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Es war ein sehr heißer Sommer, der Sommer des Jahres 18**, und einer der heißesten Tage in diesem Sommer war der sechste August. Die Sonne brannte mit wahrhaft afrikanischer Gluth auf die erhitzten Pflastersteine, und auf der breiten Hauptstraße der Stadt, die so recht der Nachmittagssonne ausgesetzt ist, war nicht einmal ein Hund, geschweige denn ein Mensch sichtbar. Die Kaufleute hatten die Thüren ihrer Läden geschlossen; vor und hinter allen Fenstern waren die Marquisen, Jalousien und Rouleaux herabgelassen; die ganze Stadt schien in heißem, dumpfem Schlafe zu liegen. Das Eichenstamm'sche Haus machte davon keine Ausnahme, obgleich es, breit und steinern wie es dastand, wohl im Stande zu sein schien, ein gut Stück Sonnengluth und Wintersturm mehr auszuhalten als seine hölzernen Nachbaren. Es war zwar nur einstöckig, aber so solid gebaut, und so rein und sauber, daß man ihm schon ein wenig Stolz zu Gute halten konnte. Hinter sich hatte es noch ein zweistöckiges Gebäude, das, den Giebel dem Herrenhause zukehrend, die eine Seite des Hofes bildete, und den Stall, die Wagenremise und die Klete enthielt. Den oberen Theil des Hauses entlang lief eine hölzerne, dunkele Gallerie, von der aus man zu mancherlei Gelassen gelangen konnte. Ging man über den geräumigen Hof, so kam man, wenn man einen schmalen Gang links ließ, an einen grünen Zaun, hinter dem ein kleiner, baumloser Blumengarten lag; in diesem befand sich ein kleines, ebenfalls grün angestrichenes Häuschen, das nur vier Fenster in der Front hatte. Folgte man dem schmalen Gange, welcher von da weiter führte, so stand man bald am Kanal, der mitten durch die Stadt geht, ihre Bewohner mit Trinkwasser versorgt, zugleich aber den Inhalt ihrer Gossen aufnimmt. Hier floß er zwischen Gärten und Höfen hin und um seine altersschwachen Seitenwände vor Einsturz zu schützen, hatte man alle Faden lang starke Holzstangen, etwa zwei Fuß über der Oberfläche des Wassers, quer über den Kanal gelegt, zu großer Freude der anwohnenden Jugend und zu steter Besorgniß der anwohnenden Eltern, deren männliche Sprossen diese Stangen zu Turnübungen benutzten, wenn sie des vergeblichen Angelns überdrüssig waren.
Auf dem Hofe schien die Sonne heute nicht weniger heiß, als auf der Straße, und Emma, das Stubenmädchen, welches soeben frisch gewaschene Wäsche über ausgespannte Stricke hing, schob den Wäschkorb bei Seite, lehnte sich über die Brüstung und sah Annettchen, der Köchin zu, die sich vor die Küchenthür gesetzt hatte und allaugenblicklich ein Handtuch in einen Wassereimer that, um sich damit ihr rothglühendes Gesicht zu waschen. Weinthal, der Diener, folgte Emmas Beispiel und beobachtete von einem Fenster des Leutezimmers aus die Bemühungen Annettchens so aufmerksam, als nähme sie eine unerhörte Operation vor. Neugierig hüpften ein Paar Spatzen auf die Dachrinne und thaten wie Emma und Weinthal, d. h. sie blickten auf Annettchen und dachten: Wie ist es doch heiß!! Nur die beiden Kinder, die im Schatten der Gallerie spielten, schienen nicht von der Hitze zu leiden. Kein Wunder! Waren sie doch jetzt auch nicht in dem heißen Hofe des Eichenstamm'schen Hauses, sondern in Ritter Blaubarts feenhaftem kühlem Schlosse, und gerade in der größten Aufregung, in der entsetzlichsten Spannung. Die sieben Blumenstöcke, die dort an der Wand lehnen, sind die Leichname von sieben armen, jämmerlich erwürgten Frauen; der achte, welcher dort auf der dritten Stufe der zur Gallerie führenden Treppe liegt, ist Schwester Anna, die ausschaut nach den rettenden Brüdern. Das kleine Wesen, das dort unten auf den Knieen liegt und ein so jämmerliches Gesicht macht, ist nicht die kleine Lelia, sondern die unglückliche Eleonore, die für ihre Neugier nun so hart büßen soll und der Junge vor ihr, der seine Stirn in so finstere Falten zieht und mit dem Blechsäbel so gefährlich hin und her fuchtelt, ist nicht der kleine Heinz Eichenstamm, sondern der schreckliche Ritter Blaubart. Die Ereignisse sind eben auf ihrer Höhe angelangt. »Schwester Anna, siehst Du noch nichts?« ruft Eleonore hinauf.
»Ich sehe eine Wolke Staub,« tönt es vom Thurme herab.
»Ich bin gerettet!« ruft Eleonore!
»Ach nein, es war nur eine Schafherde!« ruft Schwester Anna zurück.
Da rollte es dumpf im Thorweg. Der Doctor Eichenstamm, der Herr des Hauses, war zurückgekehrt und obgleich noch nicht einmal der Kopf seines im Thorwege haltenden Pferdes sichtbar war, so veränderte doch der bloße Ton des Hufschlages die Scenerie im Hofe. Emma, das Stubenmädchen, fuhr aus ihrer Ruhe auf und griff mit größtem Eifer wieder zum Wäschkorbe; Weinthal, der Diener, zog sich rasch aus dem Fenster zurück; Annettchen, die Köchin, warf das Handtuch in den Eimer, seufzte und eilte in die Küche; selbst die Sperlinge schlüpften wie auf der Flucht unter die schützende Dachrinne. Auch der Blaubart'sche Feenpalast unter der Gallerie brach zusammen; Heinz warf den Säbel weg, stieß die Leichen der sieben unglücklichen Ermordeten mit dem Fuße um, stieg mürrisch einige Stufen hinauf und setzte sich verdrossen neben Schwester Anna, die sich sogleich in einen Blumenstock verwandelte.
»Was ist Dir Heinz?« fragte Lelia ganz betreten. »Du mußt nun hereinkommen und mich erstechen wollen.«
»Laß mich, ich will nicht mehr spielen!«
»Warum nicht Heinz? Hast Du Dich über mich geärgert?«
»Begreifst Du denn nicht? Er ist nach Hause gekommen!«
»Wer denn?«
»Vater!«
»Nun, und warum willst Du denn deshalb nicht spielen?«
»Ich will nicht!«
Der Doctor Eichenstamm ist unterdessen aus seinem Wagen gestiegen und in's Haus getreten. Es war ein stattlicher Mann, der Doctor, oder wie sein voller Titel lautet: der wirkliche Staatsrath und Ritter, Doctor Heinrich von Eichenstamm, Gouvernementsmedicinalinspector und Ritter verschiedener Orden. Er war seine sechs Fuß hoch, von gewaltigem Schulterbau, eine muskulöse, markige Erscheinung. Er mochte ein starker Vierziger sein, und wenn auch sein Haar, das in dichten Locken um seinen Kopf hing, und sein Bart schon grau gesprenkelt erschienen, so war sein Schritt doch elastisch geblieben wie der eines Jünglings. Sein länglich schönes Gesicht mit echt römischen Zügen, wie der stolze, feste Gang, zeigten den Mann, der eben in seine besten Lebensjahre getreten ist. Den Blick seines leuchtenden, scharfen Auges hielt Niemand so leicht aus. Kühnheit, Festigkeit, trotziges Selbstvertrauen, rücksichtslose Herrschsucht sprachen aus dem Gesichte, der Gestalt, der Haltung, dem Gange. Wenn man überhaupt ein Recht erwerben könnte auf Hochmuth, so hatte er es. Einer altangesehenen Bürgerfamilie entsprossen, war er doch ganz allein seines Glückes Schmied, denn schon als achtzehnjähriger Jüngling verließ er nächtlicher Weile des harten Vaters Haus, wies jede Hülfe der zahlreichen Sippe zurück, und kämpfte allein den harten Kampf um das Dasein. Sein stahlharter Leib litt nicht, wenn er als Student im engen Stübchen, bei einem trüben Licht im Flaschenhalse über den Büchern fror, während seine Commilitonen fröhlich beim Glase saßen, aber seiner Seele, seiner stolzen Seele wurden in diesem Kampfe Wunden geschlagen, die nie ganz vernarbten. Er, der eitle, hochfahrende Jüngling, mußte hier und da um Privatstunden bitten, mußte sich von aufgeblasenen Bedienten über die Achsel ansehen lassen, wenn er, ärmlich gekleidet, mit den Büchern unter dem Arme zu seinen Schülern ging, mußte um freie Collegia und um ein Stipendium bitten. Seine wilde ungezügelte Freiheitsliebe hielt ihn aufrecht. Hier in der harten Schule des Lebens erhielt sein Geist die Form für alle Zeit. Hart und kalt ging er durchs Leben; nun, da er es konnte, wollte er Herr sein ganz und gar. Wer sich seinem Willen nicht völlig unterordnete, den duldete er nicht neben sich. Und es ging ihm gut, dem Heinrich Eichenstamm, als er die Universität verließ und nach Moskau ging. Er machte als Arzt glückliche Kuren, die Leute strömten ihm zu und zahlten reichlich! Der schöne Doctor, der gegen die Reichen und Vornehmen hochmüthig und hart, gegen die Armen mild und freundlich war, kam in die Mode. In einem Jahrzehnt wurde er ein reicher Mann. Kein Sterbenswörtchen hatte er nach Hause geschrieben, seit er das Vaterhaus flüchtig verlassen, kein Schreiben eröffnet, das aus der Heimath kam. Jetzt langt wieder ein Brief an, nach langer Pause der erste. Er öffnete ihn; jetzt, wo er selbstständig und reich war, konnte er es. Der Brief kam von seiner Mutter und meldete ihm den Tod seines Vaters. Das Sterbelager hatte den harten Eichenstamm mürbe gemacht, er verzieh sterbend dem Sohne. Da erwachte die Sehnsucht nach der Heimath, jene Sehnsucht, die unsere Landsleute nie los werden, wohin immer sie das Schicksal verschlagen möge, wie glücklich es ihnen auch immer in der Fremde ergehen mag, mächtig im Herzen des Doctors. Er verließ Moskau und kehrte nach Hause zurück, kaufte das alte hölzerne Haus seines Vaters, ließ es niederreißen und baute an seiner Stelle ein neues, steinernes. Auch in der Vaterstadt lachte ihm das Glück; bald war er der gesuchteste Arzt der Stadt, bald Chef der Medicinalverwaltung des ganzen Landes. Er wollte aber auch Chef der Eichenstamm'schen Familie, anerkanntes Familienhaupt, wenigstens der Eichenstamms in der Stadt werden und das konnte er nur, wenn er verheirathet war. Auch noch aus andern Gründen sah er sich nach einer Frau um. Er erwarb, er erwarb viel, er wollte Kinder haben, für die er erwarb. Für einen Eichenstamm war es so ziemlich selbstverständlich, daß seine Frau eine Verwandte sein mußte, denn die Eichenstamms heiratheten fast nie eine Fremde. Die Eichenstamms hielten sehr viel auf sich. Ein weit verbreitetes Predigergeschlecht, widmeten sich ihre ältesten Söhne auch immer wieder dem geistlichen Stande, während die jüngeren Aerzte, Advocaten oder Lehrer wurden. So hielten es die Eichenstamms seit den Zeiten der Reformation und die Pastorate: Oldweiler und Parkhof, beide im Semmgaller Unterlande, hatten, seit in diesen Kirchen das reine Evangelium verkündet wurde, nie einen andern Pastor als einen Eichenstamm beherbergt.
Die Eichenstamms waren ein schönes Geschlecht, das darauf hielt, sich nur mit ebenbürtigen, mehr oder weniger einheimischen Literatentöchtern zu verheirathen. Am leichtesten ließ sich jedoch der Familientypus erhalten, wenn Eichenstamms bei Eichenstamms blieben, und das thaten sie denn auch soweit es thunlich war. Der Vetter wählte die Cousine, der Onkel die Nichte in endloser Reihenfolge. Sie erreichten ihren Zweck, die schönen Nasen und hohen Stirnen, welche das Geschlecht der Eichenstamms auszeichneten, blieben in der Familie erblich, nebst so manchem anderm Guten, nebst einem, allem Gemeinen abgewandten Sinn, nebst Fleiß, Zuverlässigkeit und Pflichttreue: aber auch die Fehler der Einzelnen wurden Geschlechtsfehler und Hochmuth, Schroffheit, Selbstsucht und Jähzorn traten bei den meisten Eichenstamms mehr oder weniger stark hervor. Es waren ungesellige, unverträgliche Menschen, die einander Fremden gegenüber in den Himmel erhoben, die einander leidenschaftlich liebten, wenn viele Meilen sie trennten, die aber keine Stunde beisammen sein konnten, ohne mit einander in Zank zu gerathen. So gehörten denn die Eichenstamms zu der Classe von Menschen, denen man zwar alle Anerkennung widerfahren läßt, denen man aber doch gern aus dem Wege geht.
Der Doctor sah sich, wie gesagt, nach einer Frau um. Er fand sie in der sechzehnjährigen Agnes, der Tochter seiner gleichnamigen Schwester, die an einen Vetter, einen Pastor Eichenstamm, verheirathet war. Schlank und hochgewachsen, erschien Agnes nicht eigentlich hübsch, dazu waren die Stirn zu hoch, die Augen zu groß, die einzelnen Züge zu ausgeprägt, aber sie war ein liebes, prächtiges Geschöpf und hatte mehr von den Tugenden als von den Fehlern ihres Geschlechtes geerbt. Agnes war klug und gut. Als ihr Onkel um sie anhielt, gab sie ihm sogleich das Jawort. Sein stolzes festes Auftreten, selbst sein herrisches und rauhes Wesen fanden einen verwandten Anklang in der Seele des Mädchens; unter ähnlichen Menschen erwachsen, hatte es nichts Schreckendes für sie, einen solchen Mann als Herrn über sich anzuerkennen.
Seit einem Dutzend von Jahren seine Frau, liebte sie ihn mit ganzem Herzen. Er vergalt ihr diese Neigung und wenn sein leidenschaftliches Temperament ihn auch ihr gegenüber einmal hinriß, so that ihm das leid und ohne sie um Verzeihung zu bitten, dazu war er auch ihr gegenüber völlig unfähig, wußte er doch ihr zu verstehen zu geben, wie sehr er seine Heftigkeit bedauere. Es kam noch ein Umstand dazu, der ihn zu großer Schonung veranlassen mußte. Nachdem Frau Agnes mehrere Kinder geboren, die bald nach der Geburt wieder starben, hatte ihre Gesundheit durch die Geburt des kleinen Heinrich den Todesstoß erhalten. Jetzt erforderte ihr Zustand große Schonung und soweit das Temperament ihres Mannes es diesem erlaubte, fand sie sie auch. Das war freilich nicht sehr weit, denn als harter Haushalter verlangte der Doctor unbedingten Gehorsam, strengste Ordnung. »Nicht raisonnirt! Gehorcht und geschwiegen!« Damit schloß er jede Anordnung.
Heute, als am Donnerstag, waren die in der Stadt wohnenden Eichenstamms alle beim Doctor versammelt, denn an diesem Tage versammelte sich allwöchentlich die Familie bei dem Einen oder dem Andern, der Reihe nach.
Man hatte mit dem Mittagsessen auf den Doctor gewartet und nachdem dieser die Anwesenden begrüßt und man einige Worte über die übergroße Hitze ausgetauscht hatte, setzte man sich zu Tische.
Die Gesellschaft war nicht sehr zahlreich. Da waren der Oberlehrer Friedrich Eichenstamm und feine Frau Irene, die viel jüngere Schwester des Hausherrn; da war sodann der Doctor Konrad Eichenstamm, ein Vetter des letzteren; da waren ferner der Pastor Heinrich Eichenstamm, der Bruder des vorigen und seine Frau, die ältere Adelheid; da waren endlich der Advocat Heinrich Eichenstamm und seine Gattin, die jüngere Adelheid.
»Nichts Neues?« fragte der Doctor, nachdem die Anwesenden längere Zeit geschwiegen.
»Wie ich höre,« begann die jüngere Adelheid, »hat der junge Pastor Schwarz die Absicht, den lettischen Kirchhof mit Bäumen zu bepflanzen.«
»Wo will er denn die Geldmittel dazu hernehmen?« fragte der Pastor.
»Nun, ich denke für einen so nützlichen Zweck kann es der Kirche nicht an Mitteln fehlen,« meinte der Doctor Heinrich.
»Ob ein solches Unternehmen ein nützliches genannt werden kann, scheint mir doch sehr fraglich,« erwiderte der Pastor gereizt.
»Ich bin ganz Deiner Meinung,« stimmte Irene Eichenstamm bei. »Auch ich glaube, daß es in unserer Stadt so viel Armuth giebt, daß solche, nur dem Schönheitssinn Rechnung tragende Ausgaben mir durchaus unerlaubt erscheinen.«
»Wie?« fragte der Doctor Heinrich, während er von dem Lachs nahm, den Weinthal ihm reichte, »wie? Hältst Du solche Anlagen nur für Verzierungen? Sie sind vielmehr für den Gesundheitszustand der Stadt ganz unerläßlich und es giebt kein besseres Mittel, um unsere ungesunde Stadt in eine gesunde zu verwandeln und uns die leidigen Epidemien vom Leibe zu halten, als die Umwandlung der wüsten Plätze in grünende Gärten.«
»Das höre ich zum ersten Mal,« sagte Irene leichthin und in einem Tone, als habe ihr Bruder etwas sehr Unverständiges gesagt.
»Das mag wohl sein,« erwiderte der Doctor mit aufsteigendem Aerger, »das mag wohl sein. Man hört eben Alles einmal zum ersten Mal.«
»Uebrigens,« fuhr der Pastor fort, indem er sich ein Glas Wasser einschenkte, »übrigens scheint mir schon der Umstand gegen das Unternehmen meines jungen Amtsbruders zu sprechen, daß sein Vater, der doch wahrhaftig ein tüchtiger Mann war, nie daran gedacht hat, solche Neuerungen einzuführen.«
»Das also war des Pudels Kern!« rief der Advokat höhnisch. »Ja, ja, das ist die wahre Höhe! Weil der Vorgänger durch den Bach gefahren ist, darf auch der Nachfolger keine Brücke bauen!«
»So denkt die Geistlichkeit!« secundirte die jüngere Adelheid ihrem Manne.
»Ich erlaube mir, verehrte Cousine,« erwiderte der Pastor, nun auch vor Zorn erröthend, »Dich höflichst darauf aufmerksam zu machen, daß ich keinerlei Spöttereien über die Geistlichkeit dulden kann. Ich stelle Dir meine Person zur Verfügung, aber ich muß Dich bitten, mein heiliges Amt aus dem Spiele zu lassen.«
»Und ich erlaube mir,« rief nun der Advokat, »Dich darauf aufmerksam zu machen, daß eine solche Belehrung meiner Frau gegenüber ganz und gar nicht am Platz ist.«
»Ich behalte mir das Recht vor –«
»Ich muß Dich bitten, Dich dieses Rechtes durchaus zu begeben.«
»Aber ich kann doch wohl –
»Du kannst durchaus nicht.«
»Meiner Meinung nach,« rief Friedrich Eichenstamm, »sind in dieser Frage doch einzig und allein die Aerzte competent.«
»Durchaus nicht,« erwiderte Frau Irene. »Ich muß Dir sagen, lieber Mann, daß ich gar nicht einmal verstehe, wie man so denken kann. Die Entscheidung darüber, ob so unbedeutende Anlagen für die Gesundheitsverhältnisse einer großen städtischen Bevölkerung förderlich sein können oder nicht, ist lediglich Sache des gesunden Menschenverstandes. Ich meinestheils werde wenigstens nie auf das Recht, in solchen Dingen mitzusprechen, verzichten. Arrogantes Auftreten und dreistes Absprechen imponiren mir nun einmal nicht.«
»Du läßt Dir überhaupt weniger imponiren, als es Deinem Alter angemessen wäre,« meinte darauf der Doctor, worauf ihm die Schwester erwiderte, er möge nicht ihr Alter, sondern ihre Gründe bekämpfen.
Der Hausherr biß sich auf die Lippen, citirte mit lächelndem Munde das Sprichwort: »Lange Haare – kurzer Verstand,« und gab sich alle Mühe, möglichst gleichmüthig auszusehen, da er wußte, daß nichts seine Schwester mehr ärgern konnte.
Diese erwiderte denn auch, indem sie nach ihrer Gewohnheit ihre reichen Flechten ein wenig hin und her rückte, ebenfalls scheinbar noch scherzend, in Wahrheit aber sehr gereizt: daß sie sich in Bezug auf die Fülle ihres Haarwuchses gegenseitig nichts vorzuwerfen hätten, daß die langen Haare es aber nicht thäten, sondern daß es eigentlich doch mehr auf die Gesundheit des Gehirns, welches von den Haaren bedeckt würde, ankäme.
Der Pastor nahm die Sache ernster und erklärte, daß es nicht möglich sei, zu disputiren, wenn man seine Meinung nicht aussprechen könne, ohne sich Beleidigungen auszusetzen. Darauf bemerkte der Advokat, daß es bekanntlich so aus dem Walde herausschalle, wie man hineinrufe, und seine Frau fügte hinzu, daß, wer selbst gegen Damen unhöflich werde, sich nicht wundern könne, wenn andere Leute seinem Beispiele folgten.
Die Stimmen wurden immer lauter, die Gesichter immer glühender. Niemand hörte mehr, Alle sprachen. Frau Irene gab dem Streit endlich gar eine politische Wendung, indem sie erklärte: »Unduldsamkeit sei ein Grundzug des modernen Liberalismus, den sie in jeder Beziehung gleich sehr verachte und verabscheue, gleichviel, ob er Barrikaden baue oder altehrwürdige Ordnungen durch neumodische Einrichtungen zerstöre, und dieser Meinung stimmten ihr Mann und der Pastor bei, welch letzterer noch Einiges über die nivellirenden Tendenzen der Neuzeit, denen widerstanden werden müsse und widerstanden werden würde, hinzufügte.
Die Doctoren Heinrich und Konrad und der Advokat spielten nun ihrerseits auf Eulen und Fledermäuse an, die ja allerdings das Sonnenlicht scheuten und wüste Holzplätze grünen Rasenflächen vorzögen, und wiesen darauf hin, daß wie immer so auch hier Unwissenheit die Quelle conservativer Gesinnungen sei.
Die Luft im Saale wurde immer schwüler; Frau Agnes suchte vergeblich nach rechts und links zu vermitteln, und die Kinder horchten gespannt auf die leidenschaftlichen Worte und beobachteten verwundert die lebhaften Geberden und Mienen der Streitenden, während Weinthal, der Diener, ganz unnützer Weise mit der Bratenschüssel von dem Einen zum Anderen ging, da Niemand Zeit hatte, an das Essen zu denken. Sein dickes Gesicht verlor aber deshalb seinen behaglichen Ausdruck auch nicht auf einen Augenblick, denn er war durch vieljährige Erfahrungen an solche Familienscenen gewöhnt und wußte auch, was kommen würde, daher legte er jetzt die Bratenschüssel weg und begab sich in's Vorhaus, in der Erwartung, daß man jetzt sogleich seiner bedürfen werde.
In der That war der Augenblick der Explosion nun gekommen. Friedrich Eichenstamm hatte ausgeführt, daß er ja sehr wohl wisse, daß der Nutzen großer Parkanlagen in gesundheitlicher Beziehung festgestellt sei, daß es aber fraglich erscheine, ob auch die Anpflanzung einiger weniger Bäume diese Wirkung ausüben könne. Darauf antwortete der Doctor Heinrich, daß das nur einem Ignoranten fraglich erscheinen könne. Friedrich erwiderte nun, er werde kein Wort mehr Leuten gegenüber verlieren, die sich nicht anders auszudrücken verständen, als wenn sie sich in einer Schenke befänden. Der Hausherr wurde jetzt kreidebleich und sagte, am ganzen Leibe zitternd, er könne nur wünschen, daß Leute, die sein Haus für eine Schenke hielten, dasselbe verließen.
Darauf sprangen der Oberlehrer und der Pastor und ihre Frauen auf und eilten stumm, die letzteren in Thränen ausbrechend, in das Vorhaus.
Frau Agnes folgte den Enteilenden und suchte vergeblich zu vermitteln. Der Pastor sprach mit eisiger Höflichkeit: »Ich weiß sehr wohl, liebe Cousine, Dich von Deinem Manne zu unterscheiden, allein es giebt Dinge, die sich kein Mann gefallen lassen darf.« Der Oberlehrer faßte ihre Hand, schüttelte sie herzlich und meinte, sie sei eine liebe, prächtige Frau und es thue ihm leid, ihr Haus so verlassen zu müssen, aber ihr Mann habe ihn, ganz unprovocirt, tödtlich beleidigt. Frau Irene fiel der Schwägerin um den Hals und schluchzte, daß sie eine solche Behandlung von Heinrich nicht verdient habe und daß sie mit Jedermann streiten könne, nur nicht mit ihm. Nicht die Beleidigungen, welche er ihr und ihrem Manne zugefügt, hätten sie veranlaßt, ihm »den Kopf zu waschen,« sondern das Bewußtsein, daß sie es ihm selbst schuldig sei, ihm sein anmaßendes Auftreten nicht durchzulassen.
Weinthal aber ging von dem Einen zum Andern und verhalf Allen zu ihren Hüten und Schirmen. Als sich die Thüren hinter ihnen geschlossen hatten, wischte er behutsam ein Federchen von seiner schwarzen Tuchhose und murmelte: »Nicht geraisonnirt! Gehorcht und geschwiegen!«
Bei den Zurückgebliebenen aber herrschte eine frostige Stimmung; man versuchte vergeblich einen unbefangenen Ton anzuschlagen und nachdem der Kuchen verzehrt und der Kaffee getrunken war, empfahlen sich auch die übrigen Gäste.