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Tage und Wochen vergingen, ehe der Doktor wieder etwas von sich hören ließ. Die Kinder dachten schon, der Doktor habe die Kohlereien mit Fräulein Klopfkäfer ernsthaft übelgenommen. Oder war ihm gar etwas zugestoßen? Das wäre ja ... Schließlich hielten es die Kinder nicht mehr aus und suchten ihren Doktor auf.
»Hast du uns etwa die Frotzeleien mit dem Fräulein Braut Klopfkäfer übelgenommen?«
»Aber Kinder, seit wann bin ich denn Spielverderber und Übelnehmer? Ich kann recht gut eine wohlwollende Kohlerei von tückischen Beleidigungen und ironischen Kränkungen unterscheiden. Menschen, die sich als meine Freunde fühlen, denen nehme ich nichts übel. Da lache ich kräftig mit. Es gibt aber Menschen, boshafte Menschen, die müssen beleidigen, immer kränken, immer wehtun. Von den Leuten kann ich nichts vertragen. Die werfe ich am liebsten achtkantig zur Tür hinaus. Aber habt keine Sorge, ihr zählt nicht zu diesen Leuten.«
»Aber was hast du denn die ganze Zeit gemacht, Doktor? Hast du vielleicht wieder Fräulein Klopfkäfer gespielt?«
Da mußte der Doktor aber lachen, und die Kinder lachten nicht minder laut mit.
Bald saßen die Kinder um ihren Doktor herum, und die Unterhaltung war im besten Fahrwasser. Auf einmal aber wurde der Doktor ernst: »Kinder, wir dürfen über alle unsere Spaße nicht die Abenteuer vergessen.«
Dieter fragte: »Wo geht es denn diesmal hin? Wir haben doch schon das ganze Haus durchgestöbert?« Der Doktor antwortete: »Auf, nach dem Boden! Direkt unter dem Dach, da ist der Schauplatz unserer nächsten Abenteuer. Hugh, ich habe gesprochen.«
Dieter ging sofort auf den Ton ein: »Mein weißer Onkel hat weise gesprochen.« Dann kletterten die drei über die Stiege zum Boden. Viel stand nicht herum auf dem Boden. Denn Häuser, die nicht mitten in der Stadt stehen, pflegen immer weniger Gerumpel auf dem Boden zu haben. Siedler, Landmann und Kleinstädter benutzen lieber Keller und Schuppen, da ihnen der Weg über die Leiter zum Boden zu umständlich ist. Dieter kam als erster auf dem Boden an, und dann kletterte die Traute hinauf. Kaum war sie oben, da rief sie schon: »Komm auch schnell herauf, Doktor, hier oben fliegt eine Fledermaus, eine kleine nette Fledermaus. Sag' mal, Doktor, ist es denn wahr, was die alten Frauen und Männer erzählen, daß die Fledermäuse gerne ins Frauenhaar fliegen, sich dort festbeißen und dann des Menschen Blut saugen? Das sind doch sicher wieder Ammenmärchen?«
Der Doktor war inzwischen heraufgekommen: »So ganz aus der Luft gegriffen ist das Ammenmärchen nicht. Es gibt in Amerika Fledermäuse, sogenannte Vampire, die tatsächlich Blut saugen. Sie fallen Pferde und Maultiere an, ja, manchmal trinken sie sogar das Blut von schlafenden Menschen. Schon vor etwa 150 Jahren haben zwei große Forscher darüber berichtet, der deutsche Alexander von Humboldt und der Engländer Darwin, und seitdem sind ihre Angaben oft bestätigt worden.
Nicht alle Fledermäuse saugen Blut, auch nicht alle in Amerika. Die meisten fressen Insekten, manche auch Vogeleier und Obst. Aber was machen unsere Fledermäuse? Ich habe mir berichten lassen, daß zwei Arten unserer heimischen Fledermäuse hin und wieder Blut saugen sollen. Die eine Art ist die sogenannte Hufeisennase und die zweite Blutsaugerin ist die sogenannte Ohrenfledermaus.«
Jetzt bekam es Traute mit der Angst. »Ist das hier eine Hufeisennase oder eine Ohrenfledermaus? Doktor, das wird ja gefährlich für mich. Dann fliegen die Tiere also doch in Mädchenhaare?« Und Traute bedeckte ängstlich ihren Kopf mit beiden Händen.
»Nicht doch, nicht doch«, beruhigte der Doktor, »das ist alles halb so wild. Diese beiden Fledermausarten saugen nur gelegentlich an ihresgleichen. Sie scheuen das Licht, wie alle Fledermäuse und sitzen tagsüber gesellschaftlich in Höhlen, in Baumlöchern, oder in alten Türmen. Wenn nun schlechtes Wetter ist und sie nicht auf Insektenfang ausfliegen können, der Hunger aber quält, dann knabbern sie gelegentlich einen Nachbarn an und lecken das herausfließende Blut. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie in Taubenschlägen, wo sie sich zuweilen auch verstecken, hilflose junge Tauben angesaugt haben. Aber das sind seltene und zufällige Vorkommnisse. Um Menschen ins Haar zu fliegen, sind Fledermäuse viel zu feinnervig. Sie sind ausgesprochene Tasttiere. Lind die Fledermaus, die hier herumfliegt, das ist unsere kleinste Fledermaus in Europa. Es ist die sogenannte Zwergfledermaus.«
Dieter fragte: »Du sagtest Tasttiere, was soll das bedeuten?« Der Doktor erklärte: »Ja, Dieter, da habe ich viel zu erzählen. Es gab einmal einen Zoologen Zell, der ist vor Jahren gestorben, der sagte, alle Tiere hätten fünf Sinne wie wir. Aber immer sei ein Sinn zum Hauptsinn ausgebildet. Die Hunde, Pferde, Elefanten, Rehe usw. haben als Hauptsinn die Nase. Sie riechen zuerst die Gefahr und das Futter, ihre Augen sind weniger gut. Die meisten Vögel, vor allem Falken und Geier sind Augentiere. Ihr Geruch ist sehr schwach entwickelt. Schlangen und Fledermäuse sind nun ausgesprochene Tasttiere. Um den Mund, an der Nase und selbst auf den Flügeln haben die Fledermäuse Tasthaare, und damit tasten sie so gut, daß sie selbst im Dunkeln nirgends anstoßen. Um nun zu probieren, wie weit das Tastvermögen der Fledermäuse geht, habe ich hier oben lauter Schnüre gezogen. Die Schnüre sind alle stark mit Kreidestaub beschmiert. Nun paßt mal auf.«
Dieter mußte die Bodenluke lichtdicht verschließen. Jetzt lag die Bodenkammer völlig im Dunkeln. Der Doktor hatte sich bei der Fledermaus aufgestellt und scheuchte sie auf. Leise hörte man die Fledermaus durch den Raum fliegen, immer hin und her, aber nirgends wurde der Flug durch ein Hindernis unterbrochen. Auch Trautes Haar blieb unbelästigt. Jetzt mußte Dieter die Verkleidung des Bodenfensters wieder öffnen. Immer noch flog die Fledermaus durch den Raum, aber kein Kreidestrich zeigte an, daß sie mit einer Schnur in Berührung gekommen war. Kein aufgewirbelter Staub ließ erkennen, daß irgendwo eine Schnur angestoßen worden wäre. Keine Schnur war in zitternder Bewegung. Mit ihrem feinen Tastempfinden war die Fledermaus im Fluge jedem Hindernis geschickt ausgewichen.
Dieter staunte: »Das ist wirklich allerhand. So fein können die Fledermäuse tasten?« Als sich bei den Kindern die Bewunderung gelegt hatte, fragte Dieter: »Doktor, werden wir heute nicht verkleinert, müssen wir heute unsere Größe beibehalten?«
Aber bei dem Doktor Kleinermacher gab es kein Abenteuer ohne Kleinerwerden. Er zeigte den Kindern zwei winzige Flugzeuge. Das eine arbeitete nach dem Rückstoßprinzip und hatte eine kleine Rakete eingebaut. Diese bestand aber nicht aus einer Verbrennungskammer, sondern erzeugte den Rückstoß durch Gase, die mit großer Geschwindigkeit aus einer Düse ausströmten. »Verbrennungsgase wären hier auf dem Boden bei den trockenen Dachbalken und dem Staub zu gefährlich«, erläuterte der Doktor. »Auf dem Boden soll man nie mit Feuer umgehen. Darum habe ich in diesem Düsenflieger einen Behälter mit verflüssigtem Gas untergebracht. Sobald ich ein Ventil öffne, strömt das Gas mit großem Druck aus der Düse und treibt das Flugzeug vorwärts. Leider kann man nur einmal damit starten, fliegt hoch in die Luft und benutzt das Flugzeug dann als Gleitflieger.«
Das zweite Flugzeug im Liliputformat hatte Propellerantrieb, aber außerdem noch Windmühlenflügel oberhalb des Fahrgestells. Mit diesem Hubschrauber konnte man vorwärts, rückwärts, aufwärts und seitwärts fliegen, ja, man konnte damit sogar in der Luft stillstehen. Die Kinder kannten diesen Hubschrauber schon. Im vorigen Jahr war der Doktor mit ihnen im gleichen Fahrzeug auf die Fliegen- und Vogeljagd gegangen. Leider blieb damals der Hubschrauber in einem Spinnennetz hängen. Diesmal sollten sie wieder fliegen, und so mußten denn die drei Fahrgäste so klein wie Fliegen werden.
Der Zaubertrank wurde eingenommen, die Körper schrumpften zusammen, und dann konnten die drei kleinen Fliegenzwerge das Düsenflugzeug besteigen. Ein Glasdach über den Sitzen verhütete einen Angriff irgendeines Tieres.
»Achtung! Festschnallen! Fertig?« Der Doktor wußte die Spannung der Kinder für diesen ersten Flug mit dem Düsenantrieb fast ins Unerträgliche zu steigern. Besonders Dieter war aufs höchste gespannt, wie die Sache weitergehen würde.
»Ich starte!« Der Doktor bewegte ein Ventil. Und dann hub ein Brausen und Sausen an, daß einem Hören und Sehen vergehen konnte. Aber das Flugzeug bewegte sich nicht. Dieter wollte sich gerade erheben und aus dem Fenster blicken, als er – wie von einer gewaltigen Faust gepackt – auf den Sitz gedrückt wurde. Immer schwerer, immer schlapper kam er sich vor. Und im gleichen Augenblick sah er, daß sich das Flugzeug mit ungeheurer Geschwindigkeit vorwärts bewegte. Schon glaubte er, daß die Maschine an der Wand zerschellen würde, als das Brausen nachließ, und der Doktor das Flugzeug zu einer scharfen Linkskurve zwang. Das Schweregefühl ließ nach, und das Flugzeug setzte zu einem eleganten Gleitflug an. Sorgsam mied der Doktor die ausgespannten Zwirnsfäden. Er hatte das Flugzeug fest in der Gewalt. Lächelnd blickte er sich um. »Sache, was?« Dieter und Traute sahen ihn beglückt an.
Beim Blick aus dem Fenster konnten sie das zweite Flugzeug stehen sehen. Dorthin lenkte er den gleitenden Düsenflieger, wobei er noch auf so manches fliegende Insekt aufmerksam machte, das die Flugbahn kreuzte. Aber es ging alles zu schnell.
Nach der Landung stiegen sie sofort um.
Kaum hatte der Doktor den Propeller angeworfen und Platz genommen, als sich eine Ratte dem Fahrzeug näherte. Aber die Windmühlenflügel waren schon in Bewegung, und als die Ratte anlangte, schwebte der Hubschrauber schon über dem Nagetier. Dieter wollte das Maschinengewehr bedienen, denn der Doktor hatte wieder eine Waffe eingebaut, aber der Doktor hielt ihn zurück: »Laß das, Dieter, diese Ratte steht bei mir unter Naturschutz.«
»Aber Doktor, seit wann schützt du denn Ratten? Ratten muß man doch töten, das hast du doch selbst gesagt. Eine Ratte unter Naturschutz, hat man so etwas schon gehört?«
Der Doktor antwortete: »Da muß ich aber viel erzählen. Du kennst schon meinen Anfang. Schon die alten Römer ... die alten Römer kannten nämlich noch keine Ratten. Die hatten es nur mit Mäusen zu tun. So um die Völkerwanderungszeit herum kamen die ersten Hausratten nach Europa. Wahrscheinlich kamen sie, wie alles Ungeziefer, aus dem Orient. Bald wurden die Hausratten eine große Landplage. Im 15. Jahrhundert verhängte der Bischof von Autum den Kirchenbann über die Tiere. In Sondershausen setzte man einen Buß- und Bettag gegen sie ein. Aber die gottlosen Ratten machten sich aus der Kirche noch weniger als aus den Kammerjägern. Der Rattenfänger von Hameln soll erfolgreicher gewesen sein.
Die Hausratten hatten es gut in Europa, bis die Wanderratten aus Asien ankamen. Die Wanderratten sind etwas größer, haben ein besseres Gebiß, aber einen kleineren Schwanz. Bald lagen sich Haus- und Wanderratten im Kampfe. Es ist immer so, nahverwandte Tiere, die ungefähr die gleichen Lebensgewohnheiten haben, vertragen sich sehr schlecht in der Freiheit. Die Hausratten wurden von ihren schärfsten Nahrungskonkurrenten, den stärkeren Wanderratten, so arg bekämpft, daß die Hausratten nahezu ausgerottet sind in Deutschland. Nur noch auf den Hausböden sollen sich einige Hausratten herumtreiben. Ich selbst habe noch nie eine Hausratte zu Gesicht bekommen, so selten sind sie geworden. Ich dachte schon, sie seien in Deutschland von den Wanderratten völlig vernichtet worden und ausgestorben. Jetzt sehe ich eine Hausratte in meinem eigenen Hause. Laßt sie leben. Morgen wird sie vielleicht schon von den Wanderratten totgebissen. Die Wanderratten werde ich erbarmungslos vernichten. Laßt uns weiterfahren. Wir wollen doch einmal sehen, was unsere Zwergfledermaus macht.«
Der Doktor setzte das Fahrzeug in Bewegung. Elegant beschrieb es einige Kurven in dem Raum des Dachbodens. »Fliegen macht doch Spaß. Gibt es etwas Schöneres auf der Welt als fliegen?« Besonders die Kinder genossen auch diese Fahrt mit Begeisterung. Beim Hinabsehen entdeckten sie auf dem Dachboden der Dachkammer ein kleines Häufchen. Da drüben müßte sich die Fledermaus aufgebäumt haben. Und der Doktor meinte, das Häufchen werde er morgen auffegen und in seinem Garten untergraben. Das Zeug sei so wertvoll wie Guano.
Guano sei auch so eine Hinterlassenschaft, und zwar von Vögeln auf Inseln und Küstenstrichen der regenlosen Zone Südamerikas und Afrikas. Der Vogelunrat hat sich dort so gewaltig angehäuft, daß große Schiffsladungen voll Guanodung nach Europa gebracht werden konnten, ohne das die Guano-Berge weniger wurden.
Am Balken hing wirklich die Fledermaus. Mit dem Kopf nach unten und eingehüllt von ihren Flügeln. »Die Fledermäuse sind sehr nützlich«, begann der Doktor zu dozieren. »Wenn die Dämmerung einsetzt, dann fliegen sie aus und fangen sich allerlei Insekten. Besonders unter den Mücken räumen die Fledermäuse auf. Sie sind die besten Mückenvertilger. Sie selbst aber werden von den Raubvögeln, Eulen und Turmfalken, geholt und von dummen Menschen. Im Herbst feiern die Tiere Hochzeit, aber ihre Flitterwochen verschlafen sie im Winterschlaf. Dabei sinkt die Bluttemperatur von 32 bis auf 12 Grad Celsius ab. Wir Menschen würden dabei sicher den Kältetod erleiden. Im Frühling wachen sie wieder auf, dann kommen auch die Jungen zur Welt. Aber bei allen Tieren ist der Winterschlaf nicht fest und ausdauernd. Auch die Fledermäuse wachen hin und wieder auf, besonders bei Tauwetter, und manchen kurze Ausflüge. Dann schlafen sie wieder ein.«
Jetzt hatte Dieter wieder etwas entdeckt. Im Balken sah er ein Loch, so groß, daß die drei bequem hineingehen konnten: »Doktor, da ist wieder der Klopfkäfer in deinem Haus. Wollen wir hineingehen?«
Der Doktor flog mit dem Hubschrauber dicht heran und hielt dann still: »Aber Dieter, das ist doch kein Loch des Klopfkäfers! Damals waren wir so groß wie Flöhe, da konnten wir gerade in den Gang des Käfers hineingehen. Jetzt sind wir so groß wie Fliegen und passen noch bequemer hinein. Ein Klopfkäferloch kann das nicht sein. Dafür ist es viel zu groß.«
»Na, was mag es denn sein? Wollen wir aussteigen und hineingehen?«
»Das wird schlecht gehen. Das Loch ist vollgestopft voller Unrat und Holzstaub, für uns kaum passierbar.«
»Aha, Doktor, du weißt also schon, was darin für ein Tier haust. Wie heißt es?«
»Das will ich euch nicht verraten. Ihr werdet euch wundern.« Der Doktor hatte kaum ausgesprochen, als sich schon Leben im Holzloch zeigte. Es rumorte und staubte, und heraus kam eine große Wespe. Etwa 4 Zentimeter lang war der Körper. Die Fühler waren gelb, und der walzenförmige Leib war stahlblau. Nach hinten endigte die Walze als Spitze. Die Beine waren so gelb wie die Fühler. Eine Riesenwespe kroch aus dem Holz! Ängstlich duckte sich Traute im Flugzeug, aber die Wespe versuchte keinen Angriff, sondern flog brummend dem Fenster zu und summte und rumorte dort an der Glasscheibe entlang.
»Doktor, Doktor, wir können nur immerzu fragen, was ist denn das? Jetzt kommen sogar aus deinem Dachbalken Riesenwespen. Davon haben wir ja noch nie etwas gehört.«
Und der Doktor hatte eine wundersame Geschichte zu erzählen: »Draußen im Walde summte eine weibliche Fichtenholzwespe, so nennt man diese Riesenwespe, in den Kronen der Bäume. Weil sie so hoch flog, sah sie kaum jemand. Dann wurde eine Fichte gefällt, die Riesenwespe eilte herbei, schob ihren Legebohrer in etwa halbstündiger anstrengender Arbeit in das Holz und legte ein Ei hinein. Dann flog sie wieder fort, den Wipfeln der Bäume zu. Sie belegte auch lebende Bäume im Walde oder noch nicht zu trockene Balken und Bretter. Aus dem Ei entwickelte sich eine kleine Wespenlarve. Sie war blind, was sollte sie im Holz auch schon sehen? Ihr Körper hatte eine Elfenbeinfarbe, und am Körperende befand sich ein kleiner Afterstachel. Weich war alles an dem Larvenkörper, nur das Kauwerkzeug war kräftig, denn die Larve mußte Holz nagen, wenn sie satt werden sollte.
Inzwischen war der Baumstamm verarbeitet, und ein Balken des Baumes kam in meine Bodenkammer. Die Larve fraß und fraß Holz und wuchs nur langsam, denn Holz nährt schlecht. Einen meterlangen Freßgang knabberte sie sich durch das Holz, und den Gang hinter sich füllte sie mit Kot und Mulm an. Endlich fühlte sie eine Wandlung in ihrem Körper. Sie nagte sich eine größere Stube zurecht, verpuppte sich, und jetzt endlich, nach Jahren der Entwicklung, konnte – wie ihr gesehen habt – die fertige Fichtenholzwespe ausfliegen. Dort hinter uns brummt sie an der Fensterscheibe der Dachluke. Ist das nicht ein Märchen aus dem Walde? Eine Holzwespe wird in der Dachkammer geboren und will wieder zurück in ihre Heimat? Warte nur, große Riesenwespe, wenn wir erst größer geworden sind, öffnen wir dir die Dachluke, und dann kannst du fortfliegen, hinein in den Wald.«
Der Doktor atmete tief ein, als wenn er Waldluft verspüre. Dann fuhr er fort: »Sich als weichhäutiges Tier durch Holz zu fressen, ist keine leichte Sache. Aber die Larven der Holzfresser haben Kauwerkzeuge, die sich sehen lassen können, ganz besonders aber die der Holzwespen. Nicht nur, daß sie nach Jahren aus Dachbalken, Dielen, Fensterrahmen oder Möbeln, die sie – äußerlich unsichtbar – ganz zerfressen haben, als Wespen erscheinen, sie können auch den Linoleumbelag des Fußbodens zernagen, ja es ist mehrmals vorgekommen, daß sie in Schwefelsäurefabriken sogar Bleiplatten durchfraßen und dadurch außerordentliche Kosten verursachten.«
Der Doktor wollte der Riesenwespe nachfliegen, aber da setzte etwas Peinliches ein. Motorschaden! Entweder war die Kraftstoffleitung nicht in Ordnung, oder eine Kerze funktionierte nicht. Aber Glück muß der Mensch haben. Dem Doktor gelang es, das Flugzeug sanft auf den Boden zu setzen. Was nun?
Der Doktor und Dieter untersuchten den Motor, aber sie konnten den Schaden nicht erkennen. »Woran mag es nur liegen?« Sie kletterten von allen Seiten am Motor herum und krochen unter das Fahrgestell, aber wo der Defekt lag, das blieb ihnen ein Rätsel. Dieter hatte sich schon schmutzig gemacht, so daß er wie ein Neger aussah. Der Doktor sah auch nicht viel besser aus. Dieter schimpfte: »Ich will einen Besenstiel fressen, wenn wir die Kiste nicht wieder in Ordnung bringen. Das wäre ja noch schöner.« Aber mitten im Schimpfen setzte das Wachstum ein. Jetzt war es vorbei mit Düsenflieger, Hubschrauber und Fliegen, mit Motornachsehen und Besenfressen. Schnell wurden die drei größer und größer, und der Hubschrauber wurde zu einem winzigen Spielzeug. Dieter sah beim Wachsen auf die schmutzigen Hände und entdeckte voller Freude, daß die Schmutzflecke immer kleiner wurden, denn der Schmutz blieb klein, er wuchs nicht mit.
»Hurra! ich brauche mich nicht zu waschen! Der Schmutz an meinem Körper wird zum Fliegendreck. Und mit der Lupe wird mich ja Mutter nicht untersuchen.«
Aber er wusch sich später doch, denn die kleine Hausmutter Traute überredete ihn so lange, bis er zur Seife griff. Ihre Mutter sagte immer: »Sauberkeit ist's halbe Leben.« Und das hatte sich Traute gemerkt.
*
Am nächsten Tag klopften die beiden Kinder wieder bei ihrem Doktor Kleinermacher an. »Was gibt es denn heute für ein Abenteuer?«
»Pst, pst, Kinder! Doktor Kleinermacher schreibt ein dickes Buch von den Erlebnissen der Kinder zwischen Keller und Dach. Da darf man ihn nicht stören. Geht ruhig nach Hause und kommt ein andermal wieder.«
War das nicht eine tolle Sache zwischen Keller und Dach? Soviel Tiere im Haushalt, das hätte man sich nicht träumen lassen. Jede Wohnung ist ein großer zoologischer Garten. Man muß nur mit Doktor Kleinermacher ausgehen, dann findet man die Tiere.
»Also, auf Wiedersehen, Kinder, Doktor Kleinermacher ist noch lange nicht tot. Er möchte mit Dieter und Traute noch allerlei erleben. Er rührt gerade ein neues Gericht an: zwölf Abenteuer, ein Zentner Naturwissenschaft, ein Gramm Märchen und dann noch eine Prise Begeisterung und Phantasie.
Auf Wiedersehen, Kinder!«