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Ich weiß, daß, was ich im Nachstehendem sage, vielen nicht gefallen wird; den Orthodoxen kann es zu modern, den Modernen zu altmodisch, den Philanthropen zu sozialistisch, den Sozialisten zu philanthropisch, den Gelehrten zu laienhaft, den Indolenten zu unbequem, den Vorsichtigen zu unvorsichtig, den Draufgehern zu zahm sein. Für alle diese habe ich nur eine Erwiderung: ich gebe die Dinge wieder, wie ich sie sah, wie ich sie auffaßte. Ich konnte mich nicht dazu verstehen, auf Kosten der subjektiven Wahrheit objektiv scheinen zu wollen.
Bertha Pappenheim.
Im Anschluß an diverse Verhandlungen der beiden Vereine, des Frankfurter Israelitischen Hilfsvereins und des Jüdischen Zweigkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Hamburg, hatte ich mich erboten, eine Studienreise nach Galizien zu machen, um von bestimmten Gesichtspunkten aus über die Lage der jüdischen Bevölkerung dort mehr zu erfahren, als eine Beobachtung außer Landes es ermöglicht. Die genannten Vereine beauftragten Fräulein Dr. Sara Rabinowitsch und mich, diese Studienreise zu machen, und es erwächst uns beiden daraus die Pflicht, gesondert über die Eindrücke und Erfahrungen unserer Reise zu berichten, und diesen Bericht einem Kreise von Interessenten zu übergeben.
Um die äußere Reihenfolge der Reiseeindrücke festzuhalten, habe ich ein Tagebuch geführt, das mir ermöglicht, mir selbst jederzeit über Einzelheiten, die dem Gedächtnisse leicht entschwinden, wieder Rechenschaft zu geben. Das was ich heute zu bringen habe, ist aber weder ein chronologisches Aufzählen, noch ein geographisches Herzählen, vielmehr will ich mich bemühen, meine Eindrücke stofflich so zu gruppieren, daß sich die Reise und meine Absichten bei derselben als ein zusammenhängendes Ganzes darstellen.
Ich hoffe, daß das Niederschreiben mir selbst etwas Ruhe gebracht hat, und daß mir von der Erregung, die mich angesichts so vielen Elends, so vieler Verwahrlosung und Versumpfung oft heftig erfaßte, nur soviel Wärme übrig geblieben ist, um bei denen, die in geistigem Wohlstand und in angeborenen und anerzogenen Sittlichkeitsbegriffen leben, den Eifer zu notwendigen und, wie ich sicher glaube, aussichtsreichen Taten zu erwecken. Ich denke, daß ich meine Absicht, klar und übersichtlich zu bleiben, dann am sichersten erreiche, wenn ich meinen Stoff in der Weise gliedere, daß ich erst mitteile, was wir vorfanden und beobachteten und, daran anschließend, meine Vorschläge entwickle.
Vor allem muß ich mich aber dagegen verwahren, nach nur fünfwöchentlichem Aufenthalt in Galizien für eine Kennerin des Landes gelten zu wollen.
Meine österreichische Landsmannschaft, meine orthodox-jüdische Erziehung, und nicht zuletzt mein Beruf, der mich auf eine zehnjährige Tätigkeit in der Armenpflege blicken läßt, waren für mich selbst gewissermaßen die Entschuldigung, mich zu einer Reise, die, wie ich hoffe, nicht ohne praktische Ergebnisse bleiben wird, anzubieten.
Denn nicht alles, was dem Nichtösterreicher, und nicht orthodox erzogenen Juden in Galizien fremd oder befremdlich erscheint, kann einfach auf die Liste dessen gesetzt werden, was mit dem westeuropäischen Kulturhobel geglättet werden soll.
Man wird sich sehr davor hüten müssen, Dinge zu verlangen, die der Individualität des Landes, das in seiner Mischung von deutsch-österreichischen, polnischen und jüdischen Elementen einen sehr bestimmten Charakter hat, allzusehr widersprechen.
Neue Anforderungen können und sollen nur da gestellt werden, wo es sich um eine Verkümmerung oder Unkenntnis allgemeiner, für alle Völker gleich unerläßlicher Kulturfaktoren handelt.
Um nach jeder Richtung hin fein unterscheiden zu können, um Land und Leute gründlich kennen zu lernen, müßte man allerdings jahrelang dort gelebt haben. Dagegen ist aber zu erwägen, daß, wer jahrelang in einem Lande lebt, sich in die Sitten und Gebräuche eines Volkes einlebt, damit auch leicht die Fähigkeit unmittelbarer Beobachtung und Beurteilung verlieren kann, und was an Tiefe gewonnen wird, geht an Schärfe verloren.
Unserem besonderen Reisezweck gegenüber gibt es Dinge, die nur der Konstatierung und keiner besonderen subtilen Forschung bedürfen, Beobachtungen von Einzelheiten, die Schlüsse auf das Allgemeine rechtfertigen, ohne daß man deshalb »leichtfertig generalisiert«.
Wenn wir z.B. bei einem Wunderrabbi im Zimmer sitzen, – er bestreitet die Notwendigkeit von Knabenschulen – und während wir sprechen, fällt meiner Reisegefährtin von der Zimmerdecke herab ein schwerfälliges Ungeziefer in den Schoß, da brauche ich in dem Hause keinen Scheffel Salz zu essen, um mir über den Geist seiner Bewohner – Mann und Frau – ein annähernd richtiges Bild zu machen. Dasselbe gilt von den hervorstechendsten Eigentümlichkeiten des Landes und seiner jüdischen Bevölkerung, die wir nur eine relativ kurze Zeit beobachten konnten.
Ich darf hinzufügen, daß wir unsere Aufgabe ernst nahmen, daß wir eifrig beobachteten und unseren Zweck nicht aus den Augen ließen. Als Frauen war es uns nicht nur möglich, mit den intelligenten Kreisen zu verkehren, sondern wir suchten und fanden Gelegenheit, mit Männern und Frauen, Mädchen und Kindern des Volkes zu sprechen, und manches Wort, mancher Blick ließ uns in Verhältnisse und Zusammenhänge eindringen, die einem Manne unzugänglich und doch für das Verständnis der Zustände sehr wichtig sind.
Dennoch möchte ich für meinen Teil meinen Bericht weder als erschöpfend noch als wissenschaftliche Arbeit betrachtet sehen, da ich eine solche zu leisten nicht imstande bin.
Ich kann nur sagen, wie ich als Frau die Dinge gesehen habe, und kann aus meinen persönlichen Eindrücken nach meiner individuellen Auffassung Schlüsse ziehen und Vorschläge machen.
Was die äußeren Reiseumstände betrifft, die ja auch ein gewisses Interesse beanspruchen können, so muß ich sagen, daß sie eigentliche große Gefahren, wie von befreundeter Seite für uns befürchtet wurden, nicht boten.
Dennoch war die Reise tatsächlich mit Anstrengungen, Unbequemlichkeiten und hygienischen Unzuträglichkeiten aller Art verbunden.
Unter der Unsauberkeit mancher Hotels in den kleinen Orten hatten wir speziell weniger zu leiden, weil ich stets bestimmte Vorkehrungen zur Nachtruhe traf, und mit großer Energie immer wieder verlangte, was mir unerläßlich erschien. Männliche Reisende dürften nach dieser Richtung viel mehr zu leiden haben, da ihnen die Übung der Selbsthilfe fehlt. Selbstverständlich mußte ich mich doch in vieles Ungewohnte finden; so mußte ich lernen, meinen Konsum an Wasser sehr einzuschränken, und an Stelle eines Stubenmädchens (jüdische) Stubenknaben walten zu sehen!
Die Fahrten in den Lokalzügen schienen endlos, und wenn nicht bei Benützung der 3. Klasse auf manchen Strecken die Beobachtung der Mitreisenden die Zeit gekürzt hätte, wäre diese Bummelei mit Aufenthalten von 10 Minuten bis zu einer Stunde eine unleidliche Geduldprobe gewesen.
Die Wagenfahrten bei kaltem Wind und Regen sind nicht sehr behaglich, denn auch die guten Wagen und die guten Straßen sind nach mitteleuropäischen Begriffen schlecht. Aber manche Fahrt in der allverklärenden Maisonne war schön, wenn sie durch frischgrüne Buchen- und Birkenwälder, oder, wie einmal bei Mondschein, durch anmutiges Hügelland führte. Die kleinen Dörfer an den Reichsstraßen liegen in ziemlich großer Entfernung voneinander. Die ruthenischenveraltet für ukrainisch Kirchen von eigentümlicher Bauart, mit drei grauen Kuppeln gekrönt, sind fast die einzigen festgemauerten Baulichkeiten, die man sieht. Die Glocken, meist vier an der Zahl, hängen in einem niederen, überdachten Gerüst in der nächsten Nähe der Kirche und entbehren dadurch des weithintönenden Klanges. Die Wohnungen sind meist niedere Hütten mit Strohdächern, die tief über die kleinen Fenster und Türen herabhängen, und für die jedes Fläckerchen Feuer auf dem offenen Herde eine große Gefahr werden kann.
Überall Ziehbrunnen, aus denen nur langsam, bei Bränden sicher entsetzlich langsam, Wasser geholt werden kann, und deren Anlage in der Nähe von Abfuhrstellen aller Art das ständige Vorhandensein von Typhus im Lande ausreichend erklärt.
An den Fenstern der Bauernhäuser werden meist Blumen gehalten, aber ich erinnere mich nicht, an den Fenstern der Behausungen, die uns vom Kutscher als solche bezeichnet wurden, oder die wir aus irgend einer Veranlassung kennen lernten, Blumen gesehen zu haben.
Auch sonst scheint der Sinn fürs Schöne unter dem geistigen Drucke und der furchtbaren Not des täglichen Lebens bei den galizischen Juden ganz erstorben. Die Frauen und Mädchen putzen sich auffallend und geschmacklos, aber sie schmücken sich nicht. An die Wohnräume in ihrer hygienischen Unzulänglichkeit ästhetische Ansprüche stellen zu wollen, klänge wie Hohn. Auch die Synagogen sind jeden Schmuckes – auch des durch die Gesetzesauslegung erlaubten – bar. Hie und da ein schöner Messingleuchter, und in Brody ein wahrer Schatz herrlicher alter silberner Thorakronen, sprechen von vergangenen, besseren Zeiten.
Landschaftlich ist der größte Teil Galiziens, den wir auf unserer Reise zu Wagen oder per Bahn kennen lernten, ziemlich reizlos, flach und eintönig, und wir mußten uns oft damit trösten, daß es fruchtbare Felder und gute Weiden waren, die sich unseren etwas Abwechslung suchenden Augen darboten.
Die Anlagen der Städtchen und Dörfer haben wir sich fast gleichmäßig wiederholend vorgefunden. Ein großer, viereckiger Platz, von niederen Häusern umstanden, der Rynckplatz, auf dem der Markt abgehalten wird. Oft steht in der Mitte eine Propination, irgend ein öffentliches Gebäude, oder ein kleiner Komplex von Verkaufshütten.
Charakteristisch für die durchschnittlich analphabetische Bevölkerung ist, daß die Firmenschilder nicht nur in hebräischer und polnischer Sprache Namen und Handel oder Handwerk verkünden, sondern daß, wie in der Kinderfibel, ein Anschauungsbild gleichzeitig die Verständigung mit übernimmt. Einige dieser Bilder wiederholen sich ganz typisch. So die Schere und ein verschlungenes Ellenmaß für die Männerschneider, ein wie eine Käferlarve aussehendes, fest gewickeltes Kind auf den Schildern der Hebammen u. s. w.
Die Märkte bieten ein sehr bewegtes, buntes Bild. Die Bauern und Bäuerinnen in ihren grellfarbigen Röcken und Tüchern, die Juden in der bekannten Tracht schreien und gestikulieren heftig.
Meistens »handeln« sie, oft auch in nicht unanfechtbarer Weise, in sogenannten Luftgeschäften, Maklerei, Übertragung von Ansprüchen u.s.w. Wir sehen aber auch viele Juden schwere Arbeiten verrichten, als Lastträger oder Fuhrknechte, aber das nur stundenweise, gewissermaßen ruckweise. Eine gleichmäßige, systematische, körperliche Arbeit vermeiden sie, soweit ich es beobachten konnte; dagegen sind sie Meister im Darben. Die Umsätze und der Verdienst für die Juden sind sehr gering, die Preise der Lebensmittel sind verhältnismäßig sehr hoch.
Bemerkenswert ist, daß man unter der jüdischen Bevölkerung sehr wenig Krüppel sieht, wie man z. B. in Italien bei der gleichen Armut so vielen begegnet. Unter den Männern viele schöne Erscheinungen, wenn auch die Mehrzahl hohlwangig, blaß und schmächtig, von gedrückter und gebückter Haltung. Die Mädchen hübsch und frisch, die Frauen früh gealtert und welk, machen oft den Eindruck stumpfer Haustiere. Da die Orte, die wir besuchten, bis zu ¾ jüdischer Bevölkerung aufwiesen, so war ihr Charakter am Freitag Abend und Samstag ein von den anderen Tagen vollständig verschiedener. Keine noch so armselige Hütte, aus der nicht Freitag Abend eine Anzahl Lichtchen blinken, und durch die Straßen schreiten gravitätisch die Männer in der historischen polnischen Tracht, an der sie festhalten, trotzdem sie keine andere Bedeutung mehr hat, als das gelbe Abzeichen des Mittelalters und bei jeder Arbeit störend ist.
Es liegt etwas ungemein Poetisches, Stimmungsvolles in der Sabbatruhe, die sich mit dem aufdämmernden Abend über die jüdischen Häuser legt, – aber wenn das kritische Denken die Stimmung verscheucht hat, sagt man sich: die Sabbatfeier in dieser altehrwürdigen Form ist nur dort möglich, wo bei größter Dichte der jüdischen Bevölkerung der Kontakt mit der fortschreitenden Welt aufgehört hat, und der Fluch der Arbeitslosigkeit die Sabbatruhe so leicht macht. Oder sollte Ursache und Wirkung eine andere Reihenfolge haben, sollte nicht vielleicht die rücksichtslose Auffassung der Sabbatruhe den Fluch der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen haben, weil sie den Kontakt mit der fortschreitenden Welt durchbricht?
Traurig ist der Einblick, den der Samstag-Nachmittag-»Korso« in das gegen einst sehr veränderte jüdische Familienleben bietet.
Scharen junger Mädchen ziehen, übertrieben modisch geputzt, mit Offizieren und Gymnasiasten kokettierend, durch die Hauptstraßen und die öffentlichen Gärten der Städtchen. Wenn man dann erfahren hat, daß ihr Wochenverdienst als Schneiderin, Fabrikarbeiterin, Federsortiererin u. s. w. zwischen 80 Kreuzer bis zwei Gulden schwankt, dann hat man allen Grund, ängstlich zu werden um die Zukunft des jüdischen Volkes!
Als eine Art von Reiseplan diente uns ein Verzeichnis von Städten und Dörfern, in denen sich eine Baron Hirsch-Schule befindet. Ein vom Wiener Kuratorium in liebenswürdigster Form ausgestelltes Empfehlungsschreiben an die Leiter der Schulen, und eine allgemein gehaltene Einführung seitens des Frankfurter Israelitischen Hilfsvereins bildeten unsere »Reisedokumente«.
Sehr erheiternd wirkte es einige Male, als der in dem Frankfurter Brief ausgesprochene Wunsch, die Überreicherin des Briefes in ihren Absichten zu fördern und zu unterstützen, so aufgefaßt wurde, als ob wir eine klingende Unterstützung erbitten wollten. Einer der verschiedenen Beweise, daß wir uns in einem Lande befanden, in dem rein ideale Bestrebungen kein allzu rasches Verständnis finden.
Auf unserer ganzen Fahrt gingen wir nach dem Prinzip vor, an jedem Ort zuerst die Baron Hirsch-Schule aufzusuchen, mit Ausnahme der beiden Städte Krakau und Lemberg, die solcher Einrichtungen pekuniär entraten können, die aber für unsere Studien doch sehr lehrreiche Anhaltspunkte boten.
Dem Prinzip, das sich auf der Reise als praktisch erwies, getreu, will ich auch in meinem Bericht die Baron Hirsch-Schulen zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen machen. Ich will es gerne von vornherein aussprechen, und es ist sicher nicht zuviel gesagt, wenn ich diese Schulen als Oasen in der Wüste bezeichne.
Es gibt 50 Stiftungsschulen mit einem Lehrerkollegium von 230 Personen. Daß alle diese Schulen nicht gleich gut, daß alle Lehrer und Leiter nicht gleich intelligent, tüchtig und leistungsfähig, alle Schulzimmer nicht gleich gut gelüftet, alle Fenster nicht gleich blank geputzt sind, ist selbstverständlich. Dennoch ist jede Schule ein zum Teil schwer eroberter Befestigungspunkt im Kampfe gegen alle jene Schäden, an denen die jüdischen Einwohner Galiziens wie an einer schweren, sich stetig forterbenden Krankheit leiden. Die Baron Hirsch-Schulen sind es, die, wo sie bestehen, langsam den Einfluß der Cheder für einzelne Gemeinden oder Familien wenigstens abschwächen, oder verdrängen. Was das bedeutet, vermag nur derjenige ganz zu würdigen, der solche Cheder in Betrieb gesehen hat. Die galizische Orthodoxie verlangt nämlich, daß Knaben vom 3. Lebensjahre an sich mit dem Studium der hebräischen Sprache, der Thora und des Talmuds beschäftigen. Jede andere Kenntnis ist verpönt, denn es heißt: »Was dem Menschen nötig und dienlich ist, findet er im Talmud, und was nicht im Talmud steht, braucht und soll man nicht wissen«.
Cheder sind Schulen, in denen in 2 bis 4 Abteilungen mit den Kindern ein furchtbarer, einseitig geistiger Drill vorgenommen wird.
Es gibt viele Cheder, in denen Knaben und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden, aber die meisten dieser Schulen vereinen nur Knaben. Die Knaben müssen nach der Ansicht der Väter und Rabbiner, im Gegensatz zu den Mädchen, besonders vor dem Gifte profanen Wissens behütet werden.
In engen, nie gelüfteten Räumen, zusammengedrängt wie die Schafe in einem Pferch, sitzen, stehen oder kauern die Kinder, 60, 80, 100 an der Zahl, auf oder zwischen Tischen und Bänken. Ein Mann, der zu sonst nichts taugt, ist entweder als Unternehmer oder als Beamter der Gemeinde der Lehrer »Melamed«. Da er mit seinen Schülern bei einer Methode, nach der er mit jedem einzelnen Kinde besonders pauken oder »knellen« muß, unmöglich fertig werden kann, so hat er junge Unterlehrer »Belfer – Behelfer«, Bürschchen von 17 bis 19 Jahren, die mit ihm in der Anwendung des Stockes oder des Kantuk, einer Peitsche mit Lederriemen, wetteifern, unter deren Leitung aber Ungehörigkeiten, und, wo Mädchen im Cheder sind, auch grober Unfug zu den häufigsten Vorkommnissen gehören sollen.
Der erste Lehrstoff ist die kommentierte Bibel, die, ohne Striche, wahllos mit den Kindern »gelernt« wird. Ich selbst hörte, wie ein etwa 9jähriger Junge eine Stelle, die seinem Verständnis noch lange hätte ferngehalten werden sollen, mit größtem Eifer las und wieder und immer wieder in sein Jargon-Deutsch übersetzte. Ich erlaubte mir dem »Melamed« gegenüber eine Bemerkung, worauf er mich derb anschnauzte und fragte, ob er mir gar die Thora »modernisieren« solle!
Es ist selbstverständlich, daß dieses »Bibelstudium« auf die ohnedies frühreifen Kinder dieselbe Wirkung übt, wie es die berüchtigten Beichtfragen auf die katholische Jugend tun. Es ist mir auch von maßgebender pädagogischer Seite bestätigt worden, daß in den Chedern vielfach der Keim zu sittlicher Verwahrlosung und Verrohung gelegt wird, dort wo die Jugend heranwächst, nicht nur ohne Aufsicht und Erziehung, sondern wo sie unter schlechten Einflüssen die Zeit der ersten Bildsamkeit verbringt.
Was für Zustände in diesen Unterrichtshöhlen in hygienischer Beziehung herrschen, ist unbeschreiblich, und es kann hier nur die Gewöhnung an Schmutz in allen Aggregationszuständen eine gewisse Immunität gegen manche Erkrankungen bringen.
Die überwiegende Mehrzahl der Cheder-Jugend besteht in blassen, stumpf dasitzenden, mitleiderregenden Kindergestalten; doch manches Köpfchen taucht auf, das intelligent und lebhaft im Ausdruck, vielversprechend in keckem Übermut, von zäher Kraft scheint, und trotz des Cheders ein Mensch zu werden verspricht.
Den sich selbst so nennenden »intelligenten« Kreisen der Städte, Städtchen und Dörfer, den Ärzten, Advokaten, Gemeindevorständen und Kreisrabbinern sind diese Zustände bekannt. Ich habe aber nirgends gehört, daß sie ihre Intelligenz angestrengt hätten, um wenigstens räumlich und hygienisch die Cheder zu bessern, wenn sie es auch aus den verschiedensten Gründen nicht wagen wollen, sie geistig zu reformieren.
Und diesen Chedern gegenüber stehen die Schulen der Baron Hirsch-Stiftung, für deren Besuch die Eltern der Schulkinder früher regelmäßig, jetzt noch häufig mit dem Bann bedroht wurden, – aus Gründen, die den jüngsten Vorgängen in Trier ganz analog sind.
Die naheliegenden Fragen sind: Wie verhält sich die österreichische Regierung diesen Zuständen gegenüber? Gibt es in Österreich keine Schulbehörde, keinen Schulzwang? Die Antwort darauf ist, daß die Zustände der österreichischen Regierung bekannt sein können und wohl auch tatsächlich bekannt sind, daß es aber dem Geiste der österreichischen Regierung besser zusagt, Tausende von Analphabeten heranwachsen zu sehen, als ebensoviele latente Intelligenzen durch Schulbildung zum Denken zu bringen.
Der Schulzwang besteht theoretisch »auf dem Papier«, da aber die vorhandenen Volksschulen nicht ausreichen würden, auch die Kinder der jüdischen Staatsbürger aufzunehmen, so ist es finanziell ein großer Vorteil, das Bestreben der galizischen Dunkelmänner zur Verdummung des Volkes zu unterstützen, indem man es stillschweigend gut heißt.
Die Jahresberichte der Baron Hirsch-Stiftung erzählen von ihrem Kampf gegen die Jahrhunderte alten Vorurteile. An den meisten Orten sind aber heute die Stiftungsschulen Institutionen geworden, deren segensreiche Wirksamkeit auch innerhalb der orthodoxen Gemeinden anerkannt ist.
Daß die Baron Hirsch-Schulen an manchen Orten noch nicht ganz festen Fuß gefaßt haben, liegt sicher vielfach daran, daß manche Lehrer oder Leiter nicht immer und nicht überall in ihrem Privatleben, wie in ihren Privatäußerungen, vorsichtig und taktvoll genug sind, die religiösen Anschauungen der Majorität unter den Juden Galiziens zu schonen.
Geradezu Anstoß erregt es, daß es in den meisten der Baron Hirsch-Schulen dem Gutdünken der Eltern anheimgegeben ist, ob die Kinder während des hebräischen Unterrichtes den Kopf bedecken sollen oder nicht, während viele Lehrer es grundsätzlich unterlassen. Es wäre viel klüger, eine allgemeine Vorschrift zu geben, derzufolge die Knaben dem hebräischen Unterrichte mit bedecktem Haupte, dem Profanunterricht mit unbedecktem Haupte beiwohnen. Auf Wunsch der Eltern sollte den Knaben auch gestattet sein, während des Profanunterrichtes eine Kopfbedeckung zu tragen.
Wer so modern denkt, daß er es überflüssig findet, daß die Knaben der altorientalischen Sitte folgend, beim Gebet oder beim Studium in der heiligen Sprache das Haupt bedecken, dem kann es auch gleichgiltig sein, wenn sie es tun. Und wenn durch das Befolgen einer überflüssigen oder gleichgiltigen, jedenfalls aber unschädlichen Volkssitte, die vielen eine religiöse Vorschrift erscheint, das Vertrauen für eine so wichtige Sache, wie die Schule gewonnen werden kann, so ist es unklug, der Orthodoxie diese und ähnliche Konzessionen nicht zu machen.
Ich setze als bekannt voraus, daß die Schulen der Baron Hirsch-Stiftung nur Knabenschulen sind.
Für die Mädchen, nach der landesüblichen Auffassung minderwertige Geschöpfe, die nur der Fortpflanzung dienen, bestehen keine religiösen Bedenken, die christlichen polnischen Schulen zu besuchen. Es gibt nur eine kleine Jubiläumsstiftung der Baronin Klara Hirsch aus deren Mitteln drei Haushaltungsschulen geführt werden, von denen ich zu sprechen habe, wenn ich über die Erziehung der Mädchen berichte.
Bei unsern Besuchen der Stiftungsschulen war es mir eine besondere Freude und ungemein lehrreich, mit den Inspektoren der Schulen, die in der Verwaltung das Bindeglied zwischen Schule und Kuratorium bilden, zu sprechen. Diese Herren sind die begeistertsten und zugleich verständnisvollsten Pioniere der Kulturarbeit in Galizien, und darum gibt es einen Punkt, der sie und auch die flüchtigen Besucher des Landes mit tiefem Bedauern erfüllen muß, das ist der Stillstand und Rückschritt, zu dem die Schulen verurteilt sind, weil die Geldmittel fehlen, sie aufrecht zu erhalten, oder gar auszubauen und zu vermehren.
Bis vor relativ kurzer Zeit ist die Wirksamkeit der Schulen für Galizien noch dadurch vertieft worden, daß die Knaben, nach Beendigung der Schule ein kleines Stipendium durch die Jewish Colonisation Association (J.C.A.) bekamen, das ermöglichte, sie in eine Handwerkslehre unterzubringen, bis sie selbständig erwerbsfähig waren.
Diese Stipendien werden seitens der J.C.A. nicht mehr geleistet, und die Absolventen der Baron Hirsch-Schulen werden, wie ein Schulleiter sich ausdrückte, »gebildete Gassenbuben«, für die es vielleicht noch besser gewesen wäre, wenn man sie beim Talmudstudium gelassen hätte, weil sie sich dann nicht müßig in den Straßen herumgetrieben hätten.
Von jüdischen Volksschulen (außer den Baron Hirsch-Schulen), in denen nicht nur hebräisch, sondern auch polnisch und deutsch gelehrt wird, kann ich nur aus der sonst im Lande längst vergessenen josephinischen Zeit die Perl-Schule in Tarnopol nennen, und die unter vorzüglicher Leitung stehende Gemeindeschule in Brody, die dafür zeugt, daß die Gemeinde bemüht ist, die alten guten Traditionen der früheren »Freistadt« aufrecht zu erhalten.
Auch Lemberg hat eine Gemeindeschule, die einen sehr guten Eindruck macht, wenn auch manche kleine Beobachtung darauf schließen läßt, daß das pädagogische Verständnis im allgemeinen noch der Entwicklung harrt.
Was Lemberg speziell betrifft, so hatte man mir in Wien gesagt, es sei eine Stadt, die nur »geographisch« in Galizien liege. Es wäre mir doppelt lieb, wenn ich dieser schmeichelhaft gemeinten Äußerung ganz beipflichten könnte, denn die Herren und Damen der maßgebenden jüdischen Kreise sind uns in einer Weise liebenswürdig entgegengekommen, daß ich gerne nur von dem sprechen würde, was wir an Einrichtungen fanden, die das Niveau der anderen Städte Galiziens überragen. Aber auch die freundlichste Aufnahme durfte uns nicht blind dafür machen, daß den Lemberger Anstalten, bei teilweise ausgesprochenem guten Willen, doch die Tradition und die Erfahrung mangelt, Zweck, Mittel und Personen in ein harmonisches Verhältnis zu bringen.
Für uns ungerufene Fremdlinge, Eindringliche, die noch nicht einmal etwas versprechen durften dafür, daß wir alles sehen und wissen wollten, für uns war die Bereitwilligkeit der meisten Lemberger Herren und Damen, von uns zu lernen, fast beschämend. Ich werde in meinem Bericht über den Kulturstand des Landes und seine einzelnen Faktoren jeweils wieder auf Lemberg zurückkommen, möchte aber die allgemeine Bemerkung nicht unterlassen, daß ich nach unserem zweiten Aufenthalt dort, auf der Rückreise, das lebhafte Gefühl hatte, nicht ganz vergeblich dort gewesen zu sein; man hat verstanden, was uns zu unserer Reise bewogen hat, man hat sich für Anregung jeder Art sehr empfänglich gezeigt und sich bereit erklärt, mitzuarbeiten, wenn von außen Anstoß und vielleicht auch Mittel gebracht würden. Ich glaube, wir dürfen das in gewissem Sinne als einen idealen Erfolg bezeichnen, für den die realen Formen hoffentlich nicht ausbleiben werden.
Wenn man hört, daß die Baron Hirsch-Schulen nur für Knaben eingerichtet sind, weil es den jüdischen Mädchen, sowohl aus innern wie aus äußern Gründen, unbenommen ist, die öffentlichen Landesschulen zu besuchen, so könnte das leicht zu der irrigen Annahme führen, als geschehe im Lande irgend etwas Namhaftes für die Erziehung der Mädchen.
Vor allem muß man bedenken, daß Erziehung und einige elementare Kenntnisse grundverschiedene Dinge sind. Abgesehen davon, daß die christlichen Lehrerinnen, denen die jüdischen Mädchen durch ihre mangelhafte Sprache ohnedies viele Mühe machen, sich selbst bei gutem Willen nicht mit den einzelnen Kindern eingehend beschäftigen können, würde ihnen auch über den Rahmen der Schule hinaus der Einfluß fehlen. Eine Erziehung im weiteren Sinne ist von der Schule überhaupt nicht zu erwarten.
In einer Familie, in der Vater, Mutter und Söhne Analphabeten sind, ist eine Tochter, die vier Volksschulklassen »geendet« hat, wie der übliche Ausdruck lautet, ein »sehr gebildetes Fräulein«, und so gefährlich unerzogen und ungebildet sie ist, so gibt es für sie keine Instanz, bei der sie sich energischen Rat und Verwarnung holen könnte. Mir sind überhaupt nur sechs Stellen bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchen-Erziehung beschäftigt, die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow, Stanislau und Kolomea.
Die ersten nehmen nur je 20 Mädchen auf, die letzteren je 15 also ungefähr 100 bis 120 Kinder aus einer Bevölkerung von 810 000 Menschen, die durchschnittlich alle noch recht erziehungsbedürftig sind.
Was nun die Anstalten selbst betrifft, so ist ihren Verwaltungen eines gemeinsam: alle klagen darüber, daß sie kein Geld haben, und alle Mängel, die nicht zu übersehen sind, sollen dem Fehlen der Mittel zugeschrieben werden. Das ist natürlich nicht richtig. Es gibt Aufgaben in der Erziehung, deren Lösung nur auf einem bestimmten, langsam erworbenen Kulturniveau der Erzieher und Anstaltsleiter angestrebt werden kann. In Krakau sowohl wie in Lemberg fehlt der Leitung das Verständnis dafür, daß eine Anstalt ihre Schuldigkeit nicht getan hat, wenn sie die Mädchen bis zum 15. Jahre behütet, ernährt und kleidet und sie dann unselbständiger, als es Familienkinder sind (Anstaltserziehung macht unselbständig) ins Leben, und schlecht vorbereitet, in den Broterwerb schickt.
In der Krakauer Anstalt, die ihre Zöglinge in beängstigender Orthodoxie aufwachsen läßt, ist sogar trotz des guten Willens zweier Vorstandsdamen selbst die Aufgabe des »behütet, ernährt und gekleidet« nur sehr ungenügend erfüllt. Unser Besuch in der Anstalt war vorher gemeldet. Die rosa Schleifen im Haar der Zöglinge konnten mich über mangelnde Zimmer- und Wascheinrichtung nicht trösten und noch weniger darüber, daß ich mit eigenen Augen die Kinder sich aussichtslos auf der Straße herumtreiben sah.
Lemberg dagegen besitzt in einem Waisenpalast eine Einrichtung, wie sie leider in großen Städten sehr oft gefunden wird, wo Menschen das Bedürfnis und die Mittel haben, sich ein Monument zu setzen, und falsche Freunde ihnen nicht abraten, sich in mangelnder Kenntnis der realen Verhältnisse an einer großen Idee zu versündigen.
Zu der fehlenden Selbständigkeit, zu der ungenügenden häuslichen wie beruflichen Ausbildung der Mädchen tritt in Lemberg noch die Verwöhnung durch den äußeren Rahmen des Hauses, um zugegebenermaßen den erziehlichen Erfolg der Anstalt recht herunterzudrücken. Auch werden die Mädchen zwischen 15 bis 16 Jahren entlassen. Eine Bestimmung, die geeignet ist, alles zu vernichten, was in der Erziehung eines Kindes bis dahin erreicht wurde, eine Bestimmung, die man in Krakau und Lemberg nicht gutheißen kann, weil sie, wie man mir dort zur Erklärung sagte, in den meisten Waisenhäusern und Erziehungsanstalten besteht.
Der Vorstand des Brodyer Waisenhauses erkennt und bedauert die Mängel seiner Anstalt – das ist schon sehr viel – und darum ist auch die Klage wegen ungenügender Mittel berechtigt. Auch hier wie in Krakau ein Analphabet als »Erzieher« der Knaben, und eine Köchin oder Haushälterin als einzige »pädagogische Kraft« der Mädchenabteilung.
Außer den genannten Anstalten gibt es noch in der Nähe von Krakau ein christliches Waisenhaus, in dem ständig 40-60 jüdische Kinder zwischen christlichen Kindern erzogen werden, obwohl man sie, bevor sie das gesetzliche Alter der Selbstbestimmung haben, nicht der Taufe zuführt.
Es ist dies eine von der Fürstin Osolinska erhaltene Anstalt, in der diese Dame aus Patriotismus alle polnischen Kinder, die im Wiener Findelhaus geboren werden, aufnimmt. Zu meinem Bedauern habe ich die Anstalt nicht gesehen, weiß also nicht, von welchen Geiste sie durchdrungen ist.
Wenn die Kinder dort so erzogen und gehalten werden, wie die Zöglinge eines Hauses in der Nähe von Dukla, das dem heiligen Michael geweiht ist und von einem katholischen Pfarrer ganz selbstherrlich geleitet wird, dann wäre es in erster Linie aus menschlichen Gründen wünschenswert, Mittel und Wege zu finden, die Kinder besser zu erziehen. Seitens der Fürstin Osolinska sollen keinerlei Schwierigkeiten gemacht werden, die Kinder eventuell der Krakauer Gemeinde auszuliefern.
Aber in Krakau sowohl wie im ganzen Lande fand ich die anderswo längst überwundene Anschauung der Minderwertigkeit unehelicher Kinder noch sehr stark ausgeprägt.
Daß uneheliche Kinder schutzbedürftiger sind als eheliche, in der Familie lebende, wurde mir nur ungern zugegeben, und daß die Verbrecherstatistik beweist, daß die Vernachlässigung der Unehelichen sich schwer an der Gesellschaft rächt, schien unbekannt.
Unter unehelichen Kindern sind aber jene Kinder nicht zu verstehen, die einer nach jüdischem Gesetz geschlossenen staatlich nicht anerkannten Ehe entstammen. Diese Kinder stehen unter den Schutze ihrer Eltern und sind auch in dem weiteren Kreise ihrer Familie voll anerkannt.
Es gibt aber auch eine verhältnismäßig große Anzahl von jüdischen Mädchen geborener Kinder, die meistens bei Bäuerinnen zum Engelmachen untergebracht werden. Die am Leben bleiben, sind heimatlos, rechtlos, verachtet, werden herumgestoßen und mißhandelt, sodaß es vollständig begreiflich ist, wenn sie sich nur unter vorherrschender Entwicklung der eigensüchtigen Triebe in ihrer Existenz behaupten können. Da diese bedauernswerten Geschöpfe gewissermaßen vogelfrei sind, wäre ihre Erziehung leichter zu leiten, als die der ehelichen Kinder, bei denen man sehr oft mit einem unvernünftigen Familienanhang zu kämpfen hat. Nach dieser Richtung weiß die Leitung der Haushaltungsschulen der Baron Hirsch-Stiftung von mancher Schwierigkeit zu berichten. Dennoch geben diese Anstalten ein sehr erfreuliches Bild zivilisatorischer Tätigkeit. In den Anstaltsräumen herrscht die größte Sauberkeit, die Mädchen sehen gut gepflegt aus und werden stramm zur Hausarbeit angehalten. Freilich weiß ich auch, daß man bei einer Anstalt, die äußerlich einen guten Eindruck macht, sein Urteil über dieselbe noch nicht abschließen darf.
Ich habe die Mädchen nicht arbeiten und nicht essen sehen, nicht im Verkehr miteinander und mit Fremden beobachtet, ich weiß nicht, ob die Anstaltsleitung nicht manches als Luxus bezeichnen würde, was ich als notwendiges Requisit der Reinlichkeit bezeichne. Um das und noch vieles andere wissen zu können, hätte ich ein paar Tage mit den Mädchen leben müssen. Aber jedenfalls ist auch hier viel guter Wille, und es ist auch gelungen, mit relativ geringen Mitteln viel Förderndes zu leisten.
In Tarnow und in Kolomea lernten wir zwei Damen der Lokalkomitees kennen, die für ihre Aufgabe den Haushaltungsschulen gegenüber großes Verständnis zeigten. Besonders in Tarnow hatten wir das Glück, durch das ungewöhnlich liebenswürdige und sehr dankenswerte Entgegenkommen eines ortsansässigen Ehepaares viel Wissenswertes zu erfahren.
Im Anschluß an die Haushaltungsschulen habe ich zu berichten, daß ich in Krakau eine gleichfalls von Frauen sehr gut geleitete Volksküche oder Suppenanstalt fand.
Zum Glück für ihre Besucher muß man dort aus finanziellen Gründen an dem einzig richtigen Prinzip, kleine Preise für die einzelnen Portionen zu nehmen, festhalten. Dadurch sind Mißbräuche ausgeschlossen, wie sie in Anstalten zu treffen sind, die die MizwohGebote als Himmelsschlüssel über die Vernunft stellen.
Auch in Zloczow besteht unter Leitung einer Dame eine Volksküche unter denselben Bedingungen.
Sonst erfuhren wir noch von Schulkinder-Speisungen durch die Baron Hirsch-Stiftung und in Lemberg durch die Gemeinde. Die Ordnung und Stille, mit der dort an 600 Kinder die klassenweise in geordnetem Zuge aufmarschiert kommen, unter Aufsicht von Lehrerinnen, resp. Lehrern ihr Mittagessen einnehmen, ist geradezu musterhaft.
Eine eigentümliche Art von Naturalgabe an ein Hospital fanden wir in Tarnow in dem sogenannten Jausenvereine. Dort besteht ein Frauenverein, dessen Mitglieder, im Turnus, nachmittags mit ihrer Privatköchin in der Spitalküche erscheinen, um dort den mitgebrachten Kaffee zu kochen, und, mit Zutaten, an die Kranken zu verteilen. Es wird seitens der Spitalverwaltung auf diese Gabe sehr gerechnet. Sie wird aber den Damen, so klein sie ist – ich vermute der Form wegen – oft sehr lästig.
Wie man sieht, sind es nur sehr wenige stabile Einrichtungen, über die ich zu berichten habe. Es werden an anderen Orten noch andere sein, die nicht zu meiner Kenntnis kommen konnten, aber vermutlich stehen sie auf demselben Niveau wie diejenigen, die wir sahen.
Für Galizien könnten diese Institutionen sicher zu Ansätzen einer künftigen, entwicklungsfähigen, sozialen Hilfstätigkeit werden. Heute sind sie dem Geiste nach noch Wohltätigkeitsanstalten im traditionellen Sinne, denn soziales Denken, soziales Gewissen sind in den Kreisen der jüdischen Intelligenz Galiziens noch sehr wenig geweckt.
Maßgebend hierfür scheint mir die absolut passive Stellung, die die bürgerliche Klasse dem ausgedehnten Haus- und Straßenbettel gegenüber einnimmt. Außer den Neumondtagen, den Tagen vor hohen Festtagen, sind vielfach noch Montag und Donnerstag feste Betteltage, an denen oft nur in halben Kreuzern eine Art von Steuer eingefordert wird. Wenige der gebenden Männer und Frauen erkennen darin das Symptom einer Krankheit im Volke, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen entstanden ist, und die mit ebenso vielen Gegenmitteln bekämpft werden muß. Gedankenlos und gewohnheitsgemäß wird das Almosen gegeben und genommen. Denn da nach der Auffassung der Orthodoxie der Arme dem Gebenden als Medium dient, ein gottgefälliges Werk zu tun, so ist der Gebende dem Armen Dank schuldig, nicht umgekehrt, und die Idee, daß diese Art des »Wohltuns« das Proletariat demoralisiert, findet keinen Eingang. Auch die religiöse Vorschrift, derzufolge ein Almosen dem Armen direkt gegeben werden muß, um für den Geber wirksam zu sein, ist ein Hindernis dafür, das schädliche Almosengeben in nützliche Fürsorge zu verwandeln. Dieselben halben Kreuzer, die man an der Türe verteilt, in Zentralstellen eingesammelt, könnten wirksam helfen, wenn sie sachgemäß praktisch verwendet würden. Aber dafür fehlt in Galizien noch das Verständnis, und darum der Wille.
Besonders den Frauen ist meines Erachtens der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich einschlägigen Erwägungen gegenüber noch sehr indolent verhalten.
So fortgeschritten modern sie in der Kleidermode sind, so unentwickelt altmodisch im Denken, so rückständig erscheinen sie noch in der Auffassung allgemeiner Pflichten.
Als Gradmesser für diesen bedauerlichen Kulturtiefstand dient die Unwichtigkeit, die man der Kinderpflege beimißt, und die Stellung der Frauen zur Dienstbotenfrage.
Es ist mir aufgefallen, daß in den Straßen und öffentlichen Anlagen und Gärten die meisten der reichgekleideten Kinder der Aufsicht von ganz ungebildeten Personen anvertraut sind. Ammen oder gewesene Ammen, Bäuerinnen, die sich nur sonntags die Gêne auferlegen, ihre Röhrenstiefel zu tragen. Weiter ist das Fehlen von Kinderwagen bezeichnend. Die gewickelten Kinder werden mitsamt ihrer Wärterin in eine Paradedecke eingehüllt und, wenn die Würmchen in diesem Dunstkreis wimmern, jederzeit und jedenorts gestillt und mit energischer Schüttelbewegung zum Schlafen gebracht.
Diese Beobachtungen von der Straße lassen ganz direkt auf die Kinderzimmer schließen.
Einige Damen klagten allerdings darüber, daß in Galizien keine besseren Kinderpflegerinnen und überhaupt nur sehr schlechtes Dienstpersonal zu bekommen sei. Aber ich meine, wenn sie wirklich so ganz von der Wichtigkeit der Qualifikation dieser Hausgenossinnen überzeugt wären, müßte man nach den wahren Ursachen der Minderwertigkeit des vorhandenen Materials forschen und ihnen abzuhelfen suchen.
Wie die Menschen es meist gerne tun, suchen auch die galizischen Hausfrauen die Ursache der Übelstände, die sie stören, nur in den andern und nicht auch in sich selbst.
Ich habe in allen Städten und Dörfern danach gefragt, warum die Mädchen eine solche Scheu davor haben, häusliche Stellungen anzunehmen, und überall wurde mir gesagt:
Daraus ergibt sich eine große Verachtung des ganzen dienenden Standes, das ist derjenigen Individuen, die sich solcher Behandlung aussetzen, oder sie sich gefallen lassen.
Ich selbst konnte ja nur beobachten, daß die Frauen in das Wort »Dienstbot« einen Ton der Verachtung legten, der wirklich empörend war.
Außerdem sind die Lebensgewohnheiten und Reinlichkeitsbegriffe des Landes geeignet, die Hausarbeit wirklich zu widerlicher Herkulesarbeit zu machen, sodaß die Abneigung der Mädchen gegen häusliche Stellungen eine gewisse Berechtigung hat.
Dieses mangelhafte Verständnis für Kinderpflege und die Vernachlässigung des eigenen Haushalts, für die bürgerlichen Kreise schon recht bedauerlich, sind für die große Masse der in größter Armut lebenden jüdischen Bevölkerung als die Wurzel vielen Unglücks, von Krankheit, Verwahrlosung und Verkommenheit anzusehen.
Seitens der Intelligenz hat aber dieses mangelhafte Verständnis auch noch die Folge, daß man wenig Eifer zeigt, Einrichtungen zu schaffen, die geeignet sind, in der Richtung der Kinderpflege und Volkshygiene belehrend und aufklärend zu wirken.
Es ist bezeichnend, daß die Begriffe: Krippe, Kindergarten, Kinderhorte u.s.w. in ihrer spezifischen Bedeutung kaum bekannt sind.
Nur Lemberg besitzt drei Volkskindergärten, die, wenn auch nicht ganz auf der Höhe moderner Anforderungen stehend, doch recht gut geleitet sind. In Krakau spricht man von der Errichtung irgend einer Volkspflegeanstalt, doch scheint man selbst noch nicht zu wissen, welcher Art sie sein soll.
Sonst begegnete mir auf meiner ganzen Reise keine Einrichtung, die den in ihrer Not und Armut schlaff und gleichgültig gewordenen Müttern durch die praktische Vorführung zeigt, wie ein Kind behandelt werden müsse, damit es durch Reinlichkeit und gute Gewöhnung ein gesunder und dadurch tüchtiger Mensch werde.
Auch nach dieser Richtung hat man mir immer wieder den Mangel an Mitteln als Grund der fehlenden Einrichtungen angegeben, doch auch hier kann ich die tatsächliche Armut der Gemeinden nicht als alleinige Ursache gelten lassen.
Die gut gekleideten Frauen könnten gerade an kleinen Orten auch ohne spezielle Einrichtungen belehrend auf die durch die Armut indolent gewordenen Familien einwirken, wenn sie selbst es technisch verständen, und wenn das soziale Gewissen nicht schliefe.
Mir persönlich hat man immer zu verstehen gegeben, ich sei so anspruchsvoll, weil ich aus dem Gan Eden, dem Paradiese Frankfurt nach dem Gehinnom, der Hölle Galizien gekommen sei.
Daß Frankfurt, häufig an Wohltätigkeits-Indigestionen leidend, für mich nicht immer maßgebend ist, war etwas, was ich den Herren und Damen kaum klar machen konnte, die noch glauben, man könne für Geld alles haben, auch das, was nicht mit Geld zu bezahlen ist: Verständnis für die Bedürfnisse des Volkes, persönliche Hingebung und Opferwilligkeit für eine Idee, Gewissenhaftigkeit und Treue in der Ausübung übernommener Pflichten, mit einem Worte: Menschen. Nächst den Schulen und anderen Erziehungsstellen sind die Spitäler, Siechen- und Altersversorgungshäuser die maßgebendsten Faktoren zur Beurteilung des Kulturzustandes eines Landes. Was wir in Galizien nach dieser Richtung zu sehen bekamen, ist unbeschreiblich traurig.
Ich hoffe, daß, wenn die Vertreter der Gemeinden auch nur eine Ahnung davon hätten, wie menschenunwürdig und dem heutigen Stande der Wissenschaft hohnsprechend es ist, was sie unter ihrer Verwaltung dulden, sie alles aufbieten würden, gewisse Veränderungen einzuführen. Aber ich fürchte, sie ahnen es nicht. Und die Ärzte? Sollen sie alle müde und schlaff geworden sein in einem erfolglosen Kampf gegen die Verwaltung?
Zustände, wie das Siechenhaus in Tarnopol sie aufweist, sind derart, daß sie unter Juden, denen die Pflege der Kranken und Alten als eine erste religiöse Pflicht gelten soll, unbegreiflich sind.
Achtundzwanzig Betten von Greisen und unheilbaren Kranken belegt, unter der Aufsicht und Pflege eines einzigen Mannes, der aussieht, wie etwas, das ich sonst in Galizien kaum gesehen habe, wie ein Straßenkehrer.
Die Kost zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, weshalb »erlaubt« ist, daß etwaige Angehörige täglich Eßwaren bringen!
Man hatte uns gesagt, der Kreisphysikus hätte vor kurzem Kontrolle gehalten, und deshalb sei erst alles gelüftet und geputzt worden. Ich kann nicht erzählen, was ich alles sah, und was ich nicht sah, aber ich werde den Jammer dieser Krankenzimmer und Aufenthaltsräume im ganzen Leben nicht vergessen.
Wir besuchten auch Krankenhäuser und Siechenhäuser, die weniger schlecht waren, aber gut ist keines, da in allen das ungebildete Pflegepersonal eine sachgemäße Führung ausschließt.
Daß sich die chassidischen Männer von keiner Frau berühren lassen, weil es ihr »religiöses Gefühl verletzt«, ist kein Grund dafür, daß sich die Ärzte mit diesem Bedienungspersonal, diesem Schmutz und dieser Verwaltung zufrieden geben.
Was speziell das Kapitel der Spitalverwaltung, und im Zusammenhang damit der Verwaltung von Verlassenschaftsgeldern betrifft, so sind mir darüber so märchenhafte Dinge berichtet worden, daß ich mich wohl hüten muß, sie zu wiederholen.
Wenn aber die Gerüchte den Tatsachen entsprechen, ist dann in den betreffenden Gemeinden nicht ein Mann von tadelloser Rechtschaffenheit, der den Mut hat, den ersten Stein aufzuheben?
So wie die Spitäler sind die Ambulanzen auch keine Stationen, in denen dem Volk eine Aufklärung zu Teil würde über das, was in gesundheitlicher Hinsicht für das Wohl und Wehe von Familien entscheidend werden kann. Daraus wird denn auch erklärlich, daß im ganzen Lande in hygienischer Beziehung die krasseste Unwissenheit herrschen muß. Es kommen Fälle von Typhus, sehr oft ist es der Hungertyphus, einfach nicht zur Anzeige und werden gar nicht, oder mit Hausmitteln behandelt. Desinfektion und Trennung der Kranken und gesunden Familienmitglieder gibt es nicht, da eben Arzt und Pflegerin fehlen, die anordnen und überwachen, resp. ausführen was nötig ist und was gleichzeitig dem Volke als Lehre und Beispiel dienen könnte.
Lemberg besitzt ein von einem privaten Wohltäter mit großem Kostenaufwand erbautes, modern eingerichtetes Spital, in dem auch eine Ambulanz vorgesehen ist. Ob aber die Gemeinde so viel Verständnis für ihre sozialen Aufgaben und für ihre exponierte Stellung als reichste Gemeinde Galiziens hat und dasselbe darin zum Ausdruck bringt, wenigstens eine gebildete Frau, eine geschulte Kraft in diesem Hause einzustellen, – das ist noch sehr fraglich.
In kleineren Orten ist für die Krankenpflege gar nicht gesorgt. Die christlichen Spitäler nehmen zwar überall Kranke auf, aber wegen der fehlenden rituellen Verköstigung wird von diesem Rechte der jüdischen Gemeinden nirgends Gebrauch gemacht.
Für die dringendsten Fälle schwerer Erkrankungen gibt es an manchen Orten Gegenseitigkeitsvereine. Bei einer wöchentlichen Einzahlung von 1 bis 2 Kreuzern verpflichten sich die Mitglieder des Vereins, bei vorkommenden schweren Krankheitsfällen abwechselnd Nachtwachen zu leisten. Man kann sich denken, wie es um einen solchen Kranken bestellt ist, bei dem je eine Nacht ein Schuhmacher oder Fuhrmann, Schlächter oder Viehhändler u. s. w. die Nachtpflege besorgt.
Es ist ja rührend, wie solche Männer, die sich tagsüber im Broterwerb schwer gemüht haben, sich jederzeit bereit finden, im Rahmen ihres Verständnisses Krankendienste zu tun. In der Praxis wird aber mehr einer religiösen Vorschrift genügt, als eine Hilfeleistung geboten, die dem Kranken, oft auch nur noch dem Sterbenden, eine Erleichterung bringt.
Ohne Zweifel läge es den Spitälern, ihren Vorstehern, Ärzten und Pflegerinnen ob, im Volke unermüdlich aufklärerisch zu wirken, aber von der Seite dieser Verwaltungen geschieht in dieser Richtung nichts.
Wenn man so in der Mangelhaftigkeit dieser wichtigen Einrichtungen auch nur flüchtig Einblick genommen hat, dann muß man es nur zu begreiflich finden, daß viele Kranke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, ihre Heimat verlassen, um außerhalb derselben Pflege und Heilung zu suchen. Sie wissen, daß sie nirgends elender zu Grunde gehen müssen als zu Hause.
Und wieder frage ich nach den Frauen in den Gemeinden, und wieder höre ich und sehe ich, daß sie abseits stehen, blind für ihre Pflichten, ihre Rechte nicht erkennend, schweigend nach der Vorschrift eines alten Kirchenvaters.
Kaum daß sie, mit wenigen Ausnahmen, wissen, daß es »draußen« eine Bewegung gibt, die, indem sie die einzelne Frau befreit, der Allgemeinheit die größten Dienste leistet.
Mit dem Kapitel der Krankenpflege verlasse ich das Gebiet jener stabilen Institutionen, die zum Zwecke des Unterrichtes und der traditionellen Wohltätigkeit in Galizien geschaffen wurden.
Um das Bild des Landes zu vervollständigen, habe ich noch über Faktoren Rechenschaft zu geben, die, in allgemeinen Verhältnissen wurzelnd, die Physiognomie des Landes prägen. Hierher gehören vor allem Mitteilungen über die Wohnungsverhältnisse in Galizien. Ich kann dieselben abkürzen, indem ich sage, daß alles, was über sittliche und hygienische Mißstände des Wohnungselendes je beobachtet, gesagt und geschrieben wurde, vollinhaltlich auf die galizischen Zustände angewendet werden muß. Die mangelnde Kanalisation, die Abwesenheit von Klosetteinrichtungen und Wasser, der Mangel an Betten und Möbeln gibt aber den Wohnhöhlen in der Anlage, sowie in der Überfüllung einen noch viel grauenvolleren Charakter.
Die Wohnungen, die zu ebener Erde gelegen sind, das Dach konnte ich meist leicht mit der Hand berühren, sind die verhältnismäßig gesünderen, weil durch alle Fugen und Ritzen die Luft und auch die Sonne eindringen kann, aber die Kellerwohnungen, an deren Öffnung die Menschen wie Insekten an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen, sind unbeschreiblich. Und da haben wir alles im Mai, der besten Jahreszeit gesehen. Wie oft, wenn wir einen Raum betraten, bei dem man am Eingang zurückprallen zu müssen glaubte, dachte ich: wie muß es hier im Winter sein, wo man die Fenster verklebt und die schlecht schließenden Türen nach Möglichkeit geschlossen hält, weil neben all den hungrigen Mäulern der Familie auch noch der Ofen gespeist werden muß!
Ich glaube, daß für das subjektive Gefühl der galizischen Bevölkerung der Segen der Gewohnheit den Unsegen der Abstumpfung weitaus überragt.
Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist.
Ferner als eminent wichtig für die Beurteilung des Landes sind die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Galiziens zu betrachten. Sich über diese umfassend und sachgemäß zu orientieren, bedürfte es kaufmännischer Vorkenntnisse und eingehender Enqueten.
Uns bestätigte schon die laienhafte Beobachtung und Umfrage, oft auch eine unaufgefordert erfolgte Mitteilung die bekannte Tatsache, daß es für die Masse der Bevölkerung in Galizien zu wenig Arbeit und Verdienst gibt, hauptsächlich aber, daß die Leistungsfähigkeit der Juden zu ihrem eigenen unermeßlichen Nachteil und Schaden eine einseitig ausgebildete ist. Einen großen Irrtum, mit dem in der Beurteilung der Landesverhältnisse in Galizien oft gerechnet wird, bin ich heute in der Lage, richtig zu stellen: es gibt kein Handwerk und keinen Erwerb, den die Juden in Galizien nicht treiben dürfen. Ebenso können sie, wie mir von maßgebender Seite versichert wurde, Grund und Boden auch in kleinen Parzellen durch Kauf erwerben oder pachten.
In der Regel sind sie nach dieser Richtung auch in der Praxis keiner anderen Handhabung und Auslegung der Gesetze unterworfen wie die christliche Bevölkerung. Freilich sind die Verhältnisse in Bezug auf Bodenbesitz im ganzen Lande sehr bedauerliche, da der Großgrundbesitz die bäuerliche Bevölkerung in ihren vitalsten Interessen schädigt.
Nur die Schankgerechtigkeit und die Mautpacht sind diejenigen Erwerbszweige, die den Juden seitens der Regierung vollständig abgenommen und in christliche Hände übergeführt worden sind. Auch damit erzähle ich nichts Neues, wenn ich berichte, daß der Kleinhandel in den Händen der Juden liegt, und ich würde nur Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die historische Begründung dieser sich in allen Ländern gleichbleibenden Erscheinung näher eingehen.
Es wird aber so oft von judenfeindlicher Seite auf die Tatsache »der Usurpierung des Handels durch die Juden« in einer Weise hingewiesen, daß Außenstehende leicht zu der falschen Vorstellung gelangen, als könnte ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung dadurch große Reichtümer erwerben und im Wohlstand leben.
Abgesehen von einer relativ sehr kleinen Anzahl wohlhabender Kaufleute, gehören die handeltreibenden Juden Galiziens zu dem ärmsten Proletariat, das die Welt aufweist.
Mir ist wiederholt versichert worden, daß der Verdienst manchen Familienvaters wöchentlich eben hinreiche, das Sabbatbrot und die Sabbatkerzen zu kaufen. Die ganze Lebenshaltung jener Juden, im Jargon der Antisemiten »Vampyre, die die christliche Bevölkerung aussaugen«, ist eine solche, daß kein christlicher Bauer oder Handwerker im Hinblick auf dieselbe eine Regung des Neides zu empfinden braucht. Hungerkünstler sind es, deren Bedürfnislosigkeit die einfachsten Existenzbedingungen so sehr herabgedrückt hat, daß bei den meisten ein Zustand dauernder Unterernährung herrscht. »Der Magen hat kein Fenster« sagen sie, und wo noch nicht alle Energie erloschen ist, da werden Erinnerungen an vergangene gute Tage, an gute Herkunft (Jichus) mit der Hoffnung auf kommende bessere Zeiten, wie zwei Fäden, an denen das Leben hängt, fest verknüpft, und das kostbare Zwischenglied, um das man sie schlingt, sind die Kinder.
Wenn diese armen Menschen nur verstünden, diesen ihren einzigen Reichtum für die Familie und den Staat wertvoll zu gestalten.
Der Hang nach Luxus unter den Mädchen ist, wenn man die Armseligkeit der allgemeinen Lebenshaltung ganzer Familien in Erwägung zieht, vielleicht als eine Art mißleiteten Regenerationstriebes zu betrachten, den in gute Bahnen zu lenken erziehlich auszunützen und umzugestalten mit zu den vornehmsten Aufgaben der künftigen Volkserzieher im Lande gehören wird.
Der Begriff dessen, was man Bedürfnis, was Luxus nennt, schwankt nach den gegebenen Verhältnissen.
Ich wollte, die galizische Bevölkerung hätte bald das unabweisliche Bedürfnis nach dem heute noch als Luxus aufgefaßten Besitz von einigen Hemden und anderen Wäsche- und Kleidungsstücken. Welchen Aufschwung von Industrie und Handel würde das bedeuten, welche andere gleichfalls unabweisliche Bedürfnisse würde das zum Segen des Landes und zur Hebung des Kulturniveaus herbeiführen. Die Phantasie kommt förmlich in rasenden Galopp bei der einfachen Vorstellung des »Luxus« von zwei ganzen, sauberen Hemden auf den Kopf der Bevölkerung.
Sehr bedauerlich im Handelsverkehr ist für das Land die bewußte Einführung von »Schundwaren für Galizien«. Ihre Einführung bedeutet, außer der ökonomischen, auch noch eine besondere Schädigung des Käufers, indem sie die Gewohnheit schleuderischen Einkaufs, Verkaufs und Gebrauchs hervorbringen und durch raschen Wechsel wieder eine Verführung zum Luxus im verderblichen Sinne bringen.
Das gilt selbstredend am meisten von Schnitt- und Modewaren.
Über den Verdienst der Aufkäufer, Zwischenhändler und Vermittler dürfte es wohl schwer sein, bestimmte Daten zu ermitteln, da die Leute nur ungern Auskunft geben, wohl auch selbst nichts Genaues wissen.
Handelsartikel sind hier meist die Produkte der bäuerlichen Landwirtschaft: Eier, Geflügel, Milch und Butter. In diesem Verkehr zeigt sich recht auffallend eine ausgesprochene Animosität zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung, die je kleiner die Geschäfte und die Preisdifferenzen sind, sich desto leichter zu großer Feindseligkeit ausgestalten. Unter Verhältnissen, in denen 10 Gulden ein Betriebskapital, und der Gewinn von 50 Kreuzern ein Geschäft ist, dem man Stunden widmen muß, kann sich nur schwer Weite und Größe des Blickes und der Gesinnung entwickeln. Es muß somit der Typus des Handelsjuden entstehen, der um halbe Kreuzer feilscht, wenn er einen Hering, einen Krautapfel, ein paar Zwiebeln oder eine saure Gurke zum Mittagessen genießen will.
Bei unseren Wagenfahrten sind uns unzählige flache Leiterwagen ohne jedes Schutzdach begegnet, auf denen Händler und Aufkäufer eng aneinander gerückt saßen, oft im Stroh hockend, oft an lebendes Kleinvieh herangedrängt.
Sorgenvollen Blickes stieren sie vor sich hin, oder sie sprechen eifrig; aber gleichgiltig sind sie für die sie umgebende Natur, gleichgiltig, ob die Sonne sie bescheint oder der Regen sie durchnäßt.
Wenn Menschen so leben, schlechter als das Vieh, an dessen Befinden und Gedeihen der Eigentümer ein Interesse hat, das für den galizischen Juden niemand empfindet, ist es da zu verwundern, wenn der Wunsch, Geld zu verdienen, jede andere Erwägung in den Hintergrund drängt, bis er so mächtig ist, daß er in den sträflichen Mißbrauch des Wuchers ausartet?!
Und hier tritt nun an manchen Orten die J.C.A. mit ihren Leihkassen ein und bringt praktischen und moralischen Segen ins Land. Der günstige Einfluß dieser Leihkassen kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie steuern dem Wucher und helfen den kleinen Gewerbetreibenden, indem sie zu niedrigstem Zinsfuße kleine Geldsummen ausleihen, die in so minimalen Raten zurückbezahlt werden können, daß die Schuldner diese Abzahlung nicht mehr als Druck oder Last empfinden.
Die Jahresberichte der Leihkassen sind von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet sehr interessant. Für die Beurteilung der ganzen Bevölkerung ist es von höchster Wichtigkeit, zu erfahren, daß diese Gewerbetreibenden kleinster Kategorie – Männer und Frauen – in der Rückzahlung ihrer Schuld von größter Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit sind, so daß es sich kaum ereignet, daß ein »Mitglied« der Kasse gegenüber seiner Verpflichtung nicht nachkäme.
Die Verwaltung der Leihkassen geschieht meistens ehrenamtlich, aber nicht an allen Orten ausschließlich ehrenamtlich, und da ich hier doch nun einmal das Kapitel der Beamten streife, darf ich eine Bemerkung nicht unterlassen. Wie ich schon einmal sagte, ist es bei keiner größeren Körperschaft zu erreichen, daß alle Mitglieder derselben allen an sie zu stellenden Anforderungen gleichwertig genügen. »Es kann überall etwas vorkommen«, heißt es, wenn man gewissen Gerüchten mit bestimmten Fragen nahe kommt. Und da ist nur eins zu sagen: jede Hilfstätigkeit in Galizien hat nicht nur in ihrer Spezialität im Lande zu wirken, d.h. die Schulen sind nicht nur Lehranstalten, die Leihkassen nicht nur Darlehensvermittlung, Versuche zur Einführung von Industrien nicht nur Arbeitsvermittlungen u.s.w.
Infolge der ganz besonderen Eigentümlichkeiten des Landes, seiner dekadenten moralischen Struktur, haben alle Institutionen gemeinsam die große Aufgabe in Haltung und Verwaltung für das ganze Land vorbildlich zu sein.
Wenn »etwas vorkommt«, dann muß mit unnachsichtlicher Strenge vorgegangen werden, damit die Bevölkerung keinen Augenblick darüber im Zweifel bleiben kann, was erlaubt und was unerlaubt ist.
Bei der exponierten Stellung dieser Verwaltungen muß jede Nachsicht und Milde, die vielleicht persönlich angebracht sein kann, zu einer Verwirrung der allgemeinen Ehr- und Rechtsbegriffe führen, auf deren Stärkung im Volke es vor allem ankommt.
Bezüglich des Handwerks habe ich zu berichten, daß ich keine besondere Abneigung gegen dasselbe bemerkt habe, und daß die gangbarsten Handwerke (Schneider, Schuster, Tischler, Spengler, Anstreicher und Maurer) unter den Juden vielfach vertreten sind. Es würden sich Schüler an den obersten Klassen der Baron Hirsch-Schulen gerne einem Handwerk widmen, wenn die 50 bis 80 Gulden Lehrgeld aufzubringen wären.
Es ist notwendig, daß die Lehrlinge bei guten christlichen Meistern in größeren Städten in die Lehre kommen, um sie wirklich konkurrenz- und erwerbsfähig zu machen.
Das, was an den kleinen Orten Galiziens selbst von einem Handwerker gefordert wird, darf nicht als Maßstab der Ausbildung gelten.
Daß manche Handwerkerschulen der J.C.A an Verwaltungssünden zu Grunde gegangen sind, ist sehr zu bedauern, aber doch auch wieder gut zu machen. Ich meine, bei gutem Willen müßte sich ein Modus finden lassen, in dem die Lokalkomitees und die Vereinsdezernenten sich zu harmonischer Zusammenarbeit bereit finden. Zwei Klagen sind nach dieser Richtung typisch: die Lokalkomitees finden die wenig konziliante, diktatorische Art der J.C.A. unangemessen. Seitens der J.C.A. dagegen wird die Lokalexekution als vielfach verständnislos, mangelhaft, oft auch geradezu als korrupt bezeichnet.
Bei der Wichtigkeit der Aufgabe wäre es wohl der Mühe wert Schwierigkeiten, die nur persönlicher, und nicht sachlicher Natur sind, zu überwinden.
Bezüglich der Lehrlinge sind die J.C.A.-Vertreter zu der Ansicht geneigt, sie hätten nicht die Pflicht, der Baron Hirsch-Schulen die Absolventen behufs Weiterbildung abzunehmen, sondern sich vor allem mit Kolonisation zu beschäftigen. Es handelt sich aber gar nicht darum den Baron Hirsch-Schulen einen Gefallen zu tun oder nicht, sondern darum, daß diese Schulen die Ziele der J.C.A. in hervorragendem Maße fördern, indem sie die Knaben mit Elementarkenntnissen ausstatten, und darum, daß die Schulleitung die Vermittlung zum Handwerk übernehmen will, – ohne welches eine Kolonisation einfach unmöglich ist.
Es gibt eben in den Aufgaben der Volkserziehung keine ganz scharf abgegrenzten Ressorts, und es wäre im Interesse des Ganzen sehr wünschenswert, wenn seitens der verschiedenen Kuratorien die Gemeinsamkeit des letzten Zieles – Kulturfortschritte im Lande anzubahnen nicht außer acht gelassen würde. Die große Sehnsucht der Wohlwollenden im Lande ist die Einführung von Industrieen. Das bildet selbstredend eine große Schwierigkeit, da die Frage der Rentabilität eines Unternehmens dabei das Maßgebende ist.
Ein Unternehmer, der nicht einen großen Vorteil oder eine Garantieleistung findet, hat keinen Grund, sich unter schwierigen Verhältnissen mit ungelernten Arbeitern zu quälen, es sei denn, er habe zugleich ein sozial-moralisches Interesse daran, Arbeitgeber zu sein, – den Arbeitern zuliebe. Diese Voraussetzung wird bei Geschäftsleuten selten zutreffen. Erfuhren wir doch sogar von landesansässigen, jüdischen Fabrikanten, die »prinzipiell« keine jüdischen Arbeiter beschäftigen: Arbeitgeber, die von außen veranlaßt werden, in Galizien arbeiten zu lassen, gehen auf alle dahin zielenden Vorschläge nur des eigenen Interesses, der landesüblichen Hungerlöhne wegen ein, – selbst dann, wenn sie sich als »kleiner Baron Hirsch« aufspielen.
Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, sind sogar die Ausbeuter willkommen! Die einzige Arbeitgeberin, die ständig Arbeit hat und die auch mit den Eigentümlichkeiten des arbeitswilligen Teiles der Bevölkerung immer Geduld haben muß, ist die Baron Hirsch-Stiftung, die aber ihren großen Bedarf an Stoffen und Kleidern importiert! (Die Stiefel, die zur Verteilung kommen, werden im Lande gearbeitet.)
Selbst auf die Gefahr hin »große Schererei« zu haben, und einige Jahre teuer zu arbeiten, müßte man Werkstätten und Nähstuben anlegen, um auf dem natürlichen Wege, auf Grund eines vorhandenen Bedarfs, das zu erreichen, was nach den Erfahrungen der J.C.A. und des Galizischen Hilfsvereins auf künstlichem Wege so schlecht gelingt, nämlich einige Stellen dauernder Arbeitsgelegenheit zu schaffen. Die Puppenfabrik der J.C.A. in Tarnow macht auf den flüchtigen Besucher, besonders durch die Sauberkeit der Arbeitsräume, im Gegensatz zu den Lokalen, in denen z.B. die Federnsortiererinnen arbeiten, einen sehr guten Eindruck. Aber auch hier gilt, was ich von den Erziehungsanstalten gesagt habe wer nicht mit den Mädchen gelebt hat, wer nicht das Vertrauen der Arbeiterinnen hat, um eventuelle Klagen zu hören, darf über einen Betrieb nicht das letzte Wort sprechen wollen. Ich sah auch noch andere Fabrikbetriebe, in denen scheinbar alles gut war und hörte später von geradezu erschreckendem Lohndruck und Ausbeutung der Arbeitskräfte.
Die Mädchen in der Puppenfabrik sind, trotzdem sie wöchentlich durchschnittlich nur zwei Gulden verdienen – Anfängerinnen bekommen nur 80 Kreuzer – leider zufrieden. Der ganze Betrieb scheint bei der Bevölkerung recht beliebt, was daraus hervorgeht, daß wir an verschiedenen Orten gebeten wurden, die Einrichtung von weiteren Puppenfabriken zu befürworten.
Daß eine Fabrik eine industrielle Notwendigkeit, d.i. im geschäftlichen Sinne rentabel sein muß, und kein Wohltätigkeitsinstitut, daß der Arbeitslohn kein Almosen mit Hindernissen sein darf, wird im Lande nur schwer begriffen.
Weniger gut als mit der Puppenfabrik geht es scheinbar mit der Strumpfstrickerei, was aber nur an der Organisation und der Geschäftsgebarung zu liegen scheint, da im Lande ein ständiger Bedarf an Strumpfwaren vorhanden ist.
Statt daß die galizischen Händler und Kaufleute ihre Ware in kleinen einheimischen Betrieben decken könnten, müssen sie außerhalb einkaufen, und die J.C.A. gab sich ihrerseits die größte Mühe, außerhalb Galiziens eine Firma zu finden, mit der sie einen Vertrag abschließen konnte, der seitens der Firma nicht immer eingehalten wurde. Das führte zu Störungen und Mißständen aller Art.
Auch über die Behandlung der Arbeiterinnen, und deren obligatorische Krankenversicherung sind uns aus den Kreisen der Arbeiterinnen lebhafte Klagen zu Ohren gekommen.
Da aber, was immer von einem Institut von der Tendenz der J.C.A. ausgeht, gewissermaßen unter der Flagge der J.C.A. im Lande segelt, vorbildlich korrekt und vertrauenswürdig sein muß, so hat die J.C.A. auch dafür zu sorgen, daß die Rechte der Arbeiterinnen unter allen Umständen gewahrt bleiben.
Das geschähe am besten, wenn man die Mädchen über die Vorteile der Organisation, d.h. der Selbstvertretung und Selbsthilfe aufklärte. Da das aber voraussichtlich als ein Eingriff in politisches Gebiet aufgefaßt und zurückgewiesen würde, so bleibt nur die schärfste Kontrolle, sowie eine minutiöse Wahrnehmung der Rechte der Arbeiterinnen übrig, die eine ausbeuterische Übervorteilung nach irgend einer Seite ausschließt.
Auch der galizische Hilfsverein in Wien pflegt die Idee, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen und scheut die Kosten nicht, einige Experimente zu machen. Seine Hauptleistung war die Einführung der Haarnetzindustrie. Über dieselbe ist zu berichten, daß sich fast überall eine große Enttäuschung eingestellt hat. Wie wir erfuhren, hat man anfangs zu große Versprechungen gemacht, die Mädchen erwarteten von einer Art leichter Spielerei goldene Berge. Heute hat sich herausgestellt, daß die Arbeit eine recht mühsame ist und große Akkuratesse und Geduld erfordert, während der Verdienst ein sehr geringer ist.
Da von dem galizischen Hilfsverein gar keine Vorkehrungen getroffen sind, Lohndruck, willkürliche Lohnabzüge und Verzögerung der Lohnauszahlung hintanzuhalten, so ist die Haarnetzerei nach kurzem Aufschwunge wieder stark im Rückgange begriffen.
Auch der Umstand, daß die Fertigkeit des Netzes nirgends anders zu verwerten ist, als da, wo bestimmte Firmen als Ausbeuter auftreten und daß die Übung des Netzens keine andere Arbeit neben sich duldet, macht die galizischen Mädchen abgeneigt, etwas zu lernen, was sie bei schlechter Bezahlung auch noch äußerlich an gewisse Firmen bindet. In christlichen Industrieorten wird die Haarnetzerei vielfach als Nebenverdienst in den Familien betrieben, unter jüdischen Mädchen in Galizien wurde sie oft von solchen erfaßt, die sich schämten, öffentlich als Arbeiterinnen zu gelten. Man arbeitet die Netze bei geschlossenen Fenstern und Türen, da, wenn unversehens jemand kommt, diese Arbeit leicht zu verstecken ist!!! Weitere Experimente des galizischen Hilfsvereins waren die Knopfnäherei und Krawattenfabrikation. Weshalb die Knopfnäherei nicht eingeschlagen hat, konnte ich nicht erfahren.
Die Krawattenfabrikation scheiterte an der unglücklichen Art ihrer Einführung. Anstatt eine gute, geübte Krawattenarbeiterin als Lehrerin und Betriebsleiterin so einzustellen, daß sie unter Kontrolle, in irgend einer Weise an Erfolg interessiert gewesen wäre, ließ man eine Schullehrerin in der Arbeit ausbilden. Nach vier Wochen schon sollte die Dame das eben Gelernte weiter lehren und den Betrieb leiten.
Unter diesen Umständen konnte die Arbeit nur schlecht und für den Verkauf unbrauchbar sein. Dieser Mißerfolg ist aber nicht maßgebend, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß bei richtiger Handhabung die Krawattenfabrikation dennoch eine Zukunft hat.
Der galizische Hilfsverein steht nämlich erstaunlicherweise auf dem Standpunkt, nur Industriezwecke zu verfolgen, und zwar in dem Sinne, eine Anregung zu bringen, eventuell einige Lehrkräfte zu bezahlen, und die Entwicklung der Dinge dann sich selbst zu überlassen. Als Maßstab und Vergleich werden dann Industriezentren anderer österreichischer Kronländer herangezogen.
Wenn aber nicht in Galizien alle Verhältnisse anders lägen, als in anderen Ländern, wenn die jüdische Bevölkerung in Galizien die Kraft systematischer, konsequenter Arbeit schon kennte, – wozu brauchte man dann einen galizischen Hilfsverein? Dort genügt es heute noch nicht, eine Idee zu bringen, Handfertigkeit und Handgriffe zu lehren. Der Anfang ist dort noch schwerer als an anderen Orten, und der erziehliche Einfluß, den die Arbeit ausübt, kann sich nicht so rasch fühlbar machen, daß man die jungen, kaum gewonnenen Arbeitsrekruten nicht noch gewissermaßen beobachten und schützen müßte bis zu der Zeit, wo sie, durch Arbeit erstarkt, imstande sind, sich dem großen Heere anzuschließen, ohne gleich als Marodeure oder Deserteure wieder abzufallen.
Ganz getrennt von den genannten, künstlichen Versuchen, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen, bestehen in Galizien einige nationale Industriezweige, die, da sie einem Bedürfnis der Bevölkerung entsprungen sind, auch eine ganz andere Entwicklung nehmen konnten.
Es sind dies u a. die Tallis-(Gebetmäntel)Webereien und die durch Heimarbeit hergestellten Aturos, das sind die silbernen Zierborten, die an einer Seite der Gebetmäntel angebracht sind.
Die Tallisweber sind organisierte Arbeiter, die dem österreichischen Weberverband mit seinem Bureau in Wien angehören.
Wir haben unter ihnen sehr intelligente Männer getroffen, die, obwohl Analphabeten, doch politisch reif und durchgebildet sind. Die Lage dieser Arbeiter ist eine sehr schlechte. Die Handwebestühle sind sehr primitiver Konstruktion, und ihr Betrieb verzehrt unverhältnismäßig viel Kraft; sie stehen in Räumen, die nach jeder Richtung unzulänglich sind, und der Verdienst – ein Stücklohn, an dem sich die Unternehmer bereichern – ist sehr gering. Eine kleine Lohnerhöhung trat vor einiger Zeit ein, da nach einem mühsam durchfochtenen Streik das Richten der Stühle, eine sehr zeitraubende Vorbereitung zur eigentlichen Arbeit, jetzt eine besondere Entlohnung findet.
Da diese Tallisweber aber arbeiten können, konsequent und regelmäßig, da sie sozialpolitisch denken, so bin ich der sicheren Überzeugung, daß die Weberei in Galizien ein entwicklungsfähiges Gewerbe ist. So gut diese Tallisweber »Tüchel« weben, könnten sie auf modern konstruierten Webestühlen auch andere Stoffe weben, oder weben lernen, und die ganze Herstellung könnte sich wenigstens teilweise nach einer Richtung ausdehnen, die, profanen Zwecken dienend, einem wachsenden Konsum im Lande entspräche.
Die Aturos werden, wie man uns sagte, nur an einem einzigen Orte in Galizien, in Sassow, hergestellt.
Diese Borten sind eine Art Posamentierarbeit, auf Klöppelkissen mit Silberfäden über Baumwolleinlagen geknüpft. Es arbeiten innerhalb der Organisation ungefähr 20 Leute, die kürzlich beschlossen, zum Schutze der Zunft keine Lehrlinge, besonders keine Lehrmädchen aufzunehmen.
Wir sahen eine große Anzahl von ornamentalen Mustern (Variationen einiger immer wiederkehrender Formen), die den Eindruck schöner, schwerer Silberstickerei machten.
Auch dieser Industriezweig könnte, wenn moderner Geist sich sowohl der technischen, wie der geschäftlichen Seite belebend annähme, zu ganz bedeutender Entwicklung gebracht werden. Heute wird fast noch auf derselben Basis gearbeitet, wie vor hundert Jahren.
Ich bin natürlich nicht in der Lage, einen ausführlichen Bericht über alle Arbeitsgelegenheiten der Juden in Galizien zu geben. Die beiden angeführten Industriezweige haben uns als jüdische besonders interessiert. Einen dritten, der auch dem Ritual dient, eine Tefillenfabrik (Gebetriemen und Gebetkapseln) haben wir nicht gesehen. Doch arbeiten Juden auch noch in vielen anderen Betrieben: in Druckereien, Porzellanmalereien, Kerzenfabriken u.s.w. Aber gleichviel, wohin unsere Blicke und Beobachtungen sich richteten, überall fanden wir unter den Juden einen eigentümlichen Zug von Gedrücktheit, Gleichgültigkeit, oft von Stumpfheit, vereint mit Intelligenz, die sich von der der bäuerlichen Bevölkerung sichtlich unterscheidet.
Und wie bei den Schulen taucht mir auch hier immer wieder die Frage auf, warum begnügt sich die Regierung mit Bevölkerungselementen, die national-ökonomisch betrachtet, so wenig wertvoll sind? Wäre es denn nicht, sowohl im Hinblick auf das allgemeine Staatseinkommen, als auf die Ausübung der Wehrpflicht vorteilhafter, einer Provinz, in der Handel und Industrie, also Volkswohlstand und, damit im Zusammenhange, Volksgesundheit und Volksmoral in einem Zustande der Dekadenz befinden, frische Kräfte zuzuführen, damit sie aufblühe?
Die Staatsanimosität gegen die Juden führt zu einer sehr deutlichen Art von Selbstbestrafung am Staatskörper. Die Individuen, die seit Generationen unter fortgesetztem Drucke leben, sind schwach und indolent geworden. Mit dem vielfach fehlenden Bewußtsein ihres Zustandes fehlt auch der Anstoß, ihn zu verändern, fehlt der Willensakt, ihre Lage zu verbessern.
Der Wunsch, die galizischen Juden als Staatselemente leistungsfähiger und damit wertvoller zu machen, könnte auch von der Regierung unterstützt werden, wenn sie ganz ohne »Sentimentalität und Humanitätsdusel«, ohne »Bevorzugung einer Rasse« nur ihren einfachen Vorteil erkennen wollte.
Ich halte es für sehr bezeichnend für den Zustand dumpfen Dahinlebens der großen jüdischen Volksmasse in Galizien, daß Ideen zur Förderung innerhalb derselben von außen gebracht werden müssen.
Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse aus eigener Kraft sind mir nicht bekannt geworden, weder im Lande selbst, noch bei den Galizianern, die außer Landes leben.
Auch die Idee des Auswanderns ist in vielen Fällen nicht als ein Aufschwung zu betrachten, sie entstammt oft einer gewohnheitsmäßigen Denkweise und ist auch ein Versuch, sich treiben zu lassen, um vielleicht in einem anderen Fahrwasser »glücklich« zu werden.
Die Hauptidee, deren Ausführung dem leidenden Volk Hilfe bringen soll, und die auch von Freunden desselben reflektierend hineingetragen wird, ist, das jüdische Volk wenigstens teilweise wieder zu einem ackerbautreibenden umzugestalten.
Es ist keine Frage, daß die »Rückkehr zum Ackerbau«, wie das Schlagwort für die einschlägigen Bemühungen heißt, ein Eingehen auf Lebensbedingungen wäre, die nach jeder Richtung hin als gesund und darum als erstrebenswert zu bezeichnen sind. Aber diese Rückkehr kann nicht so einfach geschehen, selbst wenn der Einzelne das Verständnis und den Willen dazu besäße. Der Landbewohner sowie der Stadtbewohner hat ererbte und erworbene Eigenschaften und Eigentümlichkeiten, die ihn charakterisieren, und die nicht als ein gegebenes Zeichen abgelegt und angenommen werden können.
Auch die Wechselwirkung zwischen Wollen und Können wird von Seiten derer, die Projekte machen, häufig nicht genügend beachtet. Es ist sicher, daß man lieber etwas tun will, was man kann, als etwas, was große Schwierigkeiten bereitet; ebenso werden wir leichter das können, was wir wollen, – aber die Energie des Willens reicht doch nicht in allen Fällen aus, das Können zu erreichen.
So hören wir heute sehr oft, die Juden wollten keine landwirtschaftlichen oder ähnliche Arbeiten verrichten. Ich glaube, daß sie in vielen Fällen noch nicht wollen können.
Ein großer Teil der erziehlichen Aufgabe in Galizien wird darin bestehen, dem Wollen der Menschenkraft eine Richtung zu geben, die dem Einzelnen und damit der Gesamtheit förderlich ist.
Die Theoretiker für Galizien werden oft ungerecht, indem sie außer acht lassen, daß das Volk, für das sie mit viel gutem Willen und Begeisterung am grünen Tisch arbeiten, keine gleichförmige Masse, sondern ein Konglomerat von Individuen ist, die bewußt oder unbewußt den Beglückungstheorien fremd bleiben, darum nicht wie gehorsame Kinder sofort auf dieselben eingehen.
Die ersten schlechten Erfahrungen, die die J.C.A. mit ihren Versuchen landwirtschaftlicher Kolonisation in Argentinien machte, sind sehr lehrreich. Heute hat man zwei wertvolle Erfahrungen aus jener Versuchsperiode zu verzeichnen: 1. man lasse nicht wahllos jedermann und jede Familie zur Neukolonisation eines Landes zu, und 2. man bereite die Emigranten für die Kolonisation vor.
Die Auswahl, sowie die Vorbereitung bedingen das Ausscheiden der Alten, Kranken und Schwachen, eine scheinbare Härte, ebenso wie sie die zielbewußte Vorbildung der Jugend – das Wollen lernen – zum unerläßlichen Grundsatz machen.
Der Aufgabe, die männliche Jugend für den Ackerbau vorzubereiten, suchte die J.C.A. durch die Gründung der landwirtschaftlichen Schule in Slobotka Iesnia gerecht zu werden.
Die Gerüchte, die über den Ankauf des Gutes, seinen Preis, seinen Wert, seine Bodenbeschaffenheit und andere nicht gleichgiltige Umstände in Umlauf sind, bin ich nicht imstande, authentisch richtig zu stellen. Keinesfalls ist alles, was eine wohlmeinende Auslegung zuläßt, auch schlankweg gut zu heißen. Aber auch ein zu teuer gekauftes Gut mit teilweise minderwertigem Boden könnte mit der Zeit das Experiment der J.C.A. als solches rechtfertigen.
Da aber zur Zeit die ersten Zöglinge der Anstalt noch nicht fertig ausgebildet sind, da man heute noch nicht weiß, ob die jungen Leute wirklich bei der Landwirtschaft bleiben wollen und können, so ist das Experiment der J.C.A. vor der Hand noch nicht als gelungen zu bezeichnen.
Slobotka lesnia ist ein teures Experiment. Warum verteuert man es durch Schul- und Luxusbauten, die wertlos werden, wenn sich binnen weniger Jahre herausstellt, daß der Versuch mißlungen ist, d.h. daß die Zöglinge sich nach zurückgelegter Lehrzeit anderen Berufen widmen, als dem Ackerbau und verwandten? Denn nur um kräftige, gesunde Jungen zu erziehen, bedürfte es solchen Kostenaufwandes nicht. Es müßte aufs gewissenhafteste erwogen werden, ob das aufgewendete Kapital sich auf dem beschrittenen Wege in den Menschen verzinst, und ob nicht die selben erziehlichen Erfolge, die das Experiment Slobotka lesnia bietet, auf andere Weise, mit kleineren Kosten erreicht werden könnten. Darüber kann man aber erst zu einem abschließenden Urteil gelangen, wenn man auf die Erfahrungen vieler Jahre und mehrerer Generationen von Absolventen der Anstalt zurückblicken kann, und deshalb war das Investieren von Neubauten auf dem Gutskomplex jedenfalls verfrüht. Die ökonomische Seite der Frage darf durch alle Teile des Verwaltungskörpers nur von dem Standpunkt aus betrachtet werden, daß Stiftungsgelder Mündelgelder sind. Je reicher eine Stiftung, desto größer und vielgestaltiger ihre Aufgabe, desto größer die Verantwortlichkeit.
Die Schule hat vor allen Dingen die Aufgabe, die jungen Leute für das Landleben unter den einfachsten Verhältnissen vorzubereiten. Die Knaben sollen Freude an körperlicher Arbeit bekommen, sie sollen den Boden liebgewinnen, dem sie die Früchte abringen, das bäuerliche Leben in seiner gesunden, primitiven Urwüchsigkeit soll ihnen vertraut und teuer werden. (Einige Bemerkungen, die nicht ganz in den Rahmen dieses passen, sind direkt an die zuständigen Stellen vermittelt worden. B.P.)
Als Beweis dafür, daß die Juden nicht, wie meist behauptet wird, durchgehends für das ländliche Leben untauglich und unfähig sind kann außer den zerstreut lebenden bäuerlichen Familien, die jüdische Bauernkolonie in Czerniejow dienen. Dort sind »zehn Minjonim«, also 100 männliche Bewohner über 13 Jahre, die von Ackerbau und Viehzucht leben, wie die christlichen Bauern auch. Sie verheiraten sich nur mit Mädchen und Frauen, die zu ihrer bäuerlichen Lebensweise und ihrem Erwerb passen und sind städtischer Art fremd.
Ich kann nicht sagen, daß ich diese »jüdischen Arelim« froher, zufriedener, weniger gedrückt gefunden hätte, als die städtischen Juden; dazu sind sie zu arm, geistig zu unfrei, aber sie sind körperlich viel kräftiger als die städtische Bevölkerung, und die Landarbeit, sowie die Abkehr von unsauberen städtischen Berührungspunkten hat ihnen ihre Sittlichkeit erhalten. – Außer den erwähnten gibt es noch zwei mächtige, rein geistige Potenzen, die, wenn man für Galizien und in dem Lande wirken will, jederzeit beachtet und bedacht werden müssen: der Chassidismus und der Zionismus.
Der Chassidismus ist als Sekte, als eine Abzweigung innerhalb des orthodoxen Judentums anzusehen. Es gehört ihm ein so großer Teil der galizischen Bevölkerung an, daß er sehr bestimmend auf dieselbe eingewirkt hat. Historisch stellte er einst eine mystisch fromme, antitalmudische Richtung dar. Heute ist es der Chassidismus, der den Geist einer reinen Gottes- und Sittenlehre so fest in Formen und Formeln gebannt hält, daß seine Anhänger vielfach durch den Wust des Nebensächlichen den Kern der Lehre nicht mehr zu erkennen vermögen. Das geistlose Festhalten am Ritual und, damit im Zusammenhange, die Gesetzesdeutelei sind es, die oft die haarscharfe Linie zwischen Recht und Unrecht zu verwischen drohen, und die für das Volk, das in dem furchtbaren Ringen um seine Existenz vielfach unsicher geworden ist, eine große moralische Gefahr bergen.
Das Ritual, von dem es einst hieß, es sei der Zaun, der einen herrlichen Garten einschließt, es ist Selbstzweck geworden, es ist für den größten Teil der galizischen Juden die harte Schale einer tauben Nuß.
Von morgens bis abends, von Beginn des keimenden Lebens bis zum erlischenden Atemzuge ist das menschliche Leben von Vorschriften begleitet. Was einst deren Zweck war, in allen Lebensäußerungen Gott zu suchen und zu finden, der Seele Aufschwung zu geben vom Alltäglichen ins Unendliche, – das hängt heute wie ein Bleigewicht an dem Alltäglichen und verflacht und versumpft und erdrückt die Menschen. Nur daraus ist es erklärlich, daß in und neben dieser orthodoxen Lebensweise Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit unter den galizischen Juden herrschen können. Sie leben meist nur im Banne des Rituals, das man aus Aberglauben und aus Furcht vor der Nachrede des Nachbars nicht abzustreifen wagt, aber sie sind nicht fromm.
Eine Art fatalistischen Gottvertrauens, das die Hände in den Schoß legen läßt und schlaff und indolent macht, ist keine Frömmigkeit in dem Sinne der Erhebung, der Befreiung und der Auslösung von Kraft, das Sittliche und Gute zu wollen.
Trotzdem die jüdische Religion kein Dogma und keinen Priester als Vermittler zwischen Gott und dem Menschen kennt, hat sich im galizischen Volke eben aus der Wichtigkeit der Gesetzesdeutung, die ein Talmud unkundiger Laie nicht vornehmen kann, in den sogenannten Wunderrabbis eine Art Priesterkaste gebildet, die von ihrem Einfluß auf das Volk den ausgiebigsten, und unheilvollsten Gebrauch macht. Ihr Einfluß ist furchtbar, denn er lähmt nicht nur jede Regung fortschrittlichen Gedeihens, sondern er tötet auch den Geist der jüdischen Lehre. Es gibt in Galizien Dynastien von Wunderrabbis, bei denen sich die »Erleuchtung«, der Einfluß und das Geschäft von Vater auf Sohn und, wenn nötig, auch auf den Schwiegersohn vererbt. Es wäre wahrscheinlich ein Unrecht gegen einige Männer, wollte man sie alle als Betrüger hinstellen, wurden wir (als Frauen!) doch bei dem einen und anderen in »Audienz« empfangen, der keinen ganz unsympathischen Eindruck machte.
Die Rabbinersfrauen, »Rebbezen«, fanden wir alle intelligenter als die Männer in ihrer talmudischen Weisheit. Der Verkehr mit dem Publikum im Vorzimmer der Rabbiner scheint sie klüger und weltgewandter zu machen; das äußerte sich sichtlich in dem Verständnis für das, was unsere Mission für Land und Leute bedeuten sollte. Einige der Frauen machen, mit dem eigentümlichen Kopfputz, der die Haare bedeckt und die Stirne mit einem Perlendiadem krönt, einen sehr vornehmen Eindruck.
Die Wunder, die die Rabbis tun, bestehen meistens in Ratschlägen geschäftlicher, medizinischer oder juristischer Art, die, wenn sie sich als wirksam erweisen, aus einer gewissen Routine im Übersehen der Verhältnisse, oder psychologischen und suggestiven Einflüssen hervorgehen. Daß manche Wunderrabbis Agenten haben, die in der Eisenbahn, in Wirtschaften und auf Märkten von ihren Wundern erzählen, ist ein Geschäftstrick, der aus der Konkurrenz entspringt und mit der modernen Reklame in Zusammenhang zu bringen ist.
Aber nicht allen gelingt es, durch den Aberglauben und die Beschränktheit ihrer Anhänger Reichtümer zu sammeln, wie die Herren von Chortkow, Sadagora und Belschitz u.s.w., die ihren Einfluß auch auf das politische Gebiet spielen lassen, indem sie die Wahlen beeinflussen. Viele Wunderrabbis sind arm und bleiben arm und müssen für ein mageres Suppenhuhn schon ihre Weisheit zu Markte tragen.
Wenn man die furchtbare Öde in Betracht zieht, in der das galizische Volk dahinlebt, darbend an Geist und Körper, Gott, Vaterland, Wissenschaft, Kunst, Wohlstand, alles, was den Menschen hoffen, streben und genießen macht, vergällt oder verschlossen, – und man bedenkt, daß diesem darbenden Volke eine Idee gebracht wird, die ihm Befreiung verheißt, mehr als Befreiung, Freiheit! Freiheit in einem eigenen Lande zu wohnen, und als Bürger nicht mehr getreten und geschmäht zu werden, Freiheit zu leben, zu denken, zu genießen wie andere Menschen – kann es da Wunder nehmen, wenn das Volk diesen Gedanken gierig aufnimmt und ihm zujubelt?
Ein solcher Gedanke ist der Zionismus. In seinen befreienden und belebenden Elementen liegt die Größe und die Kraft des Gedankens, und wenn die Zionisten hielten, was der Zionismus verspricht, wäre er ein Segen für das jüdische Volk.
Es liegt aber in den gegebenen Verhältnissen, daß die Propaganda für den Zionismus zum größten Teile in den Händen ungebildeter, und was noch ärger ist, halb gebildeter Personen liegt, Menschen, deren Existenz an so losen Fäden hängt, daß sie nichts zu verlieren haben, Menschen ohne soziale Tradition, die, weil sie auf keine Entwicklung zurückblicken, auch keine Entwicklung vorhersehen.
Es gibt in Galizien unzählige zionistische Vereine, in deren Versammlungen von den Rednern bekannte Schlagworte wild hinausgeschrieen und von den Mitgliedern staunend und kritiklos aufgenommen werden. Kritiklosigkeit und Selbstverherrlichung sind zwei schwer zu überwindende Eigenschaften derer, die den Heilsgedanken des Zionismus predigen.
Wohl wäre es schön, dem jüdischen Volke ein Land zu geben. Aber so wie das Volk heute beschaffen ist, kann es noch nicht als Nation leben, es kann nicht arbeiten, und es ist noch nicht einmal reif genug, einzusehen, was es lernen muß. Der einzelne muß nicht nur lernen physische Arbeit zu leisten, er muß sie auch achten lernen; er muß lernen, sich einem Werdenden anzupassen, sich einem Ganzen unterzuordnen. Nur durch solche Bei- und Unterordnung, durch Selbstzucht in jedem Sinne können die Juden nach und nach die Eignung erwerben, nicht für immer ein Volk zwischen den Völkern bleiben zu müssen, sondern eine Nation neben den Nationen zu werden.
Die Zionisten sind schlechte Bauleute. Ihre Luftschlösser sind Hochbauten ohne Tiefbau. Jeder von ihnen hält sich als Theoretiker auf irgend einem geistigen Gebiete für so bedeutend und wertvoll, daß er sich für zu gut hält, eine physische Arbeitsleistung von sich zu fordern. Und so sind die heutigen Zionistenführer alle Minister ohne Portefeuille im Zukunftsstaate der Juden!
Wie fasziniert starren sie auf das Ziel: »ein eigenes Land« und vergessen darüber den Weg: »Erziehung des Volkes«. Der Weg führt über Kleinarbeit, und Kleinarbeit wird von den Zionisten verachtet. – Sie verstehen sie nicht, weder technisch, noch ihrem Werte nach.– Sie versprechen dem jüdischen Volke, es werde unter Dattelpalmen wandeln, aber sie scheinen die alte Fabel vom Knaben und der Dattelpalme nicht zu kennen.
Was die Zionisten zu ihrem großen Vorteil von den Sozialisten gelernt haben, ist, daß sie sich für ihre Zwecke an die Mitarbeiterschaft der Frau wenden. Aber wie fassen die zionistischen Frauen in Galizien ihre Aufgabe auf, die sich absolut mit der sozialen Aufgabe deckt, die alle Frauen in Galizien und alle Frauen in der ganzen Welt zu erfüllen haben?
Klären sie die Frauen und Mädchen etwa darüber auf, was jenseits ihrer Geistesschranken schon nicht mehr eine Frauen frage sondern Frauen bewegung ist? Belehren sie die Jugend des Volkes über den Wert und den Segen der Arbeit? Zeigen sie ihnen praktisch, oder lehren sie sie theoretisch die Wichtigkeit der Kinder- und Krankenpflege? Klären sie sie auf über den Zusammenhang von sittlichem Leben und Gesundheit? Schildern sie ihnen die Gefahren der Tuberkulose und deren Bekämpfung? Haben die zionistischen Frauen den Mut, die Sittlichkeitsfrage als wichtigsten Programmpunkt ihrer Bewegung auszustellen?
Nein! All das wird von den zionistischen Frauen in Galizien nicht verstanden, nicht beachtet, oder gar verachtet. Vorträge, Versammlungen und, wie bei den Männern, Propaganda des Wortes ohne Propaganda der Tat. Und dennoch haben die Zionisten recht: an die Frauen muß man sich wenden zum Heile eines Volkes. Die Stellung der Frau in einem Volke kann die Stellung des Volkes unter den Völkern erklären, und ich glaube, daß es in diesem Zusammenhange kein Zufall ist, daß in dem Lande vorgeschrittener Frauenfreiheit, in Amerika, die jüdischen Männer den Mut fanden, für ihre russischen Glaubensgenossen einzutreten.
Die zionistischen Frauen dürften sich nicht damit begnügen, den Geist althistorischer, jüdischer Frauen zu beschwören, und wieder beleben zu wollen. Die moderne Zeit verlangt moderne Frauen mit Eigenschaften und Kräften, die, dem Stadium der heutigen sozialen Entwicklung sich anpassend, dem vorwärts drängenden Strome zu folgen vermögen.
Das Ideal einer solchen modernen Frau den Töchtern des Landes zu zeigen, statt ihnen zu schmeicheln und sie über wichtige Tatsachen hinwegzutäuschen, – das wäre eine dankenswerte Aufgabe für Frauenvereine in Galizien. Es gibt auch einige zionistische Vereine, wie z. B. die »Rachela« in Stanislau, die sich mit einer kleinen Anzahl von Kindern beschäftigen, aber nur zum Zwecke und im Sinne der zionistischen Tendenz. Außerdem gibt es Reformcheder oder hebräische Schulen, von Zionisten unterhalten, die im Verhältnis zu den anderen Chedern sehr Gutes leisten und als Schulen Förderung und Unterstützung verdienen.
Nicht zu übergehen ist auch die Tatsache, daß die Zionisten im Rahmen ihrer kleinen Mittel Lesevereine und Bibliotheken gründen. Nur ist zu bedauern, daß der Lesestoff, den sie bieten, ein einseitig zionistischer ist, was die Kritiklosigkeit der Mitglieder befestigt. Aber immerhin sind diese Einrichtungen entwicklungsfähig und für das Land von weittragender Bedeutung.
Auch für die Pflege der Geselligkeit sind die zionistischen Vereine in Galizien wertvoll. Sie geben Gelegenheit zu heiterem, anregenden Beisammensein, zur Förderung gesellschaftlichen Anstandes, zum Schliff der Manieren. Allerdings wäre es sehr wünschenswert, daß immer taktvolle und reife Elemente in diesen Vereinigungen tonangebend wären, damit was edle Geselligkeit für die Jugend beider Geschlechter bewirken kann, nicht durch Übertreibungen ins Gegenteil ausarte.
Aus all diesen Einzelheiten wird begreiflich, daß der Zionismus geeignet ist, die Jugend zu gewinnen und Macht über die Geister zu erwerben.
Vielleicht wird die Geschichte seine Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden Geister zu wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und in der Inanspruchnahme ihrer Rechte. Dann hätte der Zionismus eine große Aufgabe erfüllt, auch wenn die Gründung eines jüdischen Staates Utopie bleibt.
Ich hoffe, daß das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels es begreift, warum ich in meinem Berichte erst so spät auf eine Materie zu sprechen komme, die ich als Delegierte dieser Vereinigung vielleicht an erster Stelle zu besprechen gehabt hätte.
Da es aber nicht möglich ist, die Sittlichkeitsfrage eines Landes gerecht zu beurteilen, wenn man dessen allgemeine Lage und Verhältnisse nicht kennt, so war es notwendig, erst den Boden zu schildern, auf dem die in Bezug auf Sittlichkeit so traurigen Zustände sich entwickeln konnten.
Unbildung, Erwerbslosigkeit, Armut, erschreckende Wohnverhältnisse, Haltlosigkeit oder Lüge in religiösen Dingen, nachdem ich versucht habe, alle diese Momente darzustellen, kann der logische Schluß vom Standpunkt der Sittlichkeitsfrage aus nur ein solcher sein, wie er sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt.
Zwar, wer erwartet, daß ich meinen Bericht über diese wichtigste Seite meiner Beobachtungen mit pikanten Details würzen kann, wird enttäuscht sein.
Nicht einmal mein kurzer Besuch einiger öffentlicher Häuser in Krakau brachte etwas, was in dieser Richtung sensationell zu nennen wäre. Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der in allen Schichten der Bevölkerung von dem Vorhandensein und der »notwendigen« Ausdehnung eines unsittlichen Gewerbes gesprochen wird, in der gedankenlosen und kritiklosen Beurteilung desselben liegt die furchtbare Gefahr für die Gesellschaft.
Ich hatte Gelegenheit, in Krakau mit einigen Damen zu sprechen, die bemüht sind, in national-polnischen Kreisen der hygienischen Auffassung der Sittlichkeitsfrage Boden zu bereiten.
Auch sie bestätigten für die Offiziers- und Studentenkreise eine rapide Zunahme beängstigender Symptome. Die Zahl der öffentlichen Häuser ist sehr groß, und daß Inhaber und Inwohner meist Juden resp. Jüdinnen sind, ist bekannt. Es gehört natürlich nicht in den Rahmen meines Berichtes, über den Einfluß der Bordelle und das System der Reglementierung zu sprechen; doch war es mir interessant, konstatieren zu können, daß die Föderationsidee anfängt, auch in Galizien Anhänger zu gewinnen. Man mag persönlich zu derselben stehen wie man will, jede Kampfesweise ist zu begrüßen, die es sich zur Aufgabe stellt, von irgend einem Punkte aus die Volkskrankheit in Ursache und Wirkung anzugreifen und dadurch beginnt, die Volkskraft vor Verfall zu bewahren.
Für Galizien ist aber eines klar: weder die Bordelle noch der Mädchenhandel werden imstande sein, einen so korrumpierenden Einfluß auf die Bevölkerung auszuüben, wie die durch das ganze Land verbreitete und das Land verseuchende geheime Prostitution. Für die Beurteilung der Sachlage ist von größter Wichtigkeit, daß es nicht nur Not und Verführung sind, die die Mädchen zum Verkauf ihres Körpers drängen. Es ist mir wiederholt, und besonders von medizinischer Seite gesagt worden, daß eine erschreckend große Anzahl Mädchen und Frauen »besserer« Familien, solche, bei denen von Erwerb oder Nebenverdienst ganz abgesehen werden kann, einem geheimen und außerehelichen Geschlechtsverkehr zugänglich ist. Und zwar sind dies nicht etwa Frauen und Mädchen, die auf irgend eine Art von modernen oder emanzipierten Ideen »infiziert« worden sind. Es sind Frauen und Mädchen, die ultra orthodox leben, den Sabbat halten, die Speisegesetze und alle anderen rituellen Vorschriften mit der größten Ängstlichkeit befolgen und dennoch in sittlicher Beziehung absolut haltlos sind.
Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu erklären, daß die Formen wertlos werden, sobald ihr geistiger Inhalt verloren gegangen ist, daß das Festhalten an leeren Formen direkt zur Lüge und Heuchelei führt. Bedauerlicherweise hat dieser Widerspruch häufig die Annahme gebracht, daß es in der jüdischen Gesetzesauslegung Stellen gäbe, die zu einer leichtfertigen Auffassung des Geschlechtsverkehrs verleiten können. Demgegenüber ist nur energisch zu betonen, daß die jüdische Gesetzgebung in der Halacha sowohl wie in der Kabala jeden Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, aufs strengste verdammt. Da seit Jahrtausenden unter den Juden die Frau nur als Geschlechtswesen bewertet, auf gegenseitige Zuneigung aber und geistige Anteilnahme am Leben des Mannes kein Gewicht gelegt worden ist, so war für die Hingabe der Frau weder ein ehrlich sinnlicher noch ein feingeistiger Reiz vorhanden. Eine gewisse Abstumpfung der jüdischen Frauen in geschlechtlichen Dingen hat infolgedessen Platz gegriffen.
Hierzu tritt, daß durch die Unbildung der Frauen ihrem Geiste und ihren oft lebhaften Empfindungen jede gesunde Nahrung abgeschnitten ist, so daß diesen außerhalb des körperlichen Ich kein Spielraum gegeben wird. So sieht man die Phantasie förmlich in Bahnen gezwungen, die auf verderblichen Boden führen.
Als letzten, aber sicher allerwichtigsten Faktor zur Erklärung der aus religiösen, sowie sozialen Gründen nicht ausreichend begründeten Erscheinungen ist meines Erachtens die Langeweile anzuführen.
Das Leben der Frauen und Mädchen in Galizien, die nicht aufs Verdienen in den drückendsten und beschämendsten Formen angewiesen sind, ist öde und entbehrt jeglicher Anregung, jeden Interesses. Das Aufgehen in großen und kleinen häuslichen Angelegenheiten, wie dies bei vielen deutschen Hausfrauen einst allgemein war und heute noch vielfach ist, fällt für einen polnischen Haushalt, christlich und jüdisch, weg; aber es treten auch keine anderen geschäftlichen, philantropischen, wissenschaftlichen oder gar politischen Interessen an deren Stelle. Dieser Menge fauler und denkfauler Frauen, Haustiere im niedrigsten Sinne, diesen müßiggehenden Mädchen, die nur darauf warten, durch eine möglichst »gute Partie« ihrem Schicksal, der geschlechtlichen Verwertung, zu verfallen, steht in den Garnisonen, in der Beamtenschaft der kleinen Städte und in der talmudbeflissenen Jugend ebenfalls eine Menge von Müßiggängern gegenüber. Beiderseits braucht und sucht man Unterhaltung und Abwechslung und findet sie zum eigenen Schaden, sowie dem der Gesamtheit. Welchen Einfluß Schule und Arbeit im Gegensatz zu Unbildung und Müßiggang auf einen ganzen Ort ausüben kann, davon ist Borislaw ein auffallendes Beispiel. Trotzdem es durch die lehmige Beschaffenheit seines Bodens, durch die Erdarbeit und die für die Röhrenleitungen des Naphtha beständig nötigen Ausgrabungen das schmutzigste Dorf war, das wir – freilich nach einem furchtbaren Platzregen – sahen, macht es doch in seiner allgemeinen, regen Geschäftigkeit einen sehr erfreulichen Eindruck.
Da stehen nicht Gruppen schwätzender Weiber beisammen, da schlendern nicht Männer ziellos umher! Alles arbeitet: Christen und Juden, Männer und Frauen, unter der Erde und auf der Erde.
Die Baron Hirsch-Schule, das Verbot der Kinderarbeit, Arbeit für alle Arbeitswilligen, und an Stelle eines Regiments Soldaten einige tausend organisierter, sozialpolitisch geschulter Arbeiter sind ebensoviele Gründe, daß das Niveau der Sittlichkeit gegen frühere Zeiten und gegen andere Orte gehobener erscheint.
Es gibt Dinge, für die es dem einzelnen gegenüber theoretisch keine Entschuldigung gibt, sobald sich aber die Erscheinung wiederholt und häuft, so daß sie für einen größeren Kreis symptomatisch wird, kann die Erklärung der Erscheinung von einem gewissen Gesichtspunkte aus als Entschuldigung dienen.
Außer der Langeweile ist die absolute Unkenntnis der hygienischen Nachteile als Folge sittlicher Vergehen eine solche Erklärung, die für die Menge moralisch ungeleiteter Menschen zur Entschuldigung wird. Wir suchten auf unserer Reise sehr oft zu erfahren, wie weit in manchen Kreisen blindes Nichtwissen vorliege, das für manche Handlungen die Verantwortlichkeit vermindere, und wir fanden vielfach absolute Unwissenheit.
Sehr lehrreich nach dieser Richtung war eine Szene in einem weltabgeschiedenen Dorfe, wo Mädchen und Frauen unter dem Eindrucke dessen, was wir ihnen in sittlich-hygienischer Beziehung sagten, förmlich in Aufregung gerieten. Damit will ich nicht sagen, daß die gewerbsmäßigen Kuppler, Gelegenheitsmacher, Händler und Bordellbesitzer nicht wüßten, daß sie ihre Opfer auch körperlich zu Grunde richten, indem sie sich ihrer zur Ausbeutung bemächtigen. Aber die meisten Mädchen wissen nicht, was ihnen bevorsteht, und auch die Eltern, die es »nur« mit der Moral nicht genau zu nehmen glauben, haben keine Ahnung von der Tragweite gesundheitlicher Schädigung »bis ins dritte und vierte Geschlecht«, wenn sie erlauben, oder veranlassen, daß ihre Töchter geputzt »auf die Straße« gehen. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, daß die Kenntnis der Krankheiten als Folge geschlechtlicher Ausschreitung manches Mädchen davon abhalten würde, sich im geheimen der Prostitution zu ergeben. Wie weit der Weg von einem amüsanten Verhältnisse, dessen Reiz sehr bald nicht mehr entbehrt werden kann, zu einem zweiten und zu allen folgenden Vergehungen ist, hängt oftmals nur von äußeren Umständen ab.
Einmal ist es die Angst vor den Eltern oder den Dienstgebern, ein andermal die Erwartung eines unehelichen Kindes, Verlassensein oder gekränktes Ehrgefühl, und in vielen Fällen die Unmöglichkeit, allein Mittel und Kraft zu finden, die beschrittene Bahn wieder zu verlassen, die von der geheimen zur öffentlichen Prostitution – dann an einem andern Ort, möglichst fern der Heimat – führt.
Und diese Mädchen sind es auch, deren sich hauptsächlich der Mädchenhandel in seinen verschiedenen Formen am leichtesten bemächtigen kann.
Daß der Mädchenhandel ein im Volksbewußtsein gutgeheißener Vorgang ist, ist nicht wahr, wenn auch Fälle vorkommen können, in denen Eltern mit Kupplern im Einverständnis sind. Es wirken eben in dem unglücklichen Lande viele Ursachen zusammen, die zu Korruptionserscheinungen aller Art führen müssen.
Im »Antichambre« der Wunderrabbis, unter dem Torbogen, bei der Brothöckerin, und an anderen Stellen, die die Klatschbasen versammeln, werden Mädchenhandelgeschichten voll Schaudern erzählt. Allerdings erfolgt das Gruseln meist zu spät, und es fehlt den Leuten die Übersicht, aus solchen Geschichten das Allgemeine zu abstrahieren, und für den eigenen Gebrauch eine Nutzanwendung zu ziehen. Das Vorkommen des Mädchenhandels steht in direktem Zusammenhange mit der Auswanderung, die in Galizien unmöglich verhindert werden kann. Aus einem Lande, das seine Bewohner nicht ernährt, muß eine starke Emigration stattfinden, und die »jüdische Intelligenz«, die sich der steten Bevölkerungszunahme und dem wachsenden Elende gegenüber nicht zu helfen weiß, unterstützt die »Evakuierung« des Landes.
Es ist mit Sicherheit vorauszusehen, daß, trotz erschwerender Maßregeln und Gesetze seitens der durch Immigration bedrohten Länder, der Strom nach dem Westen immer größer werden muß.
Unterstützt wird die Bereitwilligkeit in der Bevölkerung, auszuwandern, durch eine unerhörte Leichtgläubigkeit, die den gewissenlosen Agenten ihr Werben ermöglicht, und durch die absolute Unwissenheit des Volkes. So fehlen den Leuten alle geographischen Begriffe. Da sie nicht wissen, ob nicht Amerika eine Stadt in der Nähe von London ist, da sie nicht wissen, in welcher Zeit irgend ein Ort erreicht werden kann, da sie weder schreiben noch lesen können, also Briefe und direkte Nachrichten gar nicht erwarten und bezüglich ihrer Echtheit kontrollieren können, so ist jedes Mädchen, das auswandert, d.h. das seinen Heimatsort verläßt, auch noch innerhalb des Landes allen Zufällen und Böswilligkeiten preisgegeben.
Ihre Unlust und Unfähigkeit gleichmäßig zu arbeiten, die Unkenntnis irgend einer Sprache außer Jargon und schlechtem Polnisch, hindert die Mädchen direkt, in eine gute Arbeitsstelle einzutreten. Das Hausier- und Kellnerinnengewerbe und geringe Verkäuferinnenstellen, die zulassen, gewisse ungeregelte Lebensgewohnheiten beizubehalten, locken sie am meisten, und damit sind sie jeder Aufsicht und jedem anständigen Familienanschluß entzogen.
Der Auswanderung die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden, dürfte der Kardinalpunkt einer jeden Bekämpfung des Mädchenhandels sein.
In dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß die »freundschaftliche Warnung« mit Adressen von Auskunftsstellen für allein reisende Mädchen, die wir an manchen Orten vorzeigten, überall wo wir sie zur Kenntnis brachten, von größter Wirkung war.
Leider reichte unser Vorrat nicht, so viel davon zur Verteilung zu bringen, wie man von uns erbat. Wir konnten aber überall beobachten, welchen tiefen Eindruck die wenigen warnenden und aufklärenden Worte, die das Blatt enthält, auf die Kreise machte, für die sie berechnet sind.
Über einen sehr wichtigen Punkt in der Sittlichkeitsfrage, den Alkoholmißbrauch, bin ich zu meinem Bedauern gar nicht in der Lage, aus eigener Beobachtung etwas mitteilen zu können, da wir, um Schänken und Wirtshäuser zu besuchen, einer besonderen Führung bedurft hätten, über die wir auf dieser Reise nicht verfügten. Auf der Straße habe ich nie betrunkene Juden gesehen mit Ausnahme eines Bettlers in Dukla, der mir aber hauptsächlich dadurch auffiel, daß sein aus Fetzen und Lumpen in allen Farben bestehender Kaftan einen Grundstoff nicht mehr erkennen ließ. Der Mann, wie er über die Straße schwankte, war eine der Erscheinungen, bei denen ich bedauerte, weder Stift noch Kodak in meinem Dienst zu haben.
Bezüglich des Trinkens erfuhr ich nur, daß manche jungen Leute monatelang eine Mischung von Schnaps und Schnupftabak zu sich nehmen, um sich militäruntauglich zu machen, – was ihnen auch bei dauernder Schädigung ihrer Gesundheit gelingt.
Trotzdem der Mädchenhandel und die Sittlichkeitsfragen Ausgang und Ziel unserer Beobachtungen auf der Reise bildeten, kann ich doch darüber im Verhältnis zu der Wichtigkeit der Materie vielleicht am wenigsten Tatsächliches berichten.
Wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriffen und strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück.
Die Aufnahme von Eindrücken, der Umsatz und die Abgabe in Form von mehr oder weniger sittlichen Handlungen geschieht auf so unendlich fein verästelten Wegen, daß wir sie da, wo es sich nicht um grob Sinnfälliges handelt, gar nicht immer verfolgen können.
Je schwerer es aber ist, in Sittlichkeitsfragen gerecht zu sein, je schwerer die Verantwortlichkeit, um so größer, schwieriger und notwendiger ist die Aufgabe, alles heranzuziehen, was zur Beleuchtung und Beurteilung des Materials, das zu unserer Erkenntnis gelangt, dient.
Auf unserer Reise hat mich das Gefühl einer großen Verantwortlichkeit nie verlassen, und nun, da ich am Ende desjenigen Teiles meiner Mitteilungen bin, die meine Erfahrungen wiedergeben, fühle ich das Unzureichende derselben.
Ich muß es sagen: ich habe unendlich mehr gesehen, als ich erzählen kann, unendlich mehr empfunden, als ich ausdrücken darf, um so objektiv zu bleiben, wie es mir möglich ist.
Nun ich den Bericht verlasse, um zu sachlichen Vorschlägen überzugehen, geschieht dies um so zaghafter, als ich mir wohl bewußt bin, daß meine Vorschläge keine erschütternden, die Lage der Dinge plötzlich verändernden sein werden: nicht Revolution, sondern Evolution braucht das Land.
Aber das Land ist nicht schwach, es ist nur geschwächt, es kann sich nicht selbst aufhelfen. Die Hilfe muß von außen kommen, und der erste Schritt ist dazu geschehen; man fängt an in größeren Kreisen Interesse für Galizien zu bekommen.
Ob dieses Interesse ein egoistisches oder altruistisches ist, ist objektiv gleichgiltig, ist schon deshalb gleichgiltig, weil die Anschauungsweise eine mit der Zeit verschiebbare ist. Wer sich heute aus dem egoistischen Grunde für Galizien interessiert, weil die Angst besteht, die gefürchteten Polacken könnten in immer größerer Zahl ihr Land verlassen und sich unangenehm in einem geliebten, sauberen Erdenwinkel oder Stadtteil niederlassen, kann zur Abwehr dieser Kalamität dasselbe tun, wie ein anderer, der aus altruistischen Gründen einem Haufen leidender, sinkender, intelligenter Menschen Hilfe bringen will. Und dabei ist es noch nicht ausgeschlossen, daß die Arbeit selbst den Egoisten zum Altruisten umwandelt.
Ich glaube, daß der Auftrag für Fräulein Doktor Rabinowitsch und mich, die Studienreise zu machen, aus einer solchen Kombination von Anschauungen und Gefühlen entstanden ist.
Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, durch meinen Bericht über die Zustände in Galizien die Notwendigkeit klarzulegen, daß in erster Linie Kultur, d.h. Erziehung und hygienische Begriffe ins Land zu tragen sind, und daß man sich als Pflanzstätten derselben der Kinder und der heranwachsenden Jugend zu sichern haben wird, und zwar schon der Kinder im zartesten Alter.
Also erstens Krippen und Kindergärten! Aus Gründen, deren Darlegung mich zu weit führen würde, halte ich Stanislau, Tarnow und Brody für geeignete Orte, mit solchen Einrichtungen anregungsweise zu beginnen in der festen Überzeugung, daß sie rasch Nachahmung finden werden.
Jede derartige Anstalt muß nicht nur dazu dienen, eine relativ kleine Anzahl von Kindern aufzunehmen, sondern es ist ebenso wichtig, sie zu einem Lehrmittel für die ganze Stadt auszugestalten. Soweit ich die Verhältnissen und das Verständnis für solche Dinge seitens der galizischen Bevölkerung beurteilen zu können glaube, wird man Krippe und Kindergarten nicht trennen dürfen, so wie man auch sonst derartige Einrichtungen den speziellen Landesbedürfnissen anpassend, nicht einfach die Statuten deutscher Anstalten bindend nach Galizien übertragen darf.So würde ich z.B. raten, Kinder unter einem Jahr nicht aufzunehmen. Deren Pflege ist bekanntlich die schwierigste, und ihr Erfolg wird durch häusliche Unvernunft oft vernichtet. Ein oder der andere Todesfall, der unter den Säuglingen aus Gründen, die mit der Krippe gar nicht zusammenhängen, vorkäme, würde bei dem Aberglauben und dem Mißtrauen der Bevölkerung einer Neuerung gegenüber eine solche Volkspflegeanstalt von vornherein in Verruf bringen. Also Vorsicht in der Auswahl und Aufnahme der Kinder und in der Anstellung eines bezahlten Arztes, der in der Stadt bekannt ist und das Vertrauen der Bevölkerung genießt.
Was die Gründung und finanzielle Weiterführung dieser unentbehrlichen Volkspflegeanstalten betrifft, so ist mir in Brody und in Stanislau versichert worden, daß, auf eine Anregung und Mithilfe von außen, ein Teil der nötigen Mittel auch innerhalb der Gemeinde aufgebracht werden könnte.
Daraus würde sich für die Verwaltung schon die für alle derartigen Unternehmungen wünschenswerte Gestaltung ergeben, daß sie zum Teil aus einheimischen, zum Teil aus nicht ansässigen, unparteiischen Mitgliedern zu bestehen hätte.
Was die innere technische Leitung solcher Anstalten betrifft, so muß sie außer einer berufsmäßigen Leiterin einem Lokalkomitee übertragen werden, das die Kontrolle der einzelnen Ressorts zu übernehmen bereit ist.
Die beamtete Leiterin muß natürlich eine gründliche Vorbildung besitzen. Zu ihrer Unterstützung soll man eine Anzahl schulentlassener Mädchen einstellen, die gegen einen Wochenlohn, der etwas höher zu bemessen ist, als der ortsübliche Lohn für Fabrik- und Schneiderarbeit, durch Unterweisung und Mitarbeit in die Kinderpflege eingeführt werden. An den freien Abenden wären diese jungen Mädchen noch in den nötigsten Lehrfächern und in der deutschen und polnischen Sprache weiter zu bringen und in praktischer Näharbeit zu unterweisen. Nach 1 bis 2 Jahren können sie mit einem Zeugnis versehen als (Vorschlag 2) »ausgebildete Kinderpflegerinnen« in häusliche Stellungen eintreten, eine Kategorie von Hausbeamtinnen, für die in Galizien mit der Zeit eine immer größere Nachfrage herrschen wird.
3. Für das Waisenhaus in Brody schlage ich die Anstellung resp. Entsendung einer tüchtigen, gebildeten Frau (oder Fräulein) als Leiterin vor. Dagegen hätte sich das Waisenhaus zu verpflichten, seine weiblichen Zöglinge nicht vor dem 16. bis 17. Jahre zu entlassen und, wenn in Brody eine Anstalt für Volkskinderpflege gegründet wird, die jeweiligen ältesten Zöglinge zur Ausbildung dahin zu schicken.
Damit will ich nicht sagen, daß ich den Beruf der Kindergärtnerin oder Kinderpflegerin für Mädchen als den einzig wünschenswerten ansehe. Aber alle Mädchen sollen die Kinderpflege verstehen, damit sie im Falle ihrer Verheiratung, nach der in landesüblicher Art sehr energisch getrachtet wird, für ihren Beruf als Mütter besser vorbereitet sind, als die heutige Generation der Mütter in Galizien es ist.
Für Krakau wäre die Einrichtung einer Haushaltungsschule sehr zu wünschen, sie könnte, wenn das Waisenhaus regeneriert würde, sehr vorteilhaft mit diesem verbunden werden.
4. Sehr energisch zu befürworten ist ferner die Gründung von kleinen Erziehungsheimen, in die aber nicht mehr als 15 bis 20 Kinder verschiedenen Alters (vom 1. Jahre an, diese als unentbehrliches Lehrmittel) Aufnahme fänden. Ein solches Heim sollte alle Fehler der traditionellen Anstaltserziehung zu vermeiden suchen und, durch die Nachbildung einer großen Familie, (auch Knaben bis zum 14. Jahre wären aufzunehmen) besonders auf die Charakterbildung der Kinder einzuwirken suchen.Ein detaillierter Plan für ein solches Erziehungsheim kann in diesem Bericht keinen Raum finden, derselbe ist noch besonders sorgfältig auszuarbeiten.
Um alle Ziele einer solchen Erziehung, die zu entwickeln mich hier zu weit führen würden, im Auge zu behalten, vermeide man Neubauten und anspruchsvolle Anstaltsgebäude. Man begnüge sich mit einem auf dem Lande, oder in sehr ländlicher Umgebung gelegenen Hause, um den einfachen Betrieb aufzunehmen. Die ältesten Zöglinge, Mädchen zwischen den 14. bis 16. Jahre, sollen gegen einen kleinen Monatslohn für die laufende Hausarbeit im Hause bleiben können, denn in Galizien ist es tatsächlich notwendig, und oft den Eltern gegenüber Pflicht, daß die Kinder schon frühzeitig etwas verdienen.
Auch an dem Erträgnis einer Geflügelzucht und des Gartenbaues, die im Erziehungsheim betrieben werden sollen, kann man die ältesten Zöglinge teilnehmen lassen, teils, um in den Mädchen Lust und Interesse für derartige Arbeiten zu erwecken, teils, damit man ihnen bei ihrem Austritt aus dem Heim eine kleine selbstverdiente Summe mitgeben kann. Der Ort, an dem ein solches Erziehungsheim gegründet werden könnte, scheint mir, bei allerdings nur oberflächlicher Beurteilung, Zloczow zu sein, wo, wie ich glaube, leicht ein Damenkomitee zu bilden ist, das nach der unter Vorschlag 1 angegebenen Art, mit einem westeuropäischen Verein gemeinsam das Unternehmen zu leiten hätte.
Ein zweites derartiges Heim wäre vielleicht in der Nähe von Krakau zu errichten, damit den Findelkindern der Osolinkaschen Anstalt die Möglichkeit einer guten jüdischen Erziehung gegeben werde. Die Krakauer Gemeinde hätte dann die Pflicht, die Gründung finanziell zu unterstützen.
Meinen, allerdings noch ungenügenden Informationen nach wären die Kosten für solche Institutionen in Galizien bedeutend geringer anzuschlagen als in Deutschland, besonders, wenn man das Prinzip sachgemäßer Einfachheit durchgehend zur Geltung kommen läßt.
Aus der Absicht, wichtige, für das ganze Land vorbildlich wirkende Kulturstätten zu gründen, ergibt sich die Notwendigkeit, über eine Anzahl tüchtiger Leiterinnen verfügen zu können.
An der Qualität der Beamten zu sparen, wäre natürlich sehr wenig sachgemäß. Das beste Menschenmaterial muß herangezogen werden, damit die ersten, vorgeschobenen Posten im Kampf gegen Unwissenheit und Unkultur ihrer Aufgabe gewachsen sind. Um das zu ermöglichen, müssen die westeuropäischen jüdischen Gemeinden etwas aus ihrer vornehmen Exklusivität heraustreten und dem Gedanken Raum geben, daß es auch ihre Pflicht ist, an der Kulturarbeit für Galizien in ihrer Weise teilzunehmen.
Man weiß in Galizien noch kaum was dazu gehört, eine Anstalt richtig zu führen, und es gibt auch keine Stipendien, um Studien in dem angeregten Sinne zu ermöglichen.
5. Darum sollten alle gut geleiteten jüdischen Anstalten es sich zur Pflicht machen, für einige Zeit unentgeltlich je eine galizische Hospitantin zur Ausbildung aufzunehmen. Die Kosten für die betreffende Anstalt wären gering, der Wert der Ausbildung für Galizien enorm.
Natürlich dürfte nicht jede Bewerberin angenommen werden: es könnte Sache der B.B. Logen sein, für wirklich empfehlenswerte und empfohlene galizische Frauen und Mädchen Vermittlungen und Vereinbarungen zur Ausbildung von Krippenschwestern, Kindergartenleiterinnen, Haushaltungslehrerinnen und Volkserzieherinnen aller Art zu übernehmen. (Über das Kapitel der Krankenpflegerinnen werde ich an anderer Stelle zu sprechen haben.) Wenn in Galizien etwa ein Jahrzehnt solche Anstalten bestanden haben werden, wird auch im Lande selbst eine Bildungsgelegenheit vorbereitet sein. Vorerst aber müssen die Lehrkräfte noch von auswärts bezogen, oder außer Landes erzogen werden. Ich glaube sogar, daß letzteres das häufigere sein wird, denn deutsche Frauen und Mädchen werden sich nur schwer in der nötigen Anzahl für Galizien finden lassen, besonders da die Kenntnis der polnischen Sprache eine unerläßliche Bedingung für jede Arbeit dort ist, die nicht das Mißfallen und Mißtrauen der politischen Behörden erwecken will.
Die Erwerbs- und Berufsfrage ist die der Erziehungsfrage zunächststehende. Es bedarf nicht erst der Betonung, daß die Vorschläge, die ich ausspreche, noch sehr genau erwogen sein wollen, aber sie sind dennoch nicht rein meiner Phantasie entsprungen, sondern sie gründen sich auf Mitteilungen und Beobachtungen im Lande.
Wie ich schon an anderer Stelle berichtete, glaubt man gut organisierten kleinen Maschinenstrickereibetrieben einen guten Erfolg vorhersagen zu können, ebenso einem gut geführten Betrieb für Krawattenfabrikation. Ferner sagte man mir, daß eine Nudelfabrik ein aussichtsreiches Unternehmen wäre, ebenso fehlt es an manchen Orten an Glanzwäschereien. Auf die Möglichkeit, Posamentierarbeit einzuführen, habe ich gelegentlich der Sassower Aturosfabrikation schon hingewiesen, und ich wiederhole, daß sie sicher sehr entwicklungsfähig ist.
Den Versuch, eine Federnschmückerei einzurichten, möchte ich anregen, weil solche Betriebe viele Mädchen beschäftigen können, und die Arbeit wenig Körperkraft erfordert. Vielleicht ließe sich dieser Versuch mit der Anfertigung von Kunstblumen, von Paris aus, einführen.
Besonders vielversprechend, und auch von allgemeinen Gesichtspunkten aus wichtig scheint es mir, daß die Anregung zu einer rationellen Geflügelzucht ins Land gebracht werde.
Galizien hat heute schon einen ziemlich großen Export von Eiern und Geflügel. Die Juden sind die Aufkäufer und Händler, dafür sowohl, wie für Federn. Es wird nicht schwer sein, die Händler davon zu überzeugen, daß es für sie vorteilhafter wäre, selbst Züchter zu werden. Die Geflügelzucht ist zudem ein Erwerb, an dem sich die Frauen und Kinder mit Leichtigkeit beteiligen können. Ich denke, daß man eine rationelle Geflügelzucht mit Mästerei einrichten sollte, ein Unternehmen, das jüdische Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen, und sich bei guter fachmännischer Leitung nicht nur selbst erhalten, sondern auch rentabel gestalten kann. Für sehr vorteilhaft hielte ich es, wenn an diesem, sowie an allen anderen Unternehmungen die Arbeiter durch Gewinnbeteiligung interessiert würden. Das würde sie an die Arbeit, sowie an den speziellen Betrieb fesseln.
Diese erste Geflügelzuchtanstalt sollte zugleich eine Schule sein, um die ländliche jüdische Bevölkerung nach und nach in solche bäuerlichen Erwerbszweige einzuführen. Durch mündliche Erklärung sowohl, wie durch eine eigene für den Zweck im Jargon abzufassende Belehrung kann man sich bemühen, besonders die Frauen auf die Vorteile einer kleinen Geflügelzucht im Hause aufmerksam zu machen, für die die Aufstellung von Brutmaschinen mit der Zeit in Aussicht gestellt werden kann. Auf meine Erkundigung erfuhr ich, daß die zur ersten Aufzucht nötigen Tiere, zwei Hennen und ein Hahn, ungefähr 6 bis 8 Gulden kosten.
In Sassow haben sich infolge Rundfrage 12 Frauen bereit erklärt, einen Versuch mit der Geflügelzucht zu machen. Ebenso würden die Bewohner des sehr armen Jaryczow und noch vieler anderer Ortschaften glücklich sein, wenn man ihnen die Aussicht auf einen kleinen Verdienst brächte.
Von sehr vertrauenswürdiger und unterrichteter Seite ist mir gesagt worden, daß es in Österreich einen Geflügelzuchtverein gibt, der gegen einen ganz kleinen Mitgliedsbeitrag jedem Mitgliede ein Zuchtpaar Tiere guter Rasse überläßt und Anleitung zur Behandlung gibt, unter der einzigen Bedingung, daß im nächsten Jahre ein junges Paar der Nachkommen wieder an den Verein abgeliefert werde.
Wenn nun die J.C.A. oder sonst ein Verein, oder Privatpersonen die Vermittlung zwischen dem Geflügelzuchtverein und einer Anzahl jüdischer Dorfbewohner übernehmen wollten, dann stünde dem wichtigen Versuche, einen unter Umständen sehr einträglichen Erwerb ins Land zu bringen, nichts im Wege.
Ferner erfuhren wir, daß der Boden Ostgaliziens für den Obstbau sehr günstig wäre. Trotzdem alljährlich ausländische Käufer kommen (meist aus England), die die Ernte auf den Bäumen aufkaufen, werde wenig rationeller Obstbau betrieben. Im Zusammenhange mit der Landwirtschaftsschule von Slobotka lesnia ließe sich möglicherweise der Obst- und Gartenbau fördern, und die Verwertung zu Backobst und Konserven u.s.w. könnte in Betrieben erfolgen, in denen, wenigstens in den Sommermonaten, viele Mädchen und Frauen Arbeit fänden.
Ich glaube, daß durch ein fortgesetztes Vertiefen in die Landesverhältnisse noch manche Arbeits- und Erwerbsmöglichkeit für die jüdische Bevölkerung geschaffen werden könnte.
Ein hervorragend wichtiger Beruf für Frauen und Mädchen, der ihnen in der ganzen Welt bereitwilligst eingeräumt wird, ist der Beruf der Krankenpflegerin. Für diesen fanden wir in Galizien, und das ist bezeichnend für den Tiefstand der Kultur, in allen Schichten der Bevölkerung das allergeringste Verständnis. Hier glaube ich, daß die B. B. Logen rasch und energisch eintreten müssen, um einerseits in Deutschland und England die Bereitwilligkeit der Krankenpflegerinnen-Vereine zur Ausbildung von Pflegerinnen für und aus Galizien zu erwirken, und andererseits Reise- und Studienstipendien für diesen Zweck zu bewilligen. Wenn man in Galizien erst im Hospital, in der Armenpflege und in der Privatpflege erfahren hat, was eine geschulte, gebildete Pflegerin bedeutet, dann werden sich auch nach und nach immer mehr intelligente Elemente für diesen vornehmsten aller Berufe finden. Mein nächster Vorschlag, der dahin geht, die Armenkrankenpflege etwas menschenwürdiger zu gestalten, wird auch notwendig Einfluß darauf haben, zu zeigen, daß eine gute Krankenpflegerin zu den wichtigsten und wertvollsten Beamten der Gemeinde gehören kann.
Da zu einer umfassenden Umgestaltung der Spitäler und Siechenhäuser in Galizien so viel Mittel und Verständnis gehören würden, wie sie das Land in der nächsten Zeit nicht aufzubringen imstande ist, schlage ich vor, an Stelle dieser viel zu teueren Spitalpflege eine ausgedehnte ambulatorische Behandlung in Verbindung mit armenärztlicher und häuslicher Pflege treten zu lassen.
Ich nehme z.B. an, irgendeine Gemeinde kann aus Friedhofsgeldern, Fleischsteuern, den Einnahmen des Bades u.s.w. etwa 6000 Gulden für Spitalzwecke ausgeben. Dafür ist alles schlecht und ungenügend, und nur wenige Kranke werden die Wohltat dieser ungenügenden Pflege genießen, denn an dem Löffel der Administration, an dem Haus, dem Inventar, den Hilfsbeamten u.s.w. wird das meiste Geld hängen bleiben. Vorteilhafter wäre es, möglichst in der Nähe des Gemeindebades (um die Benutzung dieser Einrichtung leicht anordnen zu können) eine den modernen Ansprüchen an Vollständigkeit und Reinlichkeit genügende Ambulanz einzurichten. In derselben amtiert in den Vormittagsstunden ein von der Gemeinde gut bezahlter Arzt mit einer von der Gemeinde gut bezahlten Pflegerin. Beide haben in den Nachmittagsstunden Armenpraxis, resp. Armenpflege zu besorgen, für welche ihnen gleichfalls auf Gemeindekosten ein Depot an Wäsche, Bettwäsche, Bettzeug, Verbandsutensilien, Medikamenten und Anweisungen auf Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Abzüglich der Gehälter und der Miete kann sicher 1/4 bis 1/3 des verfügbaren Geldes für derartige Ausgaben verwendet werden.
Bei besonders schweren oder operativen Fällen und bei ansteckenden Krankheiten (Blattern und Typhus), die nicht in häuslicher Pflege bleiben dürfen, haben Armenarzt und Armenpflegerin die Pflicht, die Übertragung des Kranken in das nächste christliche Hospital zu veranlassen und für rituelle Verköstigung zu sorgen. Auf diese Weise kämen die Geldmittel der Gemeinde mit sehr geringen Verwaltungskosten wieder der Gemeinde zu Gute, und die Ambulanz wäre eine Station, von der aus Anleitung, Aufklärung und Hilfe in jeder Form direkt in die Bevölkerung getragen würde.
Wenn zwei nicht große Gemeinden, die auch nicht weit von einander gelegen sind, sich mit je drei Pflegetagen der Woche begnügen wollen, können sie auch Arzt und Pflegerin gemeinsam anstellen und sie werden ihren Gemeindemitgliedern immer noch eine reinlichere und bessere Pflege und kräftigere Beihilfe in Krankheitsfällen zuteil werden lassen, als die wenigen Fälle gefürchteter Spitalpflege für die Gemeinde bisher bedeuten.
Durch den leichten Verkehr mit dem Arzt und die Bereitwilligkeit der Pflegerin wird manches Übel erkannt werden und zur Behandlung kommen, das sonst vielleicht erst zur Kenntnis des Arztes käme, wenn es zu spät ist. Besonders in der Kinderpflege könnte prophylaktisch viel geschehen. Eine derartige Krankenpflege wäre auch schon für solche Gemeinden erreichbar, die nicht daran denken könnten, ein Spital zu erbauen und zu erhalten. Abgesehen von dem praktischen Werte, den Ersparnissen und verminderten Verwaltungskosten – und Verwaltungssünden bei einer solchen Einrichtung, ist der moralische Einfluß, der von einem solchen Armenarzte und einer solchen Armenpflegerin, die das Vertrauen des Volkes genießen, in die Familien getragen werden kann, ein unschätzbarer.
Von den sittigenden und erziehlichen Einflüssen solcher Kulturbeamten, Volkspfleger im umfassendsten Sinne, steht das Höchste zu erwarten.
Was immer man für die Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien vorschlagen und beginnen möge, es bedarf zu dem Gelingen des Planes eines vorbereitenden Verständnisses im Volke selbst. Dieses ist nur auf dem Wege der Aufklärung und allgemeinen Bildung zu erreichen, durch die Verbreitung von gesundem, kräftigem, freiem, nicht tendenziösem Lese- und Lehrstoff, an dem es fast vollständig mangelt.
Ich schlage darum vor, eine Zentralstelle für Volksbibliotheken und Volksbelehrung einzurichten.
Ein besonderer Beamter, Volksbibliothekar, von Hilfsarbeitern unterstützt, hätte von dieser Zentralstelle aus Bücher, Zeitschriften und Zeitungen nach den kleinen und kleinsten Orten Galiziens zu versenden, wo sie leihweise ausgegeben würden. Die ersten dieser Leihstellen werden voraussichtlich die Baron Hirsch-Schulen sein. Ich bezweifle nicht, daß die Lehrer mit Freude die Mühe des Ausgebens und der Rücknahme übernehmen werden. Hat doch jeder einzelne Schulleiter mir gesagt, daß ungeachtet einer daraus ihnen erwachsenden Mühewaltung Leiter und Lehrer gerne alles unterstützen würden, was dem Volke an Bildungsmitteln und Erwerbsgelegenheiten geboten würde. An Orten, wo keine Schulen sind, und das sind vielleicht die wichtigsten, wird man andere Personen – Männer oder Frauen – suchen müssen und finden können, die das Amt eines »Subbibliothekars« gerne übernehmen.
In den Baron Hirsch-Schulen könnte auch am Samstag und Sonntag ein Raum als Lesezimmer angewiesen werden. Bei dem ausgesprochenen Bildungsbedürfnis der jüdischen Jugend können diese kleinen Anfänge von Volksbibliotheken das beste Gegengewicht gegen den Straßen-»Korso« am Samstagnachmittag werden.
Eine bedeutendere Ersparnis, vielleicht sogar die Möglichkeit einer baldigen Gründung dieser Zentralstelle für Volksbibliotheken kann dadurch erreicht werden, daß Interessenten für dieselben durch Sammelstellen in Deutschland Zeitschriften und Bücher an eine Zentralstelle in Galizien schicken, von wo aus die Organisierung der Versendung nach den verschiedenen Orten in nicht zu ferner Zeit beginnen könnte.
Selbstverständlich müssen es gute Bücher, vollständige Jahrgänge von Zeitschriften und regelmäßige Zeitungssendungen und spezielle Abonnements sein. Redaktionen werden sich auf Ersuchen gerne bereit finden, Gratisexemplare zu liefern. Aber die Idee, auf gute Manier seine Makulatur abzustoßen, muß von vornherein ausgeschlossen bleiben.
Der Beamte der Zentralstelle muß ein mit großer Vorsicht gewählter, taktvoller, gebildeter Mann sein; er hat eine sehr verantwortungsvolle Stelle, da er kontrolliert und bestimmt, welche geistige Nahrung dem Volke zugeführt wird. Er muß Kataloge anlegen, registrieren, was die Nebenstellen bekommen und verlangen, und stets darauf bedacht sein, im Wechsel und Austausch Anregung und Interesse in die Bücherverleihungen zu bringen.
Von der Zentralstelle sollen auch Wanderredner ausgesucht werden, damit durch Vorträge populärwissenschaftlichen Inhalts geistiges Leben nach den kleinen Ortschaften gebracht werde.
Unterstützt und lokal ausgebaut kann das Unternehmen auch durch die zionistischen Vereine werden, da ja an vielen Orten schon Sammelpunkte der strebsameren Elemente sich gebildet haben.
Auch diesen Gedanken kann ich hier nur in Form einer Anregung bringen, deren Ausbau und Details sehr sorgfältig erwogen und ausgearbeitet werden müßte. Die galizische Jugend, die intelligent und bildungsfähig ist, wird sie mit Begeisterung aufnehmen, und ihren westeuropäischen Freunden empfehle ich sie als einen Weg, auf dem mit der Zeit außerordentlich viel Gutes vorbereitet und erreicht werden kann.
Ein weiterer Vorschlag, dessen Ausführung zu dem gehört, was ich für Galizien empfehlen möchte, ist die Abfassung und Verbreitung eines Flugblattes, das Aufklärung über die hygienische Seite der Sittlichkeitsfrage bis tief in die entlegensten Dörfer trägt.
Der Text muß klar und eindringlich sprechen, muß die Folgen unsittlichen Lebenswandels, wie er sich für die Gesundheit des Einzelnen, sowie in seinem Einfluß auf die Familien ergibt, auseinandersetzen, kurz, es muß all das Elend geschildert werden, dessen Verschweigen und Verheimlichen so viel Unheil bringt. Dabei ist es nötig, daß das Flugblatt sich gleicherweise an die männliche wie an die weibliche Jugend wende, damit die Auffassung der einseitigen Moral, der einseitigen Verantwortlichkeit und der einseitigen Schädigung, unter der die Gesellschaft heute noch leidet, nicht befestigt, sondern berichtigt werde. Der Text muß mindestens zugleich in Jargon, deutsch, polnisch und russisch, vielleicht auch holländisch und englisch erscheinen. Als Stellen, ihn zur Verbreitung gelangen zu lassen, empfehle ich vorerst die Zahlstellen der J.C.A.-Leihkassen, Volksküchen, wo solche bestehen, und die Vereine. Besonders wertvoll wäre es aber, wenn man die Erlaubnis erwirken könnte, das Flugblatt unter den Zwischendeckpassagieren der großen Dampfer und der Auswanderer-Schiffe zu verteilen – ohne Unterschied der Konfession der Reisenden.
Ich bin auch sonst noch in der Lage, Adressen von Männern und Frauen in Galizien anzugeben, die sich für die größtmöglichste Verbreitung eines Flugblattes bemühen würden.
Auch die freundschaftliche Warnung verlangt, wie das Flugblatt, eine mehrsprachige Auslage, da man eine viel größere Sammlung von Adressenangaben, in und außerhalb Galiziens, beifügen muß, und sie kann und soll gerade so zur Verteilung kommen, wie es für das Flugblatt wünschenswert ist.
Im Anschluß an die »Warnung« muß ich hier an die Einführung der Bahnhofsmission erinnern, die von katholischen wie protestantischen Frauenvereinen mit gutem Erfolg geübt wird. Sie kann jüdischen Vereinen nur sehr empfohlen werden.
Und damit komme ich nun zu meinem letzten und, wie ich glaube, dem wichtigsten meiner Vorschläge, der sich auf den eigentlichen Mädchenhandel bezieht, indem er sich mit der Auswanderung beschäftigt.
Ich weiß, daß es Personen und Vereine gibt, die den Standpunkt vertreten, daß zur Unterstützung der Auswanderung nichts geschehen dürfe. Diese Ansicht wird wohl aus gewissen Gründen zu erklären sein, und wenn damit die Einwanderung in andere Länder einfach unterbliebe, – denn die Furcht vor der Auswanderung in Galizien ist immer die Furcht vor der Einwanderung in ein bestimmtes Kulturland, – so hätte ein systematisches Nichtbeachten und Unterdrücken der vorhandenen Auswandererlust eine einseitige Berechtigung. Aber die Auswanderung kann nach Lage der Dinge nicht zurückgehalten werden. Sie wird auch tatsächlich nicht zurückgehalten, und deshalb ist es unrichtig, diesen sehr wichtigen Faktor von Amts wegen und von Vereins wegen zu ignorieren, sich nicht mit ihm zu beschäftigen. Nur weil man sich um die Auswanderung nicht bekümmern will, konnte sie die Basis werden, aus der der Mädchenhandel sich so unheilvoll entwickeln konnte.
Nur wer weiß, unter welch unsinnigen Vorbedingungen und Wegen, mit welch ungeeigneten Mitteln, mit welch phantastischen Plänen und unsicheren Aussichten die Mädchen aus einem galizischen Dorfe die Reise nach Amerika unternehmen, kann die Gefahr begreifen, in die sie sich begeben, sobald der begreifliche Wunsch erwacht ist, ihre Lage zu verbessern.
Um alle diese abenteuerlichen Kombinationen mit ihren Gefahren auszuscheiden, schlage ich vor, versuchsweise erst an einem Orte das einzurichten, was ich Auswandererschulen oder Auswandererbureaux nennen möchte.
An einem nicht zu kleinen Orte, in einem bescheidenen Hause sammle man eine Anzahl von Mädchen, die die Absicht haben, auszuwandern. Ihr Aufenthalt dort, der nach einer ungefähren Schätzung auf 4 bis 6 Monate anberaumt sein muß, muß ganz systematisch der Vorbereitung für die Reise und den neuen Verhältnissen, denen die Mädchen entgegengehen, gewidmet sein. Die Mädchen müssen in erster Linie schreiben und lesen lernen.
Sie müssen auf ihren Gesundheitszustand beobachtet und in den ersten Begriffen der Reinlichkeit und der eigenen Körperpflege unterwiesen werden; sie müssen etwas Haus- und Näharbeit lernen, und während der zweiten Hälfte ihres Aufenthaltes in dem Internat wird die Erlernung der englischen und der deutschen Sprache das wichtigste Lehrfach bilden. Dies zeichnet in den gröbsten Umrissen die Aufgabe einer beamteten Leiterin und Lehrerin in der Anstalt, die leicht Zeit und Gelegenheit finden wird, mit ihren Pflegebefohlenen über die allgemeinen Seiten, die Interessen und Gefahren der Auswanderung zu sprechen, und sie liebevoll zu beraten.
Aber damit ist die Tätigkeit der Institution, wie sie mir vorschwebt, noch lange nicht erschöpft.
Gerade so wichtig, wie die erzieherische Vorbereitung der Mädchen, wird die Pflicht der Anstalt sein, alle Familienverhältnisse der Auswanderin in Galizien sowohl, wie deren etwaigen Angehörigen in anderen Ländern oder Erdteilen festzustellen.
Da es sehr oft vorkommt, daß Mädchen blindlings Anverwandte im Auslande aufsuchen wollen, die verzogen, verstorben, verschollen oder verdorben sind, so ist es sehr nötig, in der Auswandererschule eine Geschäftsstelle zu gewinnen, die, bevor ein Mädchen in die weite Welt läuft, auf Korrespondenzwegen alles in Erfahrung bringt, was für die Reisende zu wissen nötig ist.
Auch als Auskunftsstelle für jede Anfrage, die schriftlich oder mündlich an das Bureau gelangt, soll die Station dem Volke dienen. Um all dem genügen zu können, wird man Beziehungen zu ausländischen und überseeischen Gemeinden, Behörden und Privatpersonen anknüpfen, Verbindungen mit den verschiedensten Arbeitsvermittlungsstellen eingehen müssen, wodurch man mit der Zeit einen günstigen Einfluß auf die Berufswahl der Mädchen gewinnen wird. Und wenn während des Aufenthalts von 4 bis 6 Monaten für jeden Fall individuell alles vorsichtig eingeleitet und vorbereitet ist, die Mittel zur Reise nachgewiesen sind (um den Bettel zu verhüten), dann soll die Leitung der Auswandererstation in ihre letzte Funktion eintreten, indem sie kleine Gruppen von Mädchen bildet, die sie unter sicherem Geleit (mit weiblichen Vertrauenspersonen von Ort zu Ort) bis an ihr Reiseziel führen läßt.
Die Aufnahme in die Auswandererschule soll, wenn äußerst tunlich, nicht ganz unentgeltlich sein; vielleicht ließe es sich ermöglichen, eine Art Ratenzahlung einzuführen, die einer Familie die Auswanderung einer Tochter, oder einem alleinstehenden Mädchen die Reise in eine neue fremde Welt unter gesicherten Bedingungen in Aussicht stellte.
Aber all das fällt in das Gebiet der Ausführung des Planes, die nur nach sorgfältigster Prüfung und Erwägung aller Details in Angriff genommen werden kann.
Während meine erstangeführten Vorschläge solche sind, die auf allgemeinen Kulturwegen die Lage der galizischen Bevölkerung indirekt zu beeinflussen geeignet sind, werden sich diese Auswandererschulen (vielleicht vier für das Land, in Verbindung und unter gemeinsamer Leitung stehend) zu einer direkten, sehr wirksamen Einrichtung zur Bekämpfung des Mädchenhandels entwickeln. Darum bitte ich, das Studium dieser Idee, die noch nirgends ausgeführt ist, in erster Reihe in Angriff zu nehmen.
Mit diesem Vorschlage muß ich meinen Bericht schließen.
Zwei Dinge hoffe ich durch denselben zum Ausdruck gebracht zu haben: erstens, daß es notwendig ist, eine Hilfsaktion für Galizien einzuleiten, und zweitens, daß, wenn eine Hilfsaktion, mit Umsicht und Verständnis geleitet, ins Leben tritt, sie nach jeder Richtung den größten Erfolg verspricht.
Daß wir selbst die Früchte der Arbeit, deren Notwendigkeit wir erkennen, nicht in ihrer Reife sehen werden, enthebt uns nicht der sozialen Pflicht, sie zu beginnen.
In der festen Überzeugung, daß aus dem Lande Galizien, speziell aus seiner jüdischen Bevölkerung Schätze kostbaren Menschentums herauszuarbeiten sind, sage ich wie Bürgers sterbender Winzer zu seinen Söhnen: »Grabt nur!«
Um die Verhältnisse kennenzulernen, denen die galizischen Jüdinnen durch Auswanderung zu entkommen suchen, um dann im Westen zumeist polizeilich registrierte Prostituierte bzw. Insassin von Bordellen zu werden, reist Bertha Pappenheim gemeinsam mit der Volkswirtin Dr. Sara Rabinowitsch vom 28. April bis 3. Juni 1903 im Auftrag des Frankfurter Israelitischen Hilfsvereins und des Hamburger Jüdischen Zweigkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels nach Galizien. Ihr Auftrag ist es, die Ursachen des Mädchenhandels zu erforschen und Vorschläge zur Verbesserung der Verhältnisse vorzulegen.
Die Orte, die Bertha Pappenheim mit Dr. Sara Rabinowitsch aufsucht, sind vom Wiener Kuratorium der Baron Hirsch-Schulen zusammengestellt worden. Das Konzept dieser Schulen hatte Bertha Pappenheim in ihrer Schrift Zur Judenfrage in Galizien von P. Berthold (=Bertha Pappenheim), Frankfurt am Main 1900, grundsätzlich kritisiert, weil junge Mädchen und Frauen aus dem Erziehungs- und Bildungsprogramm ausgeschlossen sind.
Ihr Bericht ist die erste Darstellung des jüdischen Mädchenhandels in Galizien sowie seiner Ursachen aus der Sicht einer Jüdin, die die Rechtsverkürzungen, Menschenrechtsverletzungen, die in wirtschaftlicher, politischer, sozialer und religiöser Form an galizischen Jüdinnen begangen werden, benennt. Der Naturalismus ihrer Darstellung, die schonungslose Offenlegung der Mißstände, ohne Rücksicht gegenüber Geldgebern, Organisationen, Meinungsträgern, Arbeitgebern, religiösen Richtungen, politischen Interessengruppen u.ä. ist dem Engagement und den Studien von Karl Emil Franzos ebenbürtig, mit denen er im Jahre 1878 die Aufmerksamkeit der westlich assimilierten Juden auf das soziale und politische Elend der orthodoxen Juden »Halb-Asiens« lenkte, jedoch sie ergänzend, aus der Sicht der Frau und Jüdin.
Mit dieser Studie profiliert sich Bertha Pappenheim in der damaligen jüdischen Welt weit über den lokalen Rahmen Frankfurts hinaus als Kennerin der Lage der galizischen Jüdinnen.