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Die Jahre gingen nun ihren Gang und Heinz blieb für die Dauer in Parkhof. Anfangs sollte sein Eigenwille noch durchaus gebrochen werden, und Pastor und Pastorin, Lehrer und Vetter arbeiteten fleißig daran; aber vergebens wurden alle Strafmittel altüberlieferter Pädagogik in Bewegung gesetzt; sie bewirkten nichts, als daß Heinz im Ertragen von Hunger und Durst, von Scheltworten und Schlägen eine wahre Virtuosität erlangte. Sein Eigenwille blieb ungebrochen, sein Trotz sehnte sich stets nach einer Gelegenheit, sich geltend zu machen. Kein Wunder! Sah er doch bald, daß ihm sein Wesen bei aller Welt zu einer gewissen Achtung verhalf. Jedermann, der Pastor und der Lehrer nicht ausgenommen, vermied es gern, mit ihm anzubinden, da er aus jedem Streite gewissermaßen als Sieger hervorging. Die Vettern wie die Dienstboten klagten zwar oft über sein herrisches Wesen, aber sie thaten bald, was er wollte, und sprachen oft mit Staunen von der Festigkeit seines Willens. Dazu beging man die unglaubliche Thorheit, wenn Besuch aus der Nachbarschaft da war, gegen diesen in Heinzens Gegenwart über seine Hartnäckigkeit und seine Herrschsucht zu klagen, worauf dann die Gäste einen zwar tadelnden, aber doch auch neugierigen Blick auf den jungen Sünder warfen, der bald erkannte, daß er in der Gegend zu einer Person geworden, um die sich ein Kreis von Mythen bildete.
Heinzens Verkehr mit dem Vater beschränkte sich auf kurze Besuche, die derselbe in Parkhof machte, denn Heinz mußte auch die Ferien auf dem Lande zubringen. Kam dann der Doctor einmal heraus und hörte die ewigen Klagen über den Sohn, so bestand ihr Beisammensein meist nur darin, daß ersterer den letzteren heftig schalt, während der Sohn ebenso heftig widersprach. War dann der Streit bis zu einem gewissen Punkte gediehen, und fühlte der Doctor den Jähzorn in sich aufsteigen, so brach er plötzlich ab und hieß den Knaben gehen. Er hatte sich an der Leiche seiner Frau das Wort gegeben, dem Knaben gegenüber nie mehr seiner Heftigkeit freien Spielraum zu gestatten, und er hielt es. Dazu kam, daß, wie unzufrieden man auch mit des Sohnes Aufführung war, dessen Fortschritte in der Schule nichts zu wünschen übrig ließen. Von der Natur mit einem wunderbar guten Gedächtniß und hinreichendem Verstande ausgestattet, lernte er fast spielend, was seine Lehrer ihm boten; es war überdies nicht allzuviel. Drei Lehrer hatte er hintereinander. Sie waren alle drei Candidaten der Theologie; sie waren alle drei nur mit dem größten Widerwillen Lehrer; sie hatten alle drei ihre Schulkenntnisse ziemlich vergessen, als sie es unternahmen, sie Andern mitzutheilen. Von einer bestimmten Methode wußte Keiner etwas. Man ging zur Mitte über, ehe noch der Anfang begriffen, und zum Ende, ehe nur die Hälfte der Mitte verstanden war. Ehe die Knaben richtig schreiben gelernt hatten, mußten sie Aufsätze machen, und sie sollten die Befreiung der vereinigten Staaten von Amerika schildern, ehe sie recht wußten, wer die Amerikaner seien und wer ihre Bedrücker. Alles war unsicher, nichts fest. Von Allem wußten die Kinder, aber sie kannten nichts genau.
Von einem Zusammenleben, von einem Einflusse der Lehrer auf die Schüler war nicht die Rede, denn alle drei benutzten die Zeit, die nicht vom Unterricht in Anspruch genommen war, dazu, spazieren zu gehen, oder dem edlen Waidwerk obzuliegen. Da blieb denn den Knaben viel freie Zeit, und wenn es ihnen gelungen war, sich mit der betreffenden Stelle aus Cornelius Nepos, Cäsar und Ovid soweit bekannt zu machen, um sie erträglich in's Deutsche übertragen zu können, wenn sie mit dem Wortlaut einer Regel einigermaßen vertraut waren, ohne auch gerade ihren Sinn ganz verstanden zu haben, so konnten sie so ziemlich ihren Liebhabereien leben.
Der Pastor war im Besitz einer leidlich guten belletristischen Bibliothek, und wenn diese auch den Knaben verschlossen bleiben sollte, so gab es doch immer stille Dämmerstündchen, in denen man sich in das Bibliothekszimmer schleichen und sich mit einigen Bänden Walther Scott, Cooper oder Willibald Alexis versorgen konnte. Heinz verlebte mit diesen Büchern köstliche Stunden. Am Waldessaum, unter den Birken des Parkes, oder am grünen Ufer des Flusses gelagert, war er in der Gesellschaft von Elisabeth und Maria Stuart, von Robin Hood und König Richard, oder er war mit Incas im jungfräulichen Urwald auf dem Kriegspfade, oder lauerte in der sandigen märkischen Haide auf den vorüberziehenden Krämer, bis er das Buch fort warf und zurückgelehnt, das Auge zum blauen Himmel gerichtet, selbst neue Märchen erfand und als Ritter, Räuber, Corsar oder Indianer unerhörte Dinge vollführte. Alle diese Träume bewegten sich neben seiner Person, als um ihr Centrum, um die Gestalten Lelia's und seiner Mutter. Dies Träumen selbst verbarg er vor den Augen aller anderen Menschen so sorgfältig, wie nur immer seine Mutter ihr Phantasieleben vor den Augen ihres Gatten verborgen hatte, und Niemand im Pastorate hatte auch nur eine Ahnung davon, was für köstliche Stunden Heinz auf diese Weise verbrachte.
Auf der andern Seite war dafür gesorgt., daß dieses Phantasieleben nicht Körper und Geist angriff und erschlaffte. Die Einsamkeit des Landlebens stählte beide nicht wenig. Benutzten doch die Knaben ihre Mäntel nur auf den Fahrten, während sie gewöhnlich, auch wenn es 20 Grad fror, in der einfachen Wandjacke sich stundenlang in Schnee und Frost umhertummelten; lernten sie doch sich behaglich fühlen ohne allen Verkehr mit der Außenwelt.
Und nicht ohne Freuden war jene Zeit, dafür sorgte der Fluß. Wenn um die Weihnachtszeit der Frost ihn in seine eisigen Arme genommen, ihn zugedeckt hatte mit seiner bläulichen, silberglänzenden Decke, wenn die Strahlen der kalten Wintersonne sich in Millionen von glitzernden, funkelnden Brillanten widerspiegelten und dumpf dröhnend das Hohleis am Ufer einstürzte, – dann ging es hinaus in die frische, kräftige Winterluft, und pfeilschnell flog das leichte Schlittchen das steile Ufer hinab. Nicht ungelenkt und ungeleitet darf es sein, denn in jähem Laufe biegt es sonst ab von seiner Bahn, der durch Tannenreißer bezeichneten offenen Stelle zu. Vergeblich drückt sonst die kleine Rechte ablenkend auf das spröde, glatte Eis, nur rasch vom Schlitten herab, denn schon springt dieser leicht über das vorgelagerte Eis hinweg, hinein in das dunkle, schwarze Wasser. – Dumpf donnert die Eisdecke, wenn das Pferd rasch darüber hin eilt; der Schnee knistert und mächtige Schneekugeln wirft des Thieres trabender Huf den kleinen Kutschern ins Angesicht. Nur vorwärts! In scharfem Trabe, in gestrecktem Galopp so dahineilen durch den schneidenden Frost, das ist echt nordische Lust!
Wärmer werden die Strahlen der Sonne und zu der zarten Schneeflocke gesellt sich der derbe Regentropfen. Schon schmilzt der Schnee auf Feldern und Wiesen, sammelt sich an zu tausend und abertausend unscheinbaren Bächlein, ergießt sich als kleiner Bach in die tiefen Gräben und eilt, murmelnd und gurgelnd, in kleinen Katarakten das steile Ufer hinab, dem Flusse zu. Aber den bedeckt noch das Eis. Nicht mehr das schimmernde, blitzende Jugendeis. Nein, grau mit Falten bedeckt, liegt es morsch und lebensmüde auf den steigenden Gewässern. Jetzt ist auch das Aufwasser verschwunden, die Passage gehemmt, – da setzt es sich endlich in Bewegung; aber nur langsam und zögernd.
Noch bleibt es allaugenblicklich wieder stehen, und dann steigt das Wasser mit rasender Geschwindigkeit höher und immer höher, bis es sich brausend weithin über das Ufer ergießt, das Land weit und breit überschwemmend. Und nun wühlt es und bricht es und splittert und tobt es im Flußbette. Dort wird eine gewaltige Scholle aus dem Gewühle geworfen, mannshoch aufgerichtet schleift sie über die überschwemmte Wiese daher. Wehe! Wie mit scharfer Pflugschaar reißt sie die Grasnarbe vor sich hinweg, bis sie endlich plump und ungefüge festsitzt im seichten Wasser, während die kleineren, dünneren Schollen zwischen den größeren hindurcheilen, neckisch an sie stoßen, um dann verdoppelt weiter zu treiben. Diese nun sind der Knaben Freunde. So streng es auch verboten ist, auf ihnen wie auf Booten einher zu fahren, jeder unbewachte Augenblick wird benutzt, und die lange Stange in der Hand, treiben sie jubelnd einher auf dem Wasser. Freilich, der Nordwind bläst eisig kalt und gebrechlich ist das Fahrzeug! Plötzlich, – geräuschlos und ohne alle vorhergehende Warnung geht die Scholle mitten auseinander, und bis an den Hals versinkend, rettet nur das Schwimmen die Knaben von sicherem Tode. Was thut es, sie können eben schwimmen, und könnte denn dies volle, warme Leben in ihnen aufhören! Wichtiger ist es hier, den nassen, anklagenden Zustand der Kleider vor den Augen der gestrengen Hausfrau zu verbergen, und auch schwieriger ist es, denn sie haben keinen anderen Anzug zur Verfügung und zur Mahlzeit müssen sie unten erscheinen. Da kauern sie denn zähneklappernd vor dem brennenden Ofen, bis das wohlthätige Feuer die Kleider getrocknet und den Leib erwärmt hat.
Das Eis ist fort und nur noch auf den halb trockenen Wiesen verwittern einzelne gestrandete Schollen, aber schon bringt der noch volle Strom andere Gäste. Gewaltige Flöße führt er aus dem Oberlande herab, ungefüge Fahrzeuge mit zwei Balken als Steuer und Ruder zugleich. Auf einem aus Rasenstücken errichteten Heerde flackert ein kleines Feuer, und an ihm Wärmen sich die breitschultrigen Oberländer und plaudern in ihrem derben Lettisch; das klingt, als äßen sie während des Sprechens. Die nehmen die Knaben gern auf, und geräuschlos gleiten sie eine halbe Stunde den Fluß hinab, an den fischenden Bauern vorüber, und während die Dunkelheit schnell hereinbricht und der Mond das Bild beleuchtet, erzählen die Flößer von den oberländischen Wäldern und der gefährlichen Passage dort oben bei der Stadt, und daß das geflößte Holz bald kommt.
Und kaum sind die Flöße verschwunden, so kommt auch schon das Holz den Fluß hinab geschwommen, und zugleich mit ihm kommt der alte Förster in's Pastorat, die Buschwächter in den Gesinden umher. Nun stehen die Knaben am Ufer, den Bootshaken mit der eisernen Spitze und dem Widerhaken in der Hand, und harpuniren die vorübereilenden Holzstücke; sie und die Knechte des Pastorates, bis sie die dreißig Faden, die dem Pastor zukommen, herausgezogen und sauber aufgeschichtet haben. Dazwischen hat denn der eine oder der andere einen unberechtigten Holzfischer erwischt und bringt ihn vor das Gericht des gestrengen Herrn Försters. Der läßt nun nachdenklich den rothen Backenbart durch die Finger gleiten, während die Jugend ängstlich aufgeregt ihn harrend umsteht, und der Dieb immerfort seine Unschuld versichert, als könnte er, so lange er spricht, nicht verurtheilt werden. Doch mit gebundenen Händen wird er endlich in die Kleete gesperrt, und am andern Morgen bringt ihn ein Buschwächter in seinem Wägelchen zum Gemeindegericht.
Das Holz ist fort und liegt nun, von langem Seile festgehalten, vor der Stadt, bis man es herausgezogen und in langer Fadenreihe aufgestapelt hat.
Schon folgt ein anderes Jugendvergnügen; der Fang der Neunaugen, die nun in ganzen Schwärmen stromaufwärts ziehen. An der Spitze des schmalen, leichten Bootes kauert, den rechten Arm entblößt, die Hand mit einem wollenen Handschuh bedeckt, um den glatten Fisch leichter fassen zu können, der eigentliche Fischer, während im Hintertheil des Bootes der Steuermann aufrecht steht und mit einer langen Stange das Boot geräuschlos stromaufwärts stößt. Ein Wink des Armes und das Boot steht unbeweglich. Dort, wo um den gewaltigen Block, dessen oberen Theil das Wasser nicht deckt, der Strom eine kleine Erhöhung von Sand und Kieselsteinen angeschwemmt hat, liegen die Fische dicht beieinander, als erwarteten sie selbst nichts Anderes, als nur eben gefaßt zu werden, und wenn der eine, noch mit dem Steinchen im Maul, woran er sich festgesogen, herausgeholt wird, bleiben die andern ruhig liegen!
Kalt ist der Wind, kälter das Wasser; aber die Leidenschaft erwärmt die halbnackten Knaben, und jubelnd kehren die Durchfrorenen schließlich mit den gefangenen Fischen nach Hause zurück.
Nun kommt der Sommer in's Land, der kurze, nordische Sommer, und Morgens, Mittags und Abends nimmt er die Knaben auf, der kühle Strom, in dem sie schwimmend und untertauchend sich ihrer Kraft und Geschicklichkeit freuen. Wenn dann die Sonne hinter dem Horizonte versank, dann geht es nach eingenommenem Mahle wieder hinab an den Fluß, und kaum wird es dunkel, so flackern hier und dort am Ufer die Flammen der Kienspäne auf, und nun geht es den Krebsen an's Leben. Die Gefangenen werden auf schnell errichtetem Feuer gekocht und behaglich verzehrt, während seltsam gestaltete Nachtschmetterlinge das Feuer umschwärmen und umflattern.
Hat dann im Herbste die Büchse fleißig geknallt, und hat dann wieder der Frost das Wasser mit leichter Eisdecke überzogen, daß man hinabsehen kann durch das dünne Eis fadentief, dann sind die Knaben wieder auf dem Flusse. Unter ihren Füßen biegt sich das Eis und kracht bedenklich rings um sie her, sie achten nicht darauf. Ihr Blick dringt in die Tiefe und sucht den Wolf der Gewässer, den schnellen Hecht. Da ist er! Regungslos liegt er da, er lauert auf Beute. Dumpf fällt jetzt das Beil auf's Eis, gerade über dem Fisch einen weißen Stern bildend, und langsam kommt er herauf, den weißlichen Bauch nach oben gekehrt. Ein paar Schläge mit der Axt und aus der Oeffnung zieht man den Betäubten.
Und wieder nach ein paar Tagen gleiten die Knaben auf leichten Schlittschuhen jauchzend dahin, und Niemand ist glücklicher als sie.
Wie bist Du so lieb, Du prosaischer und doch so poetischer Fluß! Bist Du doch ein rechtes Bild unseres heimathlichen Seins und Wesens. In guten Tagen, wenn kein Widerstand Dich reizt, keine Last Dich drückt, dann fließest Du so träge und behaglich dahin, daß kein Fremder Dir ansehen kann, daß Du überhaupt ein Fluß bist, und hier und da versumpfst Du wohl auch gar. Behaglicher Lebensgenuß ist Deine Freude, und statt wie ein echter deutscher, fleißiger Fluß Mühlen zu treiben und Maschinen zu bewegen, oder schwere Barken auf Deinem Rücken zu tragen – umkräuselst Du neckisch die Steine in Deinem Bett, und spielst mit Schilf und Rohr am Ufer. Ist es aber wirklich Noth, stellt sich das Eis Dir in den Weg, schwer lastend Dein Wasser hinab zu drücken, – dann erwacht Deine Kraft, dann sprengst Du jedes Hinderniß, wirfst spielend die mächtige, lästige Scholle ins Wasser, und überschwemmst zum Ueberflusse noch weithin die Ufer. Noch hat kein Deich Dich gelehrt, den Ueberfluß der Wasserfülle zurückzubehalten für die Zeit der Wassernoth; aber sie werden errichtet werden, diese heilsamen, unbequemen Dämme, sie werden Dich einengen und die Bewohner Deiner Ufer, und dann wird man freudig sehen, welche Kraft in Euch Beiden steckt!