Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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Reisebriefe aus Galizien, Polen und Rußland

1912

Hamburg, 23. 4. 1912

Liebe Frau N.!

Ich schicke Ihnen beiliegend meinen Paß, der durch die mißlungene Bemühung, ihn zu visieren, für mich vollständig vernichtet ist. Ich muß Sie also bitten, mir einen überhaupt neuen Paß zu verschaffen, denn wo immer ich hinreise, muß ich ein Legitimationspapier bei mir haben. –

Ich bitte Sie nun, aufs österreichische Konsulat zu gehen und zu versuchen, ob es ohne meine persönliche Anwesenheit geht – sonst kann Ihnen die Intervention des Herrn Sch. – die ich natürlich nicht gern in Anspruch nehme – nützen.

Diese echt russische Liebenswürdigkeit habe ich erst hier entdeckt, also war alles, was man von Telegraphieren und Bemühen schrieb, einfach gelogen.

Und da sollen die armen Juden nicht lügen, wenn sie doch leben wollen, ein Recht, das man dem Vieh einräumt.

Lassen Sie diese Mitteilung meinen ersten Rundreisebrief sein, und ich füge darum eine entsprechende Anzahl Grüße bei, die für alle reichen.

Mit Gruß und Dank

Ihre Bertha Pappenheim.

Hamburg, 26. 4. 1912
Hotel Reichshof

Liebe Frau H.!

Die Sonne scheint hier auch wundervoll, wie ich sie in Hamburg noch nie scheinen sah, aber sie macht keine so schelmischen Lichtspiele, wie die, von der Sie mir aus Frankfurt berichten. Das hängt natürlich von den Augen ab, mit denen man die Dinge betrachtet, und schelmisch brauchen die meinigen selbst bei ganz großen Ansprüchen nicht mehr zu sehen! –

Gestern abend hatte ich einen Vortrag in der Loge, d.h. im Logenhaus von irgend welchem Jugendverein sehr hübsch arrangiert. Man war zufrieden mit dem, was ich sagte. Eine Dame sagte mir nachher etwas Freundliches, oder besser wollte etwas Freundliches sagen, indem sie bemerkte »man muß doch in der Stadt, in der Sie ständig leben, froh sein, daß man Sie in der sozialen Arbeit als Beraterin hat«. Ich lehnte natürlich mit »aller Bescheidenheit« ab, wobei mir tatsächlich, wie einem Kind, die Tränen in die Gurgel sprangen. Sie ahnen nicht, wie der Frauenverein hier zu arbeiten imstande ist, wie selbstverständlich die Frauen über reiche Geldmittel für Erziehung, Unterstützung, überhaupt alle Gebiete sozialer Arbeit ausgestattet sind, und wie man sie zum Guten gewähren läßt. Die Gemeinde hat viele weitblickende Mitglieder. Es kann sein, daß die Großzügigkeit des Geschäftslebens sich, wie in der ganzen Stadt, so auch in der jüdischen Gemeinde ausdrückt. Frankfurt erscheint mir, trotzdem es süddeutsch und mir darum in seiner völkischen Art sympathischer ist, Berlin und Hamburg gegenüber doch recht rückläufig. Ich hoffe, daß diese Bemerkung, die ich in meinen Reisenotizen nicht unterdrücken darf, den echten Frankfurtern nicht allzu weh tut. Nützen wird sie natürlich nichts. –

In der Anlage sehen Sie das als Kunstwerk sehr schöne und würdige Heine-DenkmalMit Heine ist B. Pappenheim über die gemeinsame Vorfahrin Glückel von Hameln verwandt, das an die Wand gedrückt, und in eine Ecke der Stadt geschoben, doppelt charakteristisch wirkt. Der Elbtunnel ist wundervoll.

Mit herzlichen Grüßen Ihrer Aller
Bertha Pappenheim.

Hamburg, 27. 4. 1912
Hotel Reichshof

Liebe Frau C! Da Sie an meinen Rundreisebriefen teilnehmen, so wissen Sie, daß und warum ich hier nicht ohne Sorgen festsitze, und ich will darüber nicht weiter sprechen.

Grund meines heutigen Schreibens ist, außer angeborener Liebenswürdigkeit, die Idee des jüdischen Volksliederabends. Ich finde sie natürlich auch gut, habe aber aus Frau N.s Brief nicht recht verstanden, was er mit oder zu der Alliance für Beziehungen haben sollte oder nicht haben sollte. Ich weiß, daß L.W. ein etwas zionistisch angehauchter, nicht in den Schuhen ältester Kultur, oder besser gesagt, in bester Kinderstube aufgewachsen ist. Persönlich kenne ich ihn gar nicht. Sollte er also Vorschriften oder Bedingungen stellen, die uns sowohl als Bund oder Verein oder Einzelperson zu etwas verpflichten wollten, pro oder contra Alliance, dann können wir auf den Plan nicht eingehen. Jedenfalls muß alles vorher klar stipuliert sein, damit wir keine Unannehmlichkeiten haben. –

28.4.

Ueber die Art der sozialen Arbeit seitens des hiesigen Frauenvereins könnte ich viel Beneidenswertes erzählen, vor allem daß wirklich nur Würdigkeit und Bedürftigkeit und keine persönliche Protektion entscheidende Faktoren sind. So hat der Frauenverein ein eigenes Erholungsheim, in das in 4 Gruppen je 4 Wochen immer 34 Kinder und junge Mädchen eingewiesen werden. In die erste Gruppe vom 12. Mai an Mütter mit Kindern! Das ist doch schön. Die Sparkassen in den Häusern ergeben ungefähr 6000 Mark, die dem Frauenverein zur freien Verfügung zufließen. Der Frauenverein arbeitet ohne jede Aengstlichkeit mit dem Spital, und wer krank ist, einerlei welcher Nationalität, wird aufgenommen. Auch das Waisenhaus ist eine Institution, die vom Frauenverein benutzt wird, und Geld gibt es für alles, das vernünftig ist. Sicherlich sind hier auch Dinge verbesserungsmöglich, aber man hat doch die Augen, die Herzen und die Hände offen. – Schwierigkeiten machen die Zionisten, die Hader und Zwietracht in die Gemeinde bringen und besonders die Jugend verhetzen ...

Breslau, 1. 5. 1912
Hotel Vier Jahreszeiten

Liebe Frau Oe.!

Durch meine Rundschreiben wissen Sie, daß ich eine nicht ganz sorgenfreie Zeit hinter mir habe, und trotzdem ich in Hamburg eigentlich nichts zu tun hatte, habe ich eine große Hauptsache vergessen, nämlich mich mit dem Häuptling des Verbandes der Exporteure in Verbindung zu setzen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß es nicht viel genützt hätte. Hier habe ich wenig Reelles getan: eine Sitzung des Ortsgruppenvorstandes war das Einzige, und es wird Sie weniger als die anderen Abonnenten interessieren, daß die Arbeit der Stellenvermittlung hier durch die Loge gar nicht vorankommt. Sie macht es nicht ordentlich (4 Vermittlungen in einem Jahr), aber sie läßt auch andere Frauen oder Vereine nicht zu. Die Breslauer Frauen wollen den nächsten Bundesdelegiertentag in ihrer Stadt empfangen, da im Jahre 1913 hier irgend eine große Feier gefeiert wird. »An mein Volk« von Friedrich d.Gr. usw.

Es wird eine historische Ausstellung gemacht, ein Juxplatz, Kongresse und alles, was heute zu so was gehört ...

Schwester Henriette Arndtdie erste weibliche Polizistin war hier; sie hat in der Umgegend und hier Vorträge gehalten und will zwei Kinder á Mark 3. gekauft haben. Merkwürdig ist nur, daß ihr zwischen Königsberg, Hamburg, Berlin, Breslau usw. keine Gemeinde oder Fürsorge-Anstalt die Kinder abgenommen hat! Und überhaupt. –

Ueber das, was ich in Rußland will, habe ich mir noch kein klares Bild gemacht; ich denke, ich werde mich ein bißchen »umsehen« und versuchen, die Gutsituierten etwas aufzuwecken, daß sie nicht nur traditionell, sondern rationell arbeiten. Ob ich Sonja finden werde?

Wenn mein Paß dem ersten Zöllner nicht gefällt, dann muß ich eben wieder umkehren. Vom Mädchenhandel-Komitee in Berlin habe ich eine sehr gute Einführung an Behörden bekommen, aber ich weiß nicht, ob es nicht gefährlicher ist, sie vorzuzeigen, als sie still auf dem Busen zu bewahren.

Seit Hamburg betrachte ich mich täglich im Spiegel, ob ich jüdisch genug aussehe, um dem Kaiser von Rußland zu gefallen. Wenn ich nächstes Jahr nach Amerika gehe, werde ich diese Sorgen nicht haben. Wer geht mit? ...

Es ist interessant, daß ich hier hörte, der neue Hospitalverwalter für das Frankfurter Krankenhaus sei sehr »schneidig«. In gewissem Sinne und zur Abwechslung ist das ja ganz gut.

Aber er soll es auch zur Bedingung gemacht haben, mit keiner Oberin zu arbeiten. Wenn das wahr ist, dann bedeutet das einen bedauerlichen Rückschritt für die jüdische Gemeinde Frankfurts. Die nächste Folge wird ein qualitativer Rückgang des Schwesternmaterials sein. Die besten Schulen für Krankenpflege waren bisher Hamburg und Frankfurt, wo die Ausbildung bisher unter Mitwirkung einer Frau geschah. Wenn die Oberin nur Haushälterin im Schwesternhaus wird, dann muß das Niveau der Schwestern sinken. Wenn die Schwestern gescheit sind, streiken sie.

Ich begreife die Leitung des Frankfurter Vereins nicht, der so stolz auf seine qualitativen Unterschiede gegen andere Vereine ist, – nämlich die, in denen Schule und Schwesternhaus-Ausbildung und Leben getrennt sind. – Ich bitte diese Notiz als rein vertraulich und wie vieles in meinen Briefen als eine Art Selbstgespräch zu betrachten, Tagebuchaufzeichnungen über die ich nicht gesprochen – nur ab und zu gedacht haben möchte!

Ich bin so neugierig, ob ich über die Grenze komme.

Mit herzlichem Gruß Ihre

Bertha Pappenheim.

Lodz, 3. 5. 1912

Liebe Frau F.!

Die Erfindung der Rundreisebriefe ist wirklich eine gute, sie ist eine Art Lösung des Persönlich-Unpersönlichen, ein Kunststück, das man für unausführbar gehalten hat. Ich bin mit diesem Modus der Mitteilung sehr zufrieden und meine Abonnenten sind es auch ...

An der Grenze hatte ich gestern keine Schwierigkeiten. Mein Nachthemd wurde beanstandet, glücklicherweise zeigte es sich am Kragen, daß es nicht »neu« war. Für meine liebe, alte Lederdecke sollte ich per Pfund 4 Rubel bezahlen, aber ich konnte doch einem älteren Herrn Zollbeamten klar machen, daß sie mich seit mindestens zehn Jahren treu auf allen Reisen begleitet, und so durfte ich sie wiederhaben, trotzdem sie wie neu, d.h. sauber ist.

In der Eisenbahn wurden, wie hier immer, als es dunkelte, kleine Kerzen angezündet. Wenn die Tage kürzer sind, müssen sich die Reisenden selbst an den Bahnhofbüffets Kerzen kaufen, wenn sie – wenn die Staatskerzen herunter gebrannt sind – nicht im Dunkeln sitzen wollen. Einem Mitreisenden kommt das sehr gefährlich vor. Ob er deshalb einen Stockdegen bei sich führt?

Das Grand Hotel ist sehr gut und ganz neu und sauber in allen Einrichtungen, sogar Lift.

Frl. L. wird mir auf meinem Lebensweg wenig helfen können, aber ich ihr auf dem ihrigen auch nicht. Sie war aber sehr freundlich, behilflich zu telephonieren, Adressen zu finden usw. Ein langes Gespräch hatte ich dann mit Frau H., Freundin von Frau L. Sie glauben nicht, wie schwer es ist, Menschen die Notwendigkeit sozialer Arbeit an Individuen aus allgemeinen Gründen klar zu machen ...

4.5.

Interessieren wird Sie nur noch, daß ich Sonja für gestern Abend zu Frau H. zu bestellen versuchte, natürlich ohne mich zu nennen. Sie kam nicht, was natürlich nichts bedeutet, weder für noch gegen sie. Doch sind alle Weisen dahin einig, daß, wenn sie gewollt hätte, sie irgendeine Arbeit hätte finden können. Lodz hat 130 000 jüdische Einwohner, und viele große Fabrikbetriebe, Webereien, die Tausende von weiblichen Kräften beschäftigen. Ich werde Sonja heute aufsuchen.

Herzlichst Ihre Bertha Pappenheim.

Lodz, 4. 5. 1912 Liebe Frau N.!

Wenn ich gestern sagte, daß ich noch nicht wüßte, was ich hier zu tun habe, so weiß ich es heute: veranlassen, daß sich eine Kinder- und Mädchenschutzliga bildet. Die Notwendigkeit ist allen klar, Versuche, Anfänge sind da, aber vielleicht kann ich die äußere Veranlassung der Zusammenfassung werden. Frau H. ist sehr nett, klug und wohlwollend, aber doch nicht von der fest und beharrlich zufassenden Art der Frau L.; So scheint es mir. –

Das erste, was sie mir erzählte, und was hier bekannt ist, ist die Tatsache, daß in einer Konditorei (von einem Deutschen M. geführt), die hart an einem Eislaufplatz gelegen ist, im Winter 20-40 Kinder in schändlichster Weise mißbraucht worden sind. Der Betrieb soll aber schon mehrere Jahre dauern! Die Sache ist dadurch ruchbar geworden, daß ein Kind einem Herrn eine Brillantnadel gestohlen hatte. Dieses Vergehen hat er zur Anzeige gebracht, der Ehrenmann; – an den anderen, an denen er sich beteiligte, scheint er nichts Anstößiges gefunden zu haben.

Ferner erzählte mir Frau H., daß ihr Dienstmädchen schon mit 12 anderen von einem Agenten für ein Varieté angeworben war, sie vermutete mit vollem Recht Mädchenhandel, bekümmerte sich um ihr Mädchen, die zurückblieb – alles andere ließ sie gehen. Ich glaube, daß ich sie davon überzeugte, daß sie ein andermal weitergehend zu verfahren habe!!!–

Mein erster Besuch galt Dr. B., Rabbiner und Prediger der nicht chassidischen Juden, glühender Zionist, Sohn des Rabbiners in Lemberg. Seine Frau ist die Schwester von M. B. Er soll ein anständiger und von seiner Sache überzeugter Mensch sein und hat mir nicht den unsympatischen Eindruck gemacht, den ich erwartete. Besonders wenn man von allgemeinen Dingen spricht, scheint er vernünftig. Die kleine hübsche Frau ist viel rabbiater in ihrer Idee. Sie »wirkt« für den Palästina-Verein ohne jede Fachkenntnis. Der chassidische Rabbiner Maisei ist am 1. Mai hier unter großem Menschenzudrang begraben worden, was ich, da ich das Ereignis zu sehen versäumte, im Kinematographen noch im Bilde an mir vorübergleiten lassen kann.

B. klagt darüber, daß die jüdischen Vereine und Wohlfahrtseinrichtungen alle in kleine Unternehmungen zersplittert sind, daß das Sachliche unter dem Persönlichen leide – und was sonst der allbekannten Klagen sind.

Wichtig ist, daß man beginnt, dem jüdischen Arbeiter in den großen Fabrikbetrieben Arbeitsmöglichkeit zu geben. Bisher haben große Betriebe, auch jüdische Unternehmer. Keinen jüdischen Arbeiter genommen, unter der allgemeinen Begründung der Disziplinlosigkeit, schlechterer Arbeit etc. B. sagte mir aber, daß seit der Revolution und durch die allgemeine Schulung durch die Sozialdemokratie, besonders aber durch den Einfluß der jüdischen Presse der jüdische Arbeiter auch besser und brauchbarer geworden sei. Bisher konnten sie durch Heimarbeit an Handwebestühlen für sich arbeiten. Die Einführung von Zentral-Kraftbetrieb vernichtet die kleinen Betriebe, und darum besteht nun das Bemühen, den jüdischen Arbeiter in diese großen Betriebe einzuführen. Herr H. erzählte mir, daß er eine kleine Fabrik mit nur jüdischen Arbeitern habe, allerdings unter einem christlichen Werkmeister, um Willkürlichkeiten zu vermeiden. Es wird dort im Akkord gearbeitet, und wenn sie fleißig sind, können die jüdischen Arbeiter so viel verdienen, ohne Samstag zu arbeiten, wie die christlichen. Der russisch-jüdische Arbeiter ist nicht mehr sehr fromm.

Dr. B. ist natürlich sehr für Rückkehr zur Scholle, aber Frau H. erzählte mir, daß ein Dr. G. hier eine Gartenbau- und landwirtschaftliche Schule gegründet habe, die dadurch ihr Ende gefunden habe, daß die Schüler fortgelaufen waren ...

Das Straßenbild in Bezug auf die jüdischen weiblichen Einwohner ist entsetzlich. Verkommenheit, Genußsucht, auffallende, in Form und Farbe und Mode übertriebene Geschmacklosigkeit, lässige, lachende Verdorbenheit sieht man schon bei kleinen Mädchen. Kein Wunder allerdings, da es keine Schule, keinen Unterricht, keine religiöse oder andere Beeinflussung oder Erziehung gibt.

Ich war heute vormittag bei Frau B., einer Deutschen, die weiß und versteht, was ich will. Sie ist sehr einflußreich und wird hoffentlich das Ihre zur Verwirklichung der Liga beitragen.

Sie pflichtet meiner Ansicht bei, daß in den seltensten Fällen nur Not die Ursache zur Prostitution sei. Sie nannte mir ein an der galizisch-russischen Grenze liegendes Gouvernement, in dem die Juden tatsächlich ihre Kinder verkaufen ohne im mindesten Bedenken zu haben.

Ferner sagte sie mir – sie ist durch langjährige soziale Arbeit eine vorzügliche Kennerin der Lodzer Verhältnisse geworden – daß der große Unterschied der christlichen und der jüdischen Mädchen darin bestehe, daß kaum ein christliches Mädchen rein in die Ehe gehe, daß es ihr aber in der Heiratsmöglichkeit nicht schade, vor der Ehe ein Kind gehabt zu haben, und es gibt auch viele uneheliche christliche Kinder. Von den jüdischen Mädchen, sagte sie, bleiben viele ordentlich bis zur Ehe. Aber da ein »Fehltritt« bei den Juden ein Makel ist, der eine Ehe unmöglich macht, so gibt es trotz der unzähligen vorehelichen Verfehlungen keine unehelichen jüdischen Kinder. Hebammen und Aerzte und Kurpfuscherinnen helfen das keimende Leben und auch das geborene Kind zu vernichten. So wird das, was in der jüdischen Ethik gut gedacht ist, zur Karrikatur ihrer selbst, und die bäuerliche Sitte, die sittenlos genannt wird, erscheint als die höhere Sittlichkeit. Ich habe auch einen sehr reichen Chassid, Herrn T. und dessen Frau besucht. Es ist mir als Fortschritt gegen den Anfang meiner Missionsreisen aufgefallen, daß auch diese Kategorie die Verhältnisse und die Dinge nicht mehr leugnen.

Frau T. will sogar Geld geben, wenn eine Liga zustande kommt!?

Sie können sich denken, wie anders ich mit Frau T. als mit Frau B. reden konnte!

Nach Verabredung mit Frau B. war ich dann beim Pastor G., der erste hier, der mich fragte, ob ich evangelisch sei. Natürlich bekannte ich mich zu meiner Fahne. Er erzählte mir, daß das Verhalten der Juden hier in neuester Zeit einen großen Antisemitismus erzeuge. Er sprach von besonderer Abschliessung, und ich glaube, er meinte die zionistische Separation. Er selbst sei nicht voreingenommen und habe in diesen Tagen seiner Kirchgemeinde vorgeschlagen, einen Condolenzbrief an die jüdische Gemeinde gelegentlich des Todes ihres Rabbiners zu schreiben, sein Antrag sei aber abgelehnt worden. Er will mir Montag Empfehlungen nach Warschau mitgeben, und ich werde dann wohl auf dem Rückweg wieder hierher kommen müssen, um meine Bemühungen nicht in Nichts zerrinnen zu lassen.

Gestern abend war ich noch im jüdischen Theater und habe ein Rührstück Kauach ahawo, Die Kraft der Liebe gesehen, aber ich ging fort, bevor sie im 5. Akt siegte. Da es Freitag Abend war, war das Theater sehr leer, um so amüsanter waren einzelne Gruppen unter den Zuschauern.

Ich schließe diesen Bericht, und ein nächster folgt, sobald ich wieder dazu komme weiter zu schreiben.

Heute noch Sherlock Holmes mit Ferd. Bonn.

Herzliche Grüße an alle Abonnentinnen! Ihre

Bertha Pappenheim.

Lodz, 6.5.1912.

Liebe Frau N.!

Mein Rundreisebrief an Frl. N. ist mir eben vom Hotelportier wiedergegeben worden, weil heute »Galatag« ist, einer der unzähligen Feiertage, an denen die Post geschlossen ist. Ich werde ihn also morgen in Warschau aufgeben, vielleicht mit dem vorliegenden Brief zusammen.

Sachlich habe ich ganz viel zu notieren, und ich hoffe nur nichts zu vergessen!

Gestern sah ich die Talmudthora, eine Schule, die nur so heißt, aber nicht mehr in der Bedeutung des Wortes eine ist. Sie ist eine Volksschule, die von etwa 1000 Knaben besucht wird, von denen einige 100 die »Handwerkerschule« besuchen.

An Handwerken wird nur Schlosserei, Weberei und Elektrotechnik gelehrt. Die Tischlerei ist eingegangen. Leiter der Schule ist Herr Sch. (unangenehmen Eindruck), Ingenieur K., der sehr tüchtig sein soll (glühender Zionist, sehr kränklich), und ein Herr N. Ich habe viele Maschinen-Webestühle und Unterrichtssäle leer gesehen; die Schmiede ganz stumm. Ich weiß nicht, was die Schule leistet; sie macht im ganzen einen guten Eindruck. Die Baulichkeiten (Lehrmittelsammlung von der Familie Prussia) sind groß und weit, und auf eine Stiftung der Familie I. zurückzuführen. Besonders schön ist die Badeeinrichtung mit Brausebädern. 300 Kinder bekommen täglich Suppe und Brot. Die Schule hat ein Jahresbudget von 45 000 Rubel zu dem die JCA 8500 Rubel beiträgt. Es unterrichten zwei weibliche Lehrkräfte, die den Lehrern gleich bezahlt sind, und von 700-1200 Rubel jährlich verdienen. Lebensmittel und Wohnungen sind nicht teuer. Milch 20 Pfg. per Liter, Fleisch 40 Kop. per Pfd. Auf vielfaches Befragen, was die JCA sonst tue, hörte ich immer »Auswandererberatung«. Als Leiter des Bureaus und Vertrauensmann der JCA wurde mir immer wieder Dr. A. genannt, aber außer der JCA scheint er niemandes Vertrauensmann zu sein. Da er Hautarzt ist und mir sonst allerlei erzählen könnte, habe ich auch eben noch versucht, ihn zu treffen, aber umsonst. Ich muß mir seine Bekanntschaft zu machen für die Rückreise aufbewahren. Ich werde nämlich nach Warschau nochmals hierher kommen müssen, um im Anschluß an die große Stadt, die schon eine Liga haben soll, hier ein Kinder- und Mädchenschutzkomitee anzuregen. Frau Dr. A., die telephonisch nur halb wußte, was ich will, erzählte mir – was ich auch sonst hörte – irgendeine Großfürstin habe ein Komitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Lodz anregen wollen, die JCA sei um Mitarbeit angegangen worden, was als Auswanderbureau doch selbstverständlich ist, sie habe aber abgelehnt!!!

Auch die Waisenhäuser Kipper-Gutentag, die Ochrona für 700 Mädchen (die einzigen Institutionen, die sich mit Mädchen beschäftigen) und das Spital will ich erst auf dem Rückweg sehen.

Dagegen war ich gestern mit Frau B. in Alexandrow beim Wunder-Rabbi. Es war ein in 1000 Einzelheiten ganz besonders interessanter Besuch. Frau B. ist eine Deutsche aus Schlesien und eine – besonders da sie noch ganz orthodox lebt – in allen Kreisen sehr angesehene Frau. Es war sehr zweifelhaft, ob der Rabbi uns überhaupt empfangen würde. Aber da eine Frau D., die aber gar nicht so heißt, in dem Hause der Frau B. wohnt und die Schwester des Rebben ist, so übernahm sie die Einführung.

Diese Frau ist die leibhaftige, lebendige Glückel von Hameln,Vorfahrin Bertha Pappenheims, die im 17. Jhd., nach dem Tode ihres Mannes ihre 12 Kinder alleine aufzog, alle gut verheiratete und am Ende ihres Lebens für ihre Kinder ihre Autobiographie schrieb, die erste Biographie einer Frau und Jüdin im deutschen Sprachraum, von B. Pappenheim 1910 übersetzt und was und wie sie spricht und erzählt, ihre Gläubigkeit, ihr gesunder Menschenverstand, ihre Naivität, alles ist wundervoll. Ich hoffe, ich habe die Geschichte behalten, die sie, in Parallele zur Geschichte der Aussetzung Moses, erzählte. Da sie sicher eine halbe Stunde daran erzählte, kann ich sie schriftlich nicht wiederholen. Natürlich fragte sie mich nach meinen Geschäften. Und als ich ihr sagte, was ich unterwegs bezwecke, erfaßte sie alles mit ungeheuerer Schnelligkeit. Dann sah sie mich mit bedenklich hinaufgezogenen Brauen an, und sagte: »Eine Schwalbe, die das JamMeer ausschöpfen will? – da kann nur Rebaun schel aulomSchöpfer der Welt helfen, aber as es in großer Reinigkeit zu Rebaun schel aulom's Ehre geschieht wird er helfen und der Rebbe, mein Bruder – er soll leben – wird Sie mazliachwird Ihnen gerne helfen können sein.« Ist das nicht ganz Glückel? Und wie sie uns ihrer »getreuen herzlichen Schwägerin und Rebbizen« vorstellte! Dann erklärte ich ihr, was Frauenbewegung sei, und gleich erzählte sie mir, wie sie in ihrer Art auch mit den jungen Weibern redet, und gar oft mit den Männern! –

Und das uneheliche Kind und der Mamserjidd: uneheliches Kind und vieles andere brachte ich zur Sprache, und sie konnte gar nicht genug ausspucken. Dann – nach zweistündigem Warten – Audienz beim Rebben, dem ich – er kehrte uns treulich dem Rücken – einen lebhaften Vortrag hielt. Er nannte meine Absicht eine große Mizwoh und will alles zur Warnung in seinen Kreisen tun, ich soll aber alles, was ich ihm gesagt hatte, aufschreiben. Und er war mich mazliach, und ich glaube, daß es gut und wichtig und richtig gewesen ist, daß ich beim »Alexandrower« war. Die Ehrfurcht vor dem Rebben ist so groß, daß in dem Haus eine absolute Stille herrscht. Nur wer diese chassidischen Juden sonst kennt, weiß, was das bedeutet.

Lodz-Warschau

Ich schreibe die Fortsetzung meines Berichtes in der Eisenbahn und will, da ich weiß, daß ich auf das Verständnis meiner Abonnenten stoße, anführen, daß ich in meinem Coupé II. Cl. sitze, gegen meine bessere Ueberzeugung. Aber ich wurde von ernsthafter Seite darauf aufmerksam gemacht, daß z.B. durch Staub und Trockenheit noch mehr als sonst, allerlei Epidemien im Lande herrschen, und da sei es vernünftiger, sich nicht in den engen Pferch der III. Cl. zu begeben. Es kann unter solchen Umständen billiger sein, II. zu fahren. Uebrigens sind die Fahrten sehr billig. Auch veranlaßte mich Frau H., im Theater nicht auf die Galerie zu gehen, weil Theater leicht und oft abbrennen, und dann ist von der Galerie kaum eine Rettung möglich. Sie sehen, ich wartete gar nicht, bis Frau D. mir empfahl mein »teuer Leben zu hüten«. Die Fahrt im offenen Wagen war mir den steifen Hals von heute wert.

Dann war ich heute nochmals beim Pastor G., sprach dort mit einer protestantischen Lehrerin, Frl. C.L., Konstantinstr. 40 II., Vorsitzende des Jungfrauen-Vereins, verband sie durch einen Brief mit Paula Müller, sowie ich den Pastor mit dem Nationalkomitee verband, und ging dann auf Anregung des Pastor auf die Redaktion der Jargonzeitung Lodzer Tageblatt. Zuerst ließ ich mir die Versicherung geben, daß ich ganz privat da sei, und dann gab es ein langes, und wie ich glaube, gut wirkendes Gespräch. Der Redakteur – ich konnte seinen Namen nicht verstehen – gefiel mir, bis auf seinen Stockschnupfen, ganz gut.

Von der Gastfreundlichkeit der Polen kann man sich keinen Begriff machen. Frau H. konnte gar nicht begreifen, daß ich im Hotel wohnen blieb und nicht alle Mahlzeiten in ihrem Hause einnahm. Es gibt auch einen Herrn H., der im Gegensatz zu vielen sehr klar weiß, was Recht und Unrecht ist und seinem Rufe nach auch danach lebt.

Pastor G. sagte mir, daß auch das Grand Hotel eine »Lasterhöhle« sei, ihm selbst sei vor einigen Jahren dort ein deutsches Mädchen abhanden gekommen.

1 Uhr Abend, Warschau Hotel Bristol

Warschau ist eine alte Stadt. Ob man wohl müffeln kann?Ausdruck B.P.'s für Spitzensammeln Mein Ohr klingt. Rechts – schlechts! Sollte mir der Kutscher fluchen, auf dessen Bahnfahrtsmogelei ich nicht hereinfiel, oder andere, alte Freunde?

Fortsetzung folgt!

Ihre Bertha Pappenheim.

Lodz, 6. 5. 1912 Sonntag, 10 Uhr Abends, Grand Hotel

Liebes Müllerchen!

Vielen Dank für Ihre lieben Zeilen. Ich habe so viel Schreibstoff für Sie aufbewahrt – Sie wissen schon das Aesthetische und Literarische aus meinen Notizen! – aber es bleibt tagsüber wenig Zeit zu Mitteilungen. Nur um meinen Vorsatz, Ihnen heute sicher zu schreiben, nicht wieder zuschanden werden zu lassen, fange ich meinen Brief an Sie, wenigstens noch zu nachtschlafender Zeit an, wobei ich gleich das Geständnis hinzufügen will, daß ich meinen Vorsatz, morgens tunlichst spät aufzustehen, auch mit großer Treue durchführe. Ich entschuldige mich dieserhalb bei mir selbst, indem ich mir sage, daß ich unterwegs weder pädagogisch noch hausfraulich zu sein brauche, und das ist eine wahre Wonne. –

Die Klubnachrichten haben mich alle sehr interessiert, und ich freue mich, daß L. C. bei der Bibliothek hilft, das ist ein sehr guter und gesunder Anfang sozialer Arbeit für sie, und es ist sehr gut, daß Frau C. sie dafür erzieht. Hoffentlich ist es kein Strohfeuer, sondern gewissenhaft und planmäßig gewollte Hilfsarbeit. Wie gut haben es doch die heutigen Mädchen! Wenn ich an mich in diesem Alter denke – und wie man mir heute noch Steine in den Weg wirft, um das Selbstverständlich meines Weges zu verhindern. Schwamm drüber ...

6.5.

Ich glaube, daß ich mit meinem letzten Brief bei Ferd. Bonn und Sherlock Holms aufgehört habe. Ich mußte eben nach Lodz kommen, um diese Lücke in meiner Bildung auszufüllen. Der große Geiger unter den Schauspielern hat mir gefallen, aber der Schriftsteller unter den Geigern ist ein armseliger Komödiant. Das Publikum war fasciniert. Ich weiß nicht ob Bonn ein Jude ist, wie er aussieht, konnte ich mit meinen unbewaffneten Augen nicht sehen, aber mein Ohr ließ mich manchmal einen leisen Mauschelton erkennen. Allerdings habe ich seinen Paß nicht zu kontrollieren.

Indessen habe ich hier Bilder von einem Maler V. M. gesehen; der in Offenbach Lilistr. 1 wohnt. Als ich den Namen hörte, fiel mir ein, daß ich ihn – den Namen – schon kenne und zwar in dem Zusammenhang, daß sein Bruder ein Mädchen verführt oder sitzen gelassen hat. V. M. ist mit einem Mädchen, das Schneiderin ist, verlobt. Die Familie, ich weiß nicht, aus was sie sonst besteht, ernährt sich durch Zigaretten-Arbeit, und auch V. M. arbeitet mit, da er von seiner Malerei nicht leben kann. ln Frankfurt habe ich von seinen Bildern nie etwas gesehen, aber hier war ich überrascht, bei Frau H. eine wundervolle Kopie des Städelbildes der Frau, die das Kelchglas angesetzt hat, um zu trinken, und einen Steinkrug im Schoß hat, zu finden. Sie kennen das Bild, natürlich weiß ich den – Namen des Malers – so berühmt er sein mag – nicht mehr. M. soll ein unpraktischer, ungewandter, ungebildeter Mensch sein, ob sein malerisches Talent so groß ist, wie man es mir hier schildert, weiß ich nicht, und wenn mir auch die Sachen, die ich hier sah, gefallen, so ist das für seine Beurteilung nicht maßgebend. Aber vielleicht gehen Sie einmal nach Offenbach und sehen, was er tut und kann. Vielleicht ist er vorerst guter Copist und findet noch einen Grafen Schack. Alles andere überlasse ich Ihrer Fantasie und Ihrem Kunstverständnis. Die holländische Copie hat mir ganz besonders gut gefallen.

Ich wollte heute nach Warschau weiter gehen, werde aber möglicherweise noch bis morgen bleiben, um noch allerlei zu absolvieren, darüber mein nächster Brief Notizen bringt.

Nächste Woche ist hier zu Gunsten eines Tuberkolosenheims interkonfessioneller Blumentag – Heckenrosen – in den nächsten Tagen soll auch einer in Warschau sein. Von einem Kornährentag zu Gunsten einer Gegend, die von Hungersnot heimgesucht ist, habe ich auch gehört.

Mit herzlichen Grüßen an alle, besonders den Klub, Frau G. Ihre Bertha Pappenheim.

Warschau, 7. 5. 1912.

Liebe Frau H.!

Bisher habe ich von Warschau noch nichts gesehen, aber ich will, bevor ich losgehe, meine Korrespondenz besorgen.

Meine rheumatische Mahnung von gestern habe ich in einem heißen Bad abgespült und nach gut geschlafener Nacht heute die Möglichkeit erwogen, ob ich nicht nach Petersburg gehen sollte. So jung und unter so günstigen Verhältnissen komme ich vielleicht nicht mehr nach Rußland, und die Eremitage mit ihren Kunstschätzen sind eine ungeheure Anlockung für mich. Entscheidend dafür wird sein, was Frl. Marie von Evert, die ich noch nicht kenne, zu dieser Ausdehnung meiner Reise sagt. Auch über die Entfernung habe ich mir noch kein klares Bild gemacht. – Es liegt ein ganz besonderer Reiz darin, sich so frei durch die Welt treiben lassen zu können, fast planlos: each cloud has it's silver line, auch die Alleinsamkeit hat ihr Schönes.

Mit herzlichen Grüßen an alle Abonnenten Ihre Bertha Pappenheim.

Ich freue mich, daß die Kindergärtnerin einschlägt; die Jungens haben Jemanden gebraucht, der sie fest faßt, und es beruhigt mein Gewissen – der Vernachlässigung gegenüber – ein bißchen, daß ich energisch genug war, auf einer systematisch ausgebildeten Erzieherin zu bestehen.

Warschau, 8. 5. 1912

Liebe Frau N.!

Wie immer begann ich gestern meine Wanderung aufs Geratewohl und gab von meinen drei Briefen für hier einen bei Frau R. W. ab. Während an einer Seite des Treppeneingangs ein Dienstmädchen mir klar machen wollte, daß die Madame nicht zu Hause sei, hatte die Neugierde dieselbe Madame schon an die andere Türe gelockt, wo sie etwas zerlassen im Schlafrock mich sehr freundlich empfing und mir gleich telephonisch die nötigen Namen und Adressen ausfindig machte. Indessen bemächtigte sich meiner eine andre Dame in kornblumenblauen Samtschlafrock, der am Halse in einen ledernen Abgrund blicken ließ. Unaufhaltsam ergossen sich phrasenhafte Redeströme über mich, über Optimismus in der Dienstbotenfrage, Jugenderinnerungen aus dem düstern chassidischen Chortkuw – ich saß stumm und dachte nur immer darüber nach, wo ich diese großen, kalten, graublauen Augen schon gesehen, diese hohle schaurednerische Art schon gehört hatte. Endlich ich weiß nicht, wie sie heißt, aber sie ist die Schwester des Advokaten L. in Lemberg, des Schwiegersohnes des von H. Nun wußte ich alles. Sie erzählte mir von der Reinhardt-Vorstellung des Oedipus, und da sie in einem Buch, das ich unschwer als ein Konversations-Lexikon erkannte, studiert hatte, schloß sie ihre Rede an mich, das unerwartete Publikum, mit einer großen Geste und den Worten: »Sie sehen, ich habe meinen Sophokles nicht vergessen«. –

Ich ging nicht ungern. Das Dienstmädchen sollte mich an einen Wagen bringen, kaum hatte die Madame den Rücken gewendet, als sie mich am 2. Treppenabsatz schnöde verließ! –

Dann fuhr ich zu der katholischen Ochrona kobietpolnischer Verein für Frauenschutz gelber Streifen auf weißem Feld (auch unser 3spänniges Plakat war da), Mazawiecka 11, Hinterhaus. Meine Einführung von Nationalkomitee war mir sehr nützlich, und auch meine Kenntnis der Adresse von Frl. R. ließ mich beglaubigter erscheinen, und sehr bald waren wir in eifriger französischer Conversation. Ich notiere über die Schutzorganisationen, was ich gestern und heute hörte.

Eigentlich hätte die Organisation interkonfessionell sein sollen, aber besonders durch die reaktionäre Leitung des katholischen Vorsitzenden (ein polnischer Graf, der in Paris lebt), teilte sich die Arbeit sehr rasch in 3 Teile. Ich sprach die Damen S. O., Mdm. H. S., Mdm. S. R. Man erzählte mir, daß die Schutzarbeit eine ungeheuer schwere, sei, täglich kommen Leute, die über das Verschwinden von Kindern und Mädchen, bittere Klage führen, immer sind es Juden, die sie stehlen und kaufen und verführen, nie sind sie zu fassen (die niedern Polizeiorgane werden von ihnen bestochen). Es fließt die leise Klage ein, daß die Juden sich gegenseitig schützen (!), man hat kein Vertrauen zueinander, man fürchtet einander. Man getraut sich nicht einmal im Jahresbericht den wahren Sachverhalt zu schildern, aus Furcht sich die intelligenten Juden zu Feinden zu machen, dabei vergrößert sich natürlich der Groll und die Feindschaft im Herzen. Sie können sich denken, wie ich redete und versuchte die Dinge zurechtzurücken. Es scheint, daß man in diesem Büro viel guten Willen aber wenig praktische Geschicklichkeit hat. Man arbeitet ab und zu mit dem Jüdischen Büro, aber selten und ohne gegenseitiges Vertrauen. Es ist auch ein Asyl da, aber man bot mir an – es nicht sehen zu wollen. »N'est-ce pas vous vous interessez pour l'organisation mais pas pour l'asyle!«

Mir haben die Damen sehr gut gefallen, gute, vornehme Art, etwas bürokratisch, aber sicher von gutem Willen beseelt. Jedenfalls wird Seelenfang betrieben.

Ich will morgen nochmals hingehen und sehen, daß ich eine der jüdischen Damen mitnehme, um eine mir sehr nötig erscheinende Zusammenarbeit anzubahnen.

Auf meine Frage, wo ich anständig zu Mittag essen könnte, schickte man mich nach der polnisch-katholischen Haushaltungsschule, Erywanska 14, wo es für 50 Kop. ein für mich nicht zu bezwingendes Mittagessen von Suppe, zwei Fleischspeisen und Kompott oder süße Speise gibt, tadellos sauber serviert und vorzüglich zubereitet.

Ferner lernte ich auf dem Büro eine Journalistin J. T. kennen, die wie andere Leute auch meine »literarisch verarbeiteten Eindrücke« haben will. Die Menschen glauben, ich sei eine so angesehene, bedeutende Persönlichkeit, daß Zeitungen, wie die Frankfurter, das Berliner Tageblatt, Neue Freie Presse nur so danach lechzen, Artikel von mir zu bekommen. Auch nach dieser Richtung bemühte ich mich aufklärend zu wirken.

Dennoch bitte ich Sie an Frl. T. meinen Orient-Reisebericht zu schicken.

Da die Stadt und die Entfernungen groß sind und ich mich nur sehr schwer verständlich machen kann, so geht es sehr langsam, bis ich durchkomme, und ich muß auch immer mit einer Doroschka fahren, da ich mit der Trambahn gar nicht zurechtkommen könnte.

Statt des Oedipus beschloß ich gestern aufzuschreiben, was der Rebbe von Alexandrow wissen muß, eine Warnung in dem bekannten Ton, die ich auch noch jüdisch abschreibe, wobei die ungewohnte verkehrte Federhaltung so ermüdet, daß ich die 6 Seiten (deutsch) gar nicht in einem Zug übertragen konnte. –

Der Zionist S., ein von seiner Partei hochgehaltener Hebraist soll früher lebhafter Assimilant gewesen sein, bis er es auskömmlicher fand, Zionist und Nationaljude zu sein. Vielleicht war es eine innere Wandlung.

Auch hier ist bei allen ruhig denkenden Juden große Klage darüber, daß die Zionisten den Antisemitismus verschärfen und die allgemeine Lage verschlimmern.

Herzlich Ihre

Bertha Pappenheim.

Warschau, 9. 5. 1912 Hotel Bristol

Liebe Frau H.! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, mich zu dieser Reise wieder entschlossen zu haben, und sie in meiner Art zu machen. Was ich höre und sehe ist wichtig und wird es auch noch sein, wenn ich nicht mehr bin. Das soll Sie und meine lieben Töchter nicht ängstlich machen, es geht mir gesundheitlich ganz gut, ganz wie immer, aber das, was sich auf meine Beobachtungen aufbauen könnte oder eigentlich müßte, wird doch erst vielleicht dann eingeleitet werden, wenn niemand mehr glauben wird, mir einen persönlichen Gefallen damit zu tun. – Das System muß anders werden, und als Muster empfehle ich die katholische Organisation selbst denen, die auf diese Bemerkung hin eine Gänsehaut überläuft.

Mein gestriger Tag war sehr interessant. Daß er ein Blumentag war, interkonfessionell für irgend einen öffentlichen Garten, scheint hier nichts besonders.

Ich ging um 10 Uhr zu Dr. H. N., wo ich, wie hier üblich, endlos warten mußte. Dann kam ich in das Sprechzimmer des Arztes, das mit seinen allerdings nicht alten, aber sehr gut imitierten Empiremöbeln, Bildern und Büchern schon einen sehr zivilisierten Eindruck machte. – Dr. N. ist ein sehr lebhafter, nicht junger Mann, mit besonders angenehmen blauen Augen in einem ganz dunkeln Gesicht. Er hatte sehr rasch herausgefunden, für was ich mich interessiere, und bald entwickelte er mir seine Ideen über die Judenfrage und Judenlage. Allerlei, was er mir über die Eingottidee und die Evolutionsmöglichkeit der jüdischen Messiasidee sagte, war sehr interessant. Aber sagte er, »die Juden haben den Verstand verloren, sie sind Zionisten geworden«. Dr. N. ist jüdischer Pole. Er hat kürzlich einen Vortrag über die Mission des Judentums und ähnliches gehalten, mit zwei sehr schönen Tafeln über die Dauer des jüdischen Volkes, im Verhältnis zu den andern Völkern. Er versprach mir, den Vortrag ins Deutsche zu übersetzen, und wenn er so ist, wie ich denke, dann wird es gut sein, ihn in Deutschland zu veröffentlichen. Dann gab mir Dr. N. die Adresse einer Spitzenfrau, aber ich will nur gleich hinzufügen, daß sie zwar schöne Alençons hatte, aber, daß sie mir viel zu teuer waren. Glücklicherweise Sorten, die ich schon besitze.

Dann begleitete mich Dr. N., – er ist Nervenspezialist, kommt oft nach Heidelberg, um auf der Höhe des Wissens zu bleiben – nach dem Büro des jüdischen Mädchen- und Frauenschutzvereins. Ich war schon einmal dort gewesen, hatte aber nur eine Beamtin gefunden, mit der ich nicht sprechen konnte.

Dieser Verein, auch Ochrona kobiet scheint mir ganz vorzüglich organisiert, verständnisvoll geleitet, aber er hat viel zu wenig Mittel.

Er hat:

  1. einen Arbeitsnachweis,
  2. eine Geschäftsstelle, von der aus die täglich einlaufenden Anzeigen von verkauften, verführten, gestohlenen und entführten Mädchen und Kinder bearbeitet werden,
  3. ein Heim für arbeitende Mädchen, die zu wenig verdienen, um sich selbständig zu erhalten,
  4. ein Asyl für junge (leider sehr junge) Prostituierte, die einen anständigen Lebenswandel beginnen wollen.

Sie sehen, daß die Organisationen allen modernen, sozialen Anforderungen dem Geiste nach genügt.

In dem Heim für arbeitende Mädchen bemüht man sich, ihnen etwas Elementar-Unterricht, Fachausbildung und Unterhaltung zu geben. Daß die Einrichtungen dem sechsspännigen Geschmack der Frankfurter nicht gefallen würden – ich meine äußerlich genommen – ist selbstverständlich, aber die Opferwilligkeit der Wenigen, die die Einrichtungen geschaffen haben und unterhalten, ist bewundernswert.

Das ist Bekämpfung des Mädchenhandels, ist Erhaltung des sittlichen Ideals unter den Juden, ist Liebestätigkeit, wie sie sein muß.

Zusammenarbeit mit dem Schutzverein der andern Konfession scheint nicht zu bestehn. Die sittlichen Zustände der jüdischen Bevölkerung sind unglaublich traurig. Oeffentliche und geheime Prostitution, Zuhältertum, Mädchenhandel, – kleine Konditoreien, Sodawasserhäuschen sind die Börsen der Händler; natürlich werden Abtreibungen betrieben, das uneheliche Kind ist eine Schande, und wenn sich so ein Geschöpf, trotz aller Mittel zum Leben ringt, – dann schenkt man es dem Spital zum Herzen Jesu, denn die katholische Kirche ist klug genug, solche wertvollen Geschenke von Menschen-Material gern anzunehmen.

Selbst die Damen vom Frauenverein tun das mit den jüdischen Kindern, die von ihren Schützlingen geboren werden, denn es gibt keinen Willen und keinen Ort, also keine Möglichkeit, sie jüdisch aufzuziehen.

Wie groß ist die Weisheit der jüdischen Führer, die die FalaschasLandarbeiter »heben« wollen, während 36 Stunden von Berlin hochwertige Keime, entwicklungsfähige Embryos, lebenstüchtige Kinder abgetötet, in die Gosse geworfen, verschenkt werden.

JCA, Alliance, Hilfsverein!

Die beamtete Leiterin der eigentlichen Mädchenschutz-Abteilung ist eine Frau H. (Zionistin). Sie scheint sehr tüchtig und hat viele Erfahrungen und auch Erfolge. Es wäre sehr interessant, das Material, die Akten des Büros zu sehen. Ich bat, doch einen deutschen oder französischen Auszug zu machen, besonders regte ich das Anfertigen einer schwarzen Liste der verdächtigen Personen an, – aber es fehlt an Zeit und Geld, die Fühlung mit den andern Institutionen herzustellen. Besonders fehlt ein Schutzkomitee in Lodz. Mit Lemberg hat man noch keine Fühlung. Unsere Plakate fehlen, kurz, ich glaube, daß gerade ich geeignet sein werde, allerlei Verbindungen herzustellen, und dann hat meine Reise doch etwas Erfolg gehabt.

Von jüdischen Damen, deren Namen ich mir merken muß, ist Frau H., Frau L., die seit Beginn der Mädchenschutz-Organisation sehr tätig arbeitet, und die für die negativen Seiten der hiesigen weiblichen Jugend gar nicht blind ist, und Frau M. zu nennen.

Mit letzterer hatte ich heute eine lange Unterredung. Sie erzählte mir von den Schwierigkeiten ihrer Arbeit, dem Hohn, der Ironie, dem Unglauben, denen sie ausgesetzt sind, und meint, so ungünstige Arbeitsverhältnisse könne es sonst nirgends geben. Ich fragte sie auch nach dem Schicksal der unehelich Geborenen. Charakteristisch war, daß sie immer von unehrlichen Müttern sprach, und sie berichtete, daß manche ihre Kinder aufs Land bringen. Man war in dieser Angelegenheit schon an die jüdische Gemeinde gegangen, die ablehnt, etwas zu tun, ebenso lehnen die Waisenhäuser es ab, uneheliche Kinder aufzunehmen. Es bleibt also wirklich nur Tod oder Taufe – vor lauter jüdischer Ethik. Hier hatte ich das Pech, bei all' meinen Besuchen erst zum zweitenmal anzukommen. Auch bei Frl. von E. kam ich vorhin nicht recht. Ob sie von der hohen Bedeutung und dem Einfluß sind, wie Pastor G. meint, bezweifle ich. Jedenfalls führte mich der Besuch in einen schönen, alten Winkel der Stadt, an der Sigmundsäule vorbei, die ich schon lange gesucht hatte. Frau M. zeigte mir auch ein Restaurant, wo ich sehr gut und nach meiner Wahl essen kann, und sie gab mir die Adresse von einer Spitzenfrau, die mit den »höchsten Herrschaften« in Verbindung ist. Ich kenne diese Art weiblichen Faktotums; bei solchen hat man zur Zeit meiner Großmutter und der Tante Gutmann in PreßburgGeburtsort ihres Vaters auch gekauft. Aber ich will meine Erwartungen nicht zu hoch spannen und nicht vergessen, daß ein Rubel 2 Mark und ein bißchen ist.

Ich muß noch notieren, daß die bekannte polnische Schriftstellerin Elisabeth Orszesko, die den jüdischen Roman Meier Esophowitsch geschrieben hat, Dr. N. ihre Familienbilder vererbt hat. Es sind keine Kunstwerke, aber doch angenehme Bilder. Eine Zeichnung der Orszesko als alte Frau, von einem unaussprechlichen polnischen Künstler ist viel schöner.

Ein Gipsabguß der Hand der O. steht in einem Glaskasten bei Dr. N. auf dem Tisch. Ein Gipsabguß der Hand seiner Tochter hängt an der Wand!

Warschau, 10.5. 1912

Liebe Frau Oe.!

Ihre und des ganzen Fähnlein der sieben Aufrichtigen Versicherung, daß Sie viel an mich denken, daß meine Abwesenheit Ihnen schon länger erscheint, als sie es dem Kalender nach ist, daß ich manchen von Ihnen manchesmal fehle, das ist alles sicher wahr und lieb gedacht und empfunden, aber eine volle ganz gleichwertige Erwiderung kann ich nicht geben, weil ich ja glücklicherweise diesen nebenamtlichen in ihrer Art sehr treuen Empfindungen gegenüber nicht blind bin. Sie sind unberufen alle nicht auf mich angewiesen, und ich bin sehr anspruchsvoll, folglich – nicht undankbar – aber kritisch. Ich weiß es, und ich freue mich darüber, daß Sie alle ganz gern ein bißchen mit mir gehn, einmal durch dick, einmal durch dünn, sich von mir was erzählen lassen, »anregen«, die jüngeren auch kneten, formen, schieben, – aber im Grunde auch nur nebstbei. Diese Ueberzeugung gibt mir die Berechtigung, von Frankfurt so lange fort zu sein, als es mir gerade in den Sinn kommt, denn ich bin weder in meiner Arbeit und Art, noch in meiner Person eingewurzelt und notwendig geworden. Für nichts und niemanden. Das ist kein Vorwurf, – wahrscheinlich bin ich meiner Art nach selbst schuld daran – nur das Verzeichnen einer Tatsache. Das erleichtert mir mein Nomadenleben. Allerdings habe ich manchmal Heimweh, aber, das ist nur eine Art Sehnsucht nach meinem Heim, nach meinem Schreibtisch mit der Petroleumlampe, nach meinen lustigen Schattenrissen, nach meinen bunten Gläsern und vor allem nach meinen Spitzen, diesen wunderbaren Varietäten von Gebilden, deren Element ein grader feiner Leinenfaden ist. Wenn ich nicht eine Feindin poetischer Vergleiche wäre und wenn nicht alle Gleichnisse hinkten, möchte ich sagen, unser Leben müßte auch aus so feinem festen, echten Material, gleich- und gradfadige Verflechtungen und Verwebungen darstellen, die, ob sie einfach oder kompliziert sind, ethische resp. aesthetische Werte darstellen. Auch danach habe ich Sehnsucht, so ein Leben zu führen, und hasse die groben Finger, die die schönen Plangebilde zerstören und die Fäden zerreißen oder verwirren.

Ich habe schon oft gedacht, wenn man nichts zu lieben hat, ist hassen ein gutes Surrogat. Vielleicht lese ich deshalb die Arbeiterzeitung so gern, weil sie so heftig auflodernd die Gefühle großer Massen oder doch ihrer Führer zum Ausdruck bringt, im Haß, und doch aus Liebe zu einem Ideal.

Auch hier in Warschau ist der Boden großer Gegensätze und darum heftiger Empfindungen, die dem Leben einen großen Reiz geben müssen, und in manchen Zeiten ein großes Kraftgefühl auszulösen imstande sein werden. Ich glaube, daß es dann ganz einerlei ist, ob man auf dem Scheiterhaufen steht, oder ob man ihn anzündet, es muß nur in ehrlicher Ueberzeugung gekämpft werden. –

Eigentlich wollte ich heute abend noch in ein Kaffeehaus gehn und nachtmahlen. Aber im Träumen und bei Herstellung vorstehender Schmiererei ist es 8.30 Uhr geworden, da steckt ein ehrbares Frauenzimmer seine Kraftgefühle in die Tasche, läßt sich einen Tee aufs Zimmer kommen und schreibt einen halbwegs vernünftigen Bericht, der sachlich und farblos, wie immer, einfach Stütze meines Gedächtnisses sein soll, und schaut, daß sie zu Bett geht. –

Also Warschau ist eine Stadt, die, bevor die letzten Judenverfolgungen in Littauen waren, schon jüdische Einwohner hatte.

Es sollen sehr viel reiche Juden hier sein, die aber auch, im Verhältnisse zu ihrem Vermögen und zu ihrem Verständnis große Aufwendungen für Gemeinde-Institutionen und Anstalten aller Art machen.

Es gibt ein großes Spital und ein Kinderspital, Kinderbewahranstalten, Schulen usw. – Ein Schulunternehmen Daath wird von der JCA unterstützt, es soll auch etwas für Mädchen geschehn.

Gestern nachmittag zeigte mir Frau W. eine Anstalt, die auf einem der Gemeinde gehörigen Boden steht und in verschiedenen, getrennten Häusern allerlei Zwecken dient: Aufnahme von Idioten und Alten beiderlei Geschlechts, eine Kinderbewahranstalt und zwei Waisenhäuser für Knaben und Mädchen. Die Vereinigung dieser Gebäude auf einem relativ engen Raum ist arg, und wie zur Illustration, sah ich einen grauenhaften Idioten, der ein Kind auf dem Arm trug und es nicht hergeben wollte! – Aber im ganzen scheint alles für die lokalen Verhältnisse sehr gut eingerichtet. Daß die Buben mit 12 Jahren aus dem Hause müssen, die Mädchen mit 14 Jahren, daß um das bißchen Schulunterricht mit der Regierung gekämpft werden muß, ist natürlich sehr arg.

Aber in einer Küche, in der für 250 Menschen gekocht wird, in einer Waschküche usw. lernen die Mädchen das Landesübliche. Und wenn ich bedenke, wie schwer es im gebildeter Deutschland ist, gute Anstaltsbeamte zu finden, dann flößen mir die 3-4 Frauen, die ich hier in der Arbeit gesehn habe, wirklich Respekt ein. Sie sind unzureichend, aber nicht unbescheiden.

Seit ihrer Wiener Zeit sammelt Bertha Pappenheim historische Spitzen und versteht es meisterhaft, sie in verschiedenen Techniken, Stilen und Materialien herzustellen. Ihr Interesse am Spitzenklöppeln hat sie aus dem standesgemäßen Rahmen weit hinausgeführt in die Bedingungen der Fertigung, die zugleich Heimarbeiterinnenelend, soziale Ungerechtigkeit wie auch lebendige Traditionen der Volkskunst und Kunst einschließen. Ihre 1256 Objekte umfassende Spitzensammlung vermacht sie im Sommer 1935 dem Wiener Museum für Kunst und Industrie am Stubenring, das ihre Leidenschaft für Spitzen auf diesen Weg brachte.

10.5.

Lesen Sie in der Neuen Freien Presse vom 9. 5. das Feuilleton »Frauen voran«, ein sonderbares Gemisch von Wahrem und Unwahrem; vielleicht ist die Darstellung für L. V. sogar subjektiv ganz wahr. – Nachdem ich heute gelesen habe, was ich gestern schrieb, kann ich heute gar nicht sachlich genug sein, um die Stimmung von gestern wieder gutzumachen.

Also ich besuchte Frl. von E. in einer kleinen, bescheidenen Wohnung, deren Tische und Wände von Photographien, mit und ohne Kronen auf den Rahmen, wimmeln, lebende Blumen, gestickte Polster, Kanarienvögel, Kreuze, Christusbilder, kurz, ein Milieu alter, deutscher, protestantischer Kultur. Frl. v. E. spricht das harte, schlesische oder litauische Deutsch, scheint aber ein guter, weicher Mensch zu sein. Sie arbeitet im Sinne christlicher Frömmigkeit und scheint mitsamt ihren Schwestern – sie erinnern mich etwas an die 3 Ettlingers in Karlsruhe nicht viel in die Welt hinaus zu kommen. Also für meine Bekämpfung und Arbeit kein Soldat. Sie hält es auch für gut, wenn ich nach Wilna und Petersburg gehe, und nennt mir für P. wichtige Namen. Sie entläßt mich mit ihrem Segen, der hoffentlich mit dem des Alexandrower Rebben gemeinschaftlich meinen Weg ebnen wird. Wozu ich sagen muß, daß ich in solchen Momenten immer eine tiefe Rührung empfinde und Glauben und Hoffen und Wünschen und Wollen sich zu einem undefinierbarem Zustande verdichten, für den, ich mich von den Immerallesleugnern gern auslachen lasse. Er trägt. –

Dann schickte Frl. v. E. mich zur Schwester Clara, der Hausmutter des evangelischen Heims, einer wahrscheinlich pflichtgetreuen Person, die aber nicht über ihre Haustüre hinaus sieht. Dann fuhr ich wieder zur katholischen Ochrona, denn es scheint mir das Wichtigste für hier, daß die vier Konfessionen in der Schutzarbeit zusammengehn. Die russischen Frauen scheinen aber hier vollständig auszuscheiden. Die beiden christlichen Konfessionen stehen in freundschaftlichen Beziehungen, es müßte also eine nähere Anrückung der katholischen und der jüdischen Arbeit erfolgen. Und wieder gefielen mir die katholischen Damen sehr gut. Ich hatte mit Dr. N., der »beglaubigter« Pole ist, d.h. ein Jude, von dessen nationalpolitischer Gesinnung man überzeugt ist, verabredet, daß die Initiative zur Zusammenarbeit durch ihn, resp. durch einen Brief des jüdischen Komitees eingeleitet werden sollte, mit meinem Vorschlag regelmäßige (alle 14 Tage etwa) interkonfessionelle Konferenzen abzuhalten. Der Vorteil der Zusammenarbeit wäre der, daß die katholischen Damen mehr Einfluß auf die Polizei hätten, die jüdischen mehr Zutritt zu den jüdischen Kreisen. Fast alle Mädchenhändler, Zuhälter usw. sind Juden, viele den Juden bekannt, aber nicht zu fassen.

Die katholischen Damen zeigten sich meinem Vorschlag geneigt, und ich wollte nun bei einem Tee, zu dem ich nachmittags bei Frau M. war, dort auch für die Zusammenarbeit sprechen:

Dort glaubte ich aber zu bemerken, daß die stille Animosität zwischen den beiden Vereinen weniger auf konfessioneller Basis als auf sozialer besteht. D. h. die katholische Gesellschaft besteht – wie ich erst hörte – aus sehr vornehmen, vielfach altadeligen Damen, die jüdische Gesellschaft – wie ich erst sah – aus vielfach nicht vornehmen Frauen, mit denen sehr nahe zu verkehren auch für nichtadelige Leute kein Vergnügen sein muß. In dieser Erkenntnis formulierte ich meinen Antrag dahin, daß 1-2 Vertreterinnen der beiden Gesellschaften in regelmäßigen Konferenzen gemeinsame Angelegenheiten besprechen sollten!

In diesem Sinne sprach ich auch heute mit Dr. N., der mich abholte, um mir die Stadt und die Lazinska, ein Lustschloß des letzten Polenkönigs in einem schönen Park, zu zeigen. Ich verbrachte einige sehr angenehme, angeregte Stunden, und wurde dann in der Bildergalerie abgesetzt.

Einige moderne Bilder von Marjan Trzebinsky gefielen mir sehr gut und auch einige von Leon Kaufmann in Paris. Sonderbar ist ein Bild Rotkäppchen, die Auffassung dieses deutschen Märchens von dem jüdischen Polen in Paris. Ein glatter Wald ohne Unterholz, ein glatter Wolf und ein Mäderl von etwa 3 Jahren, aus der Galerie Lafayette angezogen – ganz weiß mit einem roten Häubchen – das sollte die »süße, kleine Dirne« sein, die wir aus dem Grimm'sehen Märchen kennen! –

Dann habe ich noch zu notieren, daß ich heute bei Frau W. zu Mittag aß, und daß sie mir eine Menge Dinge erzählte, die mich sehr interessierten, aus ihrem Leben, aus der Revolution 1905 usw., und dann sah ich mit Frau H. ein Kinderasyl und eine Entbindungsanstalt, alles relativ sehr sauber. Die Gemeinde selbst als solche ist wirklich sehr opferwillig, auch gibt es große Stiftungen, aber ein Meer von Unbildung, Elend, Schmutz und Rückständigkeit zu bewältigen. Ich wollte heute abend früh zu Bett gehn, soll aber noch mit Frau M. und Frau T. eine polnische Oper sehn. Und morgen geht es gegen 9 Uhr nach Wilna – fürstlich II. KL, um mich zu schonen. –

In Petersburg soll es noch sehr kalt sein, so daß ich heuer einen ausgedehnten Frühling habe, der in Frankfurt anfing und vielleicht in Petersburg aufhören wird.

Mit herzlichen Grüßen für alle meine Abonnentinnen Ihre

Bertha Pappenheim.

Wilna, 14. 5. 1912

Liebe Frau N.! Und nun weiter im Text. Ich habe noch von Warschau einiges nachzutragen, muß aber insofern aus der Chronologie fallen, als ich bemerkte, daß mein Ekelgefühl vorgestern abend vollauf berechtigt war. –

St. Petersburg, 15. 5. 1912

Die Eindrücke gehen so rasch an mir vorbei, und mein Gedächtnis ist, wie Sie wissen, so unzuverlässig, daß ich nichts tun kann, als mich, trotz des veränderten Briefkopfes, an die Chronologie zu halten.

Was ich von Warschau zu sagen habe, will ich in Stichworten zusammenfassen. Wenn es meine Abonnentinnen interessiert, kann ich sie gelegentlich ausführen, für mich selbst werden sie genügen. Das Prinzip der Bordellführung ist in Warschau teilweise anders wie in andern Städten. Ein Jude hat 4-5 »Betriebsstätten« (nach Sch.) und wohnt, mit irgend einem ehrbaren Gewerbe gedeckt, ganz wo anders.

Entbindungsanstalt, Frl. B. und Frl. R. (18 Jahre alt) Hebammen. Die Arbeit und die Beschäftigung der Kinder von 4-8 Jahren in der Ochrona. Die 4jährigen wollen schon Kopftücher häkeln – und sie tun es auch. –

Mit Wilna war ich im Sinne meiner Aufgabe sehr unzufrieden; es ging mir aber dort auch alles krumm – bis auf die Müffelei, von der ich es noch nicht weiß. Aber warum sollte auch gerade eine blinde Henne ein Weizenkorn finden, und es sich noch dazu einreden.

In Wilna war ich von Frau M. an ihre Schwester Frau A. empfohlen. Jedenfalls erste Generation nach PeiesSchläfenlocken und Scheitel (Perücke) und sehr unsympathisch. Mit und ohne ihre Hilfe lief und fuhr ich von Pontius zu Pilatus, nirgend ein Ohr, geschweige Verständnis. Ich sah das jüdische Mädchenwaisenhaus, mit 45 geschorenen Kindern, aus denen man bei den kärglichen Bildungsmitteln und Geldmitteln das relativ Beste macht. Dann hörte ich, daß es einen Verein gibt, zur Bekämpfung von Trachom und Favus, für letzteren ist eine eigene Röntgenstation eingerichtet, und die Kinder werden in Gruppen von 40-50 behandelt. Es kommen meistens Knaben, wahrscheinlich, weil man sich um diese mehr bekümmert, als um die Mädchen. Es gibt auch eine Handwerksschule; ich sah viele Mädchen dort mit Schneidern beschäftigt, die JCA soll sie unterstützen, aber den Leiter Herrn B. habe ich nicht gesprochen. Es gibt auch einen Frauenschutzverein zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Anfangs war er interkonfessionell, aber sehr bald mußten sich die Jüdinnen zurückziehen. Er besteht polnisch, und für die jüdischen Mädchen geschieht nur, was die polnischen Frauen für gut finden.

Dann suchte ich den Wilnaer Zionistenhäuptling und den Kronrabbiner auf und fand sie ganz nett und verständig, und band ihnen die Bildung eines jüdischen Komitees auf die Seele. Sie meinten, wenn ich einige Wochen in Wilna bliebe, könnte ich es organisieren, daraufhin beschloß ich, noch am selben Abend abzureisen. Wilna scheint ganz hübsch zu liegen, ich sah von meinem Fenster eine bewaldete Anhöhe, es gibt viele Kirchen, aber da das Wetter regnerisch, stürmisch und kalt war, so machte alles einen unangenehmen Eindruck.

Als gewissenhafte Chronistin will ich auch einen kurzen unangenehmen Moment nicht unerzählt lassen, weil er so interessante und schwierige Folgen hätte haben können. Aber es ging ja gut, wie ich gleich sage.

Ich war in der Bank – wo man mir, nebenbei bemerkt, weder mein Telegramm noch meinen Brief expedieren half – und ausgerechnet, nachdem ich die beiden Quittungen unterschrieben hatte und bevor ich an der Kassa meine 700 Rubel in Empfang nahm, wurde mir ein bißchen schlecht. Mein Antikwarius, ein, wie ich hoffe, ehrlicher Glaubensgenosse, erschrak mehr als nötig, und bis er mit einem Glas Wasser kam, war alles wieder gut. Aber bedenken Sie, welche juristischen Konsequenzen hätten eintreten können: meine Unterschrift legal gegeben, und doch, welche Komplikation zur Erhebung des Geldes. Ferner: Wäre ein Kauf gültig gewesen, wenn der Käufer gestorben wäre im Augenblick, da er die Kaufsumme erlegen will, sie aber nicht erlegt hat – kurz man könnte auf diesen Moment einen ganzen Roman oder ein Drama aufbauen, und das war das Interessanteste daran.

Die Wirklichkeit blieb uninteressiert. Ich schwankte, ob ich den Rückzug antreten sollte, aber wie Sie sehen, ist alles gut, nur bin ich, um meinen Müffelschatzspezieller humorvoller Ausdruck B. Pappenheims für ihre Leidenschaft Spitzen zu sammeln und mich selbst zu hüten, heute nacht im internationalen Schlafwagen nach Petersburg gefahren. Und ich bin froh, daß ich Dr. D. recht gab, denn ich würde mich eben schrecklich ärgern, in Warschau zu sitzen. Da ich hier kein Zimmer bestellte, muß ich bis heute Abend mit einem ohnfenstrigen, kleinen Gelaß fürlieb nehmen, aber das Hotel ist wundervoll. Ob es wirklich »sittlicher« ist als das in Wilna, will ich nicht behaupten, aber aesthetisch genommen, ist es ein Genuß. Als geheimen Reiz meines Aufenthaltes empfinde ich noch, daß ich ja »eigentlich« nicht hierher gehöre. Aber majim genuwim jimtokuwörtlich: gestohlenes Wasser wird süß werden; übertragen: ein Mißgeschick wendet sich zum Guten. Etsch! –

Mein erster Weg wird wohl zum deutschen Konsul sein. Im großen und ganzen werde ich hier »genießen«. – Die Sonne scheint.

Mit herzlichem Gruß Ihre

Bertha Pappenheim.

St. Petersburg, 15. 5. 1912
Grand Hotel d'Europe

Liebe Frau H.!

Ich verbrachte den Vormittag im Lesezimmer und schrieb dem Teufel ein Ohr ab, und dann nahm ich mir einen Führer und einen Iswoschtschik – was ein Komfortabel oder eine Droschke 2. Güte ist – und sah schon die herrliche neue Erlöserkirche, die Kasan-Kathedrale und die Isaacs-Kathedrale, alles sehr schöne Gebäude, auch bei der Peter-Pauls Festung war ich, aber nicht drin, und dann sah ich das Häuschen Peters des Großen, über das wie ein Futteral ein Schutzhaus gebaut ist, und das einen großen Gegensatz zu dem Umfang und jedenfalls auch der Pracht des Winterpalais bildet.

Außerdem ist Sonnenschein, man sagt, seit Wochen das erstemal wieder blauer Himmel.

Und nun einen merkwürdigen Zufall. Nach meiner Spazierfahrt suchte ich ein Lokal, um Tee zu trinken, was nicht einfach war, da es in den Konditoreien nichts Nasses gibt und in die Cafés angeblich nur zweifelhafte Damen gehen. (Ich werde natürlich nächstens probieren, was da passiert, wenn ich hingehe!) Aber nach einiger Umfrage, gehe ich in ein Restaurant Domeniko, und nach 5 Minuten erscheint der einzige Mensch, den ich in Petersburg kenne, und den ich morgen aufsuchen wollte – Herr F., der russische JCA Vertreter! – Er erzählt mir, daß Sonntag Generalversammlung des hiesigen Mädchenhandelkomites ist. Vorsitzende Brn. Günzburg geb. Warburg. Ob meine einstmalige Reisegefährtin, ehemalig Frl. Dr. Rabinowitz hier ist, weiß ich nicht. Also habe ich schon meinen Faden.

Aber hauptsächlich will ich ein paar behagliche Tage haben.

Das Hotel ist das schönste, das ich kenne. Heute Mittag aß ich im Roofgarden, wo mein Schnitzel auf den Namen Escaloppe kam. Vielleicht hat es nur ein p. – aber es kam sehr langsam, doch unterhielt ich mich köstlich zwischen der Gesellschaft.

Leider konnte ich nur 3 Tische gut sehen. An dem einen ein bildhübsches braunes Mädel mit so schönen Zähnen und einem Grüberl, daß sich ihr Lachen schon rentierte. Die Mama dazu war nicht echt; sie pampfte was in ihr Platz hatte – ziemlich wahllos. Den dazugehörigen Jüngling sah ich nur von rückwärts. Jedenfalls war er wie Alle mit großem Herzen und Beutel.

Dann ein Tisch mit einer sehr eleganten und, wie ich glaube, ganzen Dame, die das Kunststück fertig brachte, alle 3 Kavaliere, die an ihrem Tisch waren, gleichmäßig bezaubernd anzulächeln. Vielleicht war der Rechte gar nicht dabei, dann war es auch ein Kunststück. Der dritte Tisch: sicher ein Frankfurter Glaubensgenosse und ein russifizierter Oesterreicher 1. Gilde mit so entsetzlichen Manieren, daß der Dritte vom 2. Band sicher durch gute Geschäfte an ihn gefesselt war, sonst hätte er's nicht ausgehalten. Wie er saß und aß und den Zahnstocher benutzte und die Nase putzte und schmunzelte und mit einer großen Banknote aus der Hosentasche heraus bezahlte, es war einfach nicht zum Ansehen.

Wenn man nicht verlangen müßte, daß die Staaten nach den Gesetzen der Gerechtigkeit regiert werden, wenn sie nach den Gesetzen des Geschmackes zu regieren wären, man müßte wirklich manchen Verordnungen zustimmen. Wenn sie arm und entrechtet sind, ist Unkultur eine Entschuldigung, aber so ein Exemplar dürfte überhaupt nie und nirgend einen Paß haben. Vielleicht wenn er absolut leben will, dann im Herrenfeldtheater. – Sie glauben nun sicher, daß mir die roten Fräcke, Schnallenschuhe und schwarzen Escarpins in den Kopf gestiegen sind, mit denen hier serviert wird.

Eben habe ich mein fensterloses Provisorium gegen ein sehr nettes Zimmer vertauscht.

Sie sehen, wie gut ich es mir gehen lasse.

Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleibe. Wenn die Sonntag-Verhandlungen nur russisch sind, haben sie keinen Wert für mich.

Mit herzlichen Grüßen für alle Abonnenten Ihre

Bertha Pappenheim.

St. Petersburg, 17. 5. 1912
Grand Hotel d'Europe

Liebe Frau N.!

Also Petersburg liegt am Finnischen Meerbusen. Ich muß entschieden damals in der Schule gefehlt haben, wie wir das hatten, denn sonst hätte ich praktisch hier nicht diese geographische Ueberraschung erleben können, denn die Lage der Stadt dürfte sich in den letzten 40 Jahren nicht verändert haben. Meinen Abonnenten werde ich also mit dieser Notiz fachlich nichts Neues mitgeteilt haben. Sie setzt nur die Berichterstatterin ins rechte Dunkel. Wieviel ich von der Umgebung der Stadt werde sehen können, hängt von Zeit und Umständen ab, denn ich kann mich der Sprache wegen nur sehr schwer fortbewegen. – Gestern suchte ich Herrn F. in seinem JCA-»Ministerium« auf, einer schönen Etage mit einem Stab von mindestens 30 männlichen und einigen weiblichen Beamten, die alle nicht den Eindruck der Ueberanstrengung machten. Das Beste, das die JCA macht, sind ihre Leihkassen, deren sie in Rußland 700 hat, sonst viel große Zahlen, große Worte, denen nach den Stichproben, die ich kenne, schmerzlicherweise nicht ebenso große Taten und Erfolge gegenüberstehen. Natürlich hat die JCA nirgends eigene und ganze Schulen, das wäre auch ein Fehler. Sie subventioniert wo ein lokaler Wille da ist, sie tut aber, wie wenn sie alles wäre. In der Angelegenheit der Bekämpfung des Mädchenhandels versagt sie vollständig, sowohl materiell, als auch moralisch. Die tatsächliche Versumpfung und Verwahrlosung des jüdischen Volkes geht sie einfach nichts an, dafür gibt es kein Geld. Sie können sich meine Gefühle denken, als ich dieser Tage die Spendenliste für die Juden in Fez las. Wozu sie erhalten, wenn man sie doch nicht zu rechtlichen Menschen erziehen will, und das machen die großsprecherischen Organisationen im Osten so wenig wie in Osteuropa. Aber es muß und wird einmal eine Zeit kommen, in der diese for show Arbeit aufgedeckt wird und sich rächt ...

Also Herr F. war sehr liebenswürdig, wenn auch mit einem gewissen fühlbaren Einschlag von Zurückhaltung, die von ihm aus nicht ganz unberechtigt ist.

Er war zufällig zum Frühstück bei Frau Baron G., und während ich dann bei L. Newski Prospekt N. 18 für 75 Kopeken ein unbezwingliches Dejeuner oder Frühstück, wie der Kellner sagte, einnahm, brachte Herr F. mir eine freundliche Einladung für Abend zu Gs. Dann brachte Herr F. mich selbst in das von ihm mit gesammelten Mitteln vor 40 Jahren gegründeten Waisenhaus für 50 Knaben und 50 Mädchen.

Eine ganz besonders unsympathische Hausmutter zeigte mir das Haus, ich hörte und sah und schwieg, besonders da ich hörte, daß die Anstalt große Summen zu verzehren hat. Auch Herr F. fragte mich nachher nichts, und so schwieg ich weiter.

Abends fuhr ich zu Gs., wo ich eine sehr nette, liebe Frau geb. W. als Hausfrau fand, den Baron G. kannte ich schon von London, drei sehr nette Töchter, die älteste, besonders hübsch und frisch, eine Lehrerin des Waisenhauses, Frl. S. und einen Herrn Br.

Nun kam die Rede bald auf das Waisenhaus, und da ich gefragt wurde, so redete ich, und vielleicht war es gut. Es ist eben überall die große Schwierigkeit, gutes Erzieherpersonal zu finden ...

Wer und was Herr Br. ist, weiß ich nicht recht. Er kam mir unangenehm hinterhältig vor, ist über Vereinssachen orientiert, wußte von den Verhandlungen Montefiore-Ponafidine, aber nicht von den meinen mit M. Er wollte mir von den großen Taten der Loge in der Bekämpfung von Mädchenhandel erzählen, kurz, wenn mein Gefühl mich nicht täuscht, ist er auch eine der vielen Milben im großen jüdischen Wohltätigkeitskäse. Aber er wird meine Bekanntschaft mit der Prinzessin Oldenburg, der Präsidentin des hiesigen Zentralkomitees, vermitteln, was sehr dankenswert ist. Als er fortging, merkte ich an seinen Stiefeln, daß er nicht zur »Gesellschaft« gehört, was natürlich nicht ausschließen, sondern sogar veranlassen könnte, daß er, wenn es seines Amtes sein sollte, »wärmer« wäre.

Ich werde heute erfahren, wer es ist. Dann machte Frau Br. G. mir einen Plan für Besichtigungen, die ich je der Reihe nach aufzählen werde, soweit sie sich realisieren lassen. Und auch der Plan, nach Moskau zu gehen, wurde gestern abend so weit geschmiedet, daß ich ihn heute an Sie telegraphierte. Aber es ist unsicher, ob ich im guten Hotel ein Zimmer bekommen werde, da der Kaiser am 14. alten Stils in Moskau erwartet wird.

Wichtig ist nur von gestern abend festzulegen, daß Herr Br. G. sagte: »Wir tun gar nichts zur Bekämpfung des Mädchenhandels, und wir haben auch nicht die Absicht, etwas zu tun. Wenn Sie mit der Prinzessin sprechen, sagen Sie ihr das, damit sie sich nicht Hoffnung macht, daß das Komitee vielleicht von jüdischer Seite Geld bekommt.« Das hiesige Mädchenschutzkomitee hat eine Art Klub und zwei Heime für solche Mädchen, die geschützt sein wollen, aber nicht für solche, die geschützt werden müssen. Uebrigens liegen die Dinge hier ganz eigenartig, doch von einem Zentralkomitee wäre doch anderes zu erwarten.

Da die Eremitage leider ganz unzugänglich ist, gehe ich jetzt in das Museum Kaiser Alexander III. und bin für nachmittags mit Br. G. für allerlei verabredet.

Das Wetter ist heute wieder unfreundlich, und ich vermisse die Hitzewelle, von der ich gestern in allen Zeitungen, die hier im Hause in reicher Auswahl aufliegen, gelesen habe.

Mit herzlichen Grüßen für Sie und alle Ihre

Bertha Pappenheim.

St. Petersburg, 18.5. 1912

Liebe Frau N.! Vor allem habe ich heute, um nicht 24 Stunden länger, als nötig ist, eine Ungerechtigkeit bestehen zu lassen, festzustellen, daß Herr Br. keine Milbe im jüdischen Wohltätigkeitskäse ist, sondern Beamter der russischen Hofbibliothek und Sekretär der Prinzessin Helene von Sachsen-Altenburg (nicht Oldenburg). Herr Br. ist sehr vorsichtig, nicht temperamentvoll, hat sich früher mit meiner Hauptaufgabe befaßt, aber, da man in Rußland hauptsächlich an andere Dinge denken muß, so ist ihm die Bekämpfung des Mädchenhandels nicht mehr so wichtig. Von Charakter soll er ganz vortrefflich sein. Vielleicht werde ich auch noch einmal vorsichtig, wenn ich älter werde.

Die dritte Berichtigung ist, daß die Lehrerin, die ich bei S.'s kennen lernte, D. S. heißt ...

Ich kann es meinen Ohren nicht übel nehmen, daß sie die Namen, die mir durch die hiesigen Zungen vermittelt werden, nicht richtig aufnehmen. –

Sie schreiben von Gewitterschwüle in Frankfurt – hier war gestern Schneegefussel in der Luft, und ich habe heute – echt russisch – über mein Jackenkleid noch einen Mantel gezogen. Man ist hier ein sonderbares Gemisch von verfroren und lustig. Alle Wagen offen, alle Fenster zu. Trotzdem es doch mindestens 5-8 Grad Minus hat, sehe ich viele große Kinder von 3-4 Jahren mit einer Art von weißleinenem Nachthäubchen unter den blauen Tellermützen. Und sonst noch allerlei kleine Unterschiede, die sehr nötig sind, um, wenn man ohne auf die Schilder zu sehen, nicht in vielen Straßen den Eindruck einer Allerweltstadt zu haben. So z.B. sind die Leichenkondukte ganz schneeweiß! Die Stadt ist sehr ausgedehnt, elektrische Straßenbahn, Kutscher, mit denen man um den Fahrpreis handelt, wenn man kann. Mir gefällt es sehr gut hier, und ich habe mir sonderbarerweise auf meiner diesmaligen Reise das Teetrinken angewöhnt. Vielleicht, weil es frostig ist, vielleicht, weil er so gut schmeckt.

Auch das feste Futter ist gut, auch in einfachen Restaurants, Gemüse werden wenig gegessen, außer Kraut und Kohl sind sie zu teuer, aber auch in den Anstalten wird viel Fleisch gegessen, trotzdem es nicht billig ist. Milch und Eier sind teuer, Fisch ist billig. Wohnungen sollen teuer sein und das Leben im allgemeinen kostspielig. Die Köchinnen in den Anstalten, die ich sah, bekommen 10-12 Rubel, doch wohnen sie nicht immer im Hause. Ueber die Details dieser und andrer Dinge muß ich mich noch erkundigen. Es kommt den Leuten oft so sonderbar vor, was ich alles frage und wissen möchte, aber ich kann von diesen Dingen gar nicht genug hören.

Denken Sie, ein Heim, das ich sah, bekommt »durch Protektion« sein elektrisches Licht um den dritten Teil des Preises, wie andre Abnehmer!

Ganz praktisch ist, daß in vielen Miethäusern auf dem mittelsten Treppenabsatz das Telephon zur allgemeinen Benutzung da ist. Jedenfalls muß der Hausmeister den angerufenen Mieter verständigen; wie das geschieht, habe ich noch nicht erfahren. »Vielleicht schickt er einen Buben«, meinte Frl. S. Aber hat man denn immer Buben zum Schicken?

Petersburg hat 60 000 tartarisch mohammedanische und 30 000 jüdische Einwohner. Die ersteren bauen eben eine Moschee, letztere haben eine sehr schöne große Synagoge. –

Eigentlich wollte ich Montag abend nach Moskau abreisen, da ich dachte, morgen bei der Vorsitzenden des russischen Mädchen- und Frauenschutzkomitees in Audienz empfangen zu werden, doch höre ich eben, daß die Prinzessin mich erst Montag abend will, es wäre also töricht, bei so viel aufgewendeter Zeit nicht noch einen Tag länger zu bleiben ...

Ich habe heute früh bis 9 Uhr geschlafen, weil das Zimmer durch dunkle Vorhänge ganz still und schläfrig ist. Aber eben, 8.30 Uhr abend, ist es noch ganz hell draußen, und Frl. S. erzählte mir von den »weißen Nächten«, in denen es kaum dunkel wird. Das hatte ich allerdings in der Schule gelernt – vergessen – und freue mich nun, diese Schulweisheit lebendig zu sehen.

Ueberhaupt bin ich ungeheuer aufnehme- und abgebelustig, aber mein Schriftsteller-Papier ist unbenutzt. Das ist sehr gut so ...

St. Petersburg, 18.5. 1912

Liebe L.! Heute hat mich die junge Baronesse Anna G. – ein wirklich ganz besonders nettes, einfaches, sehr hübsches Mädchen – nach einer seit 3 Monaten bestehenden russischen Industrie, d.h., Handarbeitsschule gebracht, mit deren Leiterin, einem Frl. Sch., ich verabredete, daß sie mir ihre alten Spitzendoubletten sammeln und in einigen Monaten schicken wird. Das wird doch eine herrliche Vermehrung meiner Sammlung, auf die ich mich entsprechend freue.

Es soll hier auch Müffellädenbezieht sich auf ihr Spitzensammeln geben, aber ich habe sie noch nicht gesehn, kann sie schlecht finden und noch schlechter mit den Leuten reden.

Ich wollte Montag abend nach Moskau abreisen, denn man riet mir sehr dazu, die Gelegenheit zu benützen, aber die Prinzessin von Sachsen-Altenburg, die für die Mädchenhandelsache hier sehr wichtig ist, will mich Montag abend empfangen, und da ist es fast selbstverständlich, daß ich bleibe, weil ich denke, daß ich den polnischen Frauen in Warschau sicher, vielleicht der Sache im Allgemeinen, nützen kann ...

St. Petersburg, 19.5. 1912

Liebe Frau C.! Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen von Stockholm aus über einen Typus von Mädchenheimen sprach, der mir so gut gefiel, daß ich ihn so gerne von der Weiblichen Fürsorge in Frankfurt nachgeahmt wüßte? Von dem Verein zum Schutze der Mädchen hier eingerichtet, sah ich gestern wieder zwei »homes« nach demselben Prinzip. Der Verein hat eine Wohnung gemietet, von der ein Zimmer als Wohn- und Eßzimmer eingerichtet ist, die andern sind mit tunlichst viel Betten als Schlafräume an junge im Erwerb stehende Mädchen vermietet.

Während sie in Stockholm ganz für ihre Verköstigung sorgen müssen und je einen kleinen Gasherd für Frühstück und Nachtessen zur Verfügung haben, kommt hier morgens der Samowar auf den Tisch, und mittags wird im Hause gekocht, doch braucht kein Mädchen im Hause zu essen, wenn sie nicht will, aber sie kann für 15 Kopeken (35 Pfg.) ein gutes Mittagessen haben. Für Bett und Wohnung bezahlt sie hier monatlich 3,50 Rubel bis 4 Rubel, in Stockholm 14-17 Kronen monatlich. In den zwei Heimen, die ich hier sah, gibt es gewisse kleine Unterschiede, über die ich Ihnen natürlich schriftlich nicht detailliert berichten kann, aber die Einrichtung als solche ist gut, weil sie sich den Einnahmen und Ansprüchen der einzelnen Mädchen gegenüber biegsamer und anpaßlicher erweist, im Gegensatz zu dem starren System des einheitlichen Pensionspreises anderer Mädchenheime.

Und wieder empfehle ich Ihnen als meine Kollegin im Mädchenklub und Weiblicher Fürsorge die Ausführung dieser Idee, die ganz in den Rahmen der Fürsorge paßt und die bedenkliche Seite der Wohnungsfrage für viele gut lösen wird.

Merkwürdig erscheint mir hier, daß man die Mädchen nach keiner Richtung erziehlich zu beeinflussen versucht. Es scheint, daß man schon zufrieden sein muß, sie bis zu einem gewissen Grade zu schützen, sonst sind sie absolut »unabhängig«.

Die Heime sind auch hier ganz koscher geführt. Die Leiterin resp. Wirtschafterin des einen, ist ein sehr sympathisches Frl. A., Nichte des Bildhauers, also liebe C, machen Sie in der Fürsorge Propaganda für die Idee des biegsamen Mädchenheimes, das keine Konkurrenz irgend einer bestehenden Anstalt zu sein braucht. Nennen Sie es, »Wohnheim der Weiblichen Fürsorge« oder »Zuhause der Weiblichen Fürsorge«, irgendwie, um das Wort Mädchenheim zu vermeiden – es wird Ihnen auch noch ein besserer Name einfallen – und fangen Sie mit der Fürsorge zum Herbst an.

»Klubheim« wäre auch gut. Frl. N. hat ja auch schon lange in diesen Plan einschlagende Gedanken. Also, lassen Sie sich das Ding durch den Kopf gehen, ich empfehle es einer hochwohllöblichen, wohlwollenden Erwägung.Auf diese Anregung hin wurden in Frankfurt die Wohnräume der Weiblichen Fürsorge, Fischerfeldstraße 25, gegründet.

Ihre Bertha Pappenheim.

St.Petersburg, 19. 5. 1912

Liebe Frau H.!

Ich habe heute so das Gefühl des Schulkindes, das mit seinen Aufgaben nicht fertig ist, und schwimmen gehen möchte, denn ich bin mit zwei Tagen Notizen im Rückstand.

Also: vorgestern Vormittag war ich im Museum Kaiser Alexander III., einer Galerie moderner Maler von 1800 bis heute. Da ich außer den Jahreszahlen unter den Bildern nichts lesen konnte, so hatte ich die Freude ganz unbeeinflußten, durch keinen Namen beflügelten oder gehemmten Genießens. Ein ganz in altitalienischer Art konzipiertes Bild des kleinen Christus, aber angezogen in einem blauen Kleidchen, die Maria und der kleine Johannes im Fell anbetend, gefiel mir sehr gut. Ein Kenner wird es vielleicht süßlich nennen. Mich interessierte daran, daß, trotzdem alles italienisch sein sollte, die Spitzen an dem Kissen, auf dem das Christuskind liegt, ausgesprochen russische Klöppelspitze, der Schleier der Madonna Malines ist, woraus man das Alter des Bildes feststellen könnte.

Ganz gefangen war ich von einem Saal von Bildern, unter denen allen die gleichen Hieroglyphen zu sehen waren. Darstellungen aus dem japanischen Leben, das Portrait eines alten Mannes, kleine und große Bilder von hinreißender Lebendigkeit und Größe. Es drängte mich das Incognito dieses Großen mit Hilfe des Saaldieners für mich zu lüften, und es war Wereschagin! Unvergeßlich bleibt mir auch eine Broncegruppe: ein traurig sinnender Mann, ein Bübchen an sein Knie gelehnt. Ich weiß nicht, wem ich für mein Leben die Freude dieses Kunstgenusses zu danken habe.

Auch ganz moderne Bilder sah ich, denen man den Einfluß von Paris ansieht, aber die ursprünglichen, manche ganz wild und trotzig, scheinen mir die besseren. Ein Volk, das solche Kunst produzieren kann, ist doch nicht zu unterdrücken. Die »slawische Gefahr« erscheint in manchem Sinne wie eine frohe Verheißung.

Nachmittags holte Br. G. mich ab, um mit mir das Narodny dorn, das Volkshaus der Gräfin Pahlen zu sehn. Ich kann Ihnen natürlich nicht die ganze Einrichtung dieses, in einem ärmlichen Quartier gelegenen Hauses beschreiben, aber Sie werden sich einen ungefähren Begriff machen können, wenn Sie hören, daß der »große Saal« 1000 Menschen faßt. Der Betrieb geht den ganzen Tag: Kindergarten, Kinderhort, Abendkurse, Bibliothek, Theater, Vorlesungen – alles geschaffen und erhalten und betrieben von einer Frau, Gräfin P., die infolge ihres eigenen unglücklichen Lebens ihr Leben und ihr ganzes Vermögen dieser Kulturarbeit gewidmet hat. Sie hat uns selbst geführt, alles gezeigt und erklärt und macht einen sehr angenehmen Eindruck, fest und intelligent, und man begreift, daß ihre Persönlichkeit sehr wohl imstande ist, auch auf die rohe Masse zu wirken.

Sie hat einen Stab von etwa 50 Helfern und Helferinnen, die meisten freiwillige, manche bezahlt.

Es soll noch ein zweites Volkshaus, durch den Kaiser begründet, geben, das aber infolge des Mangels einer so hingebenden Persönlichkeit als Leiterin, wie das P.'sche, nicht so gut und wirksam sein soll.

Gestern vormittag war ich in einer erst seit drei Monaten eröffneten Schule, die der Renaissance der russischen Heimarbeit und Volkskunst dienen soll. Vorsteherin ist ein Frl. Sch.; die Schule ist auf Initiative der Kaiserin gegründet. Es werden alte Teppiche, Stickerein, Perlarbeiten und Spitzen, teils kopiert, teils sollen die Arbeiterinnen auf dem Lande mit gutem Material und Zeichnungen versehen werden, so daß ihre Produkte besser qualifiziert und auch besser bezahlt werden.

Frl. Sch. versprach mir von den Doubletten ihrer Spitzensammlung eine kleine Kollektion für mich zusammenzustellen! Können Sie sich meine Freude und Vorfreude vorstellen? –

Natürlich bummle ich auch durch die Straßen, deren Schilder – ich meine die Schilder an den Geschäften – ganz für die analphabetische Bevölkerung eingerichtet sind. Große Ochsen, Riesenkuchen, Stiefel, Pelze, Kleider, Hüte, alles in grellen Farben gemalt, machen die Straßen auch bunt, wenn die Läden geschlossen sind. Amüsant sind die Kutscher, je vornehmer die Herrschaft, desto dicker der Kutscher, natürlich nur auswattiert und auf dick angezogen ...

St. Petersburg, 20. 5. 1912

Liebes Müllerchen! Gestern hab' ich so was wie Heimweh gehabt, denn ich war abends in einem (echt russischen) Klub. Dr. L. und Frl. R., in einer etwas späteren Ausgabe, haben gesungen, und zum Schluß tanzten die Mädchen.

Der große Unterschied dieses und des entsprechenden jüdischen Klub ist, daß er nur den Winter über dauert (gestern war die letzte Zusammenkunft), daß die Mädchen nur Sonntag resp. Samstag kommen, daß die Zusammenkünfte aber von 11 Uhr vormittag bis 9.30 Uhr abends dauern. Im Sommer werden Ausflüge gemacht und der Verein hat irgendwo ein Landhaus gemietet, wo Klubmitglieder 2 Wochen Erholung finden und die Arbeiterinnen sonst ihren ganzen Sonntag zubringen können. Das fand ich besonders schön. Allerdings ist hier alles billiger, trotzdem die Lebenshaltung im allgemeinen teuer ist. Die Ansprüche sind nicht so groß, wie bei uns – außer ans Essen.

Dann lernte ich dieser Tage, ich vergaß mir es zu notieren, eine Frau C. kennen, die eine Broschüre über Suffragettes geschrieben hat. Ich kann sie natürlich nicht lesen, da sie aber die Szene im Bild hat, in der eine Suffragette mit dem Schlauch durch die Nase »ernährt« wird, – so bin ich mit Frau C. fertig.

Heute war ich auf dem Tandelmarkt von St. Petersburg und fand ein paar alte Lappen für mein Herz. Meine Abreise ist nun endgiltig für morgen abend festgesetzt, da heute die Konferenz bei der Prinzessin sein wird.

Ich glaube Herr B. hat ein bißchen Angst vor mir, aber ich beruhigte ihn, daß ich nichts anstellen werde.

Ich bat ihn, mir heute noch »die Bekanntschaft« mit »andern Leuten« zu vermitteln. »Welche?« fragte er. »Solche, die weniger Hemmungen haben, als die ich bis jetzt traf.« Aber es scheint, daß ich die Vertreter der russischen Psychologie, die uns so viel zu schaffen machen, auch nicht an der Quelle werde kennen lernen. Wenigstens nicht bei meinem ersten Besuch in St. Petersburg.

Der O.'s habe ich in den zwei homes, die ich sah, viele bemerkt. Ich glaube, daß diese Art keine bleibende Form unsres Genus ist – das wäre auch sehr zu bedauern.

Gestern nachmittag sah ich in der Kunst-Akademie eine Sammel-Ausstellung aus der Zeit der Kaiserin Elisabeth, die bis auf die Ausstellung sehr viel Schönes zeigt. An Bildern wenig, das meinem Laiengeschmack gefällt, aber schönes Silber, besonders große kunstvolle Meßbucheinbände und allerlei Kleinkunst, die meinem schwarzen Trostschrank, genannt das Misttrügerl, gar nicht schlecht zusagen würden ...

St.Petersburg, 21. 5. 1912

Liebe Frau N.! Jetzt muß ich trachten, das sachliche Ergebnis meines gestrigen Berichtes bei der Prinzessin von Sachsen-Altenburg festzuhalten. Es waren noch zum Tee anwesend: Frl. S., die Tochter des Vorsitzenden des russischen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels, ein Herr (Pastor?) W., Prof. D., Herr G. und Herr D ....

Das Gespräch drehte sich ausschließlich um die Notwendigkeit und die Art der Bekämpfung, anfangs französisch, doch glitt man nach und nach ins Deutsche. Die konfessionellen und vor allem die nationalen Schwierigkeiten kamen zur Sprache, letzteren wurde noch mehr Gewicht beigelegt. Die Möglichkeit und Form der Anstellung eines Agenten wurde lebhaft erörtert, und ich merkte, daß ich nicht vergeblich in Konstantinopel war, da Herr P. diese Idee voll als die seine vertrat, was ihrer Ausführung natürlich förderlicher ist, als wenn sie die meine geblieben wäre. Ueber den Geldpunkt resp. die Beschaffung der Mittel für einen Agenten wurde gar nicht gesprochen. Herrn B.'s Angst nach »dieser« Richtung war also vergeblich. Ich plaidierte wieder für einen Agenten (am liebsten ein Ehepaar), dem man ein kleines Gehalt und »Wildprämien« geben sollte. Auch halte ich es für einerlei, wo man diesen Mann zuerst in Wirksamkeit treten läßt. Freie Eisenbahnfahrt wäre von den Bahnen zu verlangen. Die Schwierigkeit, nicht jemanden zu engagieren, der nicht der befeindeten Seite dient, ist groß! Ein Jude wäre vorzuziehen.

Ferner brachte ich die Wünsche der Warschauer katholischen Damen vor, die große Schwierigkeiten, seitens der russischen Polizei haben, ihre Schutzplakate zu verbreiten. Bei dieser Gelegenheit trat ich für das weinende Mädchen als internationales Plakat ein, das für eine analphabetische Bevölkerung den großen Vorzug der Sinnfälligkeit hat. Sehr interessant war mir, was Herr W. über das hiesige Prostitutionswesen erzählte. Seinen Ausführungen nach müßten es einfach Idealzustände sein! In bestimmter Entfernung von einer Kirche oder einer Schule ist kein Bordell erlaubt, wodurch die öffentlichen Häuser einfach aus dem Weichbilde der Stadt gewichen sind. Sehr schön – aber es gibt so viele Maisons de passe als man will; 20 Hotels sind gar nicht von wirklichen Reisenden benutzt. Also: keine Bordelle im polizeitechnischen Sinne, wie es heißt, aber 3 000 eingeschriebene Mädchen und zehnmal so viel Geheime, deren Gesundheitsattest die Einnahmequelle der untern Polizeiorgane sind und ein Quell der Krankheit für das ganze Volk. Die Untersuchungen sollen immer unter Assistenz weiblicher Personen, vielfach von weiblichen Aerzten geschehn. Es wurde die Anstellung einer Polizeiassistentin besprochen; ein Jugendgericht soll es geben.

Mein Erwähnen der Mitarbeit des Br. R. (grüne Warnungskarte) fand gar kein Interesse, als ich von Lady A. sprach, glaubte ich einen Blick zwischen der Prinzessin und Prof. D. zu bemerken. Es geht natürlich in diesen Kreisen auch nicht alles glatt. Die Selbstverständlichkeit, mit die Händler, Kuppler usw. als Juden bezeichnet und gekannt sind, ist furchtbar.

Es wird uns wenig nützen, daß das russische Komitee und einige andere Menschen in mir eine Jüdin kennen lernen, die die Schande als solche empfindet und dagegen arbeiten möchte. Stillschweigend gelten »die Juden« sicher in ihrer stillschweigenden Duldung als eine Art von Hehlern. Und ich möchte das Wort variieren, daß wirklich, wer nicht gegen die Gemeinheiten in unserer Gemeinschaft ist, für dieselben ist.

Man soll doch nicht denken, daß unsre Gegner nicht wüßten, welche Demoralisierung in den breiten Schichten des jüdischen Volkes Platz greift. Das Aufhören der religiösen Hemmungen fördert sie, und die Führer stecken die Köpfe in den Sand und halten Reden von Simili-Ethik und Solidarität.

Ich wünschte, diese edlen Vertreter des jüdischen Volkes wären gestern an dem Teetisch der russischen Prinzessin gewesen und hätten unter der glatten vornehm-weltgewandten Form empfunden, was ich empfunden habe. Von dem Standpunkte unserer eigenen Heuchelei, Hehlerei und Feigheit gesehn, hat der Austritt aus der Gemeinschaft eine Berechtigung.

Heute früh war ich in der kaiserlichen Bibliothek, die große Schätze enthält; Herr B. zeigte sie mir und erwies sich sehr freundlich.

Es ist beängstigend zu denken, daß bei der Lage des Bibliothekgebäudes, in einem Augenblick losbrechender Volkswut. solche unermeßliche und unersetzliche Schätze vernichtet werden könnten.

So beschließe ich Petersburg, nicht unbefriedigt.

Mit herzlichem Gruß und dem Wunsche für frohe Feiertage Ihre

Bertha Pappenheim.

Als Anregung für Anträge gab ich noch gestern abend: Herstellung einer schwarzen Liste (international), tunlichst mit Photographien, Herstellung eines internationalen Flugblattes unter Zugrundelegung meines Memorandums. Ich werde die Anträge wohl selbst stellen müssen – vielleicht schon am 21. Oktober 1912 in Brüssel, aber es war mir wichtig, hier d.h. bei dem russischen Komitee, Unterstützung zu finden.

Um das Eisen überall noch warm zu finden, und meiner stillen Mission die Fäden hin und her zu führen und zu verflechten, schrieb ich heute früh 4 Briefe. Heute nacht werde ich Zeit haben, die Daumen zu halten.

Die neuen Schnitzler-Novellen müssen sehr interessant sein.

Haben Sie das Jedermann-Stück gesehn?

Moskau, 22. 5. 1912 Hotel National

Liebe Frau F.!

Heute ist hier ein Nikolaus-Tag. Man begnügt sich hierzulande nicht mit einem Nikolaus im Winter, man muß auch einen im Sommer haben. Ueberhaupt ist außer heute Schewuoth, beständig Feiertag, was natürlich für die Schulen, die Geschäfte, mit Ausnahme der Schnapsbuden, von großem Nachteil ist. Aller Verkehr stockt mindestens an 2 Tagen der Woche. Die Leute sollen auch schrecklich faul sein. Also heute konnte ich hier gar nichts tun oder sehen, als mit der Trambahn nach Sokolniky fahren, eine große, sehr große Parkanlage mit verschiedenen Restaurants, Musik, vielleicht auch Volksbelustigungen. Ich wurde zweimal, einmal sogar von einer fremden Dame in der Tramway gewarnt, mich nicht von den ganz belebten Wegen zu entfernen, das sei bei dem hiesigen Publikum nicht ratsam. Und tatsächlich sieht die große Menge der feiertäglich schlendernden Spaziergänger nicht sehr vertrauenerweckend aus. Sehr arg finde ich auch eine Sorte nicht ganz städtisch (ohne Hut) und nicht recht bäuerlich gekleideter Mädchen, von großer Dreistigkeit im Ausdruck. War es Zufall, daß ich soviel schwangere Frauen sah, oder ist es eine größere Unbefangenheit und Natürlichkeit, die sie trotz ihres Zustandes spazieren gehn läßt, oder sind sie zu faul und zu ungeschickt, ihre Kleider zu ändern? Natürlich war ich ganz taubstumm, und ein beginnender Regen schickte mich bald in die Stadt, wo ich zwei feiertäglich geschlossene Müffelläden fand. Herr B. gab mir für hier die Adresse zu einer Frau G. und zu einem Herrn N. Letzterer hat erst morgen Nachmittag für mich Zeit, scheidet also aus. Frau G. ist sehr nett, geschiedene Frau, die eben ihre Apothekerinnenprüfung gemacht hat, und mir viel Interessantes erzählt hat. Sie will morgen ein paar Stunden mit mir sein. Eine junge Frau P., die ich im vorigen Jahr in Jerusalem traf, habe ich aus meinem Gedächtnis ausgegraben, – aber sie ist in Kiew.

23.5.

Frau G. erzählte mir unter anderem, daß es seit zwei Monaten den Juden verboten ist, nach vollendetem juristischen Studium bei einem Advokaten eine praktische Zeit zu machen, so daß ihnen dieser Beruf vollständig verschlossen ist.

Ich vergaß noch zu notieren, daß, trotzdem Rußland das Land ist, in dem Frauen schon am längsten studieren, sie zu den »Männeruniversitäten« keinen Zutritt haben. In Petersburg gibt es eine Frauenhochschule (staatlich) und sonst Kurse, private Unternehmen, an deren Frequenz sich eine staatliche Prüfung anschließen muß, um irgend einen praktischen Wert – Anstellung oder Wohnrecht – zu haben. –

Die Kinder von A. sollen physisch sehr schön, aber sonst wenig geraten sein. Ferner notiere ich als Kuriosität, daß die Moschee, die in Petersburg im Bau steht, nicht fertig gebaut werden darf, weil ihre Kuppel und ihre Minarets höher sind als die russischen Kirchen.

In Moskau sind 1 500 000 Einwohner, davon 3000 Juden, lauter wohlhabende Leute, aber »sehr bourgeois«.

Unfaßlich ist, wie die Zeit hier gar nichts bedeutet; ein, zwei und drei Tage länger in einer Stadt zu bleiben, als man meint und zur richtigen Besichtigung eigentlich braucht, ist fast selbstverständlich! Der Portier im Hotel weiß von Eisenbahnzügen soviel wie ich und schickte mich zur Schlafwagengesellschaft, wo für meinen Schalter vielleicht 30 Menschen lammfromm standen. Ich machte nicht mit. Der Hoteldirektor erklärte mir, daß für Wochen hinaus alle Plätze genommen seien, aber, wenn ich den Tag meiner Reise bestimmt hätte, (vielleicht! Samstag oder Sonntag), dann wolle er morgen früh einen Kommissionär an die Bahn schicken, um zu sehen, ob es einen Platz gibt. Bei großer Anfrage würde auch manchmal ein Bis-Zug abgelassen, dessen Fahrtsicherheit mir nicht sehr groß scheint. –

Heute und bis jetzt habe ich nur gemüffelt, – zur Galerie usw. bin ich tatsächlich noch nicht gekommen –, habe aber nichts gekauft, weil die Preise zu hoch sind.

Heute ist es plötzlich Sommer, ich mußte meine Jacke ablegen und trinke nun zur Kühlung Tee. Ob das Teetrinken nicht Durst macht? Ich weiß mir das beständige Teeverlangen meinerseits gar nicht zu erklären, denn ich lasse mich doch sonst nie von solchen Landesunsitten anstecken.

Das Leben hier soll sehr kostspielig sein. Der Gemüsemarkt ist sehr schön befahren, es wird aber direkt auf die Ware sehr unappetitlich gespritzt; Fische sind massenhaft da und stehn vielfach in der Sonne, überhaupt ist es sehr schmutzig hier und alles höchst unhygienisch. Leichenbegängnisse weiß. Wenn alle nötigen Faktoren zu meiner Abreise von hier zusammenstimmen, werde ich telegraphieren.

Herzlichst Ihre Bertha Pappenheim.

Moskau, 24. 5. 1912
Hotel National

Liebe Frau N.!

Wenn ich es zu meinen irreparabeln Dummheiten rechne, meine Arbeit im Frauenverein aufgegeben zu haben, so gehört meine Reise hierher zu den größten Gescheitheiten, die ich beging. Moskau ist schon zum Sehen mit die interessanteste Stadt. Sie hat 40 mal 40 Kirchen, alle mit Kuppeln aus Gold, Silber oder festen Farben, der Kreml und einzelne Straßen sind so eigenartig schön, daß man bei hellem Sonnenschein nur zufrieden sein kann, einen Grund zu haben, immer noch und immer wieder durch die Straßen zu schlendern.

Gestern machte ich die sehr interessante Bekanntschaft der Gräfin Barbara B. Als ich an einem etwas von der Straße zurückgeschobenen Hause läutete, öffnete mir ein Diener. Ich stieg eine Holztreppe mit einem etwas verwurstelten grünen Leinenläufer hinauf und befand mich auf einem schmalen Korridor, der eine große Tiefe des Hauses verriet und der mit unzähligen Reisekoffern verengt ist. Ich wurde in ein großes Zimmer geführt, das mit einem Glasschrank alter Tassen, Bildern, einem Gemisch von Möbeln aus der guten, alten und der schlechten, nicht neuen Zeit, gleich ein wirkliches Kulturmilieu zeigte. Leider auch Photographien an der Wand. Die feste moderne Note, der große Schreibtisch mit dem Telephon. Es gibt kein besseres Zeichen für den ganz natürlichen Sieg der Frauenbewegung, als das Verschwinden des Damenschreibtisches. Wo ich, wenn ich warten muß (und ich muß doch immer warten), noch einen Damenschreibtisch oder Möbel mit Schutzüberzügen finde, da sind auch die Frauengehirne noch unentwickelt.

Also gestern ein großer, breiter Schreibtisch, gut dem Licht zugestellt, und Gräfin Barbara B. ließ mich nicht lange warten. Sie spricht nicht deutsch, aber französisch und englisch. Eine sehr einfach und sehr bürgerlich aussehende Frau mit gütigeren Zügen, als die Gräfin P. in Petersburg.

Sie erklärte mir sehr rasch und deutlich, daß sie sich für die Prostitutionsfrage, Frauenfrage, Mädchenschutz usw. zu interessieren keine Zeit habe, da ihre ganze Kraft der Einrichtung und Führung der Moskauer Nachtasyle gewidmet sei.

Die Stadt Moskau läßt jährlich durch ihre Hand 2 Millionen Rubel gehn, und wenn es mich interessiert, dann wolle sie mir heute die Asyle zeigen, sowohl die, die sie eingerichtet, wie die, die sie bekämpft.

Sie können sich denken, wie gerne ich das Whitechapel von Moskau sehn will, und heute Abend um 7 Uhr werde ich Gräfin B. in ihrer Wohnung abholen. Ein kurzer alter Rock wäre nötig, wegen des unvermeidlichen Ungeziefers und sonst gute Nerven. –

Dann kam durch Frau G. angehippt eine Frau Dr. G., die mit mir durch den Kreml ging und von der ich viel, viel hörte; sie ist klug, ist Rigaerin, hat lange in Berlin gewohnt, gehört der Frauenliga für Stimmrecht an, aber es ist etwas in ihr oder an ihr, das mich störte. Sollte sie nicht aufrichtig sein? Darauf kann ich natürlich keine Probe machen. Für mich ist es einerlei. Sie ist die Tochter des Wilnaer Rabbiner (außer Amt). Ihr Bruder scheint großer JCA-Mann, aber ich verbarg meine Gefühle. –

Um 7 Uhr wollte ich in die jüdische Restauration fahren (Lurié) Frau G. setzte mich in einen Wagen, der Kutscher setzte mich an einem Hause ab, in dem es mir gar nicht hübsch schien. Nirgends die drei Buchstaben, die mich hätten leiten können, alles unleserlich, teils menschenverlassen, teils unangenehme Exemplare des Genus Mensch, also nahm ich wieder einen Wagen und fuhr ins Hotel zurück.

Heute früh war ich von 10 – ½ 1 Uhr in der Galerie Trétiakoff, die wundervolle Bilder enthält. Bis auf wenige Altarbilder sind die »alten« Bilder nur von 1800 an – aber so schön und kräftig – trotz Biedermeier gar nicht sentimental. Sein Sie froh, daß ich gar nicht versuchen darf, meinen Laienempfindungen feuilletonistischen Ausdruck zu geben. Repin, Wereschtschagin, Kramskoi und noch viele andere Unaussprechliche, Iwan der Schreckliche von Antokolsky und ein Christuskopf, den ich in Petersburg in ganzer Figur in Bronze sah – ein sehr menschlicher Christus und darum für Antokolsky doppelt interessant.

Jetzt gehe ich ins Rumianzew-Museum, und um 4 Uhr will Frau G. wieder im Hotel bei mir sein ...

Ihre Bertha Pappenheim.

Moskau, 26. 5. 1912

Liebe Frau H.!

Ich sitze jetzt 11.30 Uhr im Hotel und weiß noch nicht, ob ich um 2 Uhr, um 2.30 Uhr oder gar nicht abreise. Seit einer Stunde ist ein Kommissionär am Bahnhof, um zu versuchen, ein Reisebillet für mich zu bekommen. Daß ich heute wegen großer Hitze lieber in Warschau noch eine Nacht zu bleiben plante, um auch mit den Warschauer Damen noch zu sprechen, scheint nicht mehr zu machen. Denn, wenn ich und mein Gepäck heute glücklich bis Lemberg aufgegeben bin, wie und wann soll ich in Warschau klar machen, daß »wir« die Fahrt unterbrechen wollen? Natürlich trenne ich mich nicht von meinem Gepäck. Den Begriff der Vergnügungsreise scheint es hier noch nicht zu geben.

Der gestrige Abend war einer der wichtigsten für mich, und wenn ich Schlüsse ziehe, auch wichtig für uns, ich meine damit die in der sozialen Arbeit stehenden Juden.

Ich war natürlich pünktlich um 7 Uhr im Hause der Gräfin B., die mir wiederholt erklärte, daß sie weder mit der Frauenliga (Feministinnen), noch mit dem Verein für Mädchenschutz »sympathisiere«, sachlich sowohl als auch, weil die in den Vereinen arbeitenden Frauen auf einem andern Standpunkt stünden. Später erkannte ich, daß »nicht sympathisieren« bei ihr gleichbedeutend mit zu liberal sein heißt. Nach einigen sehr bestimmten Aeußerungen der Dame, daß sie nur die Menschen respektiere, die zwischen ihrem Leben und ihrer Ueberzeugung keinen Unterschied machen, Aeußerungen, denen ich uneingeschränkt zustimmte, setzten wir uns in ein Auto. Dann sagte ich ihr – was ich eigentlich hätte gleich tun müssen – daß ich Jüdin sei. Sie hatte es schon tags vorher gedacht, weil die Dame, die ihr telephoniert habe – Frau G. – diesen unverkennbaren, schrecklichen jüdischen Tonfall habe. Ihr Gesicht verzerrte sich förmlich, wie in Erinnerung von etwas ganz Ekelhaftem. Und dann erklärte sie mir, daß es unmöglich für Russen sei, die Juden zwischen sich aufzunehmen, sie werden sich nie vermischen, sie sind absolut verschieden.

Ich warf in die heftige Rede ein, es handle sich nicht um ein Vermischen, sondern nur um ein Tolerieren. »Rien, rien«!

Mit den armen Juden, wie sie z.B. in Wohlhynien eng beisammen wohnen und ihre Religion aufrecht halten, da könne man noch Mitleid haben; aber die schon zu Vermögen und Intelligenz gekommen sind, sind Atheisten und Anarchisten. »Ich kennen keinen wohlhabenden Juden, der von einem Ideal – irgendeinem – erfüllt ist, für das er lebt und stirbt und irgend ein Opfer zu bringen imstande wäre. Jeder Jude denkt zuerst an seinen Vorteil. Wir Russen, wir haben unser Ideal, das Volk, der Mouschikruss.: Bauer, für den wir leben, nous faisons tout pour le relêvement de notre peuple.«Wir tun alles für das Wiederaufleben unseres Volkes.

»Mais a nous juifs, on ne permet pas de faire la même chose, pour nos correligionaires«.Aber uns Juden erlaubt man nicht, das Gleiche zu tun für unsere Glaubensgenossen. Sie hörte keinen Einwand – mit einer Glut und mit einer Wut sprach sie, die groß und für uns vernichtend war, denn die Gräfin B. ist natürlich ein Typus – eine von Tausenden, die wie sie denken.

Uebrigens fügte sie hinzu, es mache gar nichts aus, mit einer einzelnen Jüdin auch einmal zu tun zu haben. Sei doch sogar der Leiter ihres Nachtasyls, ein Doktor S., ein Jude. Warum? Weil sie keinen russischen farblosen Doktor gefunden habe, den die Regierung bestätigt hätte. S. sei ein guter Arzt, verstehe sein Amt, und sei politisch absolut farblos.

Warschau, 27.

Ferner sagte sie, im Verkehr zwischen Juden und Christen – einerlei, ob Russen, Katholiken oder Protestanten komme man als Christ immer auf einen Punkt, in dem man nicht zusammen weiter gehen könne, denn die Juden haben eine ganz verschiedene Ethik und Aesthetik, wie die Christen.

Ich versuchte zu sagen, daß die christliche Ethik die jüdische sei: »Ce n'a jamais été, jamais, jamais.«Das war es niemals, niemals.

Nach der Seite der Ethik war sie nicht zu überzeugen, was den mangelnden Idealismus betrifft (ich konnte mich doch nur selbst als einen für ein Ideal lebenden Menschen und Jüdin anführen), die mangelnde Aesthetik, die Biegsamkeit und teilweise die Gebogenheit der Rasse zu vielem mußte ich schweigen, weil Gräfin B. recht hatte, und weil sie nur das unter erschwerenden Umständen Gewordene sieht und sehen kann. Wir beide Frauen waren sehr erregt, und wenn wir nicht durch die Hemmungen der Erziehung und Kultur in Zaum gehalten gewesen wären, wenn wir uns irgendwie außerhalb eines sausenden Autos in der Steppe, in der Wüste getroffen hätten als christliches und jüdisches Weib, unser »Verkehr« hätte sich anders gestaltet. Körperlich wäre sie die Siegerin geblieben, vielleicht wird sie es auch sonst bleiben, denn die Feindin hat recht, sie arbeiten pour le relevêment du peuple, und wir Juden sehn der Demoralisierung unseres Volkes und darum seiner Vernichtung und Auflösung mit freundlicher Fratze zu. –

Gräfin B. brachte mich zuerst zu ihrem Asyl, d.h. dem Gebäude, das sie mit kommunalen Mitteln errichtet hat. Zur Berichtigung muß ich hier anfügen, daß die 2 Millionen Rubel nicht jährlich, sondern einmalig bewilligt waren, daß Gräfin B. aber jeden andern Betrag, den sie verlangen würde oder wird, teils aus kommunalen, teils aus privaten Mitteln haben kann, z.B. zum Bau und zur Führung einer Stelle für Arbeitsvermittlung, die sie einzurichten gedenkt.

Das Nachtasyl der Kommune Moskau ist ein großes 3-stöckiges Gebäude, das in großen heizbaren Sälen auf Holzpritschen allnächtlich 1500 Menschen aufnehmen kann und auch aufnimmt; etwa 300 Frauen und Mädchen, das andere Männer.

Es besteht nämlich in Moskau, und in andern russischen Städten auch, ein großer Zustrom bäuerlicher Elemente, die in der Stadt Arbeit suchen. Diese guten Elemente will man durch die Aufnahme in die Asyle – bis sie Arbeit gefunden haben – von anderen schlechten Elementen in anderen Asylen, von den ausgesprochenen Huligans getrennt halten, damit sie nicht, durch diese ausgeraubt, verführt und angestiftet, gleichfalls solche werden.

In diesen Asylen kostet der Aufenthalt für eine Nacht 5 Kop., es gibt sehr gutes billiges Essen, Tee, Bäder und keinen Alkohol. Aber es geschieht auch gar nichts, um die Menschen erziehlich oder sonst zu beeinflussen. Als wir auf der Treppe standen, sah ich, wie ein Mann sinnlos betrunken von zwei Wärtern die Treppen hinuntergeschleift wurde. »Tun Sie nichts, die Trunksucht zu bekämpfen?« – »Nein, das ist unsere Arbeit nicht.« – »Würden Sie gestatten, daß eine Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, in Ihrem Asyl Flugblätter verteilte?« – »Ich hätte nichts dagegen, es könnte vielleicht nützlich sein – aber es geht mich nichts an, ich bin nur für das Asyl da«, sagte die Gräfin.

Dr. S. scheint mit den Leuten sehr gut umzugehen und sehr beliebt zu sein. Er spricht deutsch – comme il est Israelite –, ich hatte keine Veranlassung, mit ihm in einer Sprache zu sprechen, die meine Führerin nicht spricht.

Das ganze Unternehmen machte einen guten Eindruck; die Frauen sind die schlechteren Elemente der Besucher, verkommene Existenzen, Gelegenheits-, nicht Professionsprostituierte. Man bekümmert sich um niemanden, auch nicht um Minderjährige und Kinder!! – Das wäre die Aufgabe anderer Gesellschaften, der einzelnen, individuellen Fürsorge, von der Gräfin B. nichts hält, so wie sie überhaupt von Frauenarbeit, Frauenbewegung, Kongressen, Stimmrechtsbewegung usw. nichts hält!

Ich bemerkte, daß sie selbst doch ein Beweis sei, wie gut eine Frau arbeiten könne. – Das sei eine Ausnahme, eigentlich mache sie Männerarbeit als Mitglied und mit der Kommune. Ich mußte ihr recht geben, und in dem sich mir unwillkürlich aufdrängenden Vergleich mit der Gräfin P. in Petersburg wuchs letztere, als Frau, hoch über Gräfin B. hinaus, da sie doch in ihrem Narodny dom an der Petersburger Bevölkerung ein großes Stück nationaler Erziehungsarbeit vollbringt – vom Kinde angefangen bis zum erwachsenen Mann und an jeder Frau. –

Gräfin B. hat noch ein anderes großes Interesse, nämlich das, dem Volk Theatervorstellungen zu vermitteln. Es gibt einen Verein in Moskau, der sich diese Aufgabe gestellt hat, und zwar muß mit lauter freiwilligen Kräften (bis auf einen angestellten Regisseur) gearbeitet werden, da alle Kosten auf ein Minimum zu beschränken sind. Es ist ungefähr die Idee des Rhein-Mainischen Unternehmens, aber wie mir scheint, mit einem noch viel wirksameren Mittel arbeitend. Die Gesellschaft schickt nicht Schauspieler in die Dörfer, sondern das Stück, den Apparat zur Aufführung – Szene und Kostüme. Der Regisseur geht in ein Dorf, verabredet mit einem Lehrer oder Geistlichen als Leiter die Aufführung und sucht ein Lokal, und aus den Dorfbewohnern selbst die Schauspieler, verteilt die Rollen und reist ab. Nach 3-4 Wochen kommt er wieder, sieht, wieweit das Lernen und Proben gediehen ist, leitet selbst eine Probe und bestimmt nach weiteren 3-4 Wochen die Aufführung, zu der er dann da ist, und bei der das ganze Dorf die Zuschauer bildet.

So sind im vergangenen Jahr 112 Aufführungen in ebenso vielen kleinen Orten veranstaltet worden. Zur Aufführung kommen nur einfache Stücke aus der russischen Geschichte oder Legende. Es gibt nicht viele Stücke, aber doch ausreichend.

An dem Abend, an dem Gräfin B. mich mitgenommen hatte, war es ihr noch wichtig, die Probe für eine solche Theater-Aufführung zu sehen. Es war ein unvollendetes Stück von Puschkin, zu dem man den Schluß angefügt hatte. In einem ganz kleinen Lokal – für Frankfurter Begriffe »unmöglich« – ward probiert. Ein Maler hatte die transportablen Kulissen gemalt, junge Leute hatten inszeniert, Mädchen die Kostüme genäht, und ich denke, die Sache war für ländliche Anforderungen sicher sehr gut, und die Idee, die Leute selbst zu interessieren und zu beschäftigen ist zweifellos unter den verschiedensten Gesichtspunkten besser, als ihnen ein fertiges mittelmäßiges Theater zu servieren.

Wir wollen einmal mit Dr. E. über die Sache reden.

Wir sahen nur einen Akt und fuhren dann zu den Nachtasylen, die Gräfin B. durch ihre Häuser bekämpfen will. Das sind im schlechtesten Viertel gelegene große Häuser, 2 bis 3-stöckig, die Privat-Unternehmen gehören, – sie verdienen 60 Prozent – und an einzelne Wirte verpachtet sind. Diese richten dann die Pferche für Menschen ein, die für 5 Kop. eine Nacht, und wenn sie wollen, den Tag über bleiben können.

Ich kann mir ersparen, Ihnen zu erzählen, was ich sah, ich brauche Sie nur auf Gorki hinzuweisen, ein Name, den meine Führerin, als ich ihn nannte, sicher absichtlich überhörte.

Natürlich sind die Szenen, die Gorki vorführt, einzelne, aber diese trunkenen Männer und Weiber zusammen zu sehen, das Schreien und Lachen und Johlen aus den Fenstern zu hören, die frechen Gestalten an sich anstoßen zu fühlen, diese Luft zu atmen, das Kellerloch zu sehen, wo allnächtlich die bei den Schlägereien Umgekommenen hineingeworfen werden, zu wissen, daß im gegebenen Augenblick auf relativ kleinem Raum 4000 solcher Menschen beisammen sind, die auf einen Wink zu Pogrom-Bestien werden können, – es legte sich wie ein Alp auf meine Brust! –

Als wir aus einem der Häuser traten, lag ein vielleicht 11 jähriges Mädchen in tiefem Schnapsschlaf neben der Schwelle, wir wären im Dunkeln fast auf sie getreten. Ich wünschte, sie wäre nie mehr erwacht. Ich fragte die Gräfin, ob sie sich des Kindes nicht annehmen könne. »No, and even if I would, – it would be too late.«Nein, und selbst wenn ich wollte, wäre es zu spät.

Gräfin B. war noch so liebenswürdig – es war inzwischen fast 11 Uhr geworden – mich im Auto ans Hotel zu bringen. Ich dankte ihr. Sie sagte, sie würde sich freuen, wenn sie mir hätte dienlich sein können. Ich sagte, daß sie mich um unendlich wichtige Erfahrungen und Eindrücke bereichert habe und daß ich ihr deshalb besonderem Dank verpflichtet sei.

Mein Dank war aufrichtig, trotzdem ich fühlte, daß ich einer Feindin conventionell und höflich die Hand reichte.

Der entsetzliche Gedanke an die 4000 Huligans, die in einer Nacht auf einem Haufen, doch auch für Moskau nur ein Bruchteil des latenten Verbrechertums darstellt, wurde mir in dieser unruhigen Nacht nur dadurch erträglich, daß ich auf der anderen Wagschale einen Tolstoi und einen Wereschtschagin sah und mir klar machte, daß die Schlechtigkeit sterblich und vergänglich ist, und daß uns das Gute und Schöne bleibt.

Wenn wir diesen Trost nicht hätten, müßte uns der Einblick in die Nachtseiten des Lebens erdrücken.

Mit herzlichem Gruß Ihre

Bertha Pappenheim.

Das Findelhaus habe ich nicht gesehen. Es soll eine kleine Stadt sein. Es werden nur normale Entbindungen vorgenommen, andere in Spitäler geschickt. Wie man das in allen Fällen durchführt, weiß ich nicht. Eine Frau, die ein 2. Kind mitstillt, kann, so lange sie es tut, mit ihrem Kinde bleiben. Die Kinder, die ungenannt bleiben, bekommen eine Nummer, später heißen sie oft Pryudsky. Pryud-Asyl. Die meisten Kinder kommen bald nach der Geburt aufs Land, und die Sterblichkeit unter ihnen soll sehr groß sein.

»Man« zeigte die Anstalt nicht gern; es ist schwierig, hineinzukommen, und ich wollte mir keine Ungelegenheiten bereiten, da ich doch reichlich unoffiziell da bin. Ich fragte Gräfin B. nach der Anstalt, sie sagte, daß sie nichts von ihr wisse, als daß man sage, daß sie nicht gut sei, was man ja von allem sage, was von der Regierung geführt oder unterhalten werde. Ob wirklich die Spielkartensteuer zur Erhaltung genügt? Ob die Kaiserin Katherina sich das Haus, das sie aus einem großen Gedanken heraus gründete, so entwickelt dachte? –

Warschau, 28. 5. 1912

Liebe Frau N.!

Den letzten Vormittag in Moskau, den ich sonst überall noch zu einer Besichtigung verwendet hätte, mußte ich mit Fragen und Warten verbringen und mich schließlich doch noch in den Vor-Zug eilen. Ich dachte, mit einer Platzkarte für »Dannsky« vorgesehen zu sein, der Nacht wegen, mußte aber sehr bald erfahren, daß es kein Damencoupé gab. Mein Zellengenosse – der »sogar« I. Cl. hatte reisen wollen – mußte sich auch fügen. Er versicherte mich, so lange wir à deux waren, daß ich es mir nachts »ruhig« bequem machen könne, da er Familienvater sei. Glücklicherweise stieg nur in Smolensk noch eine weibliche Ehrenwache von gut 2 Zentnern ein, die unser Zellengenosse ruhig das Oberbett erklimmen ließ. Ich kroch natürlich ganz bekleidet auf meine Matratze und sah, wie es bei ihr oben immer mehr wurde, je mehr sie auszog, und wie er unten von dem Umstand, Familienvater zu sein, den äußersten Gebrauch machte! Trotzdem er einen mich quälenden Husten hatte, den ich mir mit 2 Codein-Tabletten stillte, schlief er sehr gut, während ich vor Hitze und Staub die ganze Nacht kein Auge schloß – außer natürlich in den Momenten, in denen es die Schicklichkeit erforderte.

Am anderen Tag erging sich unsere Conversation – natürlich französisch – da er ein Pariser aus dem Elsaß war, aufrecht behagliche Bahnen, denn er kennt die Familie P. in Frankfurt, die T. und S. in Paris, weiß, daß die junge Frau diesen Winter nicht durch einen accident am Badeofen, sondern durch Handschuhe waschen mit Benzin verunglückt sei. Ferner weiß er, daß Mde. S. – unsere Mde. S.? – die Gründerin des temple reforme in der Rue Copernicque gestorben sei! Das wäre doch arg und täte mir sehr leid; persönlich, denn sie ist oder war eine liebe und gute Frau, und sachlich wäre es arg, wegen des internationalen Bundes. Vielleicht können Sie die Sache, natürlich vorsichtig, feststellen.

Für die Identität der Person spricht, daß mir mein Mitreisender erzählte, der Leichnam sei zur Einsegnung in den Tempel gebracht worden! Solche Ungeheuerlichkeiten bringt die radikale Reform. Also rüsten wir uns indessen, auch in Frankfurt solche Blaue Wunder in der allein seligmannischen Synagoge Wortspiel mit dem Namen des liberalen Rabbiners Caesar Seligmann in der Königsteinerstr. zu erleben. Mein Mitreisender erzählte mir dann noch, daß er in Paris bei Entgegennahme seines Passes dagegen protestiert habe, daß die Religion eingetragen werde, infolgedessen sei er Protestant.

Ich hatte ihn natürlich schon in Moskau, bevor sich die Lokomotive in Bewegung setzte, für einen französischen Zwillingsbruder des amerikanischen Herrn H. festgestellt, nur hatte ich so einen leisen Verdacht auf einen Mädchenhändler nach der Analogie in jedem Weibe Helena zu sehen.

Infolgedessen wiederholte ich immer im Geiste die bekannte Stelle unserer Warnung: »Nimm keine Wohnung, keine Stelle, keine Heiratsanträge an, ohne vorherige gründliche Auskunft einzuholen«, und so entkam ich glücklich allen Fährlichkeiten, bis auf rheumatische Schmerzen, die ich aber nicht auf Konto der Reise setzen kann, sondern auf den heftigen Temperatur-Umschlag.

Hier angekommen – sprach ich gleich mit den Frauen M. und T., denen ich mein Kommen telegraphisch mitgeteilt hatte, um die Zusammenarbeit ihres Mädchenschutzbureaus mit der »Landeszentrale« (so versüßte ich ihnen die Pille der russischen Zugehörigkeit) etwas detailliert zu besprechen. Sie begriffen sehr gut, worauf es ankommt, und ich glaube wirklich, daß ich durch Hin- und Herführen der Fäden unserer Sache genützt habe. Ich will nachher nochmals auf die jüdische Geschäftsstelle gehen und mich ein bißchen an der guten Arbeit freuen.

Frau T. erzählte mir mit großem Kummer, daß in diesen Tagen die Warschau-Wilnaer Bahn, die bisher einer Aktiengesellschaft gehört habe, russisch verstaatlicht worden sei, und daß binnen ganz kurzer Zeit an tausend polnische Beamte entlassen und brotlos geworden seien, auch Leute, die nach 30-jähriger Dienstzeit kurz vor ihrer Pensionierung gestanden hatten. Solche Vorgänge riefen natürlich die größte Erbitterung hervor und verschärfen die Gegensätze ...

Auch die polnischen Frauen hier werden hoffentlich mit meiner Intervention bei der Prinzessin zufrieden sein.

Ich habe heute nacht Kassa gemacht und glaube im großen und ganzen für meine russische Reise mit einem kleinen Gewinn abschließen zu können.

Morgen fängt dann das galizische Geschäft an, über das ich wieder getrennt weiter berichten werde. –

Lemberg, 30. 5. 1912

Liebe L.!

Gestern abend 8.30 bin ich hier angekommen, nachdem ich schon morgens früh in Granicua aufgeatmet hatte, über die Grenze eines Landes geschritten zu sein, in dem jeder Mensch, nicht nur der Jude aus drei Teilen bestehen soll: Leib, Seele und Paß – wobei Leib und Seele defekter, d.h. weniger in Ordnung zu sein braucht, wie der Paß. Käuflich sind alle drei Bestandteile eines russischen Menschen.

Es tut mir leid, daß ich meiner Mutter in diesen Tagen kein Steinchenzum Gedenken am Jahrtag ihres Todes bringen kann, aber wie oft habe ich auf dem weiten Wege zwischen Moskau und Lemberg in Gedanken die Reise nach Frankfurt zurückgelegt und kleine Abstecher nach Preßburg nicht unterlassen. – Heute, nachdem ich auf meinen russischen Abstecher zurückblicke, muß ich selbst sagen, daß er doch körperlich und in gewissem Sinne auch geistig eine Anstrengung bedeutet hat; daß ich sie gut bewältigt habe, ist sicher mit deshalb, weil ich eben »von guten Eltern her« bin.

Also das Wichtigste: Die Eremitage soll geschlossen sein, weil große Abgänge aus den Sammlungen bemerkt worden sind. Vielleicht werden auch tatsächlich Umbauten gemacht oder Neueinrichtungen, die das Stehlen schwerer machen. Aber da an dem Verschwinden vieler wertvoller Objekte hochgestellte Personen mitschuldig sein sollen, so werden Vorrichtungen einfacher Einbruchs- und Diebssicherheit nichts nützen.

Das Rumanzew-Museum in Moskau ist kein Genuß. Vielleicht habe ich schon einmal irgendwo aufgeschrieben, daß ich dort war. Doch glaube ich nicht die Wichtigkeit erzählt zu haben, daß ich auf meiner Rückreise in Warschau an der Bahn wieder zufällig den JCA-Minister F. traf und zwar in einem für mich unangenehmen Moment, da ich meine Fahrt unterbrechen mußte und keinem Beamten klar machen konnte, was ich eigentlich wollte. Herr F., an den ich mich wandte, sagte mir, ich solle nur den Stationsvorstand suchen! Grattez le russeKratzt den Russen – aber in dem Fall kam der Pollak und nicht der Tartare zum Vorschein und für mich die Sicherheit, daß man in Petersburg, trotz gegenteiliger Versicherung, Herrn F. schon gesagt haben wird, daß ich im Waisenhaus nicht alles gut fand. Natürlich ist bei der Sache die Möglichkeit einer Verbesserung des Waisenhauses wichtiger, denn die Anstalt soll sich noch hinauf entwickeln, F. und Pappenheim haben den Höhepunkt ihrer Entwicklung schon erreicht. Daß ich in Warschau durch die Schuld eines alkoholfreundlichen Trägers den Zug versäumte, hatte zur Folge, daß ich eine Nacht von 11.45 bis 9 Uhr in der Bahn zubrachte, aber auch, daß ich ein paar Stunden bei Frau M. war und dort einen Rechtsanwalt B. und seine Frau kennen lernte. Wir hatten lebhafte Debatten, aber sein höflicher Wunsch, ich möchte nochmals den Zug versäumen, deckte sich nicht mit meinem Verlangen weiterzukommen.

Hier wurde ich mit der mich riesig freuenden Ueberraschung einer jüdischen Bahnhofsmission, die seit vergangenen Sonntag existiert, empfangen. Die christlichen Frauen hatten gar nichts für uns getan. Natürlich ist die betreffende Missionarin – sie war früher Lehrerin – noch gar nicht orientiert, aber sie hat doch schon vielerlei zu tun gehabt. Für 16 Stunden Tagesdienst bekommt sie 30 Gulden. Aber der Verein weiß noch nicht, woher das Geld kommen wird. Die Herren Männer wollen es nicht geben, und die Frauen haben es nicht. Frau L. will sich an die Wiener Alliance wenden. Soeben sprach ich Frau H. aus Lodz. Sonja B. war bei ihr; sie hatte gehört, daß ich da war; sie schien ihren Mutterschmerzen entgegenzugehen und hat ihre Adresse absolut nicht angeben wollen.

Frau H. hat nicht nach dem Vater des zu erwartenden Kindes gefragt, »denn in Lodz gilt der Code Napoléon«der das Forschen nach der Vaterschaft untersagt, aber ich glaube nun doch erst recht, daß der ganze Fall Sonja in L. schlecht behandelt wurde. Sie soll sehr hübsch und gut gekleidet gewesen sein.

Ich schließe diesen Brief in dem angenehmen Bewußtsein, ihn voll Zuversicht und einfach der Post anvertrauen zu können. Im hiesigen Land könnte er nur verschlampt werden. Es sollen heute hier Studentendemonstrationen sein, aber ich habe nichts davon gesehen.

Mit vielen, vielen herzlichen, herzlichen Grüßen Ihre

Bertha.

Ich hörte heute, daß ein polnischer Arzt Dr. H. in Heidelberg aus der Zusammensetzung des Blutes, die Blutsverwandtschaft von Menschen und Familien nachweisen will. Das wäre doch eine schöne Art – natürlich dem Code Napoléon entgegen, die Vaterschaft bei irgend einem Kinde nachzuweisen. Lassen Sie sich doch einmal von Dr. F. die Geschichte auseinandersetzen, und wenn ich über 100 Jahr wiederkomme, bilden Sie mich. Auch dramatisch ließe sich ein solcher Nachweis gut verwenden und wäre neuer und origineller als das Muttermal in Himbeerform auf der linken Hüfte.

Lemberg, 1. 6. 1912

Liebe Frau C!

Seitdem die russische Schonzeit für Briefe für mich vorbei ist, habe ich schon recht unerfreuliche Nachrichten und Protokolle, die nur das große Gute haben, daß ich »protokollarisch« sehe, wer im Vereinsleben den Charakter nicht verloren hat. Nur glaube ich, daß, wessen Charakter durch Vereinsleben und Politik verdorben wird – nicht viel zu verderben hatte. –

Heute fiel mir noch ein, daß ich einen kleinen Nachtrag von Moskau zu notieren habe, der sehr charakteristisch ist. Während meiner Anwesenheit dort war gerade eine Komiteesitzung für einen Frauenkongreß 1913 in Moskau. Frau G. (Jüdin) telephonierte mir im Auftrage des Komitees, ich sollte zur Zeit einen Vortrag über Mädchenhandel halten. Ich sagte, daß das nicht ginge, da ich doch offiziell als Jüdin weder in Moskau sein, noch an einem Kongreß teilnehmen könnte. Frau G. sagte: »Das wissen die christlichen Damen, aber sie lassen Sie bitten, Ihren Vortrag zu schicken, damit er ins Russische übersetzt und von einer Christin vorgelesen werden kann«. Wenn eine Jüdin eine solche Botschaft übernimmt, dann macht sie sich natürlich – auch bei den Russen verächtlich.

Gestern bekam ich unter anderem auch einen sehr liebenswürdigen Brief von Claude Montefiore, in dem er sein Bedauern ausspricht, mich nicht in Frankfurt getroffen zu haben. Persönlich bedauere ich es, denn nachdem ich schon so oft sein Gast in seinem Palast war, hätte ich ihn gern einmal als meinen Gast in meiner Hütte empfangen, aber sachlich ist es besser so. Er ist sicher in Frankfurt auf schmeichelnden, kosenden Wellen dahin geglitten, und man hat ihm gesagt, was gut zu hören ist. Ich hätte das Idyll vielleicht gestört. Er schreibt zwar, daß er für die »galizische Angelegenheit« vielleicht wieder nach Frankfurt kommt. Aber ich weiß gar nicht, was er damit meint, will auch nichts wissen – nicht was und nicht wann er etwas meinen kann. Er könnte sonst vielleicht in meinem Gehirn die Idee entstehen, daß es Gewissenssache für mich wäre unter Umständen einer Konferenz – wenn M. Cl. M. eine solche meint – anzuwohnen. Ich disponiere lieber anders.

Aus dem großen Trara seiner Zeit der »Selbsthilfe« im Lande ist gar nichts geworden. Vor länger als einem Jahr eine Sitzung – seither nichts mehr. Ich habe Herrn von H. besucht, d.h. ihm eine Karte gebracht, auf die er nicht reagierte. Es ist aber immerhin möglich, daß man ihm das kleine Stückchen Papier gar nicht gegeben hat.

Besonders angenehm hier ist es für mich, daß Herr PilichowskyLeopold P., berühmter jüdischer Maler, der B. Pappenheim als Glückel von Hameln portraitiert hat hier ist. Er hat einige Portraits zu machen von einer Sorte Menschen, die es ganz begreiflich machen, daß er sich gern mit mir zum Mittagessen oder Nachtmahl verabredet. Eine furchtbare Folie für mich – aber eine Folie. Erinnern Sie sich noch an Herrn Leop. Katscher, den Herr HallgartenCharles Hallgarten, gest. 1908, sozialpolitischer Motor bei der Umgestaltung Frankfurts von privater Wohltätigkeit in rationelle Fürsorge auf mich hetzte – ihm verdanke ich die Bekanntschaft des Ehepaars Pilichowsky. Denken Sie nur wie nett: Mann und Frau haben in der hiesigen Kunstausstellung je ein großes Bild ausgestellt, die einträchtig nebeneinander hängen.

Pilichowsky: das Schma IsraelHöre Israel am Jomkipurhöchster jüdischer Feiertag. Pilichowskys Frauen, die von einem Begräbnis nach Hause kommend an einem leeren Bett klagen. Beides packende Sujets, aber ich kann diese großen Leinwanden nicht leiden. Ich glaube, daß die modernen Maler nicht kleinfigürlich malen, vor allem nicht zeichnen können, und halte die Plakatmalerei für ein Armutszeugnis. Außerdem sind die großen Bilder ein Hindernis, sie zu verkaufen. Die bürgerlichen Wohnungen werden immer kleiner und teuerer, jeder Besenschrank hat seinen ausgetiftelten Platz. Wer kann heute noch Bilder kaufen, – deren Dimensionen einen nachts fürchten machen können. P. sagte: »Große Gedanken verlangen oft große Kompositionen.« Ich bleibe bei meinem kleinen Christus von Dürer in Darmstadt, der ist mir gerade groß und klein genug. Aber Sie können sich gar nicht denken, wie angenehm es mir ist, mit Leuten beisammen zu sein, die vom Mädchenhandel so wenig wissen, aber dafür anderes. Und doch will P. unter Umständen helfen, einen Agenten zu suchen – für Warschau – so wir Geld hätten, ihn zu bezahlen!

Bevor ich meinen Brief schließe, füge ich noch die amusierliche Notiz bei, daß morgen 10 Uhr früh ein Journalist kommen will, um mich zu sprechen; Mitarbeiter eines klerikalpolnischen Blattes. Was kann er von mir wollen?

Mit herzlichen Grüßen an alle Abonnentinnen Ihre

Bertha Pappenheim

Brody, 4. 6. 1912
Hotel Europe

Liebe Frau N.!

Ich habe Sie gestern auf meiner Karte falsch berichtet: »Der alte Gott« lebt nicht mehr, das Hotel heißt Europe und wird von Frau S. aus Zloczow bewirtschaftet. Die Details der »Bewirtschaftung« erzähle ich Ihnen lieber mündlich.

Nachdem ich gestern um 5 Uhr ungefähr angekommen war und, da außer einer barfüßigen Magd niemand anwesend war, ich mein Zimmer erst eine halbe Stunde lang erwarten mußte, machte ich mich doch noch auf den Weg, meine Adressen abzulaufen.

Frau H. – nicht zu Hause; ich mußte eine meiner wenigen Visitenkarten hergeben. Dann zu Frau E.B., »Advokatensgattin«, Format Flügelmann der Gardekürassiere und Vertrauensperson der Lemberger Liga. Sie tut »prinzipiell nur« das, was man von ihr verlangt, – kennt die Brodyer Frauen nicht, denn sie kann nicht mit ihnen verkehren, ist Wienerin, sagt aber ihren Mädchennamen nicht, und übersetzt aus dem Polnischen.

Von ihr hörte ich nur, daß es hier eine große Federn-Industrie – Vorbereitung des Rohmaterials – gibt, in der viele Hunderte von jüdischen Mädchen beschäftigt werden. Mehr weiß die Advokatensgattin, die 20 Jahre hier wohnt, nicht. Trotzdem es inzwischen 7.30 Uhr geworden war, ging Frau E.B. mit Gemahl noch mit mir in einen Federnbetrieb, wo die Arbeiterinnen noch im Dunkeln saßen und irgend etwas manipulierten. Der herantretende Chef belog mich nach allen Richtungen, – bezüglich Lohn, Arbeitszeit usw. – und ich werde heute richtige Angaben zu bekommen versuchen. Der Verdienst schwankt zwischen 2-6 Gulden, 4-12 Kr. die Woche. Nur soviel weiß ich, daß »Federmädel« hier ein Schimpf ist. Dann suchte und machte ich noch auf einem mit alten Bäumen bestandenen Square die Bekanntschaft des alten Herrn B., Präsident der Kultusgemeinde und Präsident der Handelskammer und Vertreter der Br. Hirsch-Schulen usw. usw. Wir fanden uns alsbald in dem Bedauern über den Rückgang des altjüdischen Familienlebens, er klagte, daß der moderne Geist alles Gute ruiniere, ich suchte ihm zu erklären, daß nur das Mißverstandene schädlich sei. Dann sagte er mir, es sei eben ein Prozeß »wegen Pornographie« gewesen. »Was zerreißt man sich in so einem Prozeß? Sehen Sie sich die Damen an in ihren modernen Kleidern – da haben Sie Pornographie ohne Prozeß«. Ich kann nur sagen, daß der alte Herr recht hat. Die Uebertreibung der Mode mit den engen Röcken ist unter den polnischen Jüdinnen bis zur Widerlichkeit angenommen, und das Straßenbild soll nur eine schwache Andeutung der tatsächlichen Verhältnisse sein: über die Verhältnisse leben, Verfall und Zerfall in allen Schichten des jüdischen Volkes. Im Hause Schmutz, auf den Gesichtern Schminke. Die Einkäufe an Schminke, Puder und Parfüm sollen unglaublich sein vom Federmädel bis zur angeblich bessern Dame.

5.6.

Vorgestern traf ich noch Frau Dr. H. aus Breslau, Tochter des Herrn B. und Frau eines der Lehrer am Rabbinerseminar. Sie bemächtigte sich alsbald meiner, behauptete mich schon zu kennen, und das war zusammen eine große Erleichterung für mich, denn sie ging mit mir, und ihre Ort- und Personal-Kenntnis förderten mich.

Ich besuchte Frau H. L., die mit ihrem Mann seit 30 Jahren in der Brodyer Wohltätigkeit lebt.

Brody war nämlich einst eine freie Handelsstadt und war damals sehr reich. Aus der guten Zeit stammen noch viele Vereine, die nur mit großer Mühe zur Zeit aufrecht gehalten werden. Ich erinnere mich, noch vor 10 Jahren hier gewesen zu sein und einiges – wie das Waisenhaus – gesehen zu haben. Gerade dieses Haus hat absolut keine Fortschritte gemacht; die Kinder, besonders die Mädchen, werden einfach aufbewahrt und ernährt. In gewissem Sinne ist das viel, aber längst nicht genug. Eine junge Leiterin, Frl. E., sprach ich schon vor 10 Jahren. Ich will sie mit H. K. in Tarnopol bekannt machen, damit sie dort die Art des Betriebes als 3. Frauenvereinsverwässerung kennen lernt. Dann sah ich die in Vergrößerung begriffene »Bursa«, das ist ein Schülerheim, auf das Herr L. sehr stolz ist, aber ich fürchte, daß dort vieles nicht ist, wie es sein soll.

30 junge Leute, Gymnasiasten, unter einer Aufsicht, die keine ist!

Dann besuchte ich Frau K. L. Allen legte ich die Gründung einer Mädchen- und Frauenschutzliga ans Herz. Die alten Herren bestritten die Zustände, bis so im Gespräch und durch Nachfrage die Tatsache der sittlichen Verrohung der Juden in der Stadt von allen Leitern bestätigt wurde. Es gibt eine jüdische Volksschule mit 1 200 Kindern (halb Knaben, halb Mädchen; nicht das Individuum ist gemischt, wie das halb und halb vermuten läßt!!). Es gibt nur 4 Klassen mit 2 Abteilungen und 16 Lehrern. Jedes Kind hat mit 12 Jahren die Schule beendet und muß Arbeit suchen oder auf der Straße herumlungern. Ich sprach den Polizeiarzt Dr. T. Er glaubt, daß es nur ganz wenig eingeschriebene Prostituierte gibt, aber viele Hundert geheime, vielleicht an tausend. Er meint, daß die »Federmädels« gar nicht so viele dazu liefern, wie die jüdischen Dienstmädchen. Es gibt wenig Bordelle, aber Hotels und andere Unterschlupfstellen der Prostitution.

Die Polizei hält von Zeit zu Zeit Razzias ab, was dann nachts gefunden wird, wird gesundheitlich untersucht, ins Spital gebracht oder sonst wie administrativ behandelt. So eine Razzia ist natürlich eine gute Ernte für die Polizei.

Abgesehen von der großen Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ist die Tuberkulose unter den Juden auch sehr verbreitet. Wichtig in diesem Zusammenhang ist für Brody die Bearbeitung von Borsten und Federn, die als Rohmaterial zollfrei von Rußland kommen. Da der Arbeitslohn hier viel niedriger ist als im Westen, werden die ersten Arbeiten hier gemacht: sortieren, kämmen, binden usw. Eine große Bedeutung als Hausindustrie ist die Herstellung der Zigarrenspitzen und Zahnstocher. Das Brennen der ersten, ein eigentümliches Verfahren über einem mit Oel geschmierten auf einem Spirituslämpchen erhitzten kleinen Blech ist durch den Qualm besonders schädlich. Aber das Einatmen bei dem Sortieren der Borsten und Federn, das Pflücken und Schleißen ist geradezu verheerend. Auch Epidemien und andere Krankheiten als Tuberkulose werden durch die Federn und Borsten verschleppt.

Ich sprach mit einem der organisierten Arbeiter und fragte ihn, ob es denn keine Schutzvorrichtungen gäbe, und ob sie und die Federmädels sie nicht anwenden würden. Er sagte, daß sie sie gern anwenden würden, daß sie aber zu teuer sind. Ich denke, man müßte etwas anderes, Leichteres erfinden können. Vielleicht einen Maulkorb aus Draht mit Filterzeug drüber. Ich übergebe die Notwendigkeit, etwas ausfindig zu machen – Neues oder Vorhandenes – meinen Abonnenten, vielleicht kann die Weibliche Fürsorge etwas zur Einführung eines kleinen billigen Schutzapparates tun. –

Trotzdem mir von allen Seiten die Notwendigkeit einer Organisation, die sich mit Mädchenschutz und -bildung beschäftigen würde, zuerkannt wurde, wollte jede Person, mit der ich sprach, die Initiative auf die andere schieben. Und wieder erging die Aufforderung an mich, einige Wochen oder Monate in Brody zu bleiben, wie ich es auch in Lodz und Wilna sollte.

Sehr wichtig und interessant war mir, daß das Volk, d. h. kleine Leute, die ich in Geschäften oder Marktständen ansprach und von meinen Warnungskarten (polnisch oder jüdisch) erzählte, für alles ein lebhaftes Interesse und gesundes Verständnis bewiesen. Daraus geht hervor, daß, wenn eine Auskunftstelle eingerichtet würde, die Bevölkerung sehr rasch den ausgiebigsten Gebrauch von derselben machen würde. Die Bekämpfung der Tuberkulose ist für Brody von brennender Notwendigkeit! ...

Erläuternd muß ich dazu bemerken, daß ich die beiden Mädchen S. und K. auf dem Markt kennen lernte, als ich Bauerbänder zu einem russischen Kostüm kaufte. Sie gefielen mir, ich bat sie, mich abends im Hotel zu besuchen, wir schwatzten von allerlei, was mir wichtig erschien und sie verließen mich ganz beglückt und sicher als Sprachrohre meiner Wünsche. Ich muß aber sagen, daß ich auch ein sonderbares Glücksgefühl hatte, nachdem die Mädchen mich verlassen hatten.

Frl. E. werde ich mit dem Tarnopoler Waisenhaus sicher auch gut beeinflussen.

Dann habe ich noch das für Brody Wichtigste zu notieren, in einem Besuch bei Frau L. I. S. Herr S. soll der reichste Mann der Stadt sein. Seine Frau eine Engländerin. Sie bewohnen das Gut Brody, das früher dem Herrn von H. gehörte, aber von dem jetzigen Besitzer in allen Teilen hinaufbewirtschaftet worden ist. Die Leute sind Protestanten und – da sie eine Minorität angehören – vielleicht auch aus Anständigkeit – keine Antisemiten.

Frau H. hatte mir den Namen genannt, die Eingeborenen waren zweifelhaft über den Erfolg meiner Mission, aber ich nahm doch heute früh einen Wagen und fuhr zum »Schloß«. Ich kam gerade im Augenblick, als Frau S., eine junge, gesund und sympathisch aussehende Dame vom Reiten nach Hause kam. Ich erklärte ihr – natürlich wieder auf sie zugeschnitten – meine Mission, machte ihr Lust, internationale Kongresse zu besuchen durch die Arbeit, Leben und Interesse in ihre schöne Abgeschiedenheit zu bringen, und ich glaube, sie wird nun für Brody den Anfang zur Arbeit machen! Ich ließ sie selbst an das englische Komitee an Coote schreiben, an das Deutsche Nationalkomitee, empfahl noch die Damen L. und L. und B. – alles andere muß sich dann von einheimischer Kraft entwickeln. Aber ich habe Hoffnung – teils rechne ich auf die Kraft, teils aber auch auf die Schwächen der Menschen. Dann wollte ich nach Zloczaw fahren, bekam aber heute früh ein Telegramm, es zu unterlassen, und fuhr direkt nach Tarnopol ...

Ich schließe diesen Brody-Bericht und freue mich, heute abend in einem sauberen Haus zu sein und endlich ohne Risiko baden zu können.

Viele, wenn auch ein bißchen müde Grüße Ihre

Bertha Pappenheim.

Tarnopol, 6. 6. 1912

Liebe Frau J.!

Hier wohne ich im Waisenhaus, und wenn mir meine Tochter H. K. nebbich nicht so fehlen würde, hätte ich wirklich ein paar sehr frohe Tage. Wie im Frauenverein ist es, und wieder ist mir das Unrecht klar, das ich an mir begangen habe, die Kinderarbeit aufzugeben, denn ich sehe doch, wie der Segen durch die erzogenen Zöglinge weiter wirkt. Frau F. hat mit ihrer Stiftung wirklich etwas Großes und Vorbildliches geleistet. Daß man ihr in der Stadt um ihrer unverstandenen Arbeit willen oft das Leben sauer macht – ist mir nichts Neues. Man wird nun bald noch 5 Kinder mehr aufnehmen. Ob H. gleich ihren Urlaub in Deutschland verbringt? Es wäre praktisch, da sie doch die große Reise machte. Eine sehr nette, warmherzige Frau ist Frau Dr. O., die tüchtig im Vorstand und auch direkt im Hause hilft. Eine wunderbare Ueberraschung war mir heute die Veränderung, die Herr Dr. O. hier im Spital zuwege gebracht hat. Wer das Haus, wie ich, vor 10 Jahren und noch vor 5 Jahren gesehen hat, muß diesen Mann bewundern, freilich die Gemeinde versteht ihn nicht, findet die Anschaffung einer Totenbahre, eines Krankenstuhles, Wäsche, Spucknäpfe etc. etc. überflüssig, das Pflanzen von Bäumen, die Instandhaltung des Gartens lächerlich, und man macht ihm das Leben sauer. Aber Dr. O. läßt sich nicht irre machen, er tut, was er kann, und hofft nur, daß wir ihm eine Oberin verschaffen können. Wenn Schwester Johanna nicht in D. bleiben will, weil man ihr dort das Leben zu sauer macht, ohne daß sie voran kommt, dann soll sie eben nach Tarnopol gehen.

Ich kann gar nicht sagen, welche Freude ich habe, wenn ich die Dinge, für die ich seit einem Jahrzehnt kämpfe, nach und nach sich einbürgern sehe. Das macht mir auch wieder Mut, das, was ich für nötig halte, immer wieder zu verlangen.

So hier die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels, die von den jüdischen Kreisen abgelehnt, vielleicht von den christlichen aufgenommen werden wird. Ich werde morgen die Namen der Besuche, die ich machte, notieren.

Sehr interessant war mir, hier eine junge Frau V, Tochter des Kunstschreiners und Wursthändlers G. aus Frankfurt, zu sprechen. Die Hinaufentwicklungsfähigkeit der osteuropäischen Juden ist bewunderungswürdig. Und ich muß sagen, daß Herr P. doch etwas Gutes geleistet hat. Zwar den alten G. geht es noch immer nicht selbständig gut, aber sie gehen jetzt nach Antwerpen zu ihren Kindern und vielleicht erbt ein Enkelchen die Anlage des Großvaters, und erhebt sich aus dem Humus! –

7.6.

Ich hörte hier allerlei Unglaubliches über die Corruption der hiesigen Juden, die so weit geht, daß die Selbständigkeit der jüdischen Gemeinde aufgehoben werden mußte, und ein von der Regierung bestimmter Mann (ein Herr H., 74 Jahre alt) mit 2 Gehilfen die Gemeindeangelegenheiten – natürlich nur die nötigsten – führt! Aber auch der politische Gemeinderat (halb jüdisch) wurde aufgelöst wegen Corruption, an der die Juden noch mehr beteiligt waren als die Christen, und ein Regierungsvertreter führt die Gemeindegeschäfte. Der Kampf zwischen Chassidim, Zionisten und liberalen Juden ist groß. – Ob es mir gelingen wird, noch etwas für eine Liga zu tun, weiß ich nicht, aber ich bemühte mich auch für einen jüdischen Volkskindergarten und war deshalb bei einem orthodoxen Mann, N. T., der mir sehr gut gefallen hat, und der vielleicht aus seinem Kreis von reichen Chassidim und deren Frauen und Töchtern den Kindergarten gründen wird. Ich wollte auch gestern spät abend zum Wunderrebbe nach Jezierna fahren, aber da er Montag und Donnerstag den ganzen Tag fastet, sonst, außer Samstag, nur den halben, so gibt er Donnerstag Abend keine Audienzen. Er soll ein sehr gescheiter und anständiger Mann sein, der sein Wunder nur als eine »Beratung« auffaßt ...

Von christlichen Damen besuchte ich Frau R. und die Frau des Bezirkshauptmanns, Frau N. Beide Frauen haben mit Haus und Kindern zu tun und polnisch weiblicher Fürsorge im St. Vincenz-Verein und lehnten es ab, sich mit einer allgemeinen Liga zu befassen.

Durch Zufall hörte ich von dem Vorhandensein eines anständigen (!) jüdischen Polizei-Agenten. Ich ließ ihn zu mir bitten und befragte ihn, ob er nicht, wenn er doch Polizei-Beamter sei, gegen entsprechende Prämie für irgendeinen auswärtigen Verein sein spezielles Augenmerk auf Mädchenhändler richten würde. (Das käme doch den englischen und meinen Plänen entgegen, und man hätte nicht die Kosten und die Verantwortung eines ganzen Menschen.)

Herr Aran S., K. K. Polizei-Agent, lehnte ab mit dem Bemerken, daß er nur »seiner Regierung« zu dienen habe und sonst nichts annehmen dürfe. Ueberhaupt sei er politischer Agent – also Spitzel. Ich ließ den Faden aber noch nicht los und fragte, welchen Weg man gehen müsse, um ihm zu ermöglichen, der Bekämpfung des Mädchenhandels zu dienen – natürlich gegen Prämie – und da sagte er, daß die K.K. Bezirkshauptmannschaft Tarnopol von Lemberg aus den Auftrag bekommen müsse, Herrn S. zu beauftragen. – Ich werde also trachten, den Weg von Lemberg aus gangbar zu machen – die Prämien muß natürlich London oder sonst jemand übernehmen. Außerdem werde ich noch an die Jewish Association schreiben, daß sie von London durch das österreichische Konsulat Einfluß nimmt. Vielleicht geht es so, denn so ein Versuch wäre billiger als jeder andere.

Wenn ich nur Zeit hätte, alle diese Nebenbriefe noch zu schreiben.

Lemberg, 8. 6. 1912

Liebes Müllerchen!

Was sagen Sie zum Mädchenklub in Berlin? Das ist doch mit großstädtischer Fixigkeit gearbeitet. In ein paar Stunden bin ich auf dem Wege nach Drohobycz, zu welcher Reise ich der Hitze wegen einen Spätabendzug gewählt habe.

Heute vormittag war ich 2 Stunden im städtischen Museum und Galerie. Letztere ist nicht sehr erbaulich, aber es gibt in der Allerleisammlung allerlei, das recht gut in meinen Privatbesitz passen würde, so z. B. ein Kirchengewand, ganz in Nadelspitze Gold und Silber genäht. Eine andere Decke mit Applikationen, die wir nachmachen müssen. Ueberhaupt, wenn ich die Köchin habe, die photographieren kann, und das Stubenmädchen für Zeichnen, Stenographie und Schreibmaschine, dann wird sich mein Leben im Hause konzentrieren und ganz anderen Dingen gewidmet sein als bisher.

Heute vormittag machte ich die Bekanntschaft der hiesigen Galerieleiterin, Frl. D. – Malerin, Frauenrechtlerin, Freundin der verstorbenen Dichterin Konognitzka. Ein grauer interessanter Männerkopf, aber sehr sympathisch. Komisch war, daß sie von mir so – vielleicht enttäuscht war, denn sie hatte eine große, starke, schwarze Person erwartet und eine kleine, dünne weiße kennen gelernt. Sie hat eine Bekannte, die vielleicht polnische Spitzen abzugeben hat, – ein Grund, wieder nach Lemberg zu kommen.

Mit herzlichem Gruß Ihre

Bertha Pappenheim.

Lemberg, 9. 6. 1912

Liebe Frau N.!

Ueber Podwolocyska ist das Folgende zu merken. P. ist eine vielbenützte Grenzstation zwischen Rußland und Galizien. Die Lemberger Liga hat dort einige Vertrauenspersonen, jüdische und christliche, die ich eigentlich zu einem Komitee vereinen sollte, das in dem Städtchen irgendwie seine Tätigkeit entfalten sollte.

Ich besuchte zuerst Frau Dr. A. und hörte und merkte alsbald, daß auf die Damen, die tatsächlich mit ihren eigenen Angelegenheiten vollaufbeschäftigt sind, nach keiner Richtung zu rechnen sei. Ich überlegte mit Frau Dr. A., welche der maßgebenden Persönlichkeiten des Ortes ich zuerst aufsuchen sollte, und ging schließlich zum Bürgermeister Dr. D. Aus seinen Mitteilungen erfuhr ich, daß in P. natürlich Mädchenhandel getrieben werde. Die Mädchen, die von der russischen Seite kommen, versäumen gewöhnlich unter irgendeinem Vorwand den Zug, d.h. man macht, daß sie ihn versäumen, beim Geldwechseln oder sonstwo. Sehr oft sind Bahnbeamte selbst diejenigen, die aus der Situation der Mädchen Nutzen ziehen, und im ganzen ist die Lage so, daß niemand da ist, der sich der Ware annimmt.

Auf meine Frage nach der Arbeit des JCA-Grenzkomitees sagte mir Dr. D., daß er selbst JCA-Vertreter sei und bei den Auswanderern, die fast alle ohne Pässe über die Grenze kommen müssen und dabei auf die Hilfe von Elementen angewiesen sind, die nichts zu verlieren haben und nur auf den gemeinsten Nutzen ausgehen, die Erfahrung gemacht habe, daß »die besten«, die man den Auswanderern zur Hilfe bestellt habe, die armen Menschen am meisten betrogen hatten. Es wäre natürlich Sache der JCA, ein richtig funktionierendes Bureau mit einem verantwortlichen Beamten dort zu haben, nicht einen freiwilligen Helfer, der in Amt und Beruf sich um die Dinge gar nicht ausreichend bekümmern kann – aber so was tut die alte Tante JCA nicht. Sie begnügt sich, ein Grenzkomitee zu haben – im Jahresbericht. Aus meiner Unterredung mit dem Bürgermeister – der übrigens einen sehr guten Eindruck macht – scheint es mir ganz unnötig, in der Stadt P. eine Liga zu haben, da sich alle Vorgänge am Bahnhof selbst abspielen. Also Bahnhofsmission. Eine solche von freiwilligen Hilfskräften zu organisieren ist unmöglich. Die von den Mädchenhändlern und Kupplern benutzten Züge, sind natürlich vorwiegend die Nachtzüge, auch Tageszüge – deren in Podwolocyska täglich ungefähr 20 verkehren.

Ich besprach also die Frage einer beruflichen Bahnhofmission, für die eine geeignete Person sehr schwer zu finden sein wird. Dennoch kam ich mit Dr. D. zu folgender Abmachung: Er sucht eine geeignete Person, die probeweise für 2-4 Monate mit einem Gehalt von 60 Kronen angestellt wird. Nach Ablauf dieser Zeit und aus den Berichten wird sich ergeben, ob sie imstande war, irgend etwas zu leisten.

Dr. D. sagte mir aber, daß eine solche Beamtin nur dann etwas leisten könne, wenn sie tatsächlich von den Polizeiorganen unterstützt wird, sonst ist alles eine Komödie. Um nach dieser Richtung etwas zu erreichen, muß von Lemberg ein strenger Auftrag dafür kommen, und den sollte ich erwirken.

Was nun die Geldfrage betrifft so konnte ich bei meinen Abmachungen natürlich nicht abwarten, bis sich das Londoner Zentralkomitee oder das Berliner Zweigkomitee mit all seinen Fragen und Bedenken geäußert hätten, – ich mußte über diese leidige Frage hinaus disponieren und tat es auch, um nicht wieder alles ungeklärt und in der Schwebe zu lassen. Ich hoffe, daß London seinen guten Willen zu praktischer Arbeit beweisen und die relativ kleinen Mittel auf meinen Antrag nachbewilligen wird. Vorsichtshalber habe ich aber Herrn B. der mir persönlich einmal Mk. 200,– für diesen Zweck zusagte, an sein Versprechen erinnern lassen und den Rest wird dann vielleicht die Fürsorge geben können. Aber richtig wäre dieser Weg nicht.

Nachdem ich nun mit Dr. D. alles Nötige vorbesprochen hatte (den Polizeikommissar zu besuchen hielt er nicht für nötig), fand ich es überflüssig in Petersburg noch andere Besuche zu machen, und um keine Zeit zu versäumen, telegraphierte ich an Frau L. für Samstag Nachmittag it dem Lemberger Polizeidirektor eine Verabredung einzuleiten, und bestimmte meine Abreise auf den anderen Morgen mit einem ganz frühen Zuge.

Abends ging ich dann noch mit Frau D. A. nach dem vom Bürgermeister ganz neu angelegten Stadtgarten, von dem man über das kleine Flüßchen Zbrusch, das die natürliche Grenze zwischen den beiden Ländern bildet, in greifbarer Nähe in den russischen Ort Wolocyska sehen kann – von weitem mit blau getünchten Häuschen, zwischen Grün gebettet, liegt das Dorf sehr malerisch da, in Wirklichkeit soll es ein schmutziger unwirtlicher Aufenthalt sein, Schmugglerstation und im Augenblick der Spannung zwischen Oesterreich und Rußland, auch durch Spion- und Spitzelwesen besonders unangenehm. In Podwolocyska selbst soll großer Antisemitismus herrschen; die polnischen Beamten sollen die Juden förmlich boykottieren; verschärft sind diese Verhältnisse durch das Auftreten und das Verhalten der Zionisten. Der Zufall machte es, daß ich den verflossenen zionistischen Reichstagskandidaten Dr. R. als Freund des Malers P. in Lemberg kennen lernte. Ein Glück, daß er bei seiner Kandidatur durchgefallen ist. Alle seine Qualitäten zugegeben – aber wie kann man einen Menschen vor die Front schicken wollen als Volksvertreter, der weder deutsch noch polnisch sprechen kann!

In Lemberg ging ich gleich mit Frau L. auf die Polizeidirektion; leider konnte ich den Direktor Dr. R., den ich vom Wiener Kongreß her persönlich kenne, nicht sprechen, sondern nur einen Kommissar S.

Er war 12 Jahre in Podwolocyska, und schildert die Verhältnisse dort insofern anders, als er natürlich behauptet, der Bahnhof selbst sei durch die Polizei vorzüglich beobachtet (?), aber über die »kleine Grenze«, den Landweg ohne Eisenbahn, werde voraussichtlich Mädchenhandel betrieben. Daraus geht hervor, daß er an beiden Stellen floriert, wenn auch in verschiedenen Formen. Er sagt, daß die Mädchen bei Tag oder bei Nacht unter irgend einem Vorwand über die Grenze kommen, gar nicht nach Podwolocyska gehen, sondern in Maximow oder einer der anderen kleinen Eisenbahnstationen aussteigen und nach Tarnopol fahren, wo die Schiffs- und andere Agenturen sind. Er hält eine Bahnhofsmissionarin für weniger erfolgreich als eine Beamtin, die in Wolocyska sein müßte, außerdem rät er, sie von russischer Seite empfehlen zu lassen, damit man russischerseits nicht meint, sie sei eine österreichische Spionin für Rußland.

Die von Dr. D. verlangte verschärfte Anweisung an das Polizeikommissariat Podwolocyska will er geben, und ich will es versuchen durch Petersburg, resp. die Prinzessin von Sachsen-Altenburg, vielleicht eine vom Warschauer jüdischen Komitee empfohlene neutrale Person, eine Verordnung für Wolocyska zu erreichen. Ob das alles ausführbar ist, so wie die Dispositionen theoretisch und logisch ineinandergreifen, ist eine Frage. Denn wenn man es nicht mit corrumpierten Menschen zu tun hätte, für die jede Verordnung Papier ist dann hätten die Zustände eben nicht so werden können.

Ich bin nur neugierig, wie die Personal- und die Geldfrage gelöst wird, daran hängt ja der für meinen Begriff moralisch unablehnbare Versuch ab.

Der Kommissar S. gab mir noch einige wertvolle Winke für die Abfassung meiner Anträge für Brüssel.

Wie Sie sehen, muß man die Sachlage an Ort und Stelle zu ergründen suchen, wenn man wirklich etwas tun will, und deshalb war es gut, daß ich die Reise nach dem schönen Ort Podwolocyska nicht scheute.

Dr. D. ist Teppichsammler; er erinnerte sich noch meiner von der Uebernahme der russischen Kinder, ich seiner natürlich nicht mehr, denn wenn ich an diesen wirklich tragischen Moment zurückdenke, dann habe ich nur ein großes Menschen- und Kindergewirr in der Erinnerung und nicht einzelne Individuen.

Hier in Drohobycz sind wirklich durch die inneren Judenzänkereien 27 Menschen getötet worden. Wahlbetrug wird ohne weiteres zugegeben – »das ist doch überall so«, heißt es zur Entschuldigung.

Mit herzlichem Gruß für alle Abonnenten Ihre

Bertha Pappenheim.

Stanislau, 12.6.1912

Liebe Frau N.!

Je mehr Uebung im Hören und Sehen ich durch die eigene Art und die besonderen Ziele meiner Reiserei gewinne, desto interessanter wird sie mir. Für Galizien kann ich nun schon im Laufe von 10 Jahren gewisse Aenderungen konstatieren, wenigstens für die größeren Städte: man baut 3 und 4stöckige Häuser, man spricht von Wasserleitungen, viele Menschen haben goldplombierte Zähne, die Kinder der armen Leute wollen Stiefel, die Kinder der reichen gehen barfuß oder in Sandalen, man spricht mehr und besseres Polnisch unter den Juden – lauter Fortschritte, aber das sittliche und ethische Niveau ist überall im Rückgang begriffen. Ich habe gestern Dr.H. diese Bemerkung gemacht, und er konnte mir nur beipflichten. In der letzten Zeit sind in Brody, Tarnopol, Stanislau und wahrscheinlich noch anderwärts viele und viele freudlose Bankrotte vorgekommen. Aber man nimmt es mit diesen Dingen hier nicht genau. Ein Mann, der falsche Wechsel gemacht hat, kann sogar Mitglied der Kultusgemeinde bleiben. Diese edle Nachsicht wird auf eventuelle Gegenseitigkeit geübt und um Gewalt über die Nebenmenschen zu behalten! –

Kolomea, 13.6.

Trotzdem ich heute schon telegraphisch mit Frau H. im Verkehr gestanden habe, will ich mir selbst nicht vorgreifen und berichte über die Kindergärten, wobei ich sagen muß, daß der zerknitterte Zustand dieses Blattes keine Assimilation an das Land bedeutet, sondern nur, daß der Brief seit gestern in meiner Mappe steckt und dadurch arg mitgenommen wurde.

Also der Kindergarten in Stanislau ist aus Indolenz eingegangen. Das edle Frl. L., Polin und Zionistin, ist Magistratsbeamtin geworden, hat sich im Kindergarten nur solange aufgehalten, als sie ein Dach brauchte, und ist dann gegangen. Es wußte niemand von der Auflösung der Anstalt, denn es hatte sich niemand darum bekümmert.

Kolomea

Ich fuhr nach Wolcyniez, dem Gute des Dr.H., und er versprach – wenn Wien eine Subvention gibt – und wenn Frankfurt und Berlin wieder subventionieren, wieder einen neuen Versuch zu machen. Ich sprach dann von einer Möglichkeit Qu., sagte aber nichts Bestimmtes zu. Die alte Frau H. hat eine kleine ländliche Haushaltungsschule für 6-8 Mädchen, für die braucht sie zu Oktober eine Wirtschafterin. Wir werden indessen durch die Stellenvermittlung in Breslau anfragen und suchen können. Wollen Sie anfragen lassen? Solche Exemplare gibt es im Norden (Posen, Schlesien) eher als bei uns im Süden oder Mitteldeutschland. (Ich bitte meine Geographie anzuerkennen.) Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube von jeher nicht so recht an X. und ihren tief verankerten guten Willen, sonst müßte manches besser sein. Schwester Martha ist zwar besserer Meinung von den X.'s und kennt sie näher. Wie wäre es aber möglich, daß in Stanislau eine junge Frau N., eine Russin lebt, die sich danach sehnt, sozial zu arbeiten, die den Kindergarten beleben und führen will, und die Verwandten haben noch nicht einmal von ihrer Leistung gesprochen. Fast könnte man glauben, daß sie zu hübsch, zu klug, vielleicht auch zu vermögend ist, um zur Khille-Konkurrenz zugelassen zu werden.

Czernowitz

In Kolomea hat sich die Kindergartenfrage – vielleicht auch für Stanislau – insofern geändert, als Frl. S.R. mich mit ihrer Mitteilung überraschte, daß sie keineswegs mehr einen Winter in Kolomea bleiben wolle. Ich mußte ihre Gründe – die strenge Kälte, im Hinblick auf ihren Plan, Schwester werden zu wollen – billigen, und kurz entschlossen hielt ich es für richtiger, alles zu tun, die vorzüglich eingefahrene Anstalt in Kolemea lieber durch Frl. Qu. zu erhalten, als sie für eine unsichere Neugründung in Stanislau zu reservieren.

Es wurde eine Sitzung einberufen und meine Vorschläge und Engagementsbedingungen angenommen. Die Details werde ich in diesen Tagen an die Fürsorge schreiben.

Im Moment der Abreise habe ich gestern in Kolomea noch beschlossen, wieder auf der Rückreise für ein paar Stunden hinzukommen. An Leuten, mit denen ich dort sprach, verzeichne ich als wichtig für die Arbeit: Frau H., Dr. L. und Frau F ....

Mit herzlichen Grüßen für alle Ihre

Bertha Pappenheim.

Czernowitz, 15.6.1912

Liebe Frau H.!

Was meine Arbeit betrifft, so finde ich es wirklich selbst verwunderlich, daß ich nun schon 10 Jahre – ich glaube, daß es so lange ist – unterwegs bin. Auch die Liga hier, die nicht lebte und nicht starb, und die heute auch noch kein gesichertes Dasein führt, habe ich vor 8 Jahren schon angefacht! Die Beamtin, Frau M., erzählt mir, daß beständig viel zu tun sei, aber Herr S. klagt, daß er ohne Hilfe, ohne Mittel, körperlich sehr elend, sehr oft den Mut verliere.

Auch bei einem Bankdirektor habe ich in aller Form geschnorrt; es ist nämlich hier Sitte, daß Banken an Vereine Geld geben.

So beschloß ich denn den vielgenannten und vielgeschmähten Abgeordneten S. in Wien aufzusuchen und ihn etwas mehr für die Sache zu interessieren. Natürlich werde ich auch wieder vom Kindergarten reden, denn er ist noch immer eine brennende Notwendigkeit. Für die Liste der Schutzadressen gewann ich die Frau W., deren soziales Verständnis Sie daran ermessen können, daß sie mir zur Gründung eines Volkskindergartens den Einwand machte: »Das wird nicht gehen, das Elend ist so groß, daß sich zu viele Kinder melden würden.«

Dann ging ich zu Frau H., die mir sehr gut gefallen hat. Sie hat ihren einzigen Sohn verloren, hat bis gestern – es war also Zufall oder Fügung, daß ich sie überhaupt traf – auf einem Landgut gelebt, hat gar nichts zu tun, scheint intelligent – vielleicht wird sie sich sozialen Dingen widmen. Vorerst hat sie freilich keinen Schimmer davon. Ihr Mann ist Mitglieder einer vor kurzem hier gegründeten B. B.-LogeBne Brith-Loge, und ich legte beiden den Kindergarten wärmstens ans Herz.

Dann sprach ich Prof. K., Universitätsprofessor und Führer der Zionisten, Todfeind von S. Wie schon öfter, sprachen wir über den Zionismus als Landplage. Er gibt zu, daß es hierzulande eine ungeheuerliche Gesellschaft von niedrigen Instinkten ist, die angeblich ein Ideal hat. Er, K., hat es, aber ich glaube, daß es ihm schon recht mieß vor der Sache ist, und ich glaube, daß es einem ernsten Mann, Professor der Universität, nicht zur Ehre gereicht, sich mit diesem Teil der jüdischen Bevölkerung identifizieren zu müssen, mit Straßenkot beworfen zu werden und gleiches Geschütz zu führen. Wenn er es noch einmal zu tun hätte, würde er – so meine ich – den Ehrgeiz, Reichstagsabgeordneter zu werden, in die Tasche stecken. Ich verheimlichte ihm nicht, daß ich die Absicht habe, S. in Wien aufzusuchen. Ich gehöre keiner Partei an und würde es lieber sehen, wenn ein Kindergarten von der Gemeinde und der Loge gegründet würde als von den Zionisten, weil er gesicherter wäre. Nicht, daß ich S. und Genossen für ethisch besonders hochstehend halte.

W. zeigte mir dann voll Stolz den Platz, auf dem das jüdische Volkshaus, die Toynbee-Hall gebaut wird, d.h. es werden erst die ersten Erdarbeiten gemacht, und zwar wird ungehörigerweise am Samstag gearbeitet. Ein winziges Läubchen und Gärtchen hat man als Kindergarten bestimmt, und die Lage ganz weit vom armen Judenviertel ist absolut ungeeignet. Ich kann also diesem Kindergarten, wenn er zustande käme, kein gutes Prognostikon stellen. Natürlich habe ich mit W. auch viel über Palästina gesprochen – aber wieso soll er auf einmal alle nötigen Details sozialer Klein- und Großarbeit verstehen, weil er vor 3 Jahren in den Reichstag kandidiert hat? – Auf sein Befragen nach einigen Details aus Palästina, sagte ich ihm nur drei: die Kindergärten sind eine pädagogische Lüge und sie zerstören die Familie, sie sind überflüssig; der Bezalel verkauft auf einer Ausstellung mehr Teppiche, als die kleine Zahl von Arbeitern herstellen kann – d. h. woher kommen sie? welche Teppiche verkauft man? eine Nur-Männerfarm, Kinereth (?), ist wirtschaftlich und moralisch ungesund und verwerflich: wirtschaftlich, weil man ohne Frau keine produktive oder rentable Kolonisation und Landwirtschaft betreiben kann, und moralisch, weil die auf der Farm lebenden jungen Russen sexuell weder abstinent leben wollen, noch sollen, noch können, also tragen sie die Prostitution unter die in Palästina ansässigen Frauen, oder sie nehmen andere schlechte Lebensgewohnheiten an.

Ich glaube, er war sehr erstaunt über diese meine Mitteilungen über Palästina. Ich habe sie an dieser Stelle wiederholt für den Fall, daß sie irgendwie entstellt oder verdeckt wiedergegeben werden sollten. Sie bemerken, wie vorsichtig ich geworden bin.

Eine Aufforderung, in der neuen Toynbee-Hall einen Vortrag zu halten, habe ich dankend abgelehnt. Denken Sie, wenn im Volksrat stünde: »die hochgemute Rednerin hat vor einer mindestens 300-köpfigen Volksmasse einen tiefgründigen Vortrag gehalten, für den ihr mit einem donnernden Hoch in den 4 Landessprachen: deitsch, jiddischdeitsch – dorch die Nos und aus'm Schlof gedankt wurde!«

Ich schließe diesen Brief wieder in Kolomea, von wo ich morgen vormittag auf das JCA Lehrgut Slobutka lesnia fahren will und Nachmittag weiter nach Tarnow – also immer näher Wien zu ...

Herzlichst Ihre

Bertha Pappenheim.

Wien, 18. 6. 1912

Liebe Frau F.!

Aber ich darf noch nicht von Wien berichten, weiß überhaupt nicht, ob ich noch weiter »berichte«, sondern muß einfach noch von Kolomea weiter erzählen. D.h. Kolomea ist diesmal Slobutka lesnia, das Lehrgut der JCA. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, dahin zu fahren, weil Herr O. mir einen ein bißchen sonderbaren Brief geschrieben hatte, aber ich betrachtete es als eine Art »Schickung«, daß Frau Dr. F. mich im Momente der Abreise nach Czernowitz sehr bat, mit ihr und einem Dr. W. (Gymnasiallehrer) nach Slobutka zu fahren, um dort vorzubereiten und zu bitten, daß man einige Gymnasialschüler als Ferienkolonisten aufs Gut nehmen dürfe. Die Entscheidung dafür liegt natürlich in Paris. Also wir fuhren, durch einen Achsenbruch verspätet, aber es war doch eine nette Fahrt. Aber ich muß selbst sagen, daß es mir nicht richtig scheint, diese zwei Sorten Buben zusammen zu bringen. Die hochgestochenen Gymnasiasten werden sicher mit nichts zufrieden sein und die »Bauern« aufhetzen. Zum Glück ist kein Platz, und damit wird die Sache erledigt sein. Ueber das Lehrgut selbst einen Bericht zu schreiben, erspare ich mir und lege meinen Brief an Herrn O. in Paris bei, der sehr knapp alles sagt, was ich überhaupt zu notieren habe. Außerdem noch die Kopie eines Briefes an K., der mich noch mit in seine Privat-Wohnung nahm, wo einige Zionisten waren und ich froh war, baldigst entfliehen zu können.

Zwischen Kolomea und Tarnow übernachtete ich wieder in L., wo ich Frau K. nur sehr kurz sah; ich war schon zu Bett, als sie kam, nachdem ich sie versäumt hatte. Sie ist leider sehr fahrig in ihrer Arbeit geworden, weil sie zu viel übernimmt, vielleicht auch aus Nervosität, die in diesem Fall nur zu begreiflich ist.

Es begegneten mir überall die Briefe von Hannover wegen der Vertrauensweiber-Listevon ihr erstellte Liste von Frauen, die in verschiedenen Orten in ihrem Sinn jüdische Frauenarbeit leisten das hat mir Freude gemacht.

In Tarnow fuhr ich von der Bahn direkt in den Kindergarten, wo an Stelle des Frl. K. von früher Frl. K. waltet. Sie hat mir nicht gefallen. Entthronte Königin. Sie ist Lehrerin und findet es sehr unter ihrer Würde, die Kinder zu waschen und zu kämmen usw. Aber es gibt eben keine Auswahl an polnischen Kindergärtnerinnen, und Körperpflege können und wollen sie alle nicht besorgen.

Durch die unermüdliche Energie der Frau Dr. R. ist der Kindergarten gut. Der Verein hat eine entfernte Aussicht, durch ein Geschenk zu einem guten Lokal in einem eigenen Haus zu kommen, aber vorerst ist noch alles unverändert in einem kleinen elenden Häuschen. Ich möchte nur bis dahin auch eine gute wirkliche Kindergärtnerin für Tarnow »pflanzen«. Aber was ich sonst von den anderen Kindergärten hörte, ist mir sehr leid: in Jaslo (unter Leitung B.), 95 Kinder, es wird nicht gebadet und gar nichts Hygienisches mit den Kindern gemacht, sie werden sogar in der Mittagszeit zum Essen nach Hause geschickt! Man kann sich denken, welche Unpünktlichkeit und Disziplinlosigkeit da einreißt. In Ch. bleiben die Kinder, die zwischen 8-9.30 ad libitum kommen, nur bis 1 Uhr, natürlich kein Bad, keine Kopf-Haarpflege. Krakau: Kinder »besserer Leute« von 10-1 Uhr, kein Bad, nichts – nur hebräischer Unterricht, zionistische Leitung! – Das ist Scheinarbeit. Ich habe heute von hier schon an die beiden Abgeordneten G. und S. geschrieben; ich muß sie sprechen.

Inzwischen weiß ich auch, daß die Frankfurter Konferenz sich mit kleinen Wohnungen befassen wird; es ist vielleicht sehr interessant zu wissen, daß G., der das Gesetz einbrachte und dafür sorgte, daß in Krakau zuerst ein Komplex kleiner Wohnungen gebaut wurde, an diesem Unternehmen finanziell interessiert ist!!! – Nur für Krakau ist er es. Es soll aber sonst ein sehr ordentlicher Mensch sein, der »sogar« die Frau heiratete, mit der er vor der Ehe 5 Kinder hatte! Frau L. hält viel von ihm – andere weniger. Von S. hält niemand etwas, trotzdem er in Czernowitz allmächtig sein soll. –

Ich glaube, ich werde es von nun an so machen – habe ich etwas zu notieren, dann gibt es einen Rundreisebrief, mit dem Vermerk »R. B.«, daß es einer ist, und sonst glaube ich, die Serie für diesmal schließen zu können.

Jetzt bereite ich mich schon auf die Fragen vor: »Nun, haben Sie auf Ihrer Reise Erfolge gehabt?« Eine Frage, die ich mir in der Stille meines Kämmerleins selbst vorlege und nicht zu beantworten wage.

Ihrer Aller herzlich grüßende

Bertha Pappenheim.


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