosten dürfte, schüttelte dem Ladenbesitzer und seiner Frau die Hand, grüßte Karoline mit flüchtiger Höflichkeit und entfernte sich.

»Wer war der Herr?« fragte Karoline, kaum daß er auf die Straße getreten war.

»Bertram heißt er«, antwortete der Kaufmann. »Er ist Agent für ein Hamburger Haus in Südfrüchten, Südweinen und dergleichen, macht, glaube ich, auch in Champagner. Ich stehe erst seit kurzem mit ihm in Beziehung.«

»Er hat die besten Firmen hier zur Kundschaft«, sagte seine Gattin mit einiger Selbstgefälligkeit. »Wir haben eben seine Probesendung aufgebraucht und ihm neuen Auftrag gegeben.«

»Ein Reisender also!« meinte Karoline mit einem Ton, in welchem es wie Enttäuschung klang.

»O nein! Er ist hier fest am Platze«, erwiderte die Kaufmannsfrau. »Der steht sich gut und lebt wie ein Baron!«

»Das wäre so was für Sie, Fräulein!« meinte scherzend der Kaufmann.

Karoline murmelte etwas Unverständliches und verließ mit kurzem Gruß den Laden. Aus der spaßhaften Rede des Kaufmanns schloß sie, ihre einfache Frage, wer der Mann sei, werde gedeutet, als ob sie ein altjüngferlich männersüchtiges Interesse bekunde. Das ärgerte sie.

Nach einigen Tagen sah sie den Agenten wieder im Laden stehen und merkte wohl, daß er, während sie ihre Geschäfte erledigte, den Blick aufmerksam auf ihr ruhen ließ. Als sie das nächste Mal in den Laden kam, war das erste Wort der Inhaberin: »Der Herr Bertram hat gestern, als sie fort waren, gleich gefragt, wer Sie sind.«

»Warum soll er das nicht? Habe ich's doch ebenso gethan!« antwortete Karoline mit absichtlicher Kälte.

»Sie haben ihm sehr gefallen! ›Ein bildhübsches Mädchen!‹ hat er gesagt.«

»Sehr schmeichelhaft!« erwiderte Karoline spitz auf die gutgemeinte Mitteilung.

»'s ist ja auch wahr! Sie sind auch ein schönes Kind, und eine wahre Schande ist's, daß ein solches Mädel keinen Mann kriegt. Das ist aber, weil unsere Herren heutigen Tages nicht heiraten und lieber in den Kneipstuben gut leben wollen. Ich hab's auch dem Herrn Bertram gesagt. O! das ist ein gar Schlimmer, der will nicht nur gut essen und trinken, der hält's auch mit den Weibern, ist ein Don Juan ersten Ranges.«

»Ei, und ein solches Früchtchen wünschten Sie mir zum Manne?« meinte Karoline erheitert.

»Das sind nicht die schlechtesten Männer!« lautete die Antwort. »So was läßt sich schon bändigen, zumal, wenn man doch nicht mehr von den Allerjüngsten ist, wie Herr Bertram. Da ist die Zeit doch nicht mehr ferne, wo man die Späßchen und Abenteuer satt kriegt und sich nach guter Ordnung sehnt.«

»Und so eine alte Jungfer, wie ich, wäre gerade gut genug, dem müden Lebensinvaliden Pflegerin zu sein. Auch dafür danke ich!« antwortete Karoline nicht mehr so heiter, sondern mit einiger Gereiztheit, und trat den Heimweg an. Die Worte der plauderhaften Frau blieben aber doch fester in ihrem Sinne, als sie es wollte. Dieser Herr Bertram war ein gar stattlicher und, wie es schien, auch recht feiner Mann. Ein blutjunger Freier hätte ja auch für ihr Alter nicht mehr gepaßt, und Herr Bertram war in den besten Jahren, zwischen vierzig und fünfundvierzig wohl. Die Partie wäre also wirklich so übel nicht gewesen. Aber die Sache war eines ernsten Nachdenkens nicht wert, denn, was die Kaufmannsfrau gesagt hatte, konnte man ihm ansehen. Er war gutes Leben gewohnt, und wenn er auch ein gutes Einkommen haben mochte, arg vermöglich sind solche Agenten doch wohl in der Regel nicht. In einer Ehe also, wenn – – Es wäre albern gewesen, an solche Redensarten einer Schwätzerin lange Erwägungen zu knüpfen. Aber in der Zeit des stillen Ankleidens und der ersten, halbschlafenden Ruhe gehen auch alberne Gedanken, ohne daß man es will, durch den Kopf.

Als Karoline wieder einmal Herrn Bertram in dem Kaufmannsladen traf, da war bereits eine geistige Verbindung zwischen beiden hergestellt, die rasch eine lebhafte Wechselrede herbeiführte. Herr Bertram sah sehr freundlich auf das Mädchen nieder, während er sich mit ausgesuchter Höflichkeit unterhielt. Karoline plauderte mit deutlicher Lust, sie ließ lächelnd ihre schönen Zähne sehen, und ihre blauen Augen, die sich mit der selbstbewußteren Offenheit des gereiften Mädchens dem Blicke des andern entgegenstellten, glänzten in einem verjüngenden Feuer. Herr Bertram gestattete sich schließlich einige Scherze, nicht gerade geistreich, aber auch nicht von jener plumpen Art, wie sie Handlungsreisende sonst wohl mit sich führen. Karoline lachte herzhaft dazu. Als sie voneinander gingen, drückte er ihr die Hand, sie neigte, den Abendgruß bietend, den Kopf, und ihre Miene zeigte eine Koketterie, die nichts weniger als altjüngferlich schien, ihr vielmehr sehr zierlich stand.

Als sie sich nach zwei Tagen wieder trafen, reichte Bertram dem Mädchen schon bei der Begrüßung die Hand. Karoline bemerkte an diesem Abende, daß die Küchenmädchen und Frauen, die ziemlich zahlreich im Laden ein- und ausgingen, sie und ihn mit neugierigen Blicken prüften. Sie kannte ihre Leute und wollte Schwätzereien aus dem Wege gehen. Deshalb verlegte sie gegen ihre bisherige Gewohnheit ihre Einkaufszeit in eine spätere Abendstunde, um welche der Andrang der Kauflustigen geringer war, so daß nur einzelne Spätlinge noch in das Geschäft kamen. Da geschah es zwei- oder dreimal, daß ihr die Kaufmannsfrau sagte, Herr Bertram sei lange hier gewesen und habe nach ihr gefragt. Erst beantwortete sie die Mitteilung mit einem kühl klingenden: »So!« Zuletzt aber wußte sie im Gespräche einzustreuen, daß sie sich eine spätere Stunde angewöhnt habe, um bequemer ihre Einkäufe erledigen zu können. »Ihr Geschäft wird immer besuchter, und man hat, wenn man früher kommt, Mühe, abgefertigt zu werden«, fügte sie hinzu. Sie fühlte zum erstenmale, daß es ihr heiß in die Wangen stieg, als bald darauf Herr Bertram, kaum daß sie in den Laden getreten war, erschien und die Kaufmannsfrau zu ihm erstaunt sagte:

»Da sind Sie ja zum zweitenmale!«

»Ich habe vorhin vergessen zu sagen, daß die neue Sendung, die Sie mir aufgetragen haben, vielleicht um einige Tage später kommt, als gewöhnlich!« erwiderte er unbefangen, und begrüßte Karoline im Tone höchster Überraschung.

Seitdem trafen sich beide allabendlich im Kaufmannsladen. Man plauderte eine halbe Stunde, manchmal auch einige Minuten länger, bald zu zweien, bald unter Teilnahme der Ladeninhaber. Ehe sich Bertram in München eine bequeme und wohl einträgliche Stellung geschaffen, war er seit früher Jugend für die verschiedensten Branchen gereist, und zwar hatte er so ziemlich alle europäischen Länder und auch ein gutes Stück des Orients gesehen. Er wußte allerlei zu erzählen. Ernsthaftes und Spaßhaftes, in einem schlichten, angenehmen Tone. Zuweilen kam der Schelm zum Vorschein und eine Lüge, deren sich Münchhausen nicht zu schämen gebraucht hätte, schlich sich in die Erzählung ein. Karoline aber war klug genug und drohte mit dem Finger oder sagte lustig:

»Jetzt binden Sie uns wieder etwas auf, Herr Bertram!«

Er gewann so viel Gefallen an diesen Zurechtweisungen, daß er noch mehr log und dabei besorgt war, die Sache so grell zu machen, daß man darüber herzlich lachen konnte. Es war eine vergnügte Zeit, die Plauderstunde im Kaufmannsladen, und Karoline freute sich jeden Abend darauf. Einmal fügte es sich, daß Bertram gleichzeitig mit ihr den Laden verließ. Er geleitete sie bis an ihr Haus. Als er dies aber wiederholen wollte, wehrte sie ihm mit der Bemerkung, schwatzhafte Nachbarn könnten daraus etwas zum Reden finden.

»So machen wir einen kleinen Umweg!« meinte er, ihr den Arm bietend. Sie mochte nicht abschlagen, und sie spazierten plaudernd gegen den Gärtnerplatz, gingen in ziemlich weitem Bogen um das Straßengeviert, und an der unteren Ecke der Klenzestraße angelangt, trennten sie sich. Karoline war immer wohlanständig gekleidet. Von nun aber legte sie noch größere Sorgfalt für ihr Äußeres an den Tag, und da eben die herbstliche Zeit herangekommen war und mit ihr die Veränderung der Toilette, erschien sie eines Abends im Kaufmannsladen mit einem Herbstjäckchen von starkem, hell und dunkel gesprenkeltem Tuche mit großen Metallknöpfen, das ihre schlanke Figur sehr wohl kleidete, und einem hohen, schmalkrempigen dunkelbraunen Hute mit zierlichem roten Federputze. Sie sah wie eine »Gräfin« aus »so fein.« So meinte die Kaufmannsfrau. Aber auch Bertram sagte: »Der Hut kleidet Sie reizend, Fräulein!« und sah zugleich scharfen Auges auf die von dem knapp anliegenden Jäckchen umschlossene Taille. Auch in den nächsten Tagen gab es sich, daß sie an Bertrams Arm einen kleinen Umweg nach Hause machte, doch bot er ihr den Arm immer erst, wenn sie einige Schritte vom Laden entfernt waren. Bald kannte sie seine Lebensweise ganz genau. Hiernach war er durchaus nicht so schlimm, als die geschwätzigen Kaufleute meinten, sondern ein fleißiger Geschäftsmann, der nach gethaner Arbeit ein Gläschen in Gesellschaft zu trinken liebte. Sie wußte, daß er bei Kurz an der Frauenkirche oder bei Neuner in der Herzogspitalgasse des Vormittags sein Schöppchen Wein trank, seltener zu Achatz zum Bock ging, daß er des Mittags im Café Maximilian aß, des Abends erst bei Bonnet, dem Hofbräuhaus gegenüber, und dann meist bei Paul am Gärtnerplatz seinen Abendtrunk nahm. Wie er es mit den Damen hielt, davon sprach er freilich nicht, das ließ sich auch nicht erfragen. Aber Karoline entnahm aus der Art, wie er mit ihr verkehrte, nur Vorteilhaftes. Er war in seiner Zurückhaltung so vertrauenerweckend, daß ihr das Verfängliche, das doch in diesen abendlichen Spaziergängen lag, gar nicht in den Sinn kam. Berührte er auch einmal zutraulich die Hand, die auf seinem Arm lag, oder zog er seine Begleiterin dichter an sich, es geschah so von ungefähr, in der Lebhaftigkeit der Unterhaltung ohne jede Aufdringlichkeit, wie er auch in seinen Worten nie einen Ton anschlug, der etwas anderes, als eine herzliche Freundschaft angedeutet hätte. Herzlich befreundet, »gut« war er ihr freilich, das merkte sie aus allerlei kleinen Zügen, deren keiner vom leisesten Tonfall bis zur Art des Händedruckes ihr entging. Er war auch immer sichtlich froh, wenn sie aus dem Laden heraus und auf der Straße »unter sich« waren. Viermal hatten sie diese Spaziergänge gemacht, als Bertram, kurz bevor sie an die Ecke kamen, an der sie sich zu verabschieden pflegten, nach einer tastenden, umschweifenden Vorrede meinte, diese Kaufleute seien doch keine Vertrauenspersonen, es sei unbehaglich, sie zu Beobachtern zu haben. Karoline hörte mit stockendem Athem zu. Der Vorschlag, er wolle künftig früher aus dem Laden gehen und sie am Gärtnerplatz erwarten, bildete das Ende seiner Bemerkungen. Karoline gab dem Vorschlag Gewährung. Das Wörtchen »Liebe« war in Bertrams weitschweifiger Rede nicht vorgekommen, aber sie fühlte doch, daß mit ihrer Zusage der bisherige Verkehr eine andere Gestalt annahm. Für die Richtigkeit dieses Gefühles fand sie sofort Bestätigung. An der Ecke angekommen, hielt Bertram die Hand, die sie ihm zum Abschied reichte, fest und bat im Tone des Scherzes, durch welchen der Ernst der Empfindung hindurch klang, um einen Kuß. Einmal, als sie sechzehn zählte, hatte ein achtzehnjähriger Gymnasiast, in den sie verliebt zu sein glaubte, ihr auf der dunklen Treppe einen Kuß geraubt und war, selber erschrocken über seine Kühnheit, davongesprungen. Den vollbewußt gegebenen, vollbewußt genossenen Kuß kannte sie nicht. Wie Erstarrung bannte es ihren Körper, sie war nicht im stande, ein Wort von den Lippen zu bringen. Erst, als Bertram, seine Bitte wiederholend, den Arm leicht über ihren Rücken auf die Schulter legte, trat sie ein wenig abseits und stammelte: »Nicht – – – nicht – – – Herr Bertram!«

Dieser sagte: »Fräulein Karoline! Ein einziges Küßchen? Können Sie mir das wirklich abschlagen?«

Sie hätte nie gedacht, daß der starke, große Mann mit dem wallenden Barte in so weichen Tönen reden könne.

»Aber, Herr Bertram!« erwiderte sie, seiner Annäherung nochmals ausweichend – – – »Auf der Straße!«

»Es ist ja niemand unterwegs!« sagte er, sich umblickend. Auch Karoline sah die dunkle, nur von wenigen Laternen schwach erhellte Straße auf und nieder. Da gewahrte sie am obersten Ende der Straße, noch weit entfernt, eine dunkle Gestalt.

»Dort oben kommt jemand!« sagte sie, riß mit einem kräftigen Rucke ihre Hand aus der Bertrams und sprang eilfertig der andern Seite der Straße zu, von dort raschen Schrittes und mit fieberhaft pochendem Herzen heimwärts eilend. Als sie etwas entfernt war, sah sie sich um. Bertram folgte ihr nicht. Das war sehr anständig von ihm. Sie ging langsamer, denn der wilde Schlag ihres Herzens beengte ihr den Atem. Sie hätte nie gedacht, daß schon das einfache Verlangen nach einem Kusse ein Mädchen so heftig erregen könnte. Er hatte sich das nur erlaubt, weil sie ihm mit ihrer Zusage wegen des Erwartens am Gärtnerplatze entgegengekommen war. Hätte sie ihm nicht entgegenkommen sollen? Das war unmöglich, sie hätte es ihm nicht abzuschlagen vermocht. Ein Kuß, das ist etwas anderes. Aber am nächsten Abend wird er doch wieder darum bitten. Da ist man dann nicht so unvorbereitet, nicht mehr im ersten Schrecken. – Man darf auch nicht gleich alles gewähren, und muß jetzt doppelt vorsichtig sein. Er hat noch nicht einmal von Liebe gesprochen. Es war am Ende nur ein Scherz. Das sah ihm aber gar nicht ähnlich, so zu scherzen. Eigentlich hätte sie ihm den Kuß doch geben können. Sie stand vor ihrer Hausthür. Ehe sie eintrat, blickte sie noch einmal die Straße hinauf. Niemand war zu sehen. Wenn jetzt Bertram dagewesen, sie wäre ihm um den Hals gefallen und hätte ihn nicht einmal, viel öfter geküßt. Es war ein herrlicher Mensch, so ganz wie für sie geschaffen. Zum erstenmale an jenem Abend nannte sie der Mutter im gelegentlichen Gespräche den Herrn Bertram, der zuweilen beim Kaufmann sei.

Am folgenden Abende entfernte sich Bertram ziemlich früh aus dem Kaufmannsladen. Er hatte mit Karoline kaum einige Worte gewechselt. Das war so sehr gegen seine Gewohnheit, daß die Ladenbesitzerin ganz verwundert darein sah. Karoline blieb noch eine kurze Weile, und niemand konnte an der ruhigen Art, mit der sie von den gleichgültigsten Dingen sprach, ihre innere Erregung ahnen. Kaum aus dem Laden, eilte sie dem Gärtnerplatze zu. Ein kurzer Umblick genügte, Bertram in einiger Entfernung warten zu sehen. Er stand unter einer Gaslaterne, voll beleuchtet.

Als er ihrer gewahr wurde, kam er ihr einige Schritte entgegen. Mit der Freude von Kindern, die ihrem Lehrer einen Streich gespielt haben, begrüßten sie sich. Karoline war so lebhaft bewegt, daß sie fast ungestüm seinen Arm faßte und sich näher an ihn schmiegte, als sie es sonst gewohnt war. Der nächsten Ecke gingen sie raschen Fußes zu, dann verlangsamte sich ihr Schritt. Es war eine stille Straße, die sie durchschritten. Nur selten kam jemand an ihnen vorüber oder an der andern Seite des Trottoirs, der, des Paares wenig achtend, eilig nach Hause oder zur Stammkneipe ging.

Bertram dankte Karoline, daß sie seinem Vorschlage gefolgt sei, und kündigte seine Absicht an, von nun an seltener in den Laden kommen, aber zur bestimmten Zeit allabendlich am Platze warten zu wollen.

»Dann kommt das neugierige Volk uns noch weniger auf die Spur«, sagte er. »Mir wär's von Herzen leid, wenn Sie, liebes, gutes Fräulein Karolinchen, ins Gerede kämen um meinetwillen.«

Karoline fand diese Worte sehr gelegen und meinte, sie sei über sich selbst erstaunt, wie viel sie schon gewagt habe. Sie sagte das in einem scherzenden Tone, durch den es aber sehr ernst hindurchklang.

»Daraus sehe ich, daß Sie mir doch ein bißchen gut sind!« meinte Bertram.

Karoline hätte von Herzen gern »ja!« gesagt, aber sie faßte sich und sagte fast traurig:

»Ich sehe etwas anderes daraus!«

»Und was etwa?«

»Daß es nicht so fortgehen darf!« lautete die Antwort.

»Wie? Das sagen Sie mir jetzt?«

»Sie haben recht, mir vorzuwerfen, daß ich Ihnen die Zusage gemacht habe, auf diese Heimlichkeiten einzugehen. Es war unüberlegt von mir. Dahin hätte es nicht kommen sollen. Was erst ein harmloses Ding, eine freundschaftliche Unterhaltung war, ist jetzt etwas geworden, was wenigstens einen andern Schein hat, und wer den Schein nicht meidet, muß sich böse Vorwürfe gefallen lassen.«

»Ein anderer Schein?« entgegnete Bertram lebhaft. »Nein, es ist, es soll etwas anderes sein!« Und nun sprach er in unaufhaltsamem Redestrom von seiner Liebe, von der Süßigkeit des Geheimnisses, von seiner Sorgfalt, dieses streng zu wahren. Karoline hörte eine Weile den verlockenden Worten mit innigem Entzücken zu. Dann erst machte sie Einwände, die nicht bloß listige Mittelchen waren, den Begleiter erst recht anzufeuern, sondern aufrichtigen Bedenken entsprangen, ängstlichen Ahnungen, die ihr reiferes Alter bei all den Lockungen der Reden Bertrams nicht unterdrücken konnte. Sie nannte sich ein altes Mädchen, das sich keinen jugendlichen Täuschungen mehr hingeben wolle und für eine Thorheit nicht mehr die Entschuldigung mangelnden Urteils habe, ja, sich lächerlich mache, wenn es noch den gefälligen Phrasen einer flüchtigen Laune vertrauensseliges Gehör schenke. Je lebhafter Bertram sie zu widerlegen suchte, mit dem Hinweise auf sein eigenes Alter, das doch zu zärtlichen Abendspaziergängen sich nicht mehr eigne, je mehr er von ihrer Schönheit sprach, die ihn zum verliebten Jünglinge gemacht habe und an der zu verwundern sei, daß sie nicht schon längst eines andern Leidenschaft geweckt habe, desto strenger wurde Karoline, desto heftiger wehrte sie sich gegen die berauschende Wollust, die ihre Seele empfand. Als schließlich seine Sprache immer heißer wurde und etwas daraus klang, was sie selbst schon in stillen Stunden sich gesagt, vom freudelosen Dahinwelken, von dem Rechte glücklich zu sein, das ein schönes Mädchen vor allem habe, da raffte sie ihre ganze moralische Kraft zusammen, um dem gefährlichen Freunde zu sagen, sie sei immerdar ein braves Mädchen gewesen und wolle nicht noch anders werden in ihren Jahren. Er wurde vorsichtiger, weniger heißblütig und darum nur noch gefährlicher. Seine Versicherungen belebten das Vertrauen, seine Klagen nährten ein gern bereites Mitgefühl, das unter dem Scheine des Trostes die eigene Neigung deutlich verriet. Sie standen noch eine gute Weile redend an der Ecke beisammen. Karoline wollte verzögern, was sie als sicher kommend ahnte, und als er endlich wieder um einen Kuß bat, da konnte sie sich nicht weigern. Das starke Mädchen zitterte am ganzen Körper, als Bertrams Lippen auf den ihren ruhten. Jetzt hätte sie nicht mehr so klug reden können, wie kurz zuvor. Sie wußte nicht, wie sie an die Hausthür kam. Mechanisch, ohne rings um sich etwas zu sehen, hatte sie den Weg gemacht, die Gewohnheit hieß sie vor dem Hause, das sie gar nicht bemerkte, stehen bleiben. Sie erwachte aus ihrem Sinnen, was doch ein solcher Kuß ganz anders sei, als man sich vorher denke, und nie in ihrem Leben, soweit sie sich erinnerte, hatte sie einen so wahrhaft glücklichen Abend verbracht, als diesen, an dem sie sich den beseligendsten Gedanken hingab. Wohl trat ihr in die Erinnerung, was sie Bertram gesagt und wie tief sie selber den Ernst ihrer Worte empfunden hatte. Aber der Kuß war ihr eine Offenbarung gewesen, die jene Worte als unnötige am falschen Orte angebracht erkennen ließ. Bertram, dessen war kein Zweifel, liebte sie innig, und innige Liebe, wohin anders, wenn keine störenden Hindernisse vorliegen, sollte sie führen als zur dauernden Vereinigung? Und welches Hindernis hätte bei Bertram oder bei ihr selbst solchen Ausgang stören können? Der Mutter wollte sie ihr Geheimnis noch nicht verraten, aber ihr Herz war zu voll, als daß sie nicht Bertrams heute besonders nachdrücklich erwähnt hätte. Das gab der alten Frau Anlaß zu sagen:

»Schon öfter hast Du mir jetzt von diesem Herrn gesprochen. Ich will hoffen, daß Du in Deinen Jahren vernünftig bist und nicht etwa noch thörichte Streiche machst.«

Karoline war durch diese für ihre Stimmung möglichst ungeeigneten Worte verletzt, und schroff, fast rauh klingend, sagte sie:

»Ich weiß, was ich zu thun habe. Man wird wohl noch reden dürfen.«

Frau Pauer schwieg, denn sie kannte die Reizbarkeit ihrer Tochter und hatte auch keine Lust, über die Sache weiter zu reden. Karoline aber fand sich schnell in ihre alte Glückslaune zurück, und statt durch die Worte der Mutter nachdenklich gemacht zu werden, empfand sie jetzt erst recht den Reiz des Geheimnisses. Ohne den Zwischenfall hätte sie es vielleicht heute noch mitgeteilt, jetzt war sie fest entschlossen, es ängstlich zu hüten, und mit diesem Entschluß kam in sie, die seit Jahren auch seelisch mit der Mutter verwachsen war, etwas Neues, Befreiendes. Ein eigenes Leben zu leben, eine eigene Persönlichkeit, nicht bloß die Tochter der Mutter zu sein, das war eine sonderbar köstliche Empfindung.

Als am folgenden Abende Bertram sie bei seinem Weggange aus dem Kaufmannsladen zweifelnd ansah, winkte sie ihm leise, aber entschieden zu. Bei der darauffolgenden Begegnung am Platze sagte er ihr, nachdem er sie mit einem Kusse, der nicht bloß geduldet, sondern, wenn auch etwas schüchtern, erwidert wurde, begrüßt hatte, nach ihren gestrigen Worten habe er fast gefürchtet, sie würde nicht mehr zum Stelldichein kommen. Karoline fand es etwas ungeschickt, daß er nicht in der Gestattung des Kusses den Widerruf der vorhergegangenen Worte herausgefühlt habe, und antwortete damit, daß sie sich näher an ihn schmiegte. Ihr Lächeln konnte er in der Dunkelheit nicht sehen.

Der September nahte seinem Ende, und stürmische, regnerische Tage kamen. Trotz des häßlichen Wetters wollte das Paar nicht von den abendlichen Spaziergängen lassen. Unter dem Regenschirm aneinandergeschmiegt, trotzten sie dem Sturme, der durch die Straßen pfiff und sogar das Reden erschwerte. Bertrams großer Bart wehte Karoline ins Gesicht, sie mußte sich fest an dem starken Mann halten, wenn an den Ecken der Wind ihnen gerade entgegenblies und die Kleider um die Beine wirbelte, daß kaum weiterzugehen war. Nach einem zweimaligen Versuche mußten sie aber dem Unwetter nachgeben. Es war doch ein geringes Vergnügen so, mit Sturm und Regen sich abzukämpfen, ohne daß man zu einem ordentlichen Worte kam. Karoline hätte vielleicht noch ausgehalten, denn so dicht an den Geliebten sich zu schmiegen, hatte einen zweifellosen Reiz, und wenn ihr der Bart ins Gesicht wehte, den Bertram dann einfing, so war das eher spaßhaft als lästig. Dieser aber schien empfindlicher gegen die Witterung zu sein, denn er fand es am dritten Abende ganz unmöglich, solchem Wetter zu trotzen, und meinte besorgt, Karoline könne sich dabei einen Schaden holen. Sie war nun nicht so bange um ihre Gesundheit, aber Bertram sprach sich so entschieden aus, daß sie nicht den Mut hatte, ihm zu widersprechen. Sie fühlte heraus, daß es nicht nur Besorgnis um ihre Gesundheit war, was ihn leitete, und nahm zum erstenmal Gelegenheit darüber nachzudenken, daß Männer doch nie so innig lieben, wie Mädchen, und daß eine kleine Unbequemlichkeit schon ihre Selbstsucht weckt. Ein weiterer Umstand erschwerte noch den Verkehr der beiden. Wie immer, machte sich auch jetzt der Einfluß der Witterung auf das Befinden der alten Frau Pauer geltend. Die gelähmte Seite wurde so empfindlich, daß jede unbedachte Bewegung heftige Schmerzen erzeugte. Sie konnte selbst dann, wenn Karoline sie kräftig unter den Achseln stützte, nur langsam vom Schlafzimmer in die Wohnstube gehen und mußte beim Niedersitzen in den großen Lehnstuhl und beim Aufstehen die größte Vorsicht anwenden. Aber auch während des Stillsitzens empfand sie zeitweilig die heftigsten Schmerzen, ließ sich dann auf das Sofa betten, um auch in dieser Lage nicht lange auszuharren. Zugleich wurde sie noch tauber als sonst. Unter solchen Umständen konnte sie die Tochter nie lange missen, diese mußte vielmehr ihre Besorgungen möglichst beschleunigen. So konnte sie sich nur wenige Minuten beim Kaufmann aufhalten und ließ es dann geschehen, daß Bertram sie durch die Straße bis nahe an ihr Haus begleitete. Um wenigstens einige Worte mit ihm ohne Zeugen wechseln zu können, hatte sie, in der Annahme, daß bei dem schlechten Wetter doch die Gefahr geringer sei, dieses bisher ängstlich gemiedene Wagnis auf sich genommen.

Es war ein recht kärglicher Überrest des früheren angenehmen Verkehrs. Auch Bertram beklagte sich bitter über die Veränderung und offenbarte, als dieser Zustand länger andauerte, eine wachsende Ungeduld. Seinen wiederholten Einladungen, sie zum Besuche einer nicht weit entfernten Konditorei zu bewegen, setzte Karoline aus Besorgnis, der hülflosen Mutter könne indessen etwas zustoßen, einen so unerschütterlichen Widerstand entgegen, daß er die Aufforderungen schließlich unterließ. Sie bemerkte nicht, daß diese Hindernisse und Erschwerungen seine Leidenschaft erhöhten, sondern wurde allmählich nachdenklich darüber, warum er nicht den einfachsten Schritt that und sie in der Wohnung besuchte. Sie hatte ihm mit absichtsvoller Deutlichkeit erklärt, daß die Mutter nicht bettlägerig sei, nur aufmerksamer Wartung bedürfe und sich immer im Wohnzimmer aufhalte, auch nur zeitweilig von schmerzhaften Anfällen heimgesucht werde; ja sogar den Umstand der vermehrten Schwerhörigkeit hatte sie in solcher Weise erwähnt, daß er daraus hätte entnehmen können, einer Zwiesprache würde kein Zwang auferlegt werden.

Seine völlige Nichtachtung dieser Hinweise, die noch mehr zu verdeutlichen ihrem Zartgefühl widerstrebte, verletzte sie und brachte sie auf ängstliche Gedanken, er betrachte jene abendlichen Stelldichein und Straßenpromenaden nicht als einen Übergangszustand, eine Anknüpfung, sondern als etwas, dessen Dauer ihm wünschenswert schien. In solchem Lichte betrachtet, dünkte ihr, was sie früher als höchsten Genuß angesehen hatte, häßlich, beschämend. Sie fühlte sich erniedrigt, da sie sich unwillkürlich mit den Dienstmädchen verglich, die vor den Hausthüren ihre Liebhaber erwarten, ein Vergleich, der ihr früher gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Ihre Beängstigung wurde aber zur rechten Zeit in gründlichster Weise beseitigt.

Eines Abends teilte ihr Bertram mit, daß er, wie alljährlich, auf acht bis zehn Tage nach Hamburg reisen müsse, um dem Hause, dessen Agent er war, aufzuwarten und mündliche Erörterungen mit ihm zu pflegen.

»Wenn ich zurückkomme, liebes Karolinchen«, sagte er beim Abschied, »wollen wir ein ernstes Wort miteinander reden!«


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